30 März 2022

Stifter: Ein Gewitter

 "Plötzlich flog ein schwacher Schein um uns, unter dem die Felsen erröteten.

Es war der erste Blitz gewesen, der aber stumm war, und dem kein Donner folgte.

Wir gingen weiter. Nach einer Weile folgten mehrere Blitze, und da der Abend bereits ziemlich dunkel geworden war, und da die Wolkenschichte auch einen dämmernden Einfluß ausübte, stand unter jedem Blitze der Kalkstein in rosenroter Farbe vor uns.

Als wir zu der Stelle gelangt waren, an welcher unsere Wege sich teilten, blieb der Pfarrer stehen, und sah mich an. Ich gab zu, daß ein Gewitter komme, und sagte, daß ich mit ihm in seinen Pfarrhof gehen wolle.

Wir schlugen also den Weg in das Kar ein, und gingen über den sanften Steinabhang in die Wiese hinunter.

Als wir bei dem Pfarrhofe angelangt waren, setzten wir uns noch ein wenig auf das hölzerne Bänklein, das vor dem Hause stand. Das Gewitter hatte sich nun vollständig entwickelt, und stand als dunkle Mauer an dem Himmel. Nach einer Weile entstanden auf der gleichmäßigen dunkelfarbigen Gewitterwand weiße, laufende Nebel, die in langen, wulstigen Streifen die untern Teile der Wolkenwand säumten. Dort war also vielleicht schon Sturm, während bei uns sich noch kein Gräschen und kein Laub rührte. Solche laufende, gedunsene Nebel sind bei Gewittern oft schlimme Anzeichen, sie verkünden immer Windausbrüche, oft Hagel und Wasserstürze. Den Blitzen folgten nun auch schon deutliche Donner.

Endlich gingen wir in das Haus.

Der Pfarrer sagte, daß es seine Gewohnheit sei, bei nächtlichen Gewittern ein Kerzenlicht auf den Tisch zu stellen,[72] und bei dem Lichte ruhig sitzen zu bleiben, so lange das Gewitter dauere. Bei Tage sitze er ohne Licht bei dem Tische. Er fragte mich, ob er auch heute seiner Sitte treu bleiben dürfe. Ich erinnerte ihn an sein Versprechen, sich meinetwegen nicht die geringste Last aufzulegen. Er führte mich also durch das Vorhaus in das bekannte Stüblein, und sagte, daß ich meine Sachen ablegen möchte.

Ich trug gewöhnlich an einem ledernen Riemen ein Fach über die Schulter, in welchem Werkzeuge zum Zeichnen, Zeichnungen und zum Teil auch Meßwerkzeuge waren. Neben dem Fache war eine Tasche befestigt, in der sich meine kalten Speisen, mein Wein, mein Trinkglas und meine Vorrichtung zum Einkühlen des Weines befanden. Diese Dinge legte ich ab, und hing sie über die Lehne eines in einer Ecke stehenden Stuhles. Meinen langen Meßstab lehnte ich an einen der gelben Schreine.

Der Pfarrer war indessen hinaus gegangen, und kam nun mit einem Lichte in der Hand herein. Es war ein Talglicht, welches in einem messingenen Leuchter stak. Er stellte den Leuchter auf den Tisch und legte eine messingene Lichtschere dazu. Dann setzten wir uns beide an den Tisch, blieben sitzen, und erwarteten das Gewitter.

