31 Januar 2023

Zwei Halbvergessene

 Friedrich Sieburg

François-René de_Chateaubriand  

Freilich: "In Frankreich gehört er zum Schulstoff und ist so bekannt wie in Deutschland Goethe.[9] " (Wikipedia)

Wenn man heute 20 - 40-jährige nach diesen Namen fragt, wüssten wohl die Wenigsten etwas damit zu verbinden. Das sagt gewiss nichts über Ihre Lebensleistung aus.

Sieburgs Darstellung ist ganz auf Stil ausgerichtet, er erzählt nicht, sondern in einer stilistisch schwungvollen Weise verwendet er eine große Menge von Material zur Beschreibung seiner Sicht auf die Person. Interessanterweise listet er nicht in einem Literaturverzeichnis, die Titel auf, die er herangezogen hat und die den Hintergrund seiner Arbeit bieten, sondern er berichtet davon, was er gelesen hat, macht aber keine präzisen Angaben über Titel, Jahreszahl, Verlag und so weiter.

Zitate:

"Als ein langes Leben zu Ende war, bettete man den glorreichen Toten in das gewünschte Felsengrab.
Die Bestattung war ein feierliches Ereignis, die ganze Bevölkerung der bretonischen Hafenstadt und viele Leute vom Lande drängten sich auf den alten Befestigungsmauern und den Klippen und sahen ergriffen dem kleinen Zuge zu, der gegen den Sturm ankämpfte. [...] Unter den Klängen einer schwermütigen Musik wurde der Sarg in das ausgehobene Grab gesenkt. Eine Granitplatte, ein Kreuz, sonst nichts, kein Name, keine Inschrift. So hatte es der große Mann bestimmt. Sein Stolz, sein Sinn für die erhabene Einsamkeit duldeten nur die Stimme des Meeres, die sich in Ruhe wie in Erregung ewig gleich bleibt.
Dies Grab ist wie sein Leben, wie er selbst: einsam, romantisch und ein wenig theatralisch. François-René de Chateaubriand ist auf einem Felsen begraben, den das Meer umspült und vom Lande trennt, aber diese Stätte liegt dicht an der Küste, sie liegt in Reichweite des menschlichen Treibens, nicht draußen im unabsehbaren Ozean wie etwa der Sterbefelsen seines großen Gegenspielers Napoleon." (S. 479)

"Mit Chateaubriand begann die farbige und indiskrete Vermischung von Liebe, Literatur und Politik, die aus allen diesen Lebensäußerungen ein einziges Strömen romantischer Exaltation machte. Sein ganzes Wesen, so scheint es, war darauf gerichtet, ein möglichst großes Stück Welt und Dasein in sich zu schlingen – und doch war sein ständiger Lebensüberdruss, über den er so gerne sprach, mehr als eine Pose." (S.481)
Er glaubte, "dass der Autor sich eine Haltung schuldig sei, die er einst so unvergleichlich in seinem Jugendroman geschildert hatte: 'Vom Beginn meines Lebens an habe ich stets Kummer gehabt: ich trug einen Keim in mir, wie der Baum den Keim seiner Frucht trägt. Ein unbekanntes Gift mischte sich in alle meine Empfindungen. Ich bin ein quälender Traum. Das Leben langweilt mich, die Langeweile hat mich immer verzehrt; was die anderen Menschen interessiert, berührt mich überhaupt nicht. Hirte oder König – was hätte ich mit meinem Stab oder Zepter angefangen! Ich wäre des Ruhmes wie der Entbehrung, der Arbeit wie der Muße, des Wohlergehens wie des Missgeschicks gleich müde geworden. Ich bin tugendhaft ohne Genugtuung; wenn ich ein Verbrecher wäre, so wäre ich es ohne Reue. Alles ödet mich an, ich schleppe meine Langeweile mit meinen Tagen dahin, und überall verbringe ich mein Leben mit Gähnen.' [...]
er hat auf seine Art einen hartnäckigen Kampf mit Napoleon geführt und doch schöner sein Lob gesungen als irgendein anderer Schriftsteller seiner Zeit, er hat den Bourbonen mit musterhafter Treue gedient und sie doch verachtet, er hat viele Tausende von Seiten mit seiner berauschenden Prosa beschrieben und doch meistens nicht gewusst, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Wenn er eine diplomatische Note an eine fremde Macht schrieb, hatte er nur den einen Wunsch, in die Arme seiner Geliebten zu eilen. Wenn er eine Frau umschlungen hielt, dachte er an die Rede, Die er demnächst als Pair von Frankreich halten wollte. [...]
Sein Stil, dessen prachtvolle Gefühlskraft und oft übermäßige Schönheit wie ein Gewitter auf seine Zeit gewirkt haben, wäre ohne dieses taedium vitae nicht denkbar." (S. 482)

"Die Person, die er wirklich liebte und an der er bis in die äußersten Konsequenzen echten Anteil nahm, war er selbst." (S. 483)

Friedrich Sieburg über sein Buch:
"In der Literatur sind die Tatsachen nicht wahrer als das Erdachte. Wenn ich sage, dass diese Lebensbeschreibung Chateaubriands nur Tatsachen aufführt, also Dinge, die wirklich geschehen und uns überliefert sind, so will ich damit nicht den Wahrheitsgehalt des Buches erhöhen, sondern nur auf eine bestimmte Arbeitsweise hindeuten. In dieser Biografie ist nichts erfunden, nichts arrangiert oder ausgesponnen. Nur die Darstellung, die Deutung und der Bezug auf uns sind Sache des Verfassers. Ich habe mich von der Figur dieses großen Franzosen, dessen Leben sich über dramatische Ereignisse und Epochen der modernen Geschichte erstreckt, einst ergreifen lassen und in ihm eine so vollkommene Spiegelung des künstlerischen Menschen schlechthin gefunden, dass es mein Wunsch wurde, sein Leben möglichst getreu zu beschreiben." (S.723)

Doch der Schluss seines Lebensberichts über Chateaubriand lautet:

"Der Sterbende, der nicht mehr sprechen kann, folgt ihr mit angstvollen Augen, in seinem fieberglänzenden Blick drückt sich die Furcht aus, sie könne nicht zurückkommen. Sein Gesicht entspannt sich erst, wenn sie ihren Platz an seinem Bett wieder einnimmt. Seine Züge sind ganz durchsichtig geworden vor Krankheit und Schmerzen, immer wieder sucht er Juliettes Hand. Er, der die Freiheit über alles geliebt hat, will nicht, dass dieses Band sich lockere. An sie gebunden will er sterben. Aber sie sieht ihn nicht sterben, sie hebt den Kopf mit den blinden Augen, um auf seine Atemzüge zu lauschen. Jetzt hört sie nichts mehr. Sie sinkt in die Knie und legt ihr Gesicht auf den Rand des Bettes. So bleibt sie lange, so finden sie die jungen Männer des Polytechnikums, die in ihren Paradeuniformen erscheinen, um die Totenwache anzutreten. Sie sehen das majestätische Gesicht des Toten, über dessen Stirn die weißen Locken stehen. [...]"

"[...] nur Tatsachen [...], also Dinge, die wirklich geschehen und uns überliefert sind" ist wohl doch eine etwas ungenaue Kennzeichnung der Schilderung dieser Sterbeszene, in der Sieburg die Gefühle des - stummen - Sterbenden zu kennen vorgibt.

"Chateaubriands Nachruhm als Autor beruht vor allem auf seiner Autobiografie Mémoires d’outre-tombe (Erinnerungen von jenseits des Grabs) sowie den Kurzromanen Atala und René, die seit 1805 meist gemeinsam in einem Band, aber separat von Le Génie du Christianisme, gedruckt werden. Er gilt als einer der großen Autoren der französischen Literatur und insbesondere als einer der Väter der französischen Romantik. In Frankreich gehört er zum Schulstoff und ist so bekannt wie in Deutschland Goethe.[9] Die Bewunderung seiner Zeitgenossen zeigt der Ausspruch Victor Hugos von 1816: „Je veux être Chateaubriand ou rien.“ (Ich möchte Chateaubriand werden oder nichts). Proust lobte die Erinnerungsblitze in seinen Recherchen. Flaubert erfreute sich an „seinem herrlichen Stil mit dem königlichen Bogenschlag und seinem wogenden Satz“.[10] Roland Barthes sprach von der „atemberaubenden Schönheit“ in Chateaubriands Sprache.[11] "(Wikipedia)


Übersetzung eines Teils des französischen Wikipediaartikels zu Mémoires d’outre-tombe:

