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25 Juni 2024

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen

 

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, 2022


KLAPPENTEXT

Deutschland 1918. Ende des Ersten Weltkriegs, Revolution, Sieg der Demokratie. Zugleich beginnt ein Siegeszug befreiter Lebensweisen. Die Inflation hat die überlieferten Werte ins Wanken gebracht. Alles soll von Grund auf anders werden: die "Neue Frau", der "Neue Mann", "Neues Wohnen", "Neues Denken". Als es Mitte der Zwanziger auch wirtschaftlich aufwärtsgeht, wird Deutschland ein anderes Land. Frauen eroberten die Rennpisten und Tennisplätze, gingen abends alleine aus, schnitten sich die Haare kurz und dachten nicht ans Heiraten. Unisex kam in Mode, Androgynes und Experimentelles. Jähner erzählt von der Erfindung der Freizeit, von Boxhallen und Tanzpalästen, und von den Hotspots der Neuen Zeit, vom Büro und Großstadtverkehr, vom Warenhaus als Glücksversprechen oder der Straße als Ort erbitterter Kämpfe. So vieles wirkt heute verblüffend modern. Die Vorliebe für Ironie, das Gradlinige und Direkte. Aber auch die Angst vor der "Entwertung aller Werte", der Herrschaft des Billigen. Ein großer Teil der Deutschen fand sich im Aufbruch nicht wieder. Nach und nach offenbarte sich die tiefe Spaltung der Gesellschaft und die Unfähigkeit, sie auszuhalten. Harald Jähner liefert eine Gesamtschau dieser so pulsierenden, reichen Zeit, wie es sie bislang nicht gab - und zeichnet das Bild eines zerrissenen Landes voll gewaltiger und erschreckender Energien. Es ist uns irritierend ähnlich und - hoffentlich - doch ganz anders.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 28.12.2022

Der hier rezensierende Verleger Klaus Bittermann hat von Harald Jähner viel über die Seele der Weimarer Republik gelernt. [...] Wieder wählte Jähner das Stilmittel des "Wimmelbildes", um mit kleinen Geschichten über die große Historie zu berichten und durchforstete abermals die Archive von Zeitungen, lesen wir. Was er dort fand, hat eine enorme atmosphärische Gegenwärtigkeit, lobt der Rezensent, denn genau die fehle in den herkömmlichen Geschichtsbüchern. Bittermann beeindruckt, was für ein Zeitgemälde Jähner aus Kleinanzeigen entwickelt und damalige Leitartikel blass aussehen lässt. 

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 06.10.2022

Harald Jähner schaut genau auf die aufregenden 1920er Jahre, erkennt Florian Keisinger. Sein besonderer Fokus: Der Durchschnittsmensch als Zeitgenosse. Dass er das spannend erzählt, ist für den Rezensenten ein ganz großes Plus und keine Selbstverständlichkeit bei einem Sachbuch. Er bemängelt zwar, dass nicht die ganze Weimarer Republik so umfassend beleuchtet wird, erkennt aber an, dass Berlin als Fokus sinnvoll ist. Von dieser Warte aus werden unter anderem die Rolle der Frau, das Bauhaus, der Aufstieg der NSDAP und die Weltwirtschaftskrise als Weg in den Niedergang vom Autor gekonnt thematisiert, findet Keisinger und empfiehlt das Buch.

Aus dem Inhalt:
 Übergriffe der Heimkehrsoldaten, mit Maschinengewehr auf Straßenbahn geschossen.
Besetzungen von Verlagsgebäuden und des Wolffschen Telegrafenbüros und des Berliner Tageblatts (S. 44) Die Besetzungen anfangs "ziemlich planlos" (S.45) "weshalb der Begriff Spartakusaufstand auch in die Irre führt" (S.45) Erst dann setzen sich Liebknecht und Luxemburg an die Spitze. – Daneben geht das bürgerliche Leben weiter (Theateraufführungen). Als das Tanzverbot gefallen ist, das während des Krieges galt, kommt es zu einer großen Tanzbegeisterung. Holländer schreibt den Song. "Dein Tänzer ist der Tod" (S.49)

"Nachdem im Zuge eines Generalstreiks aufständische Arbeiter, im Stadtbezirk Lichtenberg ein Polizeirevier und das Postamt besetzt hatten und es zu zahlreichen Plünderungen und Ausschreitungen gekommen war, ließ Gustav Noske als Reichswehrminister in der sozialdemokratischen Regierung für die innere Sicherheit verantwortlich, den Stadtteil gewaltsam räumen. Nach offiziellen Angaben kamen dabei eintausendzweihundert Menschen um, wahrscheinlich waren es noch etliche mehr. Die meisten starben durch standrechtliche Erschießungen, die von den eingesetzten Freikorpssoldaten vorgenommen wurden. Ihre 'Rechtsgrundlage' bildete die Anordnung, Noskes, jeden zu erschießen, der mit der Waffe in der Hand kämpfend angetroffen werde. Der selbsternannte Bluthund der SPD hatte diesen Befehl erlassen, nachdem das Gerücht in Umlauf gesetzt worden war, die Aufständischen hätten fünfzig Polizisten im besetzten Revier ermordet.  Die Freikorpssoldaten hatten den Befehl dahin gehend erweitert, dass sie jeden umbrachten, der auch nur eine Waffe besaß. [...]  Sie erschossen sogar Angehörige der / revolutionären Volksmarinedivision, die friedlich an einem Militärdepot Schlange standen, um ihre Waffen abzugeben und den Entlassungslohn abzuholen." (S.51/52 )
"1913 hatten sich in Deutschland zwei Milliarden Mark im Umlauf befunden, 1919 waren es 45 Milliarden. Währenddessen hatte sich der Staat um das Dreißigfacher verschuldet, von fünf auf 153 Milliarden. Diese inflationäre Praxis war in allen kriegsführenden Ländern üblich, und in keinem hatte man sich darüber Gedanken gemacht, wie man das Geld nach Kriegsende an die Bürger zurückzahlen und dem Haushalt wieder in Ordnung bringen könnte. Denn alle Nationen waren gleichermaßen davon überzeugt, den Krieg zu gewinnen. Für die Kosten / würden am Ende die anderen aufkommen müssen." (S.79/80) 
"Dummerweise dachten die Gegner genauso. Auch sie verfuhren nach der Devise: 'der Verlierer zahlt alles', als sie den Deutschen Versailles die Friedensbedingungen diktierten. [...] In einer ersten Rate zur Wiedergutmachung der Kriegsfolgen, die die Sieger Staaten erlitten hatten, sollte Deutschland zwanzig Milliarden Goldmark zahlen. Mit derart rosigen Einkommensaussichten gingen Britten und Franzosen in die Inventur und stellten ihre inflationäre Kriegswirtschaft auf einen sparsamen Friedenshaushalt um. Sie kürzten alle Sozialausgaben, sparten, wo sie nur konnten, und setzten auf das Geld aus Deutschland. Die Aussicht auf die Reparationszahlungen gab ihnen den Mut, die nötige wirtschaftliche Fastenkur in Angriff zu nehmen. Den Deutschen hingegen war solch ein ökonomischer Realismus durch die hoffnungsloser Lage verstellt. Ihr Schuldenberg war unvorstellbar groß. Der Staat stand schon bei den Bürgern mit 98 Milliarden. In der Kreide, von den Forderungen der Sieger ganz zu schweigen. Mit derart viel Schulden im Rücken, brauchte man mit dem Sparen gar nicht erst anzufangen . Nach dieser Logik setzten die Koalitionsregierungen der ersten Weimarer Jahre die Inflationspolitik aus der Kriegswirtschaft einfach fort." (S.80)
Man druckte Geld und setzte auf Inflation
"Da der Wert der Reichsmark durch ihren ständigen Nachdruck sank, wurden deutsche Produkte im Ausland immer billiger. Der Export stieg, und auch deshalb sank die Arbeitslosenquote. [...] Die großen Verlierer der Entwicklung fanden sich nicht bei den Habenichtsen, sondern im Mittelstand, bei den Sparern. Vor allem die sicherheitsbewussten Teile des Bildungsbürgertums hatten traditionell ihre Überschüsse als Sparguthaben angelegt und erlebte nun Monat für Monat, wie ihr Vermögen an Wert verlor. Zudem waren sie es, die die meisten Kriegsanleihen gezeichnet und den Krieg patriotisch mit finanziert hatten. Die Inflation entwertete die Ansprüche, die sie an den Staat hatten, auf dramatische Weise: Am Ende waren die 98 Milliarden Mark Schulden, die der Staat bei seinen Bürgern hatte, nicht mal so viel wert wie ein Sack Kartoffeln." (S.81) 

Kapitel 8: Die Selbstoptimierung:                                                                                      Die Perfektionierung der Freizeit und der Körper (S.263 ff.)

"Josef Roth fand, "der Gott, der Sensationen" habe den Lunapark ganz ans Ende des ohnehin unterhaltungseligen Berliner Kurfürstendamms gesetzt, sozusagen als dessen Pointe. [...] Der Lunapark gab sich hochmodern, die Achterbahn zum Beispiel wurde erst 'kubistisch', 1921 dann durch den Maler und Grafiker, Josef Fenneker 'expressionistisch' gestaltet, bevor sie als 'Krummhäuslbahn' hochalpin, daherkam." (S. 266)

"Der Lunapark überlebte die Weimarer Republik nur wenig länger als ein Jahr, der Ulap schloss sogar schon 1925 seine Tore für immer. [...] Den Veranstaltern waren die Ideen ausgegangen, und die Vergnügungsucht kannte kein Erbarmen. Der Zerstreuung suchende Mensch langweilt sich genauso schnell, wie er sich beeindrucken lässt – ein volatiler Faktor, noch quecksilbriger als der Aktienkurs." (S. 269/270).