Dasselbe schien nicht mehr lange ausbleiben zu wollen. Als der Pfarrer das Licht gebracht hatte, war die wenige Helle, die von draußen noch durch die Fenster herein gekommen war, verschwunden, die Fenster standen wie schwarze Tafeln da, und die völlige Nacht war hereingebrochen. Die Blitze waren schärfer, und erleuchteten trotz des Kerzenlichtes bei jedem Aufflammen die Winkel des Stübleins. Die Donner wurden ernster und dringender. So blieb es eine lange Weile. Endlich kam der erste Stoß des Gewitterwindes. Der Baum, welcher vor dem Hause stand, schauerte einen Augenblick leise, wie von einem kurz abgebrochenen Lüftchen getroffen, dann war es wieder stille. Über ein kleines kam das Schauern abermals,[73] jedoch länger und tiefer. Nach einem kurzen Zeitraume geschah ein starker Stoß, alle Blätter rauschten, die Äste mochten zittern, nach der Art zu urteilen, wie wir den Schall herein vernahmen, und nun hörte das Tönen gar nicht mehr auf. Der Baum des Hauses, die Hecken um dasselbe und alle Gebüsche und Bäume der Nachbarschaft waren in einem einzigen Brausen befangen, das nur abwechselnd abnahm und schwoll. Dazwischen schallten die Donner. Sie schallten immer schneller und immer heller. Doch war das Gewitter noch nicht da. Zwischen Blitz und Donner war noch eine Zeit, und die Blitze, so hell sie waren, waren doch keine Schlangen, sondern nur ein ausgebreitetes allgemeines Aufleuchten.

Endlich schlugen die ersten Tropfen an die Fenster. Sie schlugen stark und einzeln gegen das Glas, aber bald kamen Genossen, und in kurzem strömte der Regen in Fülle herunter. Er wuchs schnell, gleichsam rauschend und jagend, und wurde endlich dergestalt, daß man meinte, ganze zusammenhängende Wassermengen fielen auf das Haus hernieder, das Haus dröhne unter dem Gewichte, und man empfinde das Dröhnen und Ächzen herein. Kaum das Rollen des Donners konnte man vor dem Strömen des Wassers hören, das Strömen des Wassers wurde ein zweites Donnern. Das Gewitter war endlich über unserem Haupte. Die Blitze fuhren wie feurige Schnüre hernieder, und den Blitzen folgten schnell und heiser die Donner, die jetzt alles andere Brüllen besiegten, und in ihren tieferen Enden und Ausläufen das Fensterglas erzittern und klirren machten.

Ich war nun froh, daß ich dem Rate des Pfarrers gefolgt hatte. Ich hatte selten ein solches Gewitter erlebt. Der Pfarrer saß ruhig und einfach an dem Tische des Stübleins, und das Licht der Talgkerze beleuchtete seine Gestalt.

Zuletzt geschah ein Schlag, als ob er das ganze Haus aus[74] seinen Fugen heben und niederstürzen wollte, und gleich darauf wieder einer. Dann war ein Weilchen Anhalten, wie es oft bei solchen Erscheinungen der Fall ist, der Regen zuckte einen Augenblick ab, als ob er erschrocken wäre, selbst der Wind hielt inne. Aber es wurde bald wieder wie früher; allein die Hauptmacht war doch gebrochen, und alles ging gleichmäßiger fort. Nach und nach milderte sich das Gewitter, der Sturm war nur mehr ein gleichartiger Wind, der Regen war schwächer, die Blitze leuchteten blässer, und der Donner rollte matter, gleichsam landauswärts gehend.

Als endlich das Regnen nur ein einfaches Niederrinnen war, und das Blitzen ein Nachleuchten, stand der Pfarrer auf und sagte: »Es ist vorüber.«"

(Stifter: Kalkstein)