Kindheit und Jugend
Chateaubriand beginnt seine Erzählung mit einer langen Erklärung über seinen familiären Hintergrund und insbesondere über die Missgeschicke seiner Onkel und seines Vaters. Diesem war es nämlich gelungen, das Ansehen seiner Familie zu verbessern und ihre wirtschaftliche Situation wiederherzustellen. Chateaubriands Vater war streng und stur, ein autoritärer Mann, der auf strenge und manchmal bedrückende Weise für Ordnung in seiner Familie sorgte. Nach seinem Tod behielt Chateaubriand jedoch einige bewegte und respektvolle Erinnerungen an ihn und sah seinen Erzeuger mit anderen Augen, die mit dem Abstand der Jahre verständnisvoller wurden.
Der junge François-René verbrachte seine Kindheit und Jugend zwischen Saint-Malo und dem Schloss Combourg, das sein Vater nach Jahren der Vernachlässigung wieder in Besitz genommen hatte. Chateaubriand führte dort ein geregeltes Leben nach den Wünschen seines Vaters, nutzte jedoch seine freien Momente für lange Spaziergänge im Schlosspark und in den nahegelegenen Wäldern, die seine Melancholie und Fantasie beflügelten: So bildete sich in ihm ein starkes Gefühl der Verbundenheit mit der Natur, das ihn in tiefe, leidenschaftliche Träumereien versetzte, in denen er zum ersten Mal den Ruf seiner Muse hörte. Die auf diesen einsamen Spaziergängen entstandenen Leidenschaften seines jugendlichen Herzens werden insbesondere eine große Inspirationsquelle für seinen autobiografischen Roman René sein. Trotz seines starken christlichen Glaubens zweifelte Chateaubriand manchmal an sich selbst und versuchte eines Tages beinahe, sein Leben mit einer Schusswaffe zu verkürzen, die sich jedoch nicht löste. Durch diesen missglückten Versuch in seiner Notwendigkeit bestärkt, trotz seines Unglücks und seiner Leidenschaften zu leben, sah Chateaubriand darin ein Zeichen für die Liebe Gottes zu ihm und wandte sich mit großem Eifer dem Christentum zu.
Chateaubriand ist das jüngste von sechs Kindern - er hat vier Schwestern und einen älteren Bruder - aus einer in der Bretagne lebenden Familie von Edelmännern. Als jüngstes Geschwisterkind wird er nicht so behandelt wie sein älterer Bruder. Er wird von seinen Eltern vernachlässigt, schlecht gekleidet und zunächst bis zum Alter von drei Jahren als Amme in Plancoët zwischen Dinan und Saint-Malo bei seiner Großmutter mütterlicherseits aufgezogen. Anschließend kehrte er nach Saint-Malo zu seinen Eltern zurück, die seine Erziehung bis zum Alter von sieben Jahren vernachlässigten. François-René wurde den Dienstboten überlassen und musste sich mit einer minimalen Bildung begnügen, die ihm ein Lehrer vermittelte, der ihm einige Kenntnisse in Zeichnen, Englisch, Hydrographie und Mathematik vermittelte. Er sagt, er habe eine müßige Kindheit gehabt, die es ihm auch erlaubt habe, zu spielen und die Umgebung um ihn herum zu genießen.
Chateaubriands Kindheit war jedoch auch eine glückliche Zeit, die von einer großen Komplizenschaft mit seinen Schwestern geprägt war, insbesondere mit Lucile, an der er sein ganzes Leben lang sehr hängen sollte. Ihre kindliche Vorstellungswelt ließ sie das Schloss Combourg als unheimlichen Ort wahrnehmen, als Ort aller Fantasien und Ängste. Der kleine François-René und seine Schwestern lesen abends gerne gruselige Bücher, die ihre Fantasie beflügeln. Einige Seiten der Memoiren, die Combourg als einen Ort beschreiben, der tagsüber friedlich und majestätisch, nachts aber unheimlich und voller Gespenster ist, nehmen daher die Züge einer Gothic Novel an.

Die Geschichte führt uns in das ländliche Frankreich des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, genauer gesagt in die Bretagne, das Land, in dem Chateaubriand seine Kindheit verbracht hat.

Man lernt die Sitten der damaligen Zeit in einem sehr traditionellen Frankreich kennen. Dieses Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist kodifiziert: Die Gesellschaft ist in verschiedene soziale Klassen eingeteilt, die sich nicht vermischen. Die Chateaubriands haben eine adlige Herkunft und legen großen Wert auf ihre Genealogie.

Man sieht auch die Bedeutung des Glaubens und das Gewicht der Religion, die die Feste und Ausflüge der Familie strukturiert. Vor der Revolution wird die Erziehung von Geistlichen übernommen.

Man entdeckt, dass Frankreich auch im Ausland in Schlachten verwickelt war, und stellt fest, dass das Schicksal vieler der vom Autor erwähnten Personen während der Revolution umschlug: Viele verloren ihr Leben, darunter auch die Familie Chateaubriands.

Die Revolution
Chateaubriand berichtet dann ausführlich über seinen Aufenthalt in Paris, als diese Stadt die mit der Französischen Revolution verbundenen Umwälzungen erlebte. Tief beeindruckt von einigen blutigen Demonstrationen der Sansculotten (insbesondere von einem Kopf, der vor seinem Fenster auf einem Spieß montiert war), beschloss Chateaubriand, sich nach Amerika einzuschiffen, um dem drohenden Tumult zu entgehen.

Reise nach Amerika
Um der Revolution zu entgehen, die einen Teil seiner Familie mit sich reißen würde, segelte Chateaubriand nach Amerika, um eine Nordpassage zwischen dem Atlantik und dem Pazifischen Ozean zu finden. Er behielt sehr starke Erinnerungen an seinen Aufenthalt, seine Begegnungen und die Bräuche der Eingeborenenstämme, die ihn zum Schreiben von "Genius des Christentums", "Atala" und "René" inspirierten.

Napoleon
Chateaubriand erhielt zunächst eine Stelle an der französischen Botschaft in Rom: Napoleon versuchte nämlich, die Gunst der Monarchisten zu erlangen, indem er einen Adligen wie Chateaubriand auf diese Weise begünstigte.

Obwohl er Napoleon seit der Ermordung des Herzogs von Enghien stark ablehnte, widmete Chateaubriand dem Kaiser lange Seiten, in denen sich die Faszination für das Genie des Generals und das Misstrauen gegenüber einem Größenwahn, den er als verhängnisvoll für die Menschen und für Frankreich betrachtete, mischten.

Analyse
Die Mémoires d'outre-tombe weisen zwar Züge auf, die sie der literarischen Gattung der Memoiren (im klassischen Sinne des Wortes, wie die Mémoires de Saint-Simon von Saint-Simon) annähern, doch sie sind auch von Rousseaus Confessions inspiriert, und zwar in dem Sinne, dass Chateaubriand - neben den politischen und historischen Ereignissen, denen er beiwohnt - auch Details aus seinem Privatleben und seinen persönlichen Bestrebungen behandelt. Der Autor behandelt also die wichtigsten historischen Ereignisse, deren Zeuge er war (Revolution, Republik, Kaiserreich, Restauration, Julimonarchie), enthüllt uns aber gleichzeitig sein inneres Ich in einem ebenso nahen wie intimen Vertrauen zu seinem Leser.

In diesem Werk finden sich auch einige der besten französischen Beispiele für poetische Prosa, ein Genre, in dem sich Chateaubriand besonders auszeichnete. (frz. Wikipedia)

Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)

Sieburg schwelgt in seinen Deutungen, macht sich nicht gemein mit trocknen Daten, mit Anmerkungen und Belegen, man soll seinem Manneswort vertrauen, dass alles belegbar ist. Er steht in der Tradition Stefan Zweigs, nur dass er keine Miniaturen schreibt wie Zweig in seinen Sternstunden,, sondern eine vollständige Biographie.

29 Januar 2023

Thomas Gsella

 Thomas Gsella 


Ein Mensch
("für" Eugen Roth)

Ein Mensch, der stetig sich bemüht
Und doch sich als Verlierer fühlt,
Weil er sich nicht beirren lässt
Im Glauben – daran hält er fest! –,
[...]                         nicht chic,
[...]                          und dick
[...]                         erkennt
[...]                            rennt
[...]               Knie und Bauch
[...]               Stirn und auch
[...]
[...]
[...]
[...]
[...]

Seitdem bekümmert ihn nicht mehr, 
dass er kein Mensch ist, sondern [...]

26 Januar 2023

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis

 Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis, 2023

KLAPPENTEXT

Frühmorgens bricht ein junger Mann mit dem Fahrrad in die Straßen der Stadt auf. Was er dort tut, bleibt sein Geheimnis. Zerschunden und müde kehrt er zurück. Und oft ist er glücklich. Jahrzehntelang hat Arno Geiger ein Doppelleben geführt. Jetzt erzählt er davon, pointiert, auch voller Witz und mit großer Offenheit. Wie er Dinge tat, die andere unterlassen. Wie gewunden, schmerzhaft und überraschend Lebenswege sein können, auch der Weg zur großen Liebe. Wie er als Schriftsteller gegen eine Mauer rannte, bevor der Erfolg kam. Und von der wachsenden Sorge um die Eltern. Ein Buch voller Lebens- und Straßenerfahrung, voller Menschenkenntnis, Liebe und Trauer.

Rezensionen (Perlentaucher)

Bemerkenswert: In den Rezensionen wird auch deutliche Kritik geübt:

"Den Titel "Sex, Lies and Altpapier" hätte Rezensent Tobias Rüther passender gefunden für das neue Buch von Arno Geiger. [...] Was erstaunlicherweise überhaupt nicht berücksichtigt werde, sei, dass es sich bei den gelesenen Tagebucheinträgen oder Briefen ja wiederum selbst um inszenierte Texte handelt. Etwas peinlich findet der Kritiker außerdem, dass Geiger sich zwar für den "unstandesgemäßen" Aspekt seiner Müll-Kletterei schäme, nicht aber dafür, dass er damit im Grunde gegen das Briefschutzgesetz verstoße. Für Rüther eine unglückliche Veröffentlichung." (FAS 7.1.23)

Ich persönlich bin schon von den ersten Seiten fasziniert. von dem mutigen Unternehmen, sein Leben darauf zu bauen, dass man abgetanen Lebensstoff von anderen zu wertvollen Aussagen für andere verdichten kann.  