Über den Stummfilm: 

Die Deuligs-Wochenschau wäre für unsere Sehgewohnheiten tatsächlich eine Folter. Nach der Schrifttafel "Hindenburg startet der braunschweigischen Landesregierung einen Besuch ab", die endlos lange eingeblendet war, sah man dem greisen Reichspräsidenten minutenlang beim Fahren mit der Kutsche, Händeschütteln und Reden zu.  Worüber blieb offen, es war ja alles stumm. Die Zeitgenossen aber schauten dennoch gebannt zu." (S.271)

"Alle waren gleichermaßen gebannt schon vom bewegten Bild an sich. Dessen Magie reichte aus, sogar dem ausschreitenden Hindenburg etwas abzugewinnen, glitt aber erst der gewaltige Zeppelin ins Bild, schlugen die Herzen hoch. Das Ungetüm war der große Stolz, fast aller Deutschen." (S. 272)

"Der Stummfilmzuschauer sieht anders, und der Stummfilmstar spricht anders; Edvard Muncks berühmtes Gemälde "Der Schrei" sieht aus, als wäre er dem Stummfilm abgeschaut. Zehn Jahre vor den ersten Stummfilmen entstanden, wäre das Bild kaum so berühmt geworden, hätte der Film die expressive Pose nicht untermauert. Der fehlende Ton wird darin sichtbar.  [...] Béla Balázs feierte den "Stummfilm als eine Befreiung des Ausdrucks von der Übermacht der Stimme". Der Körper habe bis dahin nur als "Drangabe" des Bedeutungsträgers gegolten; der Stummfilm mache ihn hingegen zum primären Ausdrucksträger der Seele. [...] Chaplin verstehe die Gebärdensprache auf eine Weise zu reden, die jedes gesprochene Wort zum Schädling mache, schrieb Siegfried Kracauer. Und tatsächlich, die Leute hatten sich an die eigentümliche Intensität des still Stummfilm so gewöhnt, dass ihnen die sich 1928 abzeichnen, der Aussicht, bald die ersten Tonfilme sehen zu können, nicht im mindestens verlockend erschienen. In Umfragen der Kinoverleihe, ob sie künftig Filme lieber stumm oder tönend sehen wollten, siegte fast immer der Stummfilm" (S.273) Prompt fielen die ersten Tonfilme durch, bei der Kritik ohnehin, aber auch beim Publikum [...]. Plötzlich musste man leise sein im Kino, man verstand ja sonst nichts. Dieser Disziplinierungszwang missfiel; kam ein Tonfilm gut an, war es nämlich auch nicht recht, weil man nicht wild applaudieren konnte,  ohne den Fortgang der Geschichte zu übertönen.

Hinter den Protesten steckten auch materielle Sorgen: die Kinomusiker fürchteten um ihre Jobs, das Sprechtheater witterte Konkurrenz, und ein Teil der großen Stummfilmstars war, für den Tonfilm völlig ungeeignet. Harry Liedtke ('Die Liebe einer Königin') war bis dahin ein effektiver Herzensbrecher, aber er hatte eine unpassend piepsige Stimme, die die Wirkung seines hübschen, glatten Gesichts zunichte machte.  Sein Gesangspart in dem Film 'Ich küsse Ihre Hand, Madame' (1929) musste vom Sänger Richard Tauber nachsynchronisiert werden. Auch für den Beau Bruno Kastner, dessen Konterfei in zahllosen Mädchenzimmern hing, war die tönende Zukunft chancenlos. Wegen seines Sprachfehlers, bekam er keine Rollenangebote mehr.  Kastner, der in über einhundert Filmen mitgespielt hatte, er hängte sich 1932 mit zweiundvierzig Jahren in einem Hotelzimmer.

Spätestens mit dem gefeierten Josef–von–Sternberg–Film, 'Der blaue Engel' hatte sich 1930 der Tonfilm durchgesetzt, auch wenn Emil Jannings, seinen steifen, konservativen Professor Rath, der sich in eine Tingeltangel-Chansonette verliebt, mit einer Theatralik verkörperte,  die noch ganz der Stummfilmästhetik verhaftet war. Aber die bis dahin noch ganz unbekannte Marlene Dietrich, die die Lola gab und mit immerhin fünfundzwanzigtausend Reichsmark nur ein Zehntel der Gage des berühmten Jannings bekam, spielte die Vorzüge des Tonfilms voll aus: Nicht nur in dem bis heute weltberühmten Lied 'Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt' von Friedlich Hollaender, sondern auch in ihrer schauspielerischen Zurückhaltung. Dietrich hatte sofort erkannt, dass der Tonfilm es erlaubt, sich sparsam und damit nur umso intensiver in Szene zu setzen." (S.273-275)

"Aus Amerika importiert worden war das Sechstagerennen, ein / ikonisches Sportevent der Zwanziger. Hier amüsierte man sich in volksfestartiger Gaudi darüber, wie dreizehn Radrennfahrer, sechs Tage und sechs Nächte lang monoton im Oval einer verqualmten Halle hintereinander herfahrend, ihr Bestes gaben. [...] Der seltsame Zwitter aus Sport und Varietee war ein beliebtes Gesellschaftsereignis, eine lärmende, ausgelassene, quälende/ Realmetapher auf die sechs Tagewoche. Der kommunistische Sänger Ernst Busch, besang das Sechstagerennen als kapitalistische Tretmühle, an der jede Sinnfrage scheitere:

Mensch, tritt in die Pedale

Immer rund ums Holzovale

He! He! He! He! He!

Bohlen splittern, Reifen platzen,

Drei Musikkapellen, jazzen,

He! He! He! He! He!

Sechs Tage im Kreis, immer rundherum –

Kein Sterblicher weiß: Warum nur, warum?

Alle packt es, alle treiben mit!

Alle jagt es, alle schreien mit! He!

Sechs Tage im Kreis, immer rundherum –

Und kein Einziger weiß, warum!

Die schärfste Kritik am Sechstagerennen – eine 'Kritik' wird man es kaum nennen können – kam von ganz rechts, von den Nazis. Bei dieser Mischung aus Show und Profisport, den sie ohnehin mit Argwohn betrachten, würden überall Juden die Fäden ziehen. 1933 behauptete die NS-Postille 'Der Angriff' rückblickend: 'Wer einen Blick hinter die Kulissen werfen durfte, weiß, dass es in erster Linie Juden waren, die als Veranstalter auftraten. In der Zeit der größten jüdischen Machtausbreitung standen in Deutschland die Sechstagerennen am höchsten im Kurs.' Die hedonistische Hexenkesselstimmung im Sportpalast war den Nazis unheimlich, ein Musterbeispiel des 'Kulturbolschewismus'." (S.282-284) 

Kapitel 10: Die Arbeit geht aus (339 ff.)

"Aufgrund ihrer Vereinzelung blieb der Organisationsgrad der Arbeitslosen gering. Die Erwerbslosengruppen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, von denen es etliche Tausend gab, blieben auf die Fabriken der Großindustrie begrenzt. Der KPD gelang es hier und da, Hungerdemonstrationen und Arbeitslosenprotestmärsche zu organisieren. Der 6. März 1930 wurde zum Beispiel zum internationalen Arbeitslosentag ausgerufen, an dem Demonstrationen in europäischen Metropolen stattfanden – ohne messbaren Erfolg, wie sogar die "Rote Fahne" zugab. Häufiger kam es zu anarchischem Krawall, zu spontanen Unruhen in den Arbeits- und / Wohlfahrtsämtern. Hier lagen die Nerven blank, schnell eskalierte ein Streit, wurde laut und handgreiflich, bis der Funken auf die seit Stunden Schlange stehenden Menschen übergriff. Die wütende Menge drang in die Büros, warf Akten und Möbel aus den Fenstern und jagte die Beamten aus dem Amt. Dann wurde Kleinholz gemacht, bis zwei Hundertschaften Polizisten anrückten und die Knüppel flogen. Um mehr Ordnung und Disziplin in die Konflikte zu bringen, organisierte die KPD sogenannte Selbstschutzstaffeln der Erwerbslosen, die in den Ämtern Wache standen, bei Randale für geordnete Rückzüge sorgten und abends gegen die SA aufmarschierten, wo sie sich mit ihresgleichen, die beim Gegner in den Reihen standen, die Köpfe einschlug. (S.359/60) 

"Die Arbeitslosigkeit drängte nicht zu demonstrativen Akten, sozialen Ungehorsams, sondern zu Resignation und Apathie." (S.361)


Kapitel 11: Die Stimmung sinkt, der Geschmack passt sich an – kulturelle Konflikte in der Depressionszeit (S.371ff.)

"Im August 1932 wurde die Autobahn Köln – Bonn eröffnet. Sie war auch wirtschaftspolitisch zukunftsweisend, denn die Investitionszusagen waren geknüpft an arbeitsintensive Baummethoden./Bagger und Förderbänder waren untersagt, um, wie geschildert, möglichst viele Arbeitskräfte einsetzen zu können und die Arbeitslosigkeit zu verringern – eine antizyklische Investitionsmaßnahme, die die Weitsicht des damals jungen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer verriet. Ein Verdienst der NSDAP war die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Autobahn keineswegs." (S.374/75 )

"Auch in literarischer Hinsicht begannen die Dreißiger vielversprechend: Robert Musils 'Mann ohne Eigenschaften', Hermann Brochs 'Schlafwandler'-Trilogie, Leon Feuchtwangers 'Erfolg' – Gesellschaftsromane, die es auf unterschiedliche Weise mit der ganzen Existenz aufnahmen und die auseinanderstrebenden Protagonisten mit aller Kraft zu einem Gesamtbild zusammenzwangen. Dagegen standen Irmgard Keuns 'Das kunstseidene Mädchen' und Erich Kästners 'Fabian' – zwei Bücher, die einen subjektiven, sehr laxen Ton aus der Krise schlugen, von unbändiger Lebenslust, die eine, von gerüschter Bitterkeit der andere." (S. 376)

"Ein tiefsitzender Pessimismus breitete sich aus, und nicht nur das. Die Deutschen gingen sich zunehmend auf den Geist. Man konnte einander nicht mehr hören.  Wie in einem Tanzlokal. Am frühen Morgen plötzlich die Decken Lichter angehen und gnadenlos die trüben Ecken, leeren Flaschen und müden Gesichter ausgeleuchtet werden, brach im Café Deutschland der Morgen der Dreißigerjahre an. Der Sekt schmeckte schal, die Gäste wirkten hohlwangig und mager, die Kapelle packte die Instrumente ein. Ein gepflegter Weltekel  [...] (S.379)

"Bis 1930 hatte sich die Kulturlandschaft zwischen den beiden Polen, Fortschrittsoptimismus und Modernisierungskritik recht überschaubar angeordnet. Das liberale Bürgertum blickte gelassen auf die Welt. Probleme gab es zu Hauf, aber sie schienen lösbar, der Fortschritt würde es schon richten. Selbst ein soignierter Herr Heinrich Mann, fühlte sich in der Menge pudelwohl, denn er war noch immer überzeugt von der zivilisatorischen Kraft der Großstadt.  1930 las er vor einem Zufallspublikum im neu eröffneten Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz, 'im Durchgang von Nahrungsmitteln zur Konfektion'. Ausgerechnet hier, in dieser übergroßen Konsumkathedrale, die so aussah, als wäre eine Fantasie aus 'Metropolis' wahr geworden, las, der 'Präsident der Sektion Dichtkunst der Akademie der Künste' vor einem Publikum, das mit vollen Einkaufstaschen vorbeidrängelte. Später bekannte er: 'Dieses mein anonymes Auftreten in einer fließenden Menge, die meinetwegen keine Umstände machte,  zählt zu meinen reinsten Erinnerungen an das öffentliche Leben der Weimarer Republik.' (S. 380)

1932 wurde das Yo-Yo zur Mode. (S. 383).