Stifter: Der Eisregen

 "Wir mußten einen schweren Winter überstehen. So weit die ältesten Menschen zurück denken, war nicht so viel Schnee. Vier Wochen waren wir einmal ganz eingehüllt in ein fortdauerndes graues Gestöber, das oft Wind hatte, oft ein ruhiges, aber dichtes Niederschütten von Flocken war. Die ganze Zeit sahen wir nicht aus. Wenn ich in meinem Zimmer saß und die Kerzen brannten, hörte ich das unablässige Rieseln an den Fenstern, und wenn es licht wurde und die Tageshelle eintrat, sah ich durch meine Fenster nicht auf den Wald hin, der hinter der Hütte stand, die ich hatte abbrechen lassen, sondern es hing die graue, lichte, aber undurchdringliche Schleierwand herab; in meinem Hofe und in der Nähe des Hauses sah ich nur auf die unmittelbarsten Dinge hinab, wenn etwa ein Balken empor stand, der eine Schneehaube hatte und unendlich kurz geworden war, oder wenn ein langer, weißer, wolliger Wall anzeigte, wo meine im Sommer ausgehauenen Bäume lagen, die ich zum weitern Baue verwenden wollte. Als alles vorüber war und wieder der blaue und klare Winterhimmel über der Menge von Weiß stand, hörten wir oft in der Totenstille, die jetzt eintrat, wenn wir an den Hängen hinunter fuhren, in dem Hochwalde oben ein Krachen, wie die Bäume unter ihrer Last zerbrachen und umstürzten. Leute, welche von dem jenseitigen Lande über die Schneide herüber kamen, sagten, daß in den Berggründen, wo sonst die kleinen, klaren Wässer gehen, so viel Schnee liege, daß die Tanne in von fünfzig Ellen und darüber nur mit den Wipfeln heraus schauen. Wir konnten nur den leichteren Schlitten brauchen – ich hatte nämlich noch einen machen lassen –, der etwas länger, aber schmäler war als der andere. Er fiel wohl öfter um, aber konnte auch leichter durch die Schlachten, welche die Schneewehen bildeten, durchdringen. Ich[531] konnte jetzt nicht mehr allein zur Besorgung meiner Geschäfte herum fahren, weil ich mir mit allen meinen Kräften in vielen Fällen allein nicht helfen konnte. Und es waren mehr Kranke, als es in allen sonstigen Zeiten gegeben hatte. Deswegen fuhr jetzt der Thomas immer mit mir, daß wir uns gegenseitig beistünden, wenn der Weg nicht mehr zu finden war, wenn wir den Fuchs aus dem Schnee, in den er sich verfiel, austreten mußten, oder wenn einer, da es irgendwo ganz unmöglich war durch zu dringen, bei dem Pferde bleiben und der andere zurück gehen und Leute holen mußte, damit sie uns helfen. Es wurde nach dem großen Schneefalle auch so kalt, wie man es je kaum erlebt hatte. Auf einer Seite war es gut; denn der tiefe Schnee fror so fest, daß man über Stellen und über Schlünde gehen konnte, wo es sonst unmöglich gewesen wäre; aber auf der andern Seite war es auch schlimm; denn die Menschen, welche viel gingen, ermüdet wurden und unwissend waren, setzten sich nieder, gaben der süßen Ruhe nach, und wurden dann erfroren gefunden, wie sie noch saßen, wie sie sich nieder gesetzt hatten. Vögel fielen von den Bäumen, und wenn man es sah und sogleich einen in die Hand nahm, war er fest wie eine Kugel, die man werfen konnte. Wenn meine jungen Rappen ausgeführt wurden und von einem Baume oder sonst wo eine Schneeflocke auf ihren Rücken fiel, so schmolz dieselbe nicht, wenn sie nach Hause kamen, wie lebendig und tüchtig und voll von Feuer die Tiere auch waren. Erst im Stalle verlor sich das Weiß und Grau von dem Rücken. Wenn sie ausgeführt wurden, sah ich manchmal den jungen Gottlieb mit gehen und hinter den Tieren her bleiben, wenn sie auf verschiedenen Wegen herum geführt wurden, aber es tut nichts, die Kälte wird ihm nichts anhaben, und er ist ja in den guten Pelz gehüllt, den ich ihm aus meinem alten habe machen