Zitate:

"Das Leben, wenn man jung ist, bietet viel Raum, in den man seine Hoffnungen verschieben kann, ein Gefühl auswegloser Beengtheit entsteht nicht so leicht. Wie ein Möbelstück schiebt man die Hoffnungen in den Raum, der Zukunft heißt, von einer Ecke in die andere. Platz findet sich immer. (S.40)

"Die schlechten Vorjahre gingen mir nach. Jetzt registrierte ich die sich an mir vollziehenden Veränderungen mit großer Erleichterung. Ich verspürte ungeheure Freude und Zuversicht. Leider vermochte ich meine Gefühle nicht zu dosieren. Wie ein Kind, das einen Kuchen backen will und die Dose mit dem Mail nicht so geschickt handhaben kann, wie bei der Mutter beobachtet, warf ich alles in die Schüssel. Meine Freude kippte in den Überschwang, meine Zuversicht in die Überheblichkeit. Das kam zu Recht und zum Glück nicht überall gut an." (Seite 42)

Bis Seite 207 schreibt Geiger eine sehr offene Biographie, sehr kurz für das, was er an Name-dropping hätte leisten können. Ein wenig war es schon weniger Lebensstoff als Rechtfertigung. Dafür war zuvor ungewöhnlich viel Offenheit. Die rechtfertigt aus meiner Sicht die sehr weitgehenden Auskünfte über seine Beziehungen, die durch das Verbergen hinter Anfangsbuchstaben sicher nur recht unvollkommen geschützt sind.  
Auf S.207 stehen dann die Sätze:
Keine Ahnung, was mit mir los ist. Immer packen mich Dinge an der Gurgel. Diese Hand an der Gurgel ist eine drastische Form der Ergriffenheit, eine seltsame Form von Talent." (S.207)
Danach beginnt nun ein Teil, wo es meiner Meinung nach nicht mehr darum geht, Leben treffend vorzustellen, sondern eher um Selbstrechtfertigung. 
Die beginnt mit dem Schopenhauerzitat: "Daher ist nun die erste, ja, schon beinahe ausreichende Regel des guten Stils diese, dass man etwas zu sagen habe."
Dazu Geiger: "Die meisten Menschen, wenn sie aus privaten Gründen schreiben, haben etwas zu sagen." (S.211)
Auf S.212 scheibt er dann über Philipp Roth, der ihm sei am Schluss "lebend das Leben ausgegangen" (S.212) und lobt ihn dafür, dass er das schließlich selbst gemerkt habe. 

Doch fast wirkt Geigers eigener Roman, als sei ihm der Lebensstoff ausgegangen. (Ist das Absicht?) Er schreibt, literaturkritische Gedanken, ohne sie in Form zu bringen, wiederholt sich, argumentiert nicht, sondern wechselt in schlechte Mündlichkeit, wird banal: "Mehr im Allgemeinen, wie soll ich sagen...", "Kunst wird von der strikten Einhaltung von Konventionen nicht befördert, darin sind wir uns, glaube ich einig. Auch darüber, dass [...] herrscht, glaube ich, Einigkeit." (S.221) "Natürlich weiß ich, dass es elegantere Arten gibt, ein Buch zu beenden. Aber ich lasse das Geschriebene so stehen, ein bisschen rau, stellenweise ungehobelt, als Ausdruck meiner selbst." (S.237)

Hier ist dann die Stelle, wo man sich als Leser schützend vor den Autor stellt: "Das schreibt dieser bewundernswerte Autor mit Absicht so." Sicher will er damit ironisch seine Formulierung "Jede Stilisierung ist Lüge" (S.210) bekräftigen!

Ein über weite Teile faszinierendes Buch, das auch auf den Seiten 208-237 Wichtiges enthält. 

Was schreibt Fontane als öffentliche Antwort auf  Kritik über die eine oder andere nichtssagende Formulierung in seinen Theaterkritiken:  Wenn dann der Bote der Zeitung schon in der Tür steht, um das Manuskript der Kritik abzuholen, dann schreibt man mal so etwas. 

(Ich hoffe, noch Zitate nachzuholen, aber genug für heute. Ich lass das mal so stehen.)

Trotz dieser Kritik am Formalen. Geiger ist zu Recht stolz auf seine hart erarbeitete lebensgesättigte Schreibweise, und ich will in der Tat manche seiner Aussagen aus diesem literaturkritischen Teil noch festhalten, weil sie wesentlich sind und nicht zurückgehalten werden sollten.
Der Kritik von Tobias Rüther kann ich durchaus nicht folgen. Es ist ein großer Gewinn, wenn man Lebenserfahrung in seinem Werk eingehen lässt, ohne dabei, wie es etwa bei Max Frisch und Thomas Mann vorkommt, in problematischer Weise das Leben anderer einzubeziehen. Bei Frisch seine Frau Marianne, bei Mann seinen Enkel Frido als Echo, "das Kind, indem er es unter grauenvollen Schmerzen an einer eitrigen Hirnhautentzündung sterben lässt." (Wikikipedia)*
Aber Kleist, dessen Werk nicht zuletzt von seinem ganz eigenen Stil lebt, wegen dieser Stilisierung in den Verdacht der Lüge zu stellen, ist zwar durchaus nicht verboten (Dass er "gegen das Briefschutzgesetz verstoße" (Rüther) empfinde ich durchaus nicht. Wenn er Lebensstoff anonymer Personen (die man schwerlich wird herausfinden können) in sein Werk eingehen lässt, ist das ein Gewinn. Und zusätzlich ist es ein Gewinn, wenn er berichtet, wie er an diesen seinen sehr hart erarbeiteten Zugang an Lebensstoff herangekommen ist. - Nur, große Teile der Weltliteratur (Ist nicht selbst Kafkas Weise, sich selbst und sein Weltverhältnis in sein Werk einzubringen, in erheblichen Anteil "Stilisierung"? Zu Recht gibt es das Wort "kafkaesk") abzuwerten, weil sie nicht dieselbe Art des Zugangs hatten? - Nein, das hat Geiger gewiss nicht gewollt mit seiner Kritik an Stilisierung. (Für mich ist "Mein Herz so weiß" ein Fall, wo diese Kritik aus meiner Sicht angebracht wäre.)

* Dennoch würde ich es nicht wagen wollen, Werken wie Buddenbrooks und  Der alte König in seinem Exil, die ohne eine gewisse Grenzüberschreitung nicht möglich gewesen wären, diese Grenzüberschreitung vorzuwerfen. - Wo sie zu weit geht, werden von Fall zu Fall die Meinungen auseinandergehen. 

23 Januar 2023

Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment

 Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment (2017)

"Am 27. Januar 2015 berief der tags zuvor zum Ministerpräsidenten vereidigte Alexis Tsipras Varoufakis zum Finanzminister seines Kabinetts, unter anderem zuständig für die Verhandlungen mit den Partnern der Eurozone. Ihm zur Seite gestellt wurde Giannis Dragasakis, der die Aufsicht über die Bereiche Wirtschaft und Finanzen in der Regierung Tsipras führt.

In seiner ersten offiziellen Amtshandlung empfing er am 30. Januar 2015 Euro-Gruppenchef Jeroen Dijsselbloem, der nach Athen gereist war, um der neuen griechischen Regierung mitzuteilen, dass die Eurozone mit ihrer bisherigen Politik fortfahren werde, und um seinen Kollegen zu erklären, dass die Euro-Gruppe erwarte, dass die mit der vorherigen Regierung vereinbarten Regelungen auch von der neuen Regierung umgesetzt werden müssten und nicht verhandelbar seien. Dem entgegnete Varoufakis, sie seien gewählt worden, um mit den europäischen Partnern die Auflagen neu zu verhandeln; unter der neuen Regierung werde es keine weiteren Gehalts- und Rentenkürzungen geben, welche die Troika von der griechischen Regierung fordere. Als Dijsselbloem auf der anschließenden Pressekonferenz seine Position erneut bekräftigte und äußerte, einseitige Schritte oder das Ignorieren bisheriger Vereinbarungen seien kein Schritt nach vorne, kam es zum Eklat. Varoufakis teilte mit, dass man mit der Troika in der bisherigen Form nicht weiter zusammenarbeiten werde. Daraufhin wurde die Pressekonferenz beendet.[36][37] Damit war Varoufakis zum Gesicht der finanzpolitischen Krise geworden." (Wikipedia)

Varoufakis: Verheißungsvoller Februar (7. Kapitel) S.233 ff.

Vielversprechende Begegnungen:

1. Der Kommissar

Pierre Mosovici 

"Ab 1. November 2014 war Moscovici in der Kommission Juncker zuständig für die Bereiche Wirtschaft, Währung, Steuern und Zollunion. Seine Amtszeit als EU-Kommissar endete mit dem Amtsantritt der Kommission von der Leyen am 1. Dezember 2019.

Im Juni 2015 sagte er, im Bezug auf den Schuldenstreit zwischen Griechenland und der Eurogruppe, dass Griechenland es nicht mehr schaffen werde, eine fällige Rückzahlung in Höhe von 1,6 Mrd. € an den Internationalen Währungsfonds zu leisten. Nachdem die griechische Regierung dies noch dementierte, musste sie wenige Tage später bestätigen, dass sie das notwendige Geld nicht mehr aufbringen werde.[11]" (Wikipedia)


Varoufakis:

"Ehe Mosovici EU-Kommissar wurde, war er französischer Finanzminister gewesen. Als der Spitzenposten für Wirtschaft in der europäischen Kommission frei wurde, bestand der französische Präsident François Hollande darauf, dass ein Franzose ihn erhalten sollte. Doch die Sache hatte einen Haken. Berlin war (und ist) erpicht darauf, dass Brüssel entschlossen gegen das französische Haushaltsdefizit vorgeht, und wollte diesen Job daher als letztes einem Franzosen anvertrauen und erst recht nicht dem ehemaligen französischen Finanzminister. Andererseits mussten die deutschen Präsident Hollande dafür belohnen, dass er ihnen zuliebe eine Kehrtwende hingelegt und unmittelbar nach seinem Wahlsieg die Austeritätspolitik unterstützt hatte – gegen sein eigenes Wahlversprechen, sich ihr zu widersetzen. Diese schwierige Situation wurde auf eine Art gelöst, die jeder andere an Pierre Mosovicis Stelle als Demütigung empfunden hätte. Mosovici  erhielt den Posten, doch gleichzeitig schuf man eine neue Position, die des Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, um ihn zu überwachen. Wie zum Hohn gab Berlin diesen neuen Posten dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Lettland. Dessen größtes Verdienst war es gewesen, seinem Land dermaßen harte Austeritätsmaßnahmen zu verordnen, dass er die Wirtschaftskrise seines Landes 'löste', indem er die Hälfte der Bevölkerung in die Emigration trieb." (S. 225/226)


2. Der Troika-Vertreter

Poul Thomsen

"Von 1998 bis 2000 leitete Poul Thomsen die IWF-Abteilung in Russland, zwischen 2001 und 2004 war er IWF-Vertreter und Leiter der Geschäftsstelle in Moskau.

Derzeit ist Poul Thomsen der stellvertretende Direktor der Europa-Abteilung des IWF und als solcher führte und führt er direkt die Prozesse in IslandGriechenland,* Portugal, auch die in der Ukraine und Rumänien.[3] In allen Fällen trat Poul Thomsen durch eine Politik der schnellen Privatisierung und scharfen Kürzungen bei den Löhnen im öffentlichen Dienst hervor." (Wikipedia)

IMF official admits austerity is harming Greece The Guardian Online, aufgerufen 1. Februar 2012 (en)

Varoufakis

"Ich gab ihm meine feste Zusicherung, dass wir jeden Stein umdrehen würden, um Steuersünder dingfest zu machen. Wir würden auch staatliches Eigentum an die Privatwirtschaft verkaufen, wenn die Privatisierung unserem Sozialstaat nützte und sich die neuen Eigentümer zu hohen Direktinvestitionen und einem angemessenen Arbeiter- und Umweltschutz verpflichteten. Doch damit die Reformagenda funktionierte, fügte ich hinzu, bräuchten wir eine Du-kommst-aus-dem-Schuldgefängnis-frei-Karte. An dieser Stelle zog ich mein einseitiges Non-Paper aus dem Ordner, in dem ich die Vorschläge für den Schuldentausch skizziert hatte, und überreichte es ihm. Thompson sah es an, lächelte und verblüfft er mich ein weiteres Mal.

'Das ist gut. Aber es ist noch nicht genug. Wir brauchen die sofortige Streichung eines Teils eurer Schulden. Kein Tausch, keine Verlängerungen. Wir müssen 53 Milliarden Euro streichen.'

So ist das also, dachte ich: Ich träume wirklich! Er sprach davon, die gesamten Schulden, die Griechenland den EU-Mitgliedstaaten aus dem ersten Rettungspaket 2010 noch schuldete, auf einen Schlag zu streichen. Hatte ein Syriza-Mitglied der Linken Plattform Thomsens Gehirn infiltriert? War er von einem radikalen Geist besessen?

Plötzlich befand ich mich in der Defensive. Ich sei hundertprozentig seiner Meinung, erwiderte ich, aber wie könne man Berlin davon überzeugen, solch einem Vorschlag zuzustimmen? Und die anderen EU-Regierungen? War es politisch machbar, dass durch sämtliche Parlamente zu bringen, solch einem Vorschlag zuzustimmen? Und die anderen EU – Regierungen? War es politisch machbar, das durch sämtliche Parlamente zu bringen?

Thomsen wandte sich in seiner Antwort einem formalen Aspekt zu: Die Gelder, die im ersten Rettungspaket nach Athen geflossen waren, fielen insofern aus dem Rahmen, als es sich ausschließlich um bilaterale Kredite aus anderen Hauptstädten der Eurozone handelte. Die Kredite des zweiten Rettungspaket kamen von der Europäischen Finanzstabilerungsfazilität (EFSF), dem Rettungsfonds, der auch Irland, Portugal, Spanien und Zypern Geld geliehen hatte. Wenn wir die griechischen Schulden gegenüber der ESFS umschuldeten, so würden Dublin, Lissabon, Madrid und Nicosia eine ähnliche Erleichterung fordern. Das erste Griechenland-Rettungspaket dagegen könne auf null gesetzt werden, ohne dass die anderen Länder Grund zum Protest hätten.

So erstrebenswert sein Vorschlag sei, sagte ich, vermochte ich noch immer nicht zu erkennen, wie Berlin ihm zustimmen könne und wie wir dem Vorwurf begegnen sollten, dass damit die Annullierung von Schulden gegenüber Europa, nicht aber gegenüber dem IWF vorgeschlagen werde.

'Ich spreche hier nur von der Position des IWF', sagte er.

Weil ich ein wunderbares erstes Gespräch nicht verderben wollte, lenkte ich das Gespräch auf die Zielvorgabe für den Primärüberschuss Griechenlands und betonte, wie wichtig es sei, dass sie sich mit etwa 1,5 Prozent vom BIP im vernünftigen Rahmen bewege.

'Dem stimme ich zu', erwiderte Thomsen lakonisch. 

Mein Sonntag in Paris hätte nicht besser beginnen können. Ob mein nächster Gast die Stimmung verderben würde?" (S. 228/229)

3. Frankreichs EZB-Mann

Benoît Cœuré

"Am 29. November 2011 votierten die EU-Finanzminister bei ihrem Treffen in Brüssel einstimmig für Benoît Cœuré als Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB).[1][2] Im Januar 2012 trat Cœuré die Nachfolge von Lorenzo Bini Smaghi an. Nach achtjähriger Amtszeit schied er am Jahresende 2019 aus dem Gremium aus.

Am 20. Mai 2015 geriet Benoît Cœuré in die Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass er Insiderinformationen an Hedge-Fonds weitergegeben hatte.[3] Rechtliche Konsequenzen wurden daraus jedoch nicht gezogen, da die Frage, ob die EZB publizitätspflichtig ist, nicht abschließend geklärt ist.[4]" (Wikipedia


"Als Letztes besprachen wir das dringende Problem der Liquidität. Unsere Regierung werde für die Verhandlungen ein paar Monate Luft zum Atmen brauchen und müsse daher irgendwie die bevorstehenden Rückzahlungen an den IWF bewältigen, ohne das Letzte aus dem öffentlichen Sektor in Griechenland herauszuholen und damit die Pensionen und Gehälter im öffentlichen Dienst zu gefährden. [...] er stimmte mir zu, dass etwas in der Art geschehen musste.

'Nur, dass ihr stattdessen die Schlinge um unseren Hals noch zugezogen habt, ehe wir überhaupt gewählt wurden', sagte ich.
Benoît tat so, als verstünde er mich nicht. Daher erinnerte ich ihn an Stournaras' bemerkenswerte Verlautbarung vom 15. Dezember 2014, mit der er den Sturm auf die Banken ausgelöst hatte. Das war ein kriegerische Akt gegen die neue Regierung, eine abstoßende Pflichtverletzung, die in den Annalen der Zentralbanken ihresgleichen sucht, sagte ich. Benoît senkte den Kopf und erwiderte, auch er habe es Verlautbarung für 'unangebracht' und 'unerklärlich' gehalten.
'Ich glaube nicht, dass Stournaras ohne das Okay aus Frankfurt gehandelt hat, Benoît. Niemand in Athen glaubt das, fügte ich hinzu.
Darauf sagte Benoît nichts.
Um die Stille zu füllen, fuhr ich fort: 'Wenn die EZB nicht die notwendigen Schritte unternehme, um einen hausgemachten Bankensturm zu verhindern [...],, würde das von vielen als politische Intervention durch die EZB interpretiert – für die Samaras-Regierung die eigenen Regeln, für uns die anderen. Wieder lächelte Benoît, diesmal breiter, als gestehe er zu, dass sich die EZB in einer merkwürdigen Position befinde. Offiziell war sie unpolitisch, doch in Wahrheit kam ihr in der europäischen Politik eine Schlüsselrolle zu." (S.231)

Die offiziellen Gespräche

"Am Eingang wurde ich von einem überschwänglichen Michel Sapin empfangen. Der joviale Mann Anfang sechzig sprach als einziger Finanzminister der Eurogruppe kein Englisch, doch das machte er mit seinem herzlichen Wesen wieder wett. Mit gestenreicher südeuropäischer Körpersprache gab er mir schon auf dem Weg in sein Büro das Gefühl, wirklich willkommen zu sein. 

Als wir mit unseren Beratern und einem Dolmetscher Platz genommen hatten wurde ich gebeten, zu Beginn ein Statement abzugeben. Ich nutzte die Gelegenheit, die wichtigsten Punkte unserer Wirtschaftsagenda und meine Ideen für die Umschuldung zu umreißen, einschließlich des Non-Papers, auf das sich Sapin geradezu stürzte. [...] Michel antwortete wie ein Waffenbruder: 'er Erfolg deiner Regierung wird unser Erfolg sein. Es ist wichtig, dass wir Europa gemeinsam verändern; dass wir diese Fixierung auf Austeritätspolitik durch eine Wachstumsagenda ablösen. Griechenland braucht das. Frankreich braucht das. Europa braucht das.‘ " (S. 232)

In der offiziellen Pressekonferenz "änderte sich recht plötzlich sein Ton. Jovialität und Kameradschaftlichkeit wichen einer Strenge, die ich eher von der anderen Seite des Rheins kannte: Griechenland habe Verpflichtungen seinen Gläubigern gegenüber, die auch die neue Regierung werde einhalten müssen; es gelte, Disziplin zu üben, Flexibilität sei nur innerhalb der gültigen Vereinbarungen möglich. Keine Spur von dem neuen rousseauischen Gesellschaftsvertrag, auf dem wir uns verständigt hatten. Kein Wort über das Ende der Austeritätsmaßnahmen oder eine Wachstumspolitik durch öffentliche Investitionen zum Wohle Europas. [...]
Sapin setzte ein ernstes Gesicht auf und sprach auf Englisch, fast, als hätte er den Satz geübt, eine traurige Sentenz von historischer Bedeutung: 'Yanis, du musst das verstehen. Frankreich ist nicht, was ist einst war'
In der Tat, Frankreich ist nicht, was ist einst war. In den folgenden Monaten stellten die französische Regierung und die gesamte Elite des Landes ihre Unfähigkeit und Unwilligkeit unter Beweis, Attacken gegen unsere Regierung abzuwehren, die sich langfristig auch gegen Paris richteten. Zwar hatte ich nie erwartet, dass die Franzosen uns gegen ihre eigenen Interessen beistehen würden, doch war ich nicht darauf gefasst gewesen, dass das französische Establishment seine eigenen Interessen nicht mehr verfolgte: schließlich war ihnen nicht damit gedient, wenn sich die Herrschaft der Überschussländer über die finanziell klammen Länder noch verstärkte. Michel Sapins Vorstellung an jenem Tag war eine hervorragende Allegorie für alles, was in der französischen Republik nicht stimmte." (S.234/235)

Beim Gespräch mit Emmanuel Macron:  Der Wirtschaftsminister war das glatte Gegenteil des Finanzministers. Hatte Michel Sapin sich weggedruckt, gezögert und geheuchelt, hörte Emmanuel Macron konzentriert zu, beteiligte sich mit wachen Augen am Gespräch, jederzeit bereit, Zustimmung oder Widerspruch offen zu zeigen. Da er gut Englisch sprach und volkswirtschaftliche Kenntnisse hatte, waren wir uns bald einig, dass Europa ein echtes Investitionsprogramm brauchte, in dem die Billionen ungenutzter Ersparnisse zum kollektiven Wohl eingesetzt werden konnten. Nach meinem ersten Gespräch mit Macron bedauerte ich sehr, dass nicht er, sondern Sapin Frankreich In der Eurogruppe repräsentierte." (S.236)

Michel "Sapin wurde nach der Wahl von Hollande zum Staatspräsidenten und der Benennung von Jean-Marc Ayrault zum Premierminister am 17. Mai 2012 zum Minister für Arbeit, Beschäftigung, Berufsausbildung und den sozialen Dialog in dessen Kabinette (Ayrault IAyrault II) berufen. Bei der Bildung der Regierung Valls I erhielt er das Ministerium für Finanzen und Haushalt und behielt dies auch in der Regierung Valls II. (Wikipedia)


Varoufakis: Werbung um die Finanzwelt

Am Ende griff ich noch ein Thema auf, dass den neoliberalen orientierten Finanzleuten am Herzen lag: Privatisierung. Ich begann mit dem Zugeständnis, dass vermutlich viele im Raum, die ja am anderen Ende des politischen Spektrums standen, meine Ansichten zu den Vorzügen und Nachteilen der Privatisierung nicht teilten. Doch wir seien und sicher darüber einig, dass der Verkauf von Vermögenswerten unsinnig sei, solange die Preise am Boden waren; man dürfe keinen Ausverkauf an Firmen zulassen, die keine Investitionen planten, sondern die erworbenen Unternehmen nur ausschlachten wollten. Angesichts der trüben Umstände, in denen wir uns befinden, würde unsere Regierung keine ideologische Haltung einnehmen, versicherte ich meinen Zuhörern: Wenn ich gefragt würde, ob ich für oder gegen Privatisierungen sei, lautete meine Antwort: 'Das hängt von der fraglichen Anlage ab: Ist es ein Hafen, eine Eisenbahn, ein Strand, ein Energieunternehmen? Strände würde ich auf keinen Fall verkaufen, genauso wenig, wie ich den Parthenon verkaufen würde. Und die Privatisierung von Stromnetzen zeitige zwangsläufig suboptimale Ergebnisse für Umwelt und Gesellschaft. Bei Häfen und Flughäfen dagegen würde ich meine Entscheidung von vier Kriterien abhängig machen: wie hoch die vom Käufer zugesicherten Investitionen seien, ob er auf Arbeitnehmerrechte, gewerkschaftliche Vertretung sowie anständige Löhne und Arbeitsbedingungen achte, ob er Umweltstandards einhalten und ob sich der Käufer verpflichte, kleinen und mittleren örtlichen Unternehmen Spielraum für eigene Gewinne zu lassen. Würden diese vier Kriterien erfüllt, wäre ich mehr als glücklich, der Privatisierung nicht nur zuzustimmen, sondern sie auch tatkräftig zu unterstützen." ( S.241-242)


Über die Reaktion der Börsen auf de Auftritt von Varoufakis: 
"Griechische Aktien gehen durch die Decke. 
Die griechischen Aktien werden am Dienstag beflügelt von der Hoffnung auf eine Lösung des Schulden-Hickhacks zwischen der neuen radikalen Regierung Griechenlands und ihren Gläubigern. Mit Stand 3:12 a.m. GMT [...] ist der Leitindex der Athener Börse um 11,2 Prozent gestiegen. Dieser Nachricht ging voraus, dass der neue griechische Finanzminister Yanis Varoufakis gegenüber der Financial Times erklärt hatte, seine Regierung wird er nicht um eine Abschreibung von 105 315 Milliarden € Zwischenraum an Ausland Schulden bitten, sondern strebe einen Tausch der griechischen Schulden gegen zwei neue wachstumsgebundene Anleihetypen an. (Seite 244/45)

Die erste Eurogruppensitzung (S.283-306)
Varoufakis erlebt den Euro-Gruppenchef Jeroen Dijsselbloem als abhängig von Wolfgang Schäuble als dem starken Mann der Eurogruppe. Doch nachdem Tsipras Merkel dazu gebracht hat, den griechischen Standpunkt zu stützen und Dijsselbloem dazu zu bewegen, einen Kompromiss anzustreben, erreichen die griechischen Vertreter (Tsipras und Varoufakis), dass der "Erpessungsversuch" aufgegeben wird und ein Teilerfolg erreicht wird. Andererseits kommt es aber dazu, "dass mit diesem ersten Treffen zwischen Dijsselbloem und Alexis [Tsipras] eine Entwicklung begann, die den Ministerpräsidenten [Tsipras] und den einzigen seiner Minister [Varoufakis], der dieses Abschreckungsmittel aktivieren konnte und würde, einander entfremdete." (S. 306)


Überblick über den Krisenverlauf in der Wikipedia:

"Am 25. Januar 2015 kam es zu einem Regierungswechsel in Griechenland. Die neue Regierungspartei SYRIZA führte die Verhandlungen über das zweite Programm zunächst fünf Monate lang fort. In der Nacht zum 27. Juni 2015 brach Regierungschef Alexis Tsipras die Verhandlungen ab und setzte ein Referendum an. Schon am nächsten Tag beschloss das Parlament mit überwältigender Mehrheit, das Referendum durchzuführen. Als Gegenmaßnahme stoppte EZB-Chef Mario Draghi umgehend den Kapitalverkehr zu den griechischen Banken, sodass Finanzminister Yanis Varoufakis seinerseits genötigt war, Kapitalverkehrskontrollen einzuführen. Im Juni 2015 wurde der Auslandstransfer vollständig unter staatliche Aufsicht gestellt und nur in Ausnahmen freigegeben. Barauszahlungen durch Banken wurden auf 60 € pro Tag eingeschränkt. Diese Einschränkungen betrafen vor allem Selbständige und Unternehmen; die Bevölkerungsmehrheit unterstützte das Referendum ihrer Regierung mit 61,3 % Nein-Stimmen gegen die EZB und gegen die EU-Partner. Daraufhin vollzog Tsipras überraschend noch in der Wahlnacht eine Kehrtwende, die Finanzminister Varoufakis nicht mittragen wollte und zurücktrat." (Griechische Staatsschuldenkrise)


(wird ergänzt)

Eine aktuelle Anmerkung zu den Folgen des Wirkens der Troika in Griechenland


21 Januar 2023

Monika Helfer: Löwenherz

Monika Helfer 

Löwenherz: Rezensionen bei Perlentaucher

Alle Personen  in dem Roman (2022) wirken wie ausgedacht, sympathisch ausgedacht, aber nicht so, wie sie in eine realistische Welt passen. - Dabei handelt es sich um einen biographischen Roman über M. Helfers Bruder.

Richard (Löwenherz), der Titelheld, das Lieblingskind des Vaters und deswegen der Mutter, oder Mann ohne Eigenschaften, der "Schmähtandler", also der Mann, der sich ständig die Welt ausdenkt, die er gebrauchen kann, dem man deshalb also nichts glauben kann, dem Frauen aber meist alles glauben, weil sie es wollen. 

Der gerät in eine Konstellation wie in Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis (2019): Der Held, der zunächst mit einem Tier zusammen lebt, wird auf etwas ungewöhnliche Weise für ein kleines Mädchen zuständig, für das er aber keine Zeit hat und das sich deshalb mit dem Tier anfreundet. Nur dass das Tier bei Kurkow ein Pinguin ist, bei Helfer der Hund Schamasch.

Monika Richards Schwester und Erzählerin aus Österreich, Vorarlberg

Gretel    Richards Schwester. Sie sagt zu Monika: " 'Warum hätte ich sollen', sagt Grete. Es ist doch alles gut ausgegangen. Und du hättest eine Geschichte daraus gemacht.'

Ich will sagen: Schließlich sind wir ja Geschwister. Ich sage nichts. Weil ich sonst sagen müsste, ja, ich mache eine Geschichte daraus. Als ob es etwas Ehrenrühriges wäre, Schriftstellerin zu sein." (S.73)

Renate  Richards Schwester

Die drei Schwestern wachsen wie elternlos auf und "halten zusammen wie Pech und Schwefel".

Richards Mutter  tot

Richards Vater im Kloster, liest und erhält Suppen von den Nonnen

Putzi 1, der einzige Mensch, der Richard emotionel berührt und den er liebt. (Er weiß nicht, dass sie Rosi - in Wirklichkeit aber ganz anders - heißt.)

Kitti, Richards "Lebensretterin", die ihr Baby Richard anhängt und dann verschwindet

Monikas Mann

Michael, Freund von Monika und Richard 

Putzi 2 oder Simone

Tanja, Richards Geliebte, Rechtsanwältin, die plötzlich viel Geld verdient

Der Schluss des Romans:

" 'Richard hat sich das Leben genommen', sagte er zu mir. [...]

Gerade fällt mir ein Wort ein, von dem ich nicht weiß, ob es noch etwas taugt: 'Schlafesruh'. Es kommt in einem Kirchenlied vor. Ich nehme es für Richard und es beruhigt mich."


Todesnacht

   Süß ist wohl nach lautem Leben
Eines langen Schlafes Ruh',
Würd' der Tod mir diese geben,
Ging' ich gern dem Grabe zu.

Traumlos möcht' ich schlafen stille
Dann die lange Todesnacht,
Wie die Pupp' in dunkler Hülle,
Bis der Schmetterling erwacht.



Die Problematik der Darstellung: Die Erzählerin rückt äußerst nah an die Autorin heran. 

Dadurch wird die Personenkennzeichnung Teil einer Rechtfertigung der Handlung der Erzählerin, die unter dem Bann ihres Bruders zwar weiß, dass er ein "Schmähtandler" ist, aber dennoch seine Berichte über die angeblichen Handlungen der Kitti für volle Wahrheit nimmt. So wird das, was er über Kitti sagt, in der Darstellung als unbezweifelte Wahrheit eingeführt. Kitti ist böse und zwingt Richard ein Kind auf und Verbrecher entführen es. Dadurch wird der egoistische Autist plötzlich zum liebevollen Vater. Seine Kitti zum Wunderkind, das alle verhext, so dass sie alles, was es tut, gutheißen. Ein Wilderer erschießt seinen Hund. Plötzlich wird Richard, der vorher Emotionen nicht kannte, völlig abhängig von der Trauer des Kindes und die "coole" Rechtsanwältin fügt sich wie willenlos seinen Wünschen. - In der Fiktion glaubt die Erzählerin ihrem Bruder alles und erscheint schuldlos unverantwortlich. Dadurch, dass Helfer sie zur Erzählerin macht, ist sie in der fiktiven Handlung ganz ohne Schuld. 

Die Nähe der Erzählerin zur Autorin bestärkt aber den Verdacht, dass die Autorin mit ihrer Fiktion sowohl Richard als auch Monika - sich selbst? - als schuldlos erscheinen lassen will, Kitti aber als die unerklärbar böse Dämonin. - Weshalb nennt diese das Kind plötzlich mit seinem bürgerlichen Namen Ayasha Roya, den sie laut S.178 zuvor nicht aussprechen konnte? 

14 Januar 2023

Stifter: Der Nachsommer - ein Versuch, den Zugang zum Roman zu erleichtern

Dieser Blogbeitrag ist eine Übernahme des Artikels, den ich am 10.8. 2007 in das ZUM-Wiki eingestellt habe. (Bisher 8.427 mal abgerufen.) 

 Er soll den Zugang zu dieser Textzusammenstellung bewahren, wenn er dort gelöscht worden ist.

Am Brunnen

Endlich sagte sie: »Wir haben von dem Angenehmen dieses Ortes gesprochen und sind von dem edlen Steine des Marmors auf die Edelsteine gekommen; aber eines Dinges wäre noch Erwähnung zu tun, das diesen Ort ganz besonders auszeichnet.«
»Welches Dinges?« »Des Wassers. Nicht bloß, daß dieses Wasser vor vielen, die ich kenne, gut zur Erquickung gegen den Durst ist, so hat sein Spielen und sein Fließen gerade an dieser Stelle und durch diese Vorrichtungen etwas Besänftigendes und etwas Beachtungswertes.« »Ich fühle wie ihr«, antwortete ich, »und wie oft habe ich dem schönen Glänzen und dem schattenden Dunkel dieses lebendigen flüchtigen Körpers an dieser Stelle zugesehen, eines Körpers, der wie die Luft wohl viel bewunderungswürdiger wäre als es die Menschen zu erkennen scheinen.« »Ich halte auch das Wasser und die Luft für bewunderungswürdig«, entgegnete sie, [...]
»Was kann euch denn an diesem Orte Schmerz erregen?« fragte sie. »Natalie«, antwortete ich, »es ist jetzt ein Jahr, daß ihr mich an dieser Halle absichtlich gemieden habt. Ihr saßet auf derselben Bank, auf welcher ihr jetzt sitzet, ich stand im Garten, ihr tratet heraus und ginget von mir mit beeiligten Schritten in das Gebüsch.« Sie wendete ihr Angesicht gegen mich, sah mich mit den dunklen Augen an und sagte: »Dessen erinnert ihr euch, und das macht euch Schmerz?« »Es macht mir jetzt im Rückblicke Schmerz und hat ihn mir damals gemacht«, antwortete ich. »Ihr habt mich ja aber auch gemieden«, sagte sie. »Ich hielt mich ferne, um nicht den Schein zu haben, als dränge ich mich zu euch«, entgegnete ich. »War ich euch denn von einer Bedeutung?« fragte sie. »Natalie«, antwortete ich, »ich habe eine Schwester, die ich im höchsten Maße liebe, ich habe viele Mädchen in unserer Stadt und in dem Lande kennen gelernt; aber keines, selbst nicht meine Schwester, achte ich so hoch wie euch, keines ist mir stets so gegenwärtig und erfüllt mein ganzes Wesen wie ihr.« Bei diesen Worten traten die Tränen aus ihren Augen und flossen über ihre Wangen herab. Ich erstaunte, ich blickte sie an und sagte: »Wenn diese schönen Tropfen sprechen, Natalie, sagen sie, daß ihr mir auch ein wenig gut seid?« »Wie meinem Leben«, antwortete sie. Ich erstaunte noch mehr und sprach: »Wie kann es denn sein, ich habe es nicht geglaubt.« »Ich habe es auch von euch nicht geglaubt«, erwiderte sie. »Ihr konntet es leicht wissen«, sagte ich. »Ihr seid so gut, so rein, so einfach. So seid ihr vor mir gewandelt, ihr waret mir begreiflich wie das Blau des Himmels, und eure Seele erschien mir so tief wie das Blau des Himmels tief ist. [...]
»Und nun hat sich alles recht gelöset.« »Es hat sich wohl gelöset, meine liebe, liebe Natalie.« »Mein teurer Freund!« Wir reichten uns bei diesen Worten die Hände wieder und saßen schweigend da.

Nachsommer, Der Bund
Auf dem Weg
An dieser Stelle sah ich jetzt, daß mir eine Gestalt, welche mir früher durch Baumkronen verdeckt gewesen sein mochte, entgegen kam, welche die Gestalt Nataliens war. [...]
»Es ist recht schön«, sprach sie, »daß wir gleichzeitig einen Weg gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt wirklich gehe.«
»Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?« fragte ich. »Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden«, antwortete sie, »dann kam er doch in sehr leichter, flüchtiger Gestalt. Ich erwachte bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen und ihn bis über die Felderanhöhe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid angezogen, welches zu einem Gange außer dem Hause nicht tauglich war. Ich mußte mich daher später umkleiden und ging jetzt heraus, um die Morgenluft zu genießen.« [...]
Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme nach dem andern vorüber, und die Schatten, welche die Bäume auf den Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen hinter uns zurück. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte Natalie: »Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?« »Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht unangenehm empfunden«, entgegnete ich, »die Fenster meiner Wohnung, welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in das Freie, ein großer Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich frühe auf, und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schlosse mehr stören würde, ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen.«
»Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren Sommers zu atmen«, erwiderte sie. »Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat«, antwortete ich.

Der Nachsommer, Die Entfaltung


Gustav und Mathilde: Die Liebeserklärung

Die Liebeserklärung zwischen Gustav und Mathilde, den Liebenden der vorigen Generation, war nicht so abgeklärt gewesen.
Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe.
Ich sagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier gar so schön sei, und daß es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden.
›Es ist wirklich sehr schön‹, antwortete sie, ›hier sind wir alle viel mehr beisammen, in der Stadt kommen Fremde dazwischen, man wird getrennt, und es ist, als wäre man in eine andere Ortschaft gereist. Es ist doch das größte Glück, jemanden recht zu lieben.‹ ›Ich habe keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr‹, erwiderte ich, ›und ich weiß daher nicht, wie es ist.‹ ›Man liebt den Vater, die Mutter, die Geschwister‹, sagte sie, ›und andere Leute.‹ ›Mathilde, liebst du denn auch mich?‹ erwiderte ich.
Ich hatte sie nie du genannt, ich wußte auch nicht, wie mir die Worte in den Mund kamen, es war, als wären sie mir durch eine fremde Macht hineingelegt worden. Kaum hatte ich sie gesagt, so rief sie: ›Gustav, Gustav‹, so außerordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist. Mir brachen die heftigsten Tränen hervor.
Da flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund und schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte sie auch und drückte die schlanke Gestalt so heftig an mich, daß ich meinte, sie nicht loslassen zu können. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte. Von jetzt an war mir in der ganzen Welt nichts teurer als dieses süße Kind. Als wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, erglühend in unsäglicher Scham, gestreift von den Lichtern und Schatten des Weinlaubes, und als sich, da sie den süßen Atem zog, ihr Busen hob und senkte: war ich wie bezaubert, kein Kind stand mehr vor mir, sondern eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich fühlte mich beklommen.
Nach einer Weile sagte ich: ›Teure, teure Mathilde.‹ ›Mein teurer, teurer Gustav‹, antwortete sie. Ich reichte ihr die Hand und sagte: ›Auf immer, Mathilde.‹ ›Auf ewig‹, antwortete sie, indem sie meine Hand faßte. […]
Ich hatte früher nie irgend ein Mädchen bei der Hand gefaßt als meine Schwester, ich hatte nie mit einem ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick gewechselt. Dieses Gefühl war jetzt wie ein Sturm wind über mich gekommen. […] Ich ging wieder zu unserem Wohnhause zurück, und ging auf den Platz, von dem ich Mathildens Fenster sehen mußte. Sie beugte sich aus einem heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich erblickt hatte, fuhr sie zurück. Auch mir war es gewesen da ich die holde Gestalt sah, als hatte mich ein Wetterstrahl getroffen. Ich ging wieder in die Büsche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine Strecke Rasen säumten und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im Schatten ruhen zu können. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurück. […] Es war zauberhaft, ein süßes Geheimnis mit einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein und es als Glut im Herzen zu hegen. […]
Sie stand wie eine feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte. Im vorigen Sommer hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine schwierige Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege zu stützen, oder sie auf schmalem Pfade zu geleiten. Jetzt fürchteten wir, uns die Hände zu geben, und die Berührung war von der größten Wirkung. […] Dann setzte sie sich zu dem Klaviere und rief einzelne Töne aus den Saiten. […]
Es begann nun eine merkwürdige Zeit. In meinem und Mathildens Leben war ein Wendepunkt eingetreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß wir unsere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie geheim, wir hielten sie geheim vor dem Vater, vor der Mutter, vor Alfred und vor allen Menschen. Nur in Zeichen, die sich von selber gaben, und in Worten, die nur uns verständlich waren, und die wie von selber auf die Lippen kamen, machten wir sie uns gegenseitig kund. […] Wenn wir durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Busch bog, wenn er in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem Haselgebüsche war als wir, wenn er uns in dem Innern des Gartenhauses allein ließ, konnten wir uns mit den Fingern berühren, konnten uns die Hand reichen, oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns einen Augenblick halten, die heißen Lippen an einander drücken und die Worte stammeln: ›Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und nur dein, nur dein allein!‹ ›O ewig dein, ewig, ewig, Gustav, dein, nur dein, und nur dein allein.‹ Diese Augenblicke waren die allerglückseligsten.

Der Nachsommer, Der Rückblick, S.761 - 768


Gustav und Mathilde: Die Trennung

Doch dieses Paar findet nicht zueinander. Gustav entscheidet sich für das, was er für seine Pflicht hält.
Dennoch war allgemach etwas da, das wie ein Übel in mein Glück bohrte. Es nagte der Gedanke an mir, daß wir die Eltern Mathildens täuschen. Sie ahnten nicht, was bestand, und wir sagten es ihnen nicht. Immer drückender wurde mir das Gefühl, und immer ängstender lastete es auf meiner Seele. Es war wie das Unheil der Alten, welches immer größer wird, wenn man es berührt.
Eines Tages, da eben die Rosenblüte war, sagte ich zu Mathilden, ich wolle zur Mutter gehen, ihr alles entdecken und sie um ihr gütiges Vorwort bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde gut sein, sie wünsche es, und unser Glück müsse dadurch sich erst recht klären und befestigen.
Ich ging nun zur Mutter Mathildens, und sagte ihr alles mit schlichten Worten, aber mit zagender Stimme.

Der Nachsommer, Der Rückblick, S.773
Die Mutter spricht mit Risach und erklärt ihm ausführlich, Mathilde sei noch zu jung für eine Bindung und er müsse auch erst eine Lebensstellung erarbeiten. Er anwortet:
„Wir haben uns nicht vorzustellen vermocht, daß das, was für uns ein so hohes Glück war, für die Eltern ein Unheil sein wird. Ihr habt es mir mit Eurer tiefsten Überzeugung gesagt. Selbst wenn Ihr irrtet, selbst wenn unsere Bitten Euch zu erweichen vermöchten, so würde Euer freudiger Wille, Euer Herz und Euer Segen mit dem Bunde nicht sein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern, ein Bund mit der Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund der Trauer sein, er wäre ein ewiger Stachel, und Euer ernstes oder bekümmertes Antlitz würde ein unvertilgbarer Vorwurf sein. Darum ist der Bund, und wäre er der berechtigteste, aus, er ist aus auf so lange, als die Eltern ihm nicht beistimmen können. Eure ungehorsame Tochter würde ich nicht so unaussprechlich lieben können, wie ich sie jetzt liebe, Eure gehorsame werde ich ehren und mit tiefster Seele, wie fern ich auch sein mag, lieben, so lange ich lebe. Wir werden daher das Band losen, wie schmerzhaft die Lösung auch sein mag. – O Mutter, Mutter! – laßt Euch diesen Namen zum ersten und vielleicht auch zum letzten Male geben – der Schmerz ist so groß, daß ihn keine Zunge aussprechen kann? und daß ich mir seine Größe nie vorzustellen vermocht habe. […] Ich werde morgen Mathilden sagen, […] daß sie ihrem Vater und ihrer Mutter gehorchen müsse.

Der Nachsommer, Der Rückblick, S.779-780
Am nächsten Tag geht Risach zu Mathilde und erklärt ihr, was er bei ihrer Mutter ausgerichtet hat und was sie nun tun müssten. Mathilde hat dafür kein Verständnis.
„Ich ging auf die Gründe, welche die Mutter angegeben hatte, nicht ein, und legte Mathilden nur dar, daß sie zu gehorchen habe, und daß unter Ungehorsam unser Bund nicht bestehen könne.
Als ich geendet hatte, war sie im höchsten Maße erstaunt. ›Ich bitte dich, wiederhole mir nur in kurzem, was du gesprochen hast, und was wir tun sollen‹, sagte sie. ›Du mußt den Willen deiner Eltern tun und das Band mit mir lösen‹, antwortete ich. ›Und das schlägst du vor, und das hast du der Mutter versprochen, bei mir auszuwirken?‹, fragte sie. ›Mathilde, nicht auszuwirken‹, antwortete ich, ›wir müssen gehorchen; denn der Wille der Eltern ist das Gesetz der Kinder.‹
›Ich muß gehorchen‹, rief sie, indem sie von der Bank aufsprang, ›und ich werde auch gehorchen; aber du mußt nicht gehorchen, deine Eltern sind sie nicht. Du mußtest nicht hieher kommen und den Auftrag übernehmen, mit mir das Band der Liebe, das wir geschlossen hatten, aufzulösen. Du mußtest sagen: ›Frau, Eure Tochter wird Euch gehorsam sein, sagt Ihr nur Euren Willen; aber ich bin nicht verbunden, Eure Vorschriften zu befolgen, ich werde Euer Kind lieben, so lange ein Blutstropfen in mir ist, ich werde mit aller Kraft streben, einst in ihren Besitz zu gelangen. Und da sie Euch gehorsam ist, so wird sie mit mir nicht mehr sprechen, sie wird mich nicht mehr ansehen, ich werde weit von hier fortgehen; aber lieben werde ich sie doch, so lange dieses Leben währt und das künftige, ich werde nie einer andern ein Teilchen von Neigung schenken, und werde nie von ihr lassen.‹ ›So hättest du sprechen sollen, und wenn du von unserm Schlosse fortgegangen wärest, so hätte ich gewußt, daß du so gesprochen hast, und tausend Millionen Ketten hätten mich nicht von dir gerissen, und jubelnd hätte ich einst in Erfüllung gebracht, was dir dieses stürmische Herz gegeben. Du hast den Bund aufgelöste, ehe du mit mir hieher gegangen bist, ehe du mich zu dieser Bank geführt hast, die ich dir gutwillig folgte, weil ich nicht wußte, was du getan hast. Wenn jetzt auch der Vater und die Mutter kämen und sagten: ›Nehmet euch, besitzet euch in Ewigkeit‹, so wäre doch alles aus. Du hast die Treue gebrochen, die ich fester gewähnt habe als die Säulen der Welt und die Sterne an dem Baue des Himmels.‹
›Mathilde‹, sagte ich, ›was ich jetzt tue, ist unendlich schwerer, als was du verlangtest.‹ ›Schwer oder nicht schwer, von dem ist hier nicht die Rede‹, antwortete sie, ›von dem, was sein muß, ist die Rede, von dem, dessen Gegenteil ich für unmöglich hielt. Gustav, Gustav, Gustav, wie konntest du das tun?‹
Sie ging einige Schritte von mir weg, kniete, gegen die Rosen, die an dem Gartenhause blühten, gewendet, in das Gras nieder, schlug die beiden Hände zusammen und rief unter strömenden Tränen: ›Hört es, ihr tausend Blumen, die herabschauten, als er diese Lippen küßte, höre es du, Weinlaub, das den flüsternden Schwur der ewigen Treue vernommen hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge, in keiner Sprache ausgesprochen werden kann. Dieses Herz ist jung an Jahren, aber es ist reich an Großmut; alles, was in ihm lebte, habe ich dem Geliebten hingegeben, es war kein Gedanke in mir als er, das ganze künftige Leben, das noch viele Jahre umfassen konnte, hätte ich wie einen Hauch für ihn hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langsam aus den Adern fließen und jede Faser aus dem Leibe ziehen lassen – und ich hätte gejauchzt dazu. Ich habe gemeint, daß er das weiß, weil ich gemeint habe, daß er es auch tun würde. Und nun führt er mich heraus, um mir zu sagen, was er sagte. Wären was immer für Schmerzen von außen gekommen, was immer für Kämpfe, Anstrengungen und Erduldungen; ich hätte sie ertragen, aber nun er – er –! Er macht es unmöglich für alle Zeiten, daß ich ihm noch angehören kann, weil er den Zauber zerstört hat, der alles band, den Zauber, der ein unzerreißbares Aneinanderhalten in die Jahre der Zukunft und in die Ewigkeit malte.‹
Ich ging zu ihr hinzu, um sie empor zu heben. Ich ergriff ihre Hand. Ihre Hand war wie Glut. Sie stand auf, entzog mir die Hand, und ging gegen das Gartenhaus, an dem die Rosen blühten.“

Der Nachsommer, Der Rückblick, S.781 - 783
Nach einem langen getrennten Leben finden sie sich erst nach dem Austritt des Mannes aus dem Arbeitsleben, im "Nachsommer" in inniger Freundschaft und Kooperation, aber getrennten Lebensräumen zusammen. - Man kann es Resignation nennen. Goethe spricht im Wilhelm MeisterWikipedia-logo.png von "Entsagung". Die Sprache, die im "Nachsommer" vorherrscht, spiegelt etwas von dieser neuen Haltung wider.


Bildungslehre

Weil euch euere Natur selber zum Teile aus dem Kreise herausgezogen hat, den ihr um euch gesteckt habt, weil ihr zu euren früheren Bestrebungen noch den Einblick in die Dichtungen gesellt habt, so wie ja schon das Landschaftsmalen als ein Übergang in das Kunstfach ein Schritt aus eurem Kreise war, so erlaubet mir, daß ich als Freund, der euch wohl will, ein Wort zu euch rede. Ihr solltet zu eurem Wesen eine breitere Grundlage legen. Wenn die Kräfte des allgemeinen Lebens zugleich in allen oder vielen Richtungen tätig sind, so wird der Mensch, eben weil alle Kräfte wirksam sind, weit eher befriedigt und erfüllt, als wenn eine Kraft nach einer einzigen Richtung hinzielt. Das Wesen wird dann im Ganzen leichter gerundet und gefestet. Das Streben in einer Richtung legt dem Geiste eine Binde an, verhindert ihn, das Nebenliegende zu sehen und führt ihn in das Abenteuerliche. Später, wenn der Grund gelegt ist, muß der Mann sich wieder dem Einzigen zuwenden, wenn er irgendwie etwas Bedeutendes leisten soll. Er wird dann nicht mehr in das Einseitige verfallen. In der Jugend muß man sich allseitig üben, um als Mann gerade dann für das Einzelne tauglich zu sein. Ich sage nicht, daß man sich in das Tiefste des Lebens in allen Richtungen versenken müsse, wie zum Beispiele in allen Wissenschaften, wie ihr ja selber einmal angefangen habt, das wäre überwältigend oder tötend, ohne dabei möglich zu sein; sondern daß man das Leben, wie es uns überall umgibt, aufsuche, daß man seine Erscheinungen auf sich wirken lasse, damit sie Spuren einprägen, unmerklich und unbewußt, ohne daß man diese Erscheinungen der Wissenschaft unterwerfe. Darin, meine ich, besteht das natürliche Wissen des Geistes, zum Unterschiede von der absichtlichen Pflege desselben. Er wird nach und nach gerecht für die Vorkommnisse des Lebens. Ihr habt, scheint es mir, zu jung einen einzelnen Zug erfaßt, unterbrecht ihn ein wenig, ihr werdet ihn dann freier und großartiger wieder aufnehmen. Schaut auch die unbedeutenden, ja nichtigen Erscheinungen des Lebens an. Geht in die Stadt, sucht euch deren Vorkommnisse zurecht zu legen, kommt dann zu uns auf das Land, lebt einmal eine Weile müßig bei uns, das heißt tut, was euch der Augenblick und die Neigung eingibt, wir wollen dieses Haus und den Garten genießen, wollen den Nachbar Ingheim besuchen, wollen auch zu anderen entfernteren Nachbarn gehen und die Dinge an uns vor über fließen lassen, wie sie fließen.[6]

Der väterliche Freund Freiherr von Risach zum Protagonisten der Romans Der Nachsommer von Adalbert Stifter, 2. Band, 1. Kapitel


Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst

So wie ich früher Gegenstände der Natur für wissenschaftliche Zwecke gezeichnet hatte, wie ich bei diesen Zeichnungen zur Anwendung von Farben gekommen war, wie ich ja vor Kurzem erst Geräte gezeichnet und gemalt hatte: so versuchte ich jetzt auch, den ganzen Blick, in dem ein Hintereinanderstehendes, im Dufte Schwebendes, vom Himmel sich Abhebendes enthalten war, auf Papier oder Leinwand zu zeichnen und mit Ölfarben zu malen. Das sah ich sogleich, daß es weit schwerer war als meine früheren Bestrebungen, weil es sich hier darum handelte, ein Räumliches, das sich nicht in gegebenen Abmessungen und mit seinen Naturfarben, sondern gleichsam als die Seele eines Ganzen darstellte, zu erfassen, während ich früher nur einen Gegenstand mit bekannten Linienverhältnissen und seiner ihm eigentümlichen Farbe in die Mappe zu übertragen hatte. Die ersten Versuche mißlangen gänzlich. Dieses schreckte mich aber nicht ab, sondern eiferte mich vielmehr noch immer stärker an. Ich versuchte wieder und immer wieder. Endlich vertilgte ich die Versuche nicht mehr, wie ich früher getan hatte, sondern bewahrte sie zur Vergleichung auf. Diese Vergleichung zeigte mir nach und nach, daß sich die Versuche besserten und die Zeichnung leichter und natürlicher wurde. Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen, und je mehr ich nach dem Ergreifen strebte, desto schöner wurde auch dieses Unnennbare vor mir selbst. [...]
Durch das Urteil meiner Freunde wurde mir der Verstand plötzlich geöffnet, daß ich das, was mir bisher immer als wesenlos erschienen war, betrachten und kennen lernen müsse. Durch Luft, Licht, Dünste, Wolken, durch nahe stehende andere Körper gewinnen die Gegenstände ein anderes Aussehen, dieses müsse ich ergründen, und die veranlassenden Dinge müsse ich, wenn es mir möglich wäre, so sehr zum Gegenstande meiner Wissenschaft machen, wie ich früher die unmittelbar in die Augen springenden Merkmale gemacht hatte. Auf diese Weise dürfte es zu erreichen sein, daß die Darstellung von Körpern gelänge, die in einem Mittel und in einer Umgebung von anderen Körpern schwimmen.[7]

Adalbert Stifter: Der Nachsommer, 2. Band, Die Erweiterung


Weitere charakteristische Textstellen


Zu den Personen, insbesondere zu Heinrich Drendorf


Text



Gedruckte Ausgaben

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Roman. Mit einem Nachwort und Auswahlbibliographie von Uwe Japp. Artemis und Winkler, Düsseldorf, Zürich 2005.


Rezensionen


Fußnoten

  1.  Die Tendenz zur Objektivierung des Schreibens bringt schließlich auch den unverwechselbaren Stifterschen Stil hervor, der sich im Nachsommer bereits auf dem Weg zu der grandiosen Verkarstung und monumentalen Versimpelung des Spätwerks befindet. Ich nenne nur einige Aspekte. 1. beginnen bei Stifter die schlichten Hauptsätze zu dominieren. Oder, um es auf germanistisch zu sagen: Stifter bevorzugt gegenüber der Hypotaxe zunehmend die Parataxe, denn hypotaktische Sätze konstruieren Abhängigkeitsverhältnisse, Über- und Unterordnungen, Beziehungen also, die erst ein Sprecherindividuum stiftet. Parataktische Sätze dagegen sagen das schlichte Nebeneinander von Sachverhalten in Form einer Reihung aus, ohne sie durch die Art ihrer sprachlichen Vergegenwärtigung gewissermaßen schon zu kommentieren. 2. neigt Stifter zur Tilgung aller Metaphern. (Ch. Begemann: Erschriebene Ordnung)
  2.  Der fremdartige, irritierende Reiz des Buches geht von der Radikalität aus, mit der Künstlichkeit hier zum Programm erhoben und zugleich kaschiert wird. [...] Und diese Künstlichkeit macht unverkennbar, daß die Ordnung, deren Zeuge wir werden, eine Ordnung ist, die allein vom Text produziert wird.(Ch. Begemann: Erschriebene Ordnung)
  3.  Läßt man sich einmal auf den Nachsommer ein, dann entwickelt gerade das, was man ihm vorwerfen kann, einen eigenartigen anziehend-abstoßenden Sog.(Ch. Begemann: Erschriebene Ordnung)
  4.  Ohne es noch begreifen zu können, artikuliert Hebbel, wie nahe Stifter einem wesentlichen Prinzip der literarischen Moderne kommt: der Selbstreflexivität der Literatur [...] (Ch. Begemann: Erschriebene Ordnung)
  5.  Die Bedeutung von Stifters Nachsommer für Österreich hat man mit der von Goethes Wilhelm Meister für Deutschland verglichen (vgl. Hofmannsthals Nachwort zum Nachsommer im ersten Satz)
  6.  Aus der Tatsache, dass die Welt des Freiherrn von Risach im Roman als das unangezweifelte Vorbild erscheint, darf man schließen, dass Risach hier Stifters eigene Anschauungen wiedergibt.
  7.  Auch wenn Stifter in diesem 1857 geschriebenen Werk noch die Probleme realistischen Malens von fernen Gegenständen behandelt, so ist doch mit der Formulierung "Durch Luft, Licht, Dünste, Wolken, durch nahe stehende andere Körper gewinnen die Gegenstände ein anderes Aussehen ..." eine Grundüberlegung der Impressionisten ausgesprochen, die erst Mitte der sechziger Jahre des Jahrhunderts mit typischen Werken hervortraten.


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