"Um so bedrückender ist es, bei der Lektüre des Grosz-Textes im 'Kunstblatt' zu spüren, wie sehr sich rechts und links, obwohl einander todfeind, in ihrem Hass auf das Establishment angenähert hatten. Als vernuttet, verfressen, rücksichtslos und abstoßend,  als üble Kaschemme, hat der George Grosz Deutschland schon immer gekennzeichnet, aber es bestürzt doch zu sehen, wie wenig Rückhalt die Republik von einen wie ihm im Moment ihrer größten Anfeindung zu erwarten hatte." (S. 388)

"Im Anschluss an eine blutig niedergeschlagene Bauerndemonstration in Neumünster weigerten sich die Landwirte monatelang, die Stadt mit Fleisch, Getreide und Milch zu versorgen.  im gesamten Norden, vor allem in Dithmarschen, kam es zu Bauernunruhen, Krawallen und Bombenanschlägen. Auch im Osten, wo es kaum kleine und mittlere Höfe gab, sondern wo kasernierte Landarbeiter für den Gutsbesitzer und seinen Verwalter schufteten, eskalierten die Konflikte. Die Bauern waren von Anfang an nicht warm geworden mit der / Republik. Damals, bei ihrer Ausrufung 1918, ging der Krieg für sie weiter. Denn die SPD-geführten Regierungskabinette setzten die Zwangswirtschaft auch nach Kriegsende fort.  die Bauern mussten einen beträchtlichen Teil ihrer Ernte an den Staat abgeben – zu Preisen weit unter dem Marktwert. [...]" 

Erst 1923 wurde die Getreideproduktion "wieder ganz für den freien Markt freigegeben. In den Augen der Bauern war das nur typisch: die SPD stand bei ihnen ohnehin im Ruf, ausschließlich ihrer städtischen Klientel zu dienen und den Städten möglichst günstige Preise auf Kosten der Bauern sichern zu wollen." (S. 395) 

"So stand das Land in vieler Hinsicht quer zur Moderne. Seine Bewohner misstraut den Städten, fühlten sich über den Tisch gezogen, bis achtet, gering geschätzt.

Dass die Menschen jahrelang verstärkt, in die Städte geströmt waren, hatte am Selbstbewusstsein der Dörfler genagt. [...] Bruno Tanzmann, einer der wortmächtigsten Bauernsprecher, sah die wegziehenden Frauen einem schlimmen Schicksal entgegengehen, verführt 'von der Raffgier, der Genusssucht, von dem hohlen Tamtam, auf allen Gebieten des Lebens, von dem jüdisch orienta/lischen Ausschreierunfug in Staatspolitik, Warenhaus, Theater [...] Für Tanzmann und seine Weggefährten war die Stadt, das 'Massengrab des deutschen Volkes' [...]  Tanzmann gründete mit Gleichgesinnten die deutsche Bauernhochschule und den Artamanen-Bund  [Er war nur eines der Gründungsmitglieder,  Willibald Hentschel startete die Initiative], der mit seiner Beackerungsungseuphorie, den organisierten Siedlungsfahrten gen Osten und freiwilligen Erntehelfer-Einsätzen, immerhin 30 000 meist sehr junge Mitglieder anzog.[...] Die meisten Vertreter einer agrarromantischen Kritik am modernen Leben kamen gar nicht vom Land, sondern aus den Städten selbst.  [...] Das Land war eine weite Projektionsfläche, auf der - neben dem ökonomisch begründeten Misstrauen der realen Bauern – unterschiedlichste Pflanzen ideologischen Widerstands gegen das moderne Leben gediehen. Wer immer von rechts gegen die Republik opponierte, fand hier jede Menge Protestpotenzial." (S. 396/397) 

KAPITEL 12 ABEND ÜBER POTSDAM - ENDE EINER KOMMUNIKATIONSGEMEINSCHAFT
Lotte Laserstein "Abend über Potsdam"

Fünf Freunde, lud die Malerin Lotte Laserstein nach Potsdam zum Abendessen auf die Dachterrasse eines guten Bekannten. [...] Nach dem Essen wurde um den langen Tisch herum Modell gestanden oder gesessen. [...] Am Ende des Abends waren auf der breiten Leinwand der Blick hinunter auf Potsdam skizziert und die Umrisse der einzelnen Gäste mit grobem Pinsel konturiert. [...] So entstand der Abend über Potsdam, ein Bild, das später zum Symbol für die Stimmung in der untergehenden Republik werden sollte. [...] / Dargestellt ist das Ende eines kleinen Gastmahls. Die fünf sind satt. Etwas Brot, Obst und Wein liegen noch auf dem Tisch. In seiner Komposition erinnert das Bild unweigerlich an da Vincis Abendmahl,  Schon wegen der raffiniert angehaltenen Bewegtheit, der an sich ganz ruhigen Szene und der christusgleich inszenierten Haltung der Frau in der Mitte. Zwei Männer, drei Frauen, jeder ein wenig verloren, in sich gekehrt, müde. [...] eine schwermütig Stimmung liegt über der Szene.  [...] Man spürt darin die tiefe Ratlosigkeit einer abnehmenden Schicht nachdenklicher Menschen, die nur im Moment dem wachsenden Hass enthoben ist, der sich rings um sie zusammenbraut. Was das Bild aber so zeichenhaft macht, ist noch etwas anderes Es / zeigt eine Gesellschaft im Innehalten. Für einen etwas traurigen Moment verliert sie ihre Bindekraft und löst sich auf in einsame Individuen. Nimmt man diese kleine Gruppe  fürs Ganze, ist darin viel von der Kritik enthalten, die der bürgerlichen Gesellschaft von ihren Feinden entgegengebracht wurde. [...] Es ist ein angehaltener Moment, der eine bewegte Körpersprache hat festfrieren lassen. [...] Wenn man so will, ist Abend über Potsdam die Liebeserklärung an eine Republik, die ein rauschendes Fest erlebte und sich nun nicht mehr viel zu sagen hat. Die 'Roaring Twenties' sind vorbei und einem melancholischen Warten auf eine ungewisse Zukunft gewichen. Es ist das Portrait einer Kommunikationskrise. (S.415-417). 

24 Februar 2020

Harald Jähner: Wolfszeit - meine Textauszüge

Harald JähnerWolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955 Berlin 2019, ISBN 978-3-7371-0013-7.

Ich habe schon viel Lob über dies Buch gelesen und kenne einige Zitate daraus, die ich sehr interessant fand. 
Anarchie des Anfangs, SZ 19.2.19
Das Lachen im Elend, Deutschlandfunk 24.2.19
#Jähner
Andererseits dachte ich, angesichts der vielseitigen Literatur der Nachkriegszeit, "Trümmerliteratur", wie man sie auch nannte, könne das Buch etwas so Außergewöhnliches nicht sein.
Ich habe mein Urteil revidiert.  Von der ganzen Reihe von bemerkenswerten Stellen, die ich beim ersten Blättern gefunden habe, zitiere ich hier:

Stunde Null? (Kapitel 1, S.17-30)
Jähner sagt: Nein, es lief vieles weiter und überhaupt beeinflusst die Vorgeschichte natürlich alles.
In Trümmern (Kapitel 2, S.31-60)
Trümmerfrauen, Frauen kommen allein zurecht.

Das große Wandern (Kapitel 3, S.61-119)
"Insgesamt vierzig Millionen auf die eine oder andere Art Entwurzelte in den vier Besatzungszonen! Geflohene, Obdachlose, Desertierte, Gestrandete – eine erzwungene Mobilität und vorstellbaren Ausmaßes. Das heißt nicht, dass alle tatsächlich in Bewegung waren. Die meisten steckten fest, harrten in Lagern aus, kamen nur qualvoll langsam oder mit Unterbrechungen voran. Die einen mussten möglichst rasch nach Hause gebracht, die anderen erst einmal festgesetzt werden. Versorgt werden mussten sie alle – eine gigantische logistische Leistung, selbst wenn es oft nicht einmal das Nötigste war, das beschafft werden konnte. Die Zahl der vorübergehend zu internierenden deutschen Kriegsgefangenen war nach der Kapitulation derart, dass die Alliierten keine andere Möglichkeit sahen, als etwa eine Million von ihnen in den so genannten Rheinwiesenlagern unter freiem Himmel einzuzäunen und sie über viele Wochen ohne Dach über dem Kopf hinter Stacheldraht hausen zu lassen. Erst im Verlauf des Juni hatten die meisten der 23 Lager Latrinen, überdachte Küchen und Krankenbaracken erhalten. Im September 1945 wurde das letzte dieser Massencams aufgelöst, nachdem der Großteil der Internierten längst verhört und entlassen oder auf andere Lager verteilt worden war.
Die teils zu Hundertausenden zusammengepferchten Soldaten, auf dem Boden hockend und schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt, boten ein schockierendes Sinnbild der puren Masse, zu der das NS-Regime und der Krieg die Gesellschaft herabgewürdigt hatten. Vielen, die jenseits dieser Zäune lebten, ging es kaum besser. Wer das Wagnis unternahm, in dieser Zeit eine Reise zu machen, obwohl er ein festes Dach besaß, begegnete den Umherziehenden auf den Straßen, den Bahnsteigen und Wartesälen." (Seite 62/63)


Ursula Trautmann wird auf ihrer Flucht von ihrer Mutter getrennt. 
"Die Witwe Harms, bei der sie wohnt, bringt die Flüchtlinge nur auf dem Heuboden im schmutzigen Stroh unter, obwohl ihr halbes Haus leer steht. [...] 
Als die englischen Besatzungssoldaten merken, dass ihre Aufforderungen, die Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen nichts fruchten, lassen Sie die Dorfbewohner auf dem Kirchplatz in Reih und Glied antreten und drohen mit Beschlagnahme und Enteignung der Häuser. Daraufhin kommt Ursula mit acht weiteren Flüchtlingen in einem Zimmer beim Dorfschmied unter. Dafür lässt man sie bei jeder Gelegenheit spüren, dass man sie zum Teufel wünscht. Es seien zu wenig Schiffe mit Flüchtlingen untergegangen, zischt man dem jungen Mädchen hinterher. Zum Glück findet wenigstens die versprengte Familie wieder zusammen. Das enge Netz von Nachrichten, dass die Vertriebenen über weite Entfernungen unterhalten, bewährt sich. [...] 
Da die Wullenkordts geschickte Landwirte sind, gelingt es ihnen, einen heruntergekommenen Hof, den sie 1955 pachten, wieder in Schuss zu bringen. Nun klettert allerdings die Pacht in unbezahlbare Höhen. Die Familie nimmt daraufhin den nächsten bankrotten Hof unter ihre Fittiche und päppelt ihn hoch, bis auch hier die Pacht steigt. Nach dieser Methode sanieren sie durch Fleiß und Geschick einen heruntergekommenen Hof nach dem anderen, ziehen "von Hardissen nach Roth, dann nach Ransbach-Baumbach, danach auf die Rheininsel Königklinger Aue, nach Birkenfeld an die saarländische Grenze, schließlich nach Neukirchen bei St. Wendel und am Ende nach Rheinhausen in der Pfalz" – eine Sanierungsodyssee, die sie durch ganz Westdeutschland führt und viele Leute reich macht, nur sie selbst nicht." (S.92/93)
"Die Einheimischen, ob in Bayern oder Schleswig-Holstein, wehrten sich teilweise so vehement gegen die Einquartierungen, dass die Vertriebenen nur unter dem Schutz von Maschinengewehren in ihre zugewiesenen Behausungen geleitet werden konnten." (S.94/95)
Der Rassismus lebte fort und richtete sich nun munter nach innen. [...] Nach dem Zusammenbruch hatte die Idee der Volksgemeinschaft an Strahlkraft verloren, der Hochmut aber keineswegs abgenommen. Das Volk war desavouiert, nun besann man sich plötzlich wieder auf die Region als das entscheidende Identitätsmerkmal. In der innerdeutschen Migration sahen viele eine Art multikulturellen Angriff auf sich selbst. Der Tribalismus blühte, man grenzte sich als Stammesangehörige durch Sitten, Gebräuche, Glaubensriten und Dialekte von den umliegenden ab und erst recht von den Deutschböhmen, Banater Schwaben, Schlesiern, Pommern und Bessarabiendeutschen – alles 'Polacken'. [...] 
Ob die Maiandacht auf dem Friedhof, im Freien oder in der Kirche gehalten wird, wie ein Maibaum auszusehen hat [...] all das führte zu Reibereien mit den Flüchtlingen (S.97)
"Der Kreisdirektor des bayrischen Bauernverbandes, Dr. Jakob Fischbacher, bezeichnete es in einer viel beachteten Rede als Blutschande, wenn ein bayrischer Bauernsohn eine norddeutsche Blondine heiratete, und forderte die Bauern auf, die eingefallenen Preußen wieder nach Osten zurückzutreiben [...] 
Der Hass auf die Zuwanderer, der solche Hetzreden beflügelte, hatten einen Grund in der unbestreitbaren Erosion der lokalen Traditionen, die der Zuzug ja tatsächlich bewirkte. Jahrhundertelang gewachsene regionale Eigenheiten waren bedroht. [...] Im Krieg waren Massen von ausgebombten und evakuierten Großstädtern aufs Land geströmt und von den Behörden oftmals mit der gleichen Militanz einquartiert worden wie die Vertriebenen. Die Städter hatten mit ihren freizügigen Sitten die Dörfler schockiert, andere aber auch beeindruckt. Die immerhin fünf Millionen Städter, die auf die deutschen Lande verteilt worden waren, darunter viele lebenslustige junge Frauen [...] hatten die tradierten Wertvorstellungen dort irritiert. [...]
Mischehen [...] kamen trotz des erbitterten Widerstands der Pfarrer bald immer häufiger zustande. Der katholische Partner wurde dabei allerdings in der Regel exkommuniziert, wenn der protestantische nicht seinen Glauben wechselte. [...] Manche Gläubige, hin und her gerissen zwischen Liebe und Kirchentreue, litten unter dem Ausschluss aus der Gemeinde ein Leben lang." (S. 98-100)

"Die Härte der Konflikte hing auch damit zusammen, dass die Flüchtlinge Deutschland tatsächlich veränderten. Vor dem Krieg hatten in Westdeutschland 160 Menschen auf einem Quadratkilometer gelebt, jetzt waren es 200. In den Großstädten war davon relativ wenig zu spüren, in Berlin und Hamburg betrug der Anteil der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung gerade mal sechs und sueben Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern aber waren es 45, in Schleswig-Holstein 33 und in Bayern immerhin noch 21 Prozent. Hier nacge die Einwanderung der Fremden beharrlich an der Gewissheit, die eigene Lebensweise sei die einzig gültige." (S.100/101)
Aufgrund der oft revanchistischen Töne ihrer Verbandsfunktionäre wurden die Vertriebenen lange zu den reaktionär Kräften der Bundesrepublik gezählt. Tatsächlich waren sie in hohem Maße bis in die siebziger Jahre hinein verantwortlich für rechtsradikale Umtriebe. (S.102) [...]
Das Paradoxe ist: so rückwärtsgewandt viele Vertriebene auch waren, in der Nachkriegs gesellschaft wirkten sie als Agenten der Modernisierung. Sie verursachten jene kulturelle und soziale Durchmischung maßgeblich mit, auf die die junge Republik sich später so viel einbildete. [...] So waren sie zum Beispiel – neben dem späteren Fernsehen – in vielen Regionen für den Mundartenschwund verantwortlich. [...]
Schnell wurden die Vertriebenen deshalb von einer Last zu einem Gewinn für die deutsche Wirtschaft. Sie waren meist schneller bereit, sich neuen Umständen anzupassen als die Alteingesessenen. [...]
Der rasche Aufschwung nach der Wirtschaftsreform 1948 wäre ohne die Arbeitsemphase der Vertriebenen nicht möglich gewesen. [...]
Trotz aller Integrationserfolge dauerte es bis 1966, bis die letzten großen Barackenlager für Vertriebene aufgelöst werden konnten. (S.103 -104)
Oft erhielten die Siedlungen von den Einwohnern der gewachsenen Stadtteile Spitznamen wie Kleinkorea, Neupolen, Mau-Mau oder kKeinmoskau, womit sie deutlich machten, wohin sie die Menschen dort am liebsten verbannt hätten. [...] Mau Mau markierte auf sprechende Weise den Punkt, an dem die Deutschen sich selber fremd worden, und das war bezeichnenderweise nicht der Moment, als sie den Holocaust begriffen. [...]
Der Historiker Friedrich Prinz resümierte: "Der zufriedene Rückblick auf die geglückte Integration der Vertriebenen verstellt heute manchmal die Einsicht, wie nahe wir der gesellschaftlichen Katastrophe waren (S. 105)
Die Vertreibung der Deutschen war ein gigantisches Enteignungsprogramm [...]" Irgendwie konnte man darin schon eine gerechte Strafe für das Unrecht ansehen, was NS-Deutschland den überfallenen Völkern angetan hatte. Aber: "Die Vertriebenen fragten sich jedoch zu Recht, warum sie diese Bußlast allein tragen sollten. [...] Von den zurechnungsfähigen Politikern verschloss sich auch niemand der abstrakten Einsicht, dass die Lasten gerechter verteilt werden müssten. In welchem Maße allerdings und wie das konkret bewerkstelligt werden könnte, darüber gingen die Meinungen erheblich auseinander.
Leichter hatte es das Regime in der sowjetischen Besatzungszone, weil es dirigistischer verfahren konnte. Der ab Herbst 1945 beschlagnahmte Großgrundbesitz wurde zu mehr als einem Drittel an Vertriebene verteilt. Die neue Bauernstellen die durch die Bodenreform entstanden, gingen sogar zu über 40 Prozent an die Flüchtlinge. Dafür durften sie sich jedoch nicht mehr Vertriebene nennen; das Regime nannte sie Neubürger oder Umsiedler [...] Das gelang relativ gut um den Preis, dass die Vertriebenen ihre Geschichte verleugnen mussten und sich im offiziellen Geschichtsbild der DDR nicht wiederfanden. [...] 400.000 Vertriebene, darunter etliche, die den Verlust ihrer Identität nicht hinnehmen wollten, zogen bis Jahresende 1949 allerdings in die Westzonen weiter – auch das erhöhte die Integrationschancen für die übrigen in der DDR.
In der Bundesrepublik hatte derweil eine quälende Diskussion um den so genannten Lastenausgleich begonnen. Ein entsprechendes Gesetz trat im September 1952 in Kraft. Es regeite wer welchen Anteil an den Kriegslasten zu tragen hatte. Das Lastenausgleichsgesetz liest sich so trocken und glanzlos, wie es sich anhört, und doch verkleidet der Begriff ein Wunderwerk an politischem Aushandlungsvermögen. [...]
Erich Ollenhauer formulierte: "Es ist das Gesetz der Liquidierung unserer inneren Kriegsschuld gegenüber von Millionen unserer eigenen Volkes genossen." [...]
Das Gesetz bestimmte, dass Eigentümer von Grundstücken, Häusern und sonstigen Vermögen fünfzig Prozent ihres Besitzes, über den sie am Stichtag, dem 21. Juni 1948, verfügt halten, abführen mussten. Die Summe konnte in vierteljährlichen Raten über 30 Jahre hin weg entrichtet werden Nutznießer waren die 'Kriegsgeschädigten': die Ausgebombten, Invaliden und Vertriebenen. [...]
Der Verlust großer Vermögen sollte prozentual weniger entschädigt werden als der Verlust kleineren Besitzes." (S. 106-108)


Tanzwut (4. Kapitel, S.121-148)
[...] Das Gefühl, der Katastrophe entronnen zu sein und die unvorhersehbare, ungeregelte Zukunft führten zu einer gesteigerten Lebensintensität. Viele existierten nur für den Moment; war dieser schön, wollten sie ihn bis zur Neige ausschöpfen." (S.121)


Liebe 47 (5. Kapitel, S.149-206)
"Ohne den Vater waren viele Familien zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen, die mehr denn je auf einander angewiesen war (S. 152) 
"Die Entfremdung zwischen Vätern und Kindern, vor allem den Söhnen, nahm oft dramatische Formen an. Kinder, die in den Nachkriegsmonaten beim Hamstern und Schwarzhandeln über sich hinaus gewachsen waren, sahen nicht ein, warum sie sich plötzlich einem nichtsnutzigen, kranken Tyrannen unterwerfen sollten. 
(S. 154/155)
In glücklichen Fällen endete der Ehekrieg in einem langen anhaltenden Waffenstillstand. Man lernt sich zu arrangieren, fügte sich, schloss Kompromisse. Meist ging es nüchtern zu in diesen mühsam konsolidierten Ehen." (Seite 160/161)


Frauenüberschuss

"Weit über fünf Millionen deutsche Soldaten waren im Krieg gefallen. Hinzu kamen 6,5 Millionen Männer, die Ende September 1945 noch in westlicher Kriegsgefangenschaft waren. Über 2 Millionen Gefangene hungerten in sowjetischen Lagern. Noch 1950 entfielen auf 1000 Männer 1362 Frauen.[...] Von den Jahrgängen 1920-1925 kehrten mindestens zwei Fünftel der jungen Männer nicht mehr aus dem Krieg zurück. Besonders spürbar wurde das zahlenmäßige Ungleichgewicht in den Großstädten. [...] 
Es ging ja nicht nur um Liebe, sondern auch um den Lebensunterhalt, und die Erwerbsarbeit erschien nicht allen Frauen als das größte Glück auf Erden, zumal die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt bald wieder schlechter wurden. In der Folge wurde der Frauenüberschuss zu einer Kampfvokabel auf dem Stellenmarkt. Auch hier konkurrierten Frauen gegen Frauen. Die Alleinstehenden wurden gegen die Verheirateten ausgespielt. [...] Mit dem Hinweis auf die Vielzahl unverheirateter Frauen, die zu beschäftigen waren, entspann sich eine staatlich geförderte Kampagne gegen die 'Doppelverdiener', denen man vorwarf, sich überproportional zu bereichern. (S.176/78) 
"In vielen Bundesländern wurden weibliche Beamte, die mit männlichen verheiratet waren, aufgrund ihrer guten Versorgungslage aus dem Dienst entlassen – vorgeblich auch zum Wohl der Kinder und einer  'gedeihlichen Atmosphäre'. [...]
"Die Tochter einer Sodatenwitwe erinnert sich: [...] Die Heilgebliebenen separierten sich von den Blessierten, die mannlosen Frauen gerieten ins Abseits, die Kluft zwischen den Sanierten und den Dauergeschädigten blieb unüberbrückbar. Freundschaften entwickelte meine Mutter nur zu anderen Kriegerwitwen." (Seite 179)
"In Berlin verteilte die Rote Armee zeitweise Tintenfässer an die Frauen mit der Aufforderung, Vergewaltiger zu kennzeichnen, um sie durch ihre Vorgesetzten bestrafen zu lassen. Doch welche Frau traute sich schon, durch solche Maßnahmen die enthemmten Männer zusätzlich zu reizen?" (Seite 187)
"Ein SMS-Obersturmbannführer berichtete im März 1945 während des amerikanischen Vormarschs an seine Dienststelle, was ihm nach der vorübergehenden Rückeroberung eines Ortes durch die Wehrmacht von dessen Bewohnern erzählt worden war: 'Die Amerikaner hätten durchweg versucht, durch V.erschenken von Konserven, Schokolade und Zigaretten ein gutes Verhältnis mit der Bevölkerung herzustellen.' [...] Allgemein wird behauptet, dass sie sich besser verhalten hätten als unsere deutschen Truppen." 

(S. 191/92)
Die amerikanische Militärführung hatte "ihre Soldaten auf eine schonungslose Unterwerfung des Feindes eingestimmt und Fraternisierung jedweder Art im April 1944 verboten. Kein Händeschütteln, keine Wortwechsel, nicht die geringste Annäherung sei erlaubt. Umso verblüffter reagierten die einrollenden GIs auf den freundlichen Empfang, der ihnen von hübschen Frauen und staunenden Jugendlichen bereitet wurde, und konnten sich an den dankbaren Reaktionen nicht sattsehen, die sie mit ihren Zigaretten und ihrer Schokolade ausgelösten, welche sie trotz des Verbotes aus den Jeeps reichten." (Seite 193)


"Der 24-jährige Daniel Militello aus Brooklyn war der erste amerikanische Soldat, der nach Kriegsende eine deutsche Frau heiratete". Er hatte freilich allerlei zu erdulden. Als er um Ausreise für seine Frau und den gemeinen Sohn einkam, wurde er verhaftet und in die UC`SA zurück gebracht. Nur dank des Einsatzes einen Kongressabgeordneten wurde nach Monaten erreicht, dass seine Frau ihm folgen durfte. 

"Bis 1988 sollten ihr auf diesem Weg schätzungsweise 170.000 deutsche Soldaten Bräute folgen." (S:201)
"Es waren bezeichnenderweise die Frauenzeitschriften, die sich am vehementesten gegen die Verurteilung der 'Fräuleins' wehrten. In dem Beitrag 'Veronika Dankeschön: Frauen und Mädchen – Die Vorwürfe gegen sie und wen sie in Wahrheit treffen' wendete sich das Blatt Die Frau – ihr Kleid, ihre Arbeit, ihre Freude  gegen die Unterstellung, es ginge Veronika vorrangig um Zigaretten. Vielmehr wolle die Frau, die der Krieg um so viele Tanzbälle, Dampferfahrten, Konzertabende und Liebesabenteuer betrogen habe, nun 'endlich mal leben'." (S.203)

Was Marta Hillers in ihrem Tagebuch beschrieben hatte, als sie in Berlin von mehreren russischen Soldaten vergewaltigt worden war, kommentiert Harald Jähner: 

"Ihr kaltblütiges Bestreben, sich in den oberen Militärrängen einen Leitwolf als Beschützer zu suchen, um fortan vor den Nachstellungen der rohen, einfachen Wölfe bewahrt zu werden, entspricht einer Urszene der Partnerwahl.Sie selbst ist erstaunt, wie das Gefühl der Dankbarkeit, inmitten der Anarchie einen gewissen Schutz gefunden zu haben, zu zärtlicher Anhänglichkeit führt. Es herrscht eben Wolfszeit; [...]" (S. 204)

Rauben, Rationierung, Schwarzhandeln – Lektionen für die Marktwirtschaft (6. Kapitel, S.207-250)
Die meisten Deutschen lernten den Hunger erst nach dem Krieg kennen. Bis dahin hatte man von der Ausplünderung der besetzten Gebiete einigermaßen gut gelebt." (S. 207)


"Besonders schwach ausgeprägt war das Unrechtsbewusstsein beim Verschieben von Kaffee. In den Dörfern an der belgischen Grenze wurde der Schmuggel zu einer Massenbewegung, die sich wegen der hohen Besteuerung in der britischen Zone extrem lohnte. Die polizeilichen Gegenmaßnahmen nahmen dort so militante Züge an, dass man bald von der "Kaffeefront" sprach. 31 Schmuggler und zwei Zöllner kamen bei den Auseinandersetzungen ums Leben. Da die Zöllner Skrupel hatten, auf Kinder zu schießen, kamen sie auch hier überall zum Einsatz. Dabei nutzten sie ihre schiere Überzahl. Zu Hunderten überrannten Kinder und Jugendliche die Grenze, die Taschen voller Kaffee, und wieselten zwischen den Zöllner Beinen hindurch. Gelang es den Grenzen aus dem Schwarm ein Kind herauszugreifen, mussten sie es am Abend wieder ziehen lassen, denn die Heime waren längst mit schweren Fällen überfüllt. Der Film "Sündige Grenze" von Robert A. Stemmle setzte 1951 den Schmuddelkindern von Aachen, die sich selbst "Rabatzer" nannten, ein eindrucksvolles, vom italienischen Neorealismus inspiriertes Spielfilmdenkmal. Stemmler hatte 500 Kinder und Jugendliche rekrutiert, die Hälfte davon aus Berlin, um an der deutsch-belgischen Grenze an den Originalschauplätzen zu drehen. Wie diese verwahrlosten Kindermassen die Bahndämme entern, gejagt von Zöllnern und Polizisten, sich unter anfahrenden Zügen hindurchzwängen und die Grenze befallen wie Heuschrecken, das gehört zu den packendsten Szenen, die der Nachkriegsfilm zustande brachte übrigens auch deshalb, weil er zeigte, wie unsicher die Grenze zwischen den Guten und Bösen verlief.
Ganz im Sinne von Kardinal Frings halten die Aachener Rabatzer das Verständnis der Kirche. Sie wandte sich mehrfach gegen den Schusswaffengebrauch an der

Die Generation Käfer stellt sich auf (7. Kapitel, S.251-302)
WolfsburgVWVW NachkriegszeitNordhoff

Die Umerzieher
Drei Schriftsteller und Kulturoffiziere arbeiten für die Alliierten am deutschen Geist (8. Kapitel, S.303-336)

Hans Habe schuf rasch ein Zeitungsimperium und mit der Neuen Zeitung ein Blatt von Rang, das viele große Namen anzog und eine erstaunlich freie Diskussionskultur pflegte. Er schreib Bestseller um Bestseller und leistete sich gegenüber seinen Förderern von der amerikanischen Besatzungsmacht recht große Freiheiten. Einen guten Klang hat sein Name heute wohl aber deshalb nicht mehr, weil er Rudolf Augstein und Heinrich Böll als Verharmloser des RAF-Terrors "abkanzelte" (S.333). - Bemerkenswert, wie es Hildegard Knef gelang, Habe und Henri Nannen, der Habe übel angegriffen hatte, dazu zu bringen, sich in einem "kleinen Atlantikpakt" wieder zu vertragen. (S.331)
Alfred Döblin arbeitete in der französischen Zone, leistete gute Arbeit, wurde aber in der Öffentlichkeit nicht mehr akzeptiert. (Seinen letzten Roman musste er in der DDR anbieten, dort verlangte man von ihm, ihn umzuschreiben. Als man ihn dann in Westdeutschland druckte, nicht in der Originalfassung, sondern in der der DDR.)
Rudolf Herrnstadt wagte es 1948 im Neuen Deutschland etwas über die Barbarei der Roten Armee im Siegesrausch zu schreiben. Aber als idealistischer Kommunist stand er "so zweifelsfrei auf Seiten der Sowjets, dass er von Ulbricht sogar verdächtigt wurde, das Politbüro für die Russen ausgeforscht zu haben" (S.326). Dann setzte er sich für "die Forderungen der Bauarbeiter nach besseren Absprachen und gerechterer Entlohnung" (S.327) ein. Als die am 17. Juni 1953 den Aufstand probten, war sein Schicksal besiegelt. "Die SED war einen ihrer größten Idealisten los." (S.328)

Der Kalte Krieg der Kunst und das Design der Demokratie (9. Kapitel, S. 337-371)
Wie die abstrakte Kunst die soziale Marktwirtschaft ausgestattete
"[...] Bei der Documenta sah man Besucherinnen, deren Kleider so gemustert waren wie die Bilder, die sie betrachteten. Der Kunsthandel wollte jetzt genauer wissen, wer welche Kunst kauft, und beauftragte das junge Allensbach-Institut mit einer Umfrage. Das Ergebnis: Willi Baumeister und seine Kollegen von der tachistischene Avantgarde wurden von den Zukunftsorientierten gekauft, von Industrieunternehmen, Elektroingenieuren, Betriebsdirektoren und Managern. Bedenkentragende Bankdirektoren, Professoren und Anwälte hingegen, das klassische Bildungsbürgertum, kaufte die Moderne moderaten Typs, also Expressionismus und Impressionismus. [...] (S.353)

Kubiceks Wirken ist beispielhaft für die amerikanische Reeducation-Strategie. Eine überaus effektive Linie verläuft vom Genie des Jackson Pollock bis hin zu den Berliner Kindern, die sich in der Malschule des Amerika-Hauses mit großen Gesten buchstäblich frei malten. [...] Pollock [...] schien mit seinen eindrucksvollen, riesigen Tröpfelbildern geeignet, Amerikas beste Seiten zu verkörpern. (S. 358)
"Wenn das Kunst ist, bin ich ein Hottentotte", hatte Präsident Truman 1947 im MoMA gesagt und konnte sich dabei des stürmischen Beifalls der Mehrheit sicher sein. Seine Strategen des Kalten Krieges hinderte das nicht, in genau dieser Kunst das beste Mittel zu sehen, um Amerika wirksam in Szene zu setzen. (S.359)


Wie der Nierentisch das Denken veränderte
[...] 20 Jahre später erschien der fünfziger-Jahre-Chic vielen als verlogen und deplatziert. Und doch gehörte das schräge Mobiliar zur geistigen Gesundung der Deutschen unbedingt hinzu.(S.368)

Der Klang der Verdrängung (10. Kapitel, S.373-403)


Nachwort: Das Glück (S.405-409)


Dass sich trotz der verbreiteten Weigerung, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, und trotz der massiven Rückkehr der NS-Eliten auf ihre alten Positionen in beiden deutschen Staaten vom Nationalsozialismus geläuterte Gesellschaften durchsetzten, ist ein viel größeres Wunder als das so genannte Wirtschaftswunder. Fast so beunruhigend wie die Dimension, in der Deutschland zum globalen Albtraum werden konnte, ist die schlafwandlerische Sicherheit, mit der es danach seine Biederkeit wieder gewann. Das Wunder ist gerade deshalb eines, weil es so unspektakulär ausfiel. (S. 405)


Jaspers forderte auf:
"Wir wollen lernen, miteinander zu reden. Das heißt, wir wollten nicht nur unsere Meinung wiederholen, sondern hören, was der andere denkt. Wir wollen nicht nur behaupten, sondern im Zusammenhang nachdenken, auf Gründe hören, bereit bleiben, zu neuer Einsicht zu kommen. Wir wollen uns innerlich versuchsweise auf den Standpunkt des anderen stellen. Ja, wir wollen das uns Widersprechende geradezu aufsuchen. Das Ergreifen des Gemeinsamen im Widersprechenden ist wichtiger als die voreilige Fixierung von sich ausschließenden Standpunkten, mit denen man die Unterhaltung als aussichtslos beendet." 
(Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschland, 2012, Seite 8 – zitiert nach Harald Jähner: Wolfszeit 2019, S. 409)

Aus den Rezensionen (in der Wiedergabe durch Perlentaucher): 
Melanie Longerich im Deutschlandfunk: "Die Geschichte Deutschlands mit seinen Vertriebenen wiederum schildere Jähner als "Fremdheitserfahrung der Deutschen mit sich selbst" (so Jähners Formulierung), die das Land nach dem Krieg gegen den Nationalismus geimpft habe."
Thomas E. Schmidt in der ZEIT: "Welch große Rolle der Zufall in den ersten Jahren nach dem Krieg spielte, wie soziale Marktwirtschaft aus dem Geist des Schwarzmarktes erwuchs, wie Albernheit und Erotik Urständ feierten und schließlich in Kulturreaktion mündeten - all das kann Jähner zeigen. Laut Schmidt verpasst er dabei nur die Gelegenheit, den "Rückzug ins Verzagte" hinreichend zu erklären."

21 Januar 2020

Harald Jähner: Wolfszeit

Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955 Berlin 2019, ISBN 978-3-7371-0013-7.

Ich habe schon viel Lob über dies Buch gelesen und kenne einige Zitate daraus, die ich sehr interessant fand. 
Anarchie des Anfangs, SZ 19.2.19
Das Lachen im Elend, Deutschlandfunk 24.2.19
#Jähner
Andererseits dachte ich, angesichts der vielseitigen Literatur der Nachkriegszeit, "Trümmerliteratur", wie man sie auch nannte, könne das Buch etwas so Außergewöhnliches nicht sein.
Ich habe mein Urteil revidiert.  Von der ganzen Reihe von bemerkenswerten Stellen, die ich beim ersten Blättern gefunden habe, zitiere ich hier:

Stunde Null? (Kapitel 1, S.17-30)
Jähner sagt: Nein, es lief vieles weiter und überhaupt beeinflusst die Vorgeschichte natürlich alles.
In Trümmern (Kapitel 2, S.31-60)
Trümmerfrauen, Frauen kommen allein zurecht.

Das große Wandern (Kapitel 3, S.61-119)
"Insgesamt vierzig Millionen auf die eine oder andere Art Entwurzelte in den vier Besatzungszonen! Geflohene, Obdachlose, Desertierte, Gestrandete – eine erzwungene Mobilität und vorstellbaren Ausmaßes. Das heißt nicht, dass alle tatsächlich in Bewegung waren. Die meisten steckten fest, harrten in Lagern aus, kamen nur qualvoll langsam oder mit Unterbrechungen voran. Die einen mussten möglichst rasch nach Hause gebracht, die anderen erst einmal festgesetzt werden. Versorgt werden mussten sie alle – eine gigantische logistische Leistung, selbst wenn es oft nicht einmal das Nötigste war, das beschafft werden konnte. Die Zahl der vorübergehend zu internierenden deutschen Kriegsgefangenen war nach der Kapitulation derart, dass die Alliierten keine andere Möglichkeit sahen, als etwa eine Million von ihnen in den so genannten Rheinwiesenlagern unter freiem Himmel einzuzäunen und sie über viele Wochen ohne Dach über dem Kopf hinter Stacheldraht hausen zu lassen. Erst im Verlauf des Juni hatten die meisten der 23 Lager Latrinen, überdachte Küchen und Krankenbaracken erhalten. Im September 1945 wurde das letzte dieser Massencams aufgelöst, nachdem der Großteil der Internierten längst verhört und entlassen oder auf andere Lager verteilt worden war.
Die teils zu Hundertausenden zusammengepferchten Soldaten, auf dem Boden hockend und schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt, boten ein schockierendes Sinnbild der puren Masse, zu der das NS-Regime und der Krieg die Gesellschaft herabgewürdigt hatten. Vielen, die jenseits dieser Zäune lebten, ging es kaum besser. Wer das Wagnis unternahm, in dieser Zeit eine Reise zu machen, obwohl er ein festes Dach besaß, begegnete den Umherziehenden auf den Straßen, den Bahnsteigen und Wartesälen." (Seite 62/63)


Flüchtlinge
Ursula Trautmann wird auf ihrer Flucht von ihrer Mutter getrennt. 

"Die Witwe Harms, bei der sie wohnt, bringt die Flüchtlinge nur auf dem Heuboden im schmutzigen Stroh unter, obwohl ihr halbes Haus leer steht. [...] 
Als die englischen Besatzungssoldaten merken, dass ihre Aufforderungen, die Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen nichts fruchten, lassen Sie die Dorfbewohner auf dem Kirchplatz in Reih und Glied antreten und drohen mit Beschlagnahme und Enteignung der Häuser. Daraufhin kommt Ursula mit acht weiteren Flüchtlingen in einem Zimmer beim Dorfschmied unter. Dafür lässt man sie bei jeder Gelegenheit spüren, dass man sie zum Teufel wünscht. Es seien zu wenig Schiffe mit Flüchtlingen untergegangen, zischt man dem jungen Mädchen hinterher. Zum Glück findet wenigstens die versprengte Familie wieder zusammen. Das enge Netz von Nachrichten, dass die Vertriebenen über weite Entfernungen unterhalten, bewährt sich. [...] 
Da die Wullenkordts geschickte Landwirte sind, gelingt es ihnen, einen heruntergekommenen Hof, den sie 1955 pachten, wieder in Schuss zu bringen. Nun klettert allerdings die Pacht in unbezahlbare Höhen. Die Familie nimmt daraufhin den nächsten bankrotten Hof unter ihre Fittiche und päppelt ihn hoch, bis auch hier die Pacht steigt. Nach dieser Methode sanieren sie durch Fleiß und Geschick einen heruntergekommenen Hof nach dem anderen, ziehen "von Hardissen nach Roth, dann nach Ransbach-Baumbach, danach auf die Rheininsel Königklinger Aue, nach Birkenfeld an die saarländische Grenze, schließlich nach Neukirchen bei St. Wendel und am Ende nach Rheinhausen in der Pfalz" – eine Sanierungsodyssee, die sie durch ganz Westdeutschland führt und viele Leute reich macht, nur sie selbst nicht." (S.92/93)
"Die Einheimischen, ob in Bayern oder Schleswig-Holstein, wehrten sich teilweise so vehement gegen die Einquartierungen, dass die Vertriebenen nur unter dem Schutz von Maschinengewehren in ihre zugewiesenen Behausungen geleitet werden konnten." (S.94/95)
Der Rassismus lebte fort und richtete sich nun munter nach innen. [...] Nach dem Zusammenbruch hatte die Idee der Volksgemeinschaft an Strahlkraft verloren, der Hochmut aber keineswegs abgenommen. Das Volk war desavouiert, nun besann man sich plötzlich wieder auf die Region als das entscheidende Identitätsmerkmal. In der innerdeutschen Migration sahen viele eine Art multikulturellen Angriff auf sich selbst. Der Tribalismus blühte, man grenzte sich als Stammesangehörige durch Sitten, Gebräuche, Glaubensriten und Dialekte von den umliegenden ab und erst recht von den Deutschböhmen, Banater Schwaben, Schlesiern, Pommern und Bessarabiendeutschen – alles 'Polacken'. [...] 
Ob die Maiandacht auf dem Friedhof, im Freien oder in der Kirche gehalten wird, wie ein Maibaum auszusehen hat [...] all das führte zu Reibereien mit den Flüchtlingen (S.97)
"Der Kreisdirektor des bayrischen Bauernverbandes, Dr. Jakob Fischbacher, bezeichnete es in einer viel beachteten Rede als Blutschande, wenn ein bayrischer Bauernsohn eine norddeutsche Blondine heiratete, und forderte die Bauern auf, die eingefallenen Preußen wieder nach Osten zurückzutreiben [...] 
Der Hass auf die Zuwanderer, der solche Hetzreden beflügelte, hatten einen Grund in der unbestreitbaren Erosion der lokalen Traditionen, die der Zuzug ja tatsächlich bewirkte. Jahrhundertelang gewachsene regionale Eigenheiten waren bedroht. [...] Im Krieg waren Massen von ausgebombten und evakuierten Großstädtern aufs Land geströmt und von den Behörden oftmals mit der gleichen Militanz einquartiert worden wie die Vertriebenen. Die Städter hatten mit ihren freizügigen Sitten die Dörfler schockiert, andere aber auch beeindruckt. Die immerhin fünf Millionen Städter, die auf die deutschen Lande verteilt worden waren, darunter viele lebenslustige junge Frauen [...] hatten die tradierten Wertvorstellungen dort irritiert. [...]
Mischehen [...] kamen trotz des erbitterten Widerstands der Pfarrer bald immer häufiger zustande. Der katholische Partner wurde dabei allerdings in der Regel exkommuniziert, wenn der protestantische nicht seinen Glauben wechselte. [...] Manche Gläubige, hin und her gerissen zwischen Liebe und Kirchentreue, litten unter dem Ausschluss aus der Gemeinde ein Leben lang." (S. 98-100)

"Die Härte der Konflikte hing auch damit zusammen, dass die Flüchtlinge Deutschland tatsächlich veränderten. Vor dem Krieg hatten in Westdeutschland 160 Menschen auf einem Quadratkilometer gelebt, jetzt waren es 200. In den Großstädten war davon relativ wenig zu spüren, in Berlin und Hamburg betrug der Anteil der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung gerade mal sechs und sueben Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern aber waren es 45, in Schleswig-Holstein 33 und in Bayern immerhin noch 21 Prozent. Hier nacge die Einwanderung der Fremden beharrlich an der Gewissheit, die eigene Lebensweise sei die einzig gültige." (S.100/101)
Aufgrund der oft revanchistischen Töne ihrer Verbandsfunktionäre wurden die Vertriebenen lange zu den reaktionär Kräften der Bundesrepublik gezählt. Tatsächlich waren sie in hohem Maße bis in die siebziger Jahre hinein verantwortlich für rechtsradikale Umtriebe. (S.102) [...]
Das Paradoxe ist: so rückwärtsgewandt viele Vertriebene auch waren, in der Nachkriegs gesellschaft wirkten sie als Agenten der Modernisierung. Sie verursachten jene kulturelle und soziale Durchmischung maßgeblich mit, auf die die junge Republik sich später so viel einbildete. [...] So waren sie zum Beispiel – neben dem späteren Fernsehen – in vielen Regionen für den Mundartenschwund verantwortlich. [...]
Schnell wurden die Vertriebenen deshalb von einer Last zu einem Gewinn für die deutsche Wirtschaft. Sie waren meist schneller bereit, sich neuen Umständen anzupassen als die Alteingesessenen. [...]
Der rasche Aufschwung nach der Wirtschaftsreform 1948 wäre ohne die Arbeitsemphase der Vertriebenen nicht möglich gewesen. [...]
Trotz aller Integrationserfolge dauerte es bis 1966, bis die letzten großen Barackenlager für Vertriebene aufgelöst werden konnten. (S.103 -104)
Oft erhielten die Siedlungen von den Einwohnern der gewachsenen Stadtteile Spitznamen wie Kleinkorea, Neupolen, Mau-Mau oder kKeinmoskau, womit sie deutlich machten, wohin sie die Menschen dort am liebsten verbannt hätten. [...] Mau Mau markierte auf sprechende Weise den Punkt, an dem die Deutschen sich selber fremd worden, und das war bezeichnenderweise nicht der Moment, als sie den Holocaust begriffen. [...]
Der Historiker Friedrich Prinz resümierte: "Der zufriedene Rückblick auf die geglückte Integration der Vertriebenen verstellt heute manchmal die Einsicht, wie nahe wir der gesellschaftlichen Katastrophe waren (S. 105)
Die Vertreibung der Deutschen war ein gigantisches Enteignungsprogramm [...]" Irgendwie konnte man darin schon eine gerechte Strafe für das Unrecht ansehen, was NS-Deutschland den überfallenen Völkern angetan hatte. Aber: "Die Vertriebenen fragten sich jedoch zu Recht, warum sie diese Bußlast allein tragen sollten. [...] Von den zurechnungsfähigen Politikern verschloss sich auch niemand der abstrakten Einsicht, dass die Lasten gerechter verteilt werden müssten. In welchem Maße allerdings und wie das konkret bewerkstelligt werden könnte, darüber gingen die Meinungen erheblich auseinander.
Leichter hatte es das Regime in der sowjetischen Besatzungszone, weil es dirigistischer verfahren konnte. Der ab Herbst 1945 beschlagnahmte Großgrundbesitz wurde zu mehr als einem Drittel an Vertriebene verteilt. Die neue Bauernstellen die durch die Bodenreform entstanden, gingen sogar zu über 40 Prozent an die Flüchtlinge. Dafür durften sie sich jedoch nicht mehr Vertriebene nennen; das Regime nannte sie Neubürger oder Umsiedler [...] Das gelang relativ gut um den Preis, dass die Vertriebenen ihre Geschichte verleugnen mussten und sich im offiziellen Geschichtsbild der DDR nicht wiederfanden. [...] 400.000 Vertriebene, darunter etliche, die den Verlust ihrer Identität nicht hinnehmen wollten, zogen bis Jahresende 1949 allerdings in die Westzonen weiter – auch das erhöhte die Integrationschancen für die übrigen in der DDR.
In der Bundesrepublik hatte derweil eine quälende Diskussion um den so genannten Lastenausgleich begonnen. Ein entsprechendes Gesetz trat im September 1952 in Kraft. Es regeite wer welchen Anteil an den Kriegslasten zu tragen hatte. Das Lastenausgleichsgesetz liest sich so trocken und glanzlos, wie es sich anhört, und doch verkleidet der Begriff ein Wunderwerk an politischem Aushandlungsvermögen. [...]
Erich Ollenhauer formulierte: "Es ist das Gesetz der Liquidierung unserer inneren Kriegsschuld gegenüber von Millionen unserer eigenen Volkes genossen." [...]
Das Gesetz bestimmte, dass Eigentümer von Grundstücken, Häusern und sonstigen Vermögen fünfzig Prozent ihres Besitzes, über den sie am Stichtag, dem 21. Juni 1948, verfügt halten, abführen mussten. Die Summe konnte in vierteljährlichen Raten über 30 Jahre hin weg entrichtet werden Nutznießer waren die 'Kriegsgeschädigten': die Ausgebombten, Invaliden und Vertriebenen. [...]
Der Verlust großer Vermögen sollte prozentual weniger entschädigt werden als der Verlust kleineren Besitzes." (S. 106-108)


Tanzwut (4. Kapitel, S.121-148)
[...] Das Gefühl, der Katastrophe entronnen zu sein und die unvorhersehbare, ungeregelte Zukunft führten zu einer gesteigerten Lebensintensität. Viele existierten nur für den Moment; war dieser schön, wollten sie ihn bis zur Neige ausschöpfen." (S.121)


Liebe 47 (5. Kapitel, S.149-206)
"Ohne den Vater waren viele Familien zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen, die mehr denn je auf einander angewiesen war (S. 152) 
"Die Entfremdung zwischen Vätern und Kindern, vor allem den Söhnen, nahm oft dramatische Formen an. Kinder, die in den Nachkriegsmonaten beim Hamstern und Schwarzhandeln über sich hinaus gewachsen waren, sahen nicht ein, warum sie sich plötzlich einem nichtsnutzigen, kranken Tyrannen unterwerfen sollten. 
(S. 154/155)
In glücklichen Fällen endete der Ehekrieg in einem langen anhaltenden Waffenstillstand. Man lernt sich zu arrangieren, fügte sich, schloss Kompromisse. Meist ging es nüchtern zu in diesen mühsam konsolidierten Ehen." (Seite 160/161)


Frauenüberschuss

"Weit über fünf Millionen deutsche Soldaten waren im Krieg gefallen. Hinzu kamen 6,5 Millionen Männer, die Ende September 1945 noch in westlicher Kriegsgefangenschaft waren. Über 2 Millionen Gefangene hungerten in sowjetischen Lagern. Noch 1950 entfielen auf 1000 Männer 1362 Frauen.[...] Von den Jahrgängen 1920-1925 kehrten mindestens zwei Fünftel der jungen Männer nicht mehr aus dem Krieg zurück. Besonders spürbar wurde das zahlenmäßige Ungleichgewicht in den Großstädten. [...] 
Es ging ja nicht nur um Liebe, sondern auch um den Lebensunterhalt, und die Erwerbsarbeit erschien nicht allen Frauen als das größte Glück auf Erden, zumal die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt bald wieder schlechter wurden. In der Folge wurde der Frauenüberschuss zu einer Kampfvokabel auf dem Stellenmarkt. Auch hier konkurrierten Frauen gegen Frauen. Die Alleinstehenden wurden gegen die Verheirateten ausgespielt. [...] Mit dem Hinweis auf die Vielzahl unverheirateter Frauen, die zu beschäftigen waren, entspann sich eine staatlich geförderte Kampagne gegen die 'Doppelverdiener', denen man vorwarf, sich überproportional zu bereichern. (S.176/78) 
"In vielen Bundesländern wurden weibliche Beamte, die mit männlichen verheiratet waren, aufgrund ihrer guten Versorgungslage aus dem Dienst entlassen – vorgeblich auch zum Wohl der Kinder und einer  'gedeihlichen Atmosphäre'. [...]
"Die Tochter einer Soldatenwitwe erinnert sich: [...] Die Heilgebliebenen separierten sich von den Blessierten, die mannlosen Frauen gerieten ins Abseits, die Kluft zwischen den Sanierten und den Dauergeschädigten blieb unüberbrückbar. Freundschaften entwickelte meine Mutter nur zu anderen Kriegerwitwen." (Seite 179)
"In Berlin verteilte die Rote Armee zeitweise Tintenfässer an die Frauen mit der Aufforderung, Vergewaltiger zu kennzeichnen, um sie durch ihre Vorgesetzten bestrafen zu lassen. Doch welche Frau traute sich schon, durch solche Maßnahmen die enthemmten Männer zusätzlich zu reizen?" (Seite 187)
"Ein SMS-Obersturmbannführer berichtete im März 1945 während des amerikanischen Vormarschs an seine Dienststelle, was ihm nach der vorübergehenden Rückeroberung eines Ortes durch die Wehrmacht von dessen Bewohnern erzählt worden war: 'Die Amerikaner hätten durchweg versucht, durch Verschenken von Konserven, Schokolade und Zigaretten ein gutes Verhältnis mit der Bevölkerung herzustellen.' [...] Allgemein wird behauptet, dass sie sich besser verhalten hätten als unsere deutschen Truppen." 

(S. 191/92)
Die amerikanische Militärführung hatte "ihre Soldaten auf eine schonungslose Unterwerfung des Feindes eingestimmt und Fraternisierung jedweder Art im April 1944 verboten. Kein Händeschütteln, keine Wortwechsel, nicht die geringste Annäherung sei erlaubt. Umso verblüffter reagierten die einrollenden GIs auf den freundlichen Empfang, der ihnen von hübschen Frauen und staunenden Jugendlichen bereitet wurde, und konnten sich an den dankbaren Reaktionen nicht sattsehen, die sie mit ihren Zigaretten und ihrer Schokolade ausgelösten, welche sie trotz des Verbotes aus den Jeeps reichten." (Seite 193)


"Der 24-jährige Daniel Militello aus Brooklyn war der erste amerikanische Soldat, der nach Kriegsende eine deutsche Frau heiratete". Er hatte freilich allerlei zu erdulden. Als er um Ausreise für seine Frau und den gemeinen Sohn einkam, wurde er verhaftet und in die UC`SA zurück gebracht. Nur dank des Einsatzes einen Kongressabgeordneten wurde nach Monaten erreicht, dass seine Frau ihm folgen durfte. 

"Bis 1988 sollten ihr auf diesem Weg schätzungsweise 170.000 deutsche Soldaten Bräute folgen." (S:201)
"Es waren bezeichnenderweise die Frauenzeitschriften, die sich am vehementesten gegen die Verurteilung der 'Fräuleins' wehrten. In dem Beitrag 'Veronika Dankeschön: Frauen und Mädchen – Die Vorwürfe gegen sie und wen sie in Wahrheit treffen' wendete sich das Blatt Die Frau – ihr Kleid, ihre Arbeit, ihre Freude  gegen die Unterstellung, es ginge Veronika vorrangig um Zigaretten. Vielmehr wolle die Frau, die der Krieg um so viele Tanzbälle, Dampferfahrten, Konzertabende und Liebesabenteuer betrogen habe, nun 'endlich mal leben'." (S.203)

Was Marta Hillers in ihrem Tagebuch beschrieben hatte, als sie in Berlin von mehreren russischen Soldaten vergewaltigt worden war, kommentiert Harald Jähner: 

"Ihr kaltblütiges Bestreben, sich in den oberen Militärrängen einen Leitwolf als Beschützer zu suchen, um fortan vor den Nachstellungen der rohen, einfachen Wölfe bewahrt zu werden, entspricht einer Urszene der Partnerwahl.Sie selbst ist erstaunt, wie das Gefühl der Dankbarkeit, inmitten der Anarchie einen gewissen Schutz gefunden zu haben, zu zärtlicher Anhänglichkeit führt. Es herrscht eben Wolfszeit; [...]" (S. 204)

Rauben, Rationierung, Schwarzhandeln – Lektionen für die Marktwirtschaft (6. Kapitel, S.207-250)
Die meisten Deutschen lernten den Hunger erst nach dem Krieg kennen. Bis dahin hatte man von der Ausplünderung der besetzten Gebiete einigermaßen gut gelebt." (S. 207)


"Besonders schwach ausgeprägt war das Unrechtsbewusstsein beim Verschieben von Kaffee. In den Dörfern an der belgischen Grenze wurde der Schmuggel zu einer Massenbewegung, die sich wegen der hohen Besteuerung in der britischen Zone extrem lohnte. Die polizeilichen Gegenmaßnahmen nahmen dort so militante Züge an, dass man bald von der "Kaffeefront" sprach. 31 Schmuggler und zwei Zöllner kamen bei den Auseinandersetzungen ums Leben. Da die Zöllner Skrupel hatten, auf Kinder zu schießen, kamen sie auch hier überall zum Einsatz. Dabei nutzten sie ihre schiere Überzahl. Zu Hunderten überrannten Kinder und Jugendliche die Grenze, die Taschen voller Kaffee, und wieselten zwischen den Zöllner Beinen hindurch. Gelang es den Grenzen aus dem Schwarm ein Kind herauszugreifen, mussten sie es am Abend wieder ziehen lassen, denn die Heime waren längst mit schweren Fällen überfüllt. Der Film "Sündige Grenze" von Robert A. Stemmle setzte 1951 den Schmuddelkindern von Aachen, die sich selbst "Rabatzer" nannten, ein eindrucksvolles, vom italienischen Neorealismus inspiriertes Spielfilmdenkmal. Stemmler hatte 500 Kinder und Jugendliche rekrutiert, die Hälfte davon aus Berlin, um an der deutsch-belgischen Grenze an den Originalschauplätzen zu drehen. Wie diese verwahrlosten Kindermassen die Bahndämme entern, gejagt von Zöllnern und Polizisten, sich unter anfahrenden Zügen hindurchzwängen und die Grenze befallen wie Heuschrecken, das gehört zu den packendsten Szenen, die der Nachkriegsfilm zustande brachte übrigens auch deshalb, weil er zeigte, wie unsicher die Grenze zwischen den Guten und Bösen verlief.
Ganz im Sinne von Kardinal Frings halten die Aachener Rabatzer das Verständnis der Kirche. Sie wandte sich mehrfach gegen den Schusswaffengebrauch an der Grenze. Die Schmuggler bedankten sich dafür auf ihre Art. Die Hubertuskirche in Nidegen in der Eifel, direkt an der Kaffeefront, war in der berüchtigten Allerseelenschlacht Anfang November 1944 schwer zerstört worden. Nach einem Spendenaufruf für den Wiederaufbau warfen die Schmuggler so viel Geld in den Opferstock, dass die Kirche sehr bald wieder in alter Schönheit zur Messe laden konnte und fortan St. Mokka genannt wurde." (S. 229/230)

Die Generation Käfer stellt sich auf (7. Kapitel, S.251-302)
Wolfsburg, VW, VW NachkriegszeitNordhoff

Die Umerzieher
Drei Schriftsteller und Kulturoffiziere arbeiten für die Alliierten am deutschen Geist (8. Kapitel, S.303-336)

Hans Habe schuf rasch ein Zeitungsimperium und mit der Neuen Zeitung ein Blatt von Rang, das viele große Namen anzog und eine erstaunlich freie Diskussionskultur pflegte. Er schreib Bestseller um Bestseller und leistete sich gegenüber seinen Förderern von der amerikanischen Besatzungsmacht recht große Freiheiten. Einen guten Klang hat sein Name heute wohl aber deshalb nicht mehr, weil er Rudolf Augstein und Heinrich Böll als Verharmloser des RAF-Terrors "abkanzelte" (S.333). - Bemerkenswert, wie es Hildegard Knef gelang, Habe und Henri Nannen, der Habe übel angegriffen hatte, dazu zu bringen, sich in einem "kleinen Atlantikpakt" wieder zu vertragen. (S.331)
Alfred Döblin arbeitete in der französischen Zone, leistete gute Arbeit, wurde aber in der Öffentlichkeit nicht mehr akzeptiert. (Seinen letzten Roman musste er in der DDR anbieten, dort verlangte man von ihm, ihn umzuschreiben. Als man ihn dann in Westdeutschland druckte, nicht in der Originalfassung, sondern in der der DDR.)
Rudolf Herrnstadt wagte es 1948 im Neuen Deutschland etwas über die Barbarei der Roten Armee im Siegesrausch zu schreiben. Aber als idealistischer Kommunist stand er "so zweifelsfrei auf Seiten der Sowjets, dass er von Ulbricht sogar verdächtigt wurde, das Politbüro für die Russen ausgeforscht zu haben" (S.326). Dann setzte er sich für "die Forderungen der Bauarbeiter nach besseren Absprachen und gerechterer Entlohnung" (S.327) ein. Als die am 17. Juni 1953 den Aufstand probten, war sein Schicksal besiegelt. "Die SED war einen ihrer größten Idealisten los." (S.328)

Der Kalte Krieg der Kunst und das Design der Demokratie (9. Kapitel, S. 337-371)
Wie die abstrakte Kunst die soziale Marktwirtschaft ausgestattete
"[...] Bei der Documenta sah man Besucherinnen, deren Kleider so gemustert waren wie die Bilder, die sie betrachteten. Der Kunsthandel wollte jetzt genauer wissen, wer welche Kunst kauft, und beauftragte das junge Allensbach-Institut mit einer Umfrage. Das Ergebnis: Willi Baumeister und seine Kollegen von der tachistischene Avantgarde wurden von den Zukunftsorientierten gekauft, von Industrieunternehmen, Elektroingenieuren, Betriebsdirektoren und Managern. Bedenkentragende Bankdirektoren, Professoren und Anwälte hingegen, das klassische Bildungsbürgertum, kaufte die Moderne moderaten Typs, also Expressionismus und Impressionismus. [...] (S.353)

Kubiceks Wirken ist beispielhaft für die amerikanische Reeducation-Strategie. Eine überaus effektive Linie verläuft vom Genie des Jackson Pollock bis hin zu den Berliner Kindern, die sich in der Malschule des Amerika-Hauses mit großen Gesten buchstäblich frei malten. [...] Pollock [...] schien mit seinen eindrucksvollen, riesigen Tröpfelbildern geeignet, Amerikas beste Seiten zu verkörpern. (S. 358)
"Wenn das Kunst ist, bin ich ein Hottentotte", hatte Präsident Truman 1947 im MoMA gesagt und konnte sich dabei des stürmischen Beifalls der Mehrheit sicher sein. Seine Strategen des Kalten Krieges hinderte das nicht, in genau dieser Kunst das beste Mittel zu sehen, um Amerika wirksam in Szene zu setzen. (S.359)


Wie der Nierentisch das Denken veränderte
[...] 20 Jahre später erschien der fünfziger-Jahre-Chic vielen als verlogen und deplatziert. Und doch gehörte das schräge Mobiliar zur geistigen Gesundung der Deutschen unbedingt hinzu.(S.368)

Der Klang der Verdrängung (10. Kapitel, S.373-403)


Nachwort: Das Glück (S.405-409)

Dass sich trotz der verbreiteten Weigerung, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, und trotz der massiven Rückkehr der NS-Eliten auf ihre alten Positionen in beiden deutschen Staaten vom Nationalsozialismus geläuterte Gesellschaften durchsetzten, ist ein viel größeres Wunder als das so genannte Wirtschaftswunder. Fast so beunruhigend wie die Dimension, in der Deutschland zum globalen Albtraum werden konnte, ist die schlafwandlerische Sicherheit, mit der es danach seine Biederkeit wieder gewann. Das Wunder ist gerade deshalb eines, weil es so unspektakulär ausfiel. (S. 405)


Jaspers forderte auf:
"Wir wollen lernen, miteinander zu reden. Das heißt, wir wollten nicht nur unsere Meinung wiederholen, sondern hören, was der andere denkt. Wir wollen nicht nur behaupten, sondern im Zusammenhang nachdenken, auf Gründe hören, bereit bleiben, zu neuer Einsicht zu kommen. Wir wollen uns innerlich versuchsweise auf den Standpunkt des anderen stellen. Ja, wir wollen das uns Widersprechende geradezu aufsuchen. Das Ergreifen des Gemeinsamen im Widersprechenden ist wichtiger als die voreilige Fixierung von sich ausschließenden Standpunkten, mit denen man die Unterhaltung als aussichtslos beendet." 
(Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschland, 2012, Seite 8 – zitiert nach Harald Jähner: Wolfszeit 2019, S. 409)

Aus den Rezensionen (in der Wiedergabe durch Perlentaucher): 
Melanie Longerich im Deutschlandfunk: "Die Geschichte Deutschlands mit seinen Vertriebenen wiederum schildere Jähner als "Fremdheitserfahrung der Deutschen mit sich selbst" (so Jähners Formulierung), die das Land nach dem Krieg gegen den Nationalismus geimpft habe."
Thomas E. Schmidt in der ZEIT: "Welch große Rolle der Zufall in den ersten Jahren nach dem Krieg spielte, wie soziale Marktwirtschaft aus dem Geist des Schwarzmarktes erwuchs, wie Albernheit und Erotik Urständ feierten und schließlich in Kulturreaktion mündeten - all das kann Jähner zeigen. Laut Schmidt verpasst er dabei nur die Gelegenheit, den "Rückzug ins Verzagte" hinreichend zu erklären."