lassen. Ich ging oft in die Zimmer der Meinigen hinab, und sah, ob[532] alles in der Ordnung sei, ob sie gehörig Holz zum Heizen haben, ob die Wohnung überall gut geborgen sei, daß nicht auf einen, wenn er vielleicht im Bette sei, der Strom einer kalten Luft gehe und er erkranke; ich sah auch nach der Speise; denn bei solcher Kälte ist es nicht einerlei, ob man das oder jenes esse. Dem Gottlieb, der nur mit Spänen heizte, ließ Ich von den dichten Buchenstöcken hinüber legen. Im Eichenhage oben soll ein Knall geschehen sein, der seines Gleichen gar nicht hat. Der Knecht des Beringer sagte, daß einer der schönsten Stämme durch die Kälte von unten bis oben gespalten worden sei, er habe ihn selber gesehen. Der Thomas und ich waren in Pelze und Dinge eingehüllt, daß wir zwei Bündeln, kaum aber Menschen gleich sahen. Dieser Winter, von dem wir dachten, daß er uns viel Wasser bringen würde, endigte endlich mit einer Begebenheit, die wunderbar war, und uns leicht die äußerste Gefahr hätte bringen können; wenn sie nicht eben gerade so abgelaufen wäre, wie sie ablief. Nach dem vielen Schneefalle und während der Kälte war es immer schön, es war immer blauer Himmel, morgens rauchte es beim Sonnenaufgange von Glanz und Schnee, und nachts war der Himmel dunkel wie sonst nie, und es standen viel mehr Sterne in ihm als zu allen Zeiten. Dies dauerte lange – aber einmal fiel gegen Mittag die Kälte so schnell ab, daß man die Luft bald warm nennen konnte, die reine Bläue des Himmels trübte sich, von der Mittagseite des Waldes kamen an dem Himmel Wolkenballen, gedunsen und fahlblau, in einem milchigen Nebel schwimmend, wie im Sommer, wenn ein Gewitter kommen soll – ein leichtes Windigen hatte sich schon früher gehoben, daß die Fichten seufzten und Ströme Wassers von ihren Ästen niederlassen. Gegen Abend standen die Wälder, die bisher immer bereift und wie in Zucker eingemacht gewesen waren, bereits ganz schwarz in den Mengen des bleichen und wässerigen[533] Schnees da. Wir hatten bange Gefühle, und ich sagte dem Thomas, daß sie abwechselnd nachschauen, daß sie die hinteren Tore im Augenmerk halten sollen, und daß er mich wecke, wenn das Wasser zu viel werden sollte. Ich wurde nicht geweckt, und als ich des Morgens die Augen öffnete, war alles anders, als ich es erwartet hatte. Das Windchen hatte aufgehört, es war so stille, daß sich von der Tanne, die ich keine Büchsenschußlänge von meinem Fenster an meinem Sommerbänkchen stehen sah, keine einzige Nadel rührte; die blauen und mitunter bleifarbigen Wolkenballen waren nicht mehr an dem Himmel, der dafür in einem stillen Grau unbeweglich stand, welches Grau an keinem Teile der großen Wölbung mehr oder weniger grau war, und an der dunkeln Öffnung der offen stehenden Tür des Heubodens bemerkte ich, daß feiner, aber dichter Regen niederfalle; allein wie ich auf allen Gegenständen das schillerige Glänzen sah, war es nicht das Lockern oder Sickern des Schnees, der in dem Regen zerfällt, sondern das blasse Glänzen eines Überzuges, der sich über alle die Hügel des Schnees gelegt hatte. Als ich mich angekleidet und meine Suppe gegessen hatte, ging ich in den Hof hinab, wo der Thomas den Schlitten zurecht richtete. Da bemerkte ich, daß bei uns herunten an der Oberfläche des Schnees während der Nacht wieder Kälte eingefallen sei, während es oben in den höheren Teilen des Himmels warm geblieben war; denn der Regen floß fein und dicht hernieder, aber nicht in der Gestalt von Eiskörnern, sondern als reines, fließendes Wasser, das erst an der Oberfläche der Erde gefror und die Dinge mit einem dünnen Schmelze überzog, derlei man in das Innere der Geschirre zu tun pflegt, damit sich die Flüssigkeiten nicht in den Ton ziehen können. Im Hofe zerbrach der Überzug bei den Tritten noch in die feinsten Scherben, es mußte also erst vor Anbruch des Tages zu regnen angefangen haben. Ich tat die Dinge,[534] die ich mitnehmen wollte, in ihre Fächer, die in dem Schlitten angebracht waren, und sagte dem Thomas, er solle doch, ehe wir zum Fortfahren kämen, noch den Fuchs zu dem untern Schmied hinüber führen und nachschauen lassen, ob er scharf genug sei, weil wir heute im Eise fahren müßten. Es war uns so recht, wie es war, und viel lieber, als wenn der unermeßliche Schnee schnell und plötzlich in Wasser verwandelt worden wäre. Dann ging ich wieder in die Stube hinauf, die sie mir viel zu viel geheizt hatten, schrieb einiges auf, und dachte nach, wie ich mir heute die Ordnung einzurichten hätte. Da sah ich auch, wie der Thomas den Fuchs zum untern Schmied hinüber führte. Nach einer Weile, da wir fertig waren, richteten wir uns zum Fortfahren. Ich tat den Regenmantel um und setzte meine breite Filzkappe auf, davon der Regen abrinnen konnte. So machte ich mich in dem Schlitten zurechte und zog das Leder sehr weit herauf. Der Thomas hatte seinen gelben Mantel um die Schultern und saß vor mir in dem Schlitten. Wir fuhren zuerst durch den Thaugrund, und es war an dem Himmel und auf der Erde so stille und einfach grau, wie des Morgens, so daß wir, als wir einmal stille hielten, den Regen durch die Nadeln fallen hören konnten. Der Fuchs hatte die Schellen an dem Schlittengeschirre nicht recht ertragen können und sich öfter daran geschreckt, deshalb tat ich sie schon, als ich nur ein paar Male mit ihm gefahren war, weg. Sie sind auch ein närrisches Klingeln, und mir war es viel lieber, wenn ich so fuhr, manchen Schrei eines Vogels, manchen Waldton zu hören, oder mich meinen Gedanken zu überlassen, als daß ich immer das Tönen in den Ohren hatte, das für die Kinder ist. Heute war es freilich nicht so ruhig, wie manchmal das stumme Fahren des Schlittens im feinen Schnee war, wie im Sande, wo auch die Hufe des Pferdes nicht wahrgenommen werden konnten; denn das Zerbrechen des zarten[535] Eises, wenn das Tier darauf trat, machte ein immerwährendes Geräusch, daher aber das Schweigen, als wir halten mußten, weil der Thomas in dem Riemzeug etwas zurecht zu richten hatte, desto auffallender war. Und der Regen, dessen Rieseln durch die Nadeln man hören konnte, störte die Stille kaum, ja er vermehrte sie. Noch etwas anderes hörten wir später, da wir wieder hielten, was fast lieblich für die Ohren war. Die kleinen Stücke Eises, die sich an die dünnsten Zweige und an das langhaarige Moos der Bäume angehängt hatten, brachen herab, und wir gewahrten hinter uns in dem Walde an verschiedenen Stellen, die bald dort und bald da waren, das zarte Klingen und ein zitterndes Brechen, das gleich wieder stille war. Dann kamen wir aus dem Walde hinaus und fuhren durch die Gegend hin, in der die Felder liegen. Der gelbe Mantel des Thomas glänzte, als wenn er mit Öl übertüncht worden wäre; von der rauhen Decke des Pferdes hingen Silberfranzen hernieder; wie ich zufällig einmal nach meiner Filzkappe griff, weil ich sie unbequem auf dem Haupte empfand, war sie fest, und ich hatte sie wie eine Kriegshaube auf; und der Boden des Weges, der hier breiter und, weil mehr gefahren wurde, fester war, war schon so mit Eise belegt, weil das gestrige Wasser, das in den Gleisen gestanden war, auch gefroren war, daß die Hufe des Fuchses die Decke nicht mehr durchschlagen konnten, und wir unter hallenden Schlägen der Hufeisen und unter Schleudern unseres kleinen Schlittens, wenn die Fläche des Weges ein wenig schief war, fortfahren mußten.

Wir kamen zuerst zu dem Karbauer, der ein krankes Kind hatte. Von dem Hausdache hing ringsum, gleichsam ein Orgelwerk bildend, die Verzierung starrender Zapfen, die lang waren, teils herabbrachen, teils an der Spitze ein Wassertröpfchen hielten, das sie wieder länger und wieder zum Herabbrechen geneigter machte. Als ich[536] ausstieg, bemerkte ich, daß das Überdach meines Regenmantels, das ich gewöhnlich so über mich und den Schlitten breite, daß ich mich und die Arme darunter rühren könne, in der Tat ein Dach geworden war, das fest um mich stand und beim Aussteigen ein Klingelwerk fallender Zapfen in allen Teilen des Schlittens verursachte. Der Hut des Thomas war fest, sein Mantel krachte, da er abstieg, auseinander, und jede Stange, jedes Holz, jede Schnalle, jedes Teilchen des ganzen Schlittens, wie wir ihn jetzt so ansahen, war in Eis, wie in durchsichtigen, flüssigen Zucker, gehüllt, selbst in den Mähnen, wie tausend bleiche Perlen, hingen die gefrornen Tropfen des Wassers, und zuletzt war es um die Hufhaare des Fuchses wie silberne Borden geheftet.

Ich ging in das Haus. Der Mantel wurde auf den Schragen gehängt, und wie ich die Filzkappe auf den Tisch des Vorhauses legte, war sie wie ein schimmerndes Becken anzuschauen.

Als wir wieder fortfahren wollten, zerschlugen wir das Eis auf unsern Hüten, auf unsern Kleidern, an dem Leder und den Teilen des Schlittens, an dem Riemzeug des Geschirres, und zerrieben es an den Haaren der Mähne und der Hufe des Fuchses. Die Leute des Karbauers halfen uns hiebei. Das Kind war schon schier ganz gesund. Unter dem Obstbaumwalde des Karhauses, den der Bauer sehr liebt und schätzt, und der hinter dem Hause anhebt, lagen unzählige kleine schwarze Zweige auf dem weißen Schnee, und jeder schwarze Zweig war mit einer durchsichtigen Rinde von Eis umhüllt und zeigte neben dem Glanze des Eises die kleine frischgelbe Wunde des Herabbruchs. Die braunen Knösplein der Zweige, die im künftigen Frühlinge Blüten- und Blätterbüschlein werden sollten, blickten durch das Eis hindurch. Wir setzten uns in den Schlitten. Der Regen, die graue Stille und die Einöde des Himmels dauerten fort.[537]

Da wir in der Dubs hinüber fuhren, an der oberen Stelle, wo links das Gehänge ist und an der Schneide der lange Wald hin geht, sahen wir den Wald nicht mehr schwarz, sondern er war gleichsam bereift, wie im Winter, wenn der Schnee in die Nadeln gestreut ist und lange Kälte herrscht; aber der Reif war heute nicht so weiß wie Zucker, dergleichen er sonst ähnlich zu sein pflegt, sondern es war das dumpfe Glänzen und das gleichmäßige Schimmern an allen Orten, wenn es bei trübem Himmel überall naß ist; aber heute war es nicht von der Nässe, sondern von dem unendlichen Eise, das in den Ästen hing. Wir konnten, wenn wir etwas Aufwärts und daher langsamer fuhren, das Knistern der brechenden Zweige sogar bis zu uns herab hören, und der Wald erschien, als sei er lebendig geworden. Das blasse Leuchten des Eises auf allen Hügeln des Schnees war rings um uns herum, das Grau des Himmels war beinahe sehr licht, und der Regen dauerte stille fort, gleichmäßig fein und gleichmäßig dicht.

Wir hatten in den letzten Häusern der Dubs etwas zu tun, ich machte die Gange, da die Orte nicht weit auseinander lagen, zu Fuße, und der Fuchs wurde in den Stall getan, nachdem er wieder von dem Eise, das an ihm rasselte, befreit worden war. Der Schlitten und die Kleider des Thomas mußten ebenfalls ausgelöset werden; die meinigen aber, nämlich der Mantel und die Filzkappe, wurden nur von dem, was bei oberflächlichem Klopfen und Rütteln herabging, erleichtert, das andere aber daran gelassen, da ich doch wieder damit in dem Regen herum gehen mußte und neue Lasten auf mich lud. Ich hatte mehr Kranke, als sie sonst in dieser Jahreszeit zu sein pflegen. Sie waren aber alle ziemlich in der Nähe beisammen, und ich ging von dem einen zu dem andern. An den Zäunen, an den Strunken von Obstbäumen und an den Rändern der Dächer hing unsägliches Eis. An mehreren Planken waren die Zwischenräume verquollen, als[538] wäre das Ganze in eine Menge eines zähen Stoffes eingehüllt worden, der dann erstarrte. Mancher Busch sah aus wie viele in einander gewundene Kerzen, oder wie lichte, wässerig glänzende Korallen.

Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute.

Die Leute schlugen manche der bis ins Unglaubliche herabgewachsenen Zapfen von den Dächern, weil sie sonst, wenn sie gar groß geworden waren, im Herabbrechen Stücke der Schindeln oder Rinnen mit sich auf die Erde nahmen. Da ich in der Dubs herum ging, wo mehrere Häuser um den schönen Platz herum stehen, den sie bilden, sah ich, wie zwei Mägde das Wasser, welches im Tragen hin und her geschwemmt haben würde, in einem Schlitten nach Hause zogen. Zu dem Brunnen, der in der Mitte des Platzes steht, und um dessen Holzgeschlacht herum schon im Winter der Schnee einen Berg gebildet hatte, mußten sie sich mit der Axt Stufen hinein hauen. Sonst gingen die Leute gar nicht aus den Häusern, und wo man doch einen sah, duckte er oben mit dem Haupte vor dem Regen in sein Gewand, und unten griff er mit den Füßen vorsichtig vorwärts, um in der unsäglichen Glätte nicht zu fallen.

Wir mußten wieder fort. Wir fuhren mit dem Fuchs, den wir wieder hatten scharf machen lassen, durch die ebenen Felder hinüber gegen das Eckstück, welches die Siller am höher stehenden Walde einfaßt, und wo mehrere Holzhäuser stehen. Wir hörten, da wir über die Felder fuhren, einen dumpfen Fall; wußten aber nicht recht, was es war. Auf dem Raine sahen wir einen Weidenbaum gleißend stehen, und seine zähen, silbernen Äste hingen herab, wie mit einem Kamme nieder gekämmt. Den Waldring, dem wir entgegen fuhren, sahen wir bereift, aber er warf glänzende Funken und stand wie geglättete Metallstellen von dem lichten, ruhigen, matten Grau des Himmels ab.[539]

Von den Holzhausern mußten wir wieder zurück über die Felder, aber schief auf dem Wege gegen das Eidun. Die Hufe unseres Pferdes hallten auf der Decke, wie starke Steine, die gegen Metallschilde geworfen werden. Wir aßen bei dem Wirte etwas, weil wir zu spät nach Hause gekommen sein würden, dann, nachdem wir den Schlitten, das Pferd und unsere Kleider wieder frei gemacht hatten, fuhren wir wieder ab, auf dem Wege, der nach meinem Hause führte. Ich hatte nur noch in den letzteren Eidunhäusern etwas zu tun, und dann konnten wir auf dem Wege hinüber fahren, wo im Sommer die Eidunwiesen sind, im Winter aber alle die fahren und gehen, die im Waldhange und oberen Hage Geschäfte haben. Von da konnten wir gegen den Fahrweg einlenken, der durch den Thaugrund und nach Hause führt. Da wir uns auf den Wiesen befanden, über deren Ebene wir jetzt freilich klafterhoch erhoben fuhren, hörten wir wieder denselben dumpfen Fall, wie heute schon einmal, aber wir erkannten ihn wieder nicht, und wußten auch nicht einmal ganz genau, woher wir ihn gehört hatten. Wir waren sehr froh, einmal nach Hause zu kommen; denn der Regen und das Feuchte, das in unserm ganzen Körper steckte, tat uns recht unwohl, auch war die Glätte unangenehm, die allenthalben unnatürlich über Flur und Feld gebreitet war und den Fuß, wenn man ausstieg, zwang, recht vorsichtig auf die Erde zu greifen, woher man, wenn man auch nicht gar viel und gar weit ging, unglaublich ermüdet wurde.

Da wir endlich gegen den Thaugrund kamen und der Wald, der von der Höhe herüber zieht, anfing, gegen unsern Weg herüber zu langen, hörten wir plötzlich in dem Schwarzholze, das auf dem schön emporragenden Felsen steht, ein Geräusch, das sehr seltsam war, und das keiner von uns je vernommen hatte – es war, als ob viele Tausende oder gar Millionen von Glasstangen durcheinander[540] rasselten und in diesem Gewirre fort in die Entfernung zögen. Das Schwarzholz war doch zu weit zu unserer Rechten entfernt, als daß wir den Schall recht klar hätten erkennen können, und in der Stille, die in dem Himmel und auf der Gegend war, ist er uns recht sonderbar erschienen. Wir fuhren noch eine Strecke fort, ehe wir den Fuchs aufhalten konnten, der im Nachhauserennen begriffen war und auch schon trachten mochte, aus diesem Tage in den Stall zu kommen. Wir hielten endlich und hörten in den Lüften gleichsam ein unbestimmtes Rauschen, sonst aber nichts. Das Rauschen hatte jedoch keine Ähnlichkeit mit dem fernen Getöse, das wir eben durch die Hufschläge unsers Pferdes hindurch gehört hatten. Wir fuhren wieder fort und näherten uns dem Walde des Thaugrundes immer mehr, und sahen endlich schon die dunkle Öffnung, wo der Weg in das Gehölze hinein geht. Wenn es auch noch früh am Nachmittage war, wenn auch der graue Himmel so licht schien, daß es war, als müßte man den Schimmer der Sonne durchsinken sehen, so war es doch ein Winternachmittag, und es war so trübe, daß sich schon die weißen Gefilde vor uns zu entfärben begannen und in dem Holze Dämmerung zu herrschen schien. Es mußte aber doch nur scheinbar sein, indem der Glanz des Schnees gegen das Dunkel der hinter einander stehenden Stämme abstach.

Als wir an die Stelle kamen, wo wir unter die Wölbung des Waldes hinein fahren sollten, blieb der Thomas stehen. Wir sahen vor uns eine sehr schlanke Fichte zu einem Reife gekrümmt stehen und einen Bogen über unsere Straße bildend, wie man sie einziehenden Kaisern zu machen pflegt. Es war unsäglich, welche Pracht und Last des Eises von den Bäumen hing. Wie Leuchter, von denen unzählige umgekehrte Kerzen in unerhörten Größen ragten, standen die Nadelbäume. Die Kerzen schimmerten alle von Silber, die Leuchter waren selber silbern, und[541] standen nicht überall gerade, sondern manche waren nach verschiedenen Richtungen geneigt. Das Rauschen, welches wir früher in den Lüften gehört hatten, war uns jetzt bekannt; es war nicht in den Lüften; jetzt war es bei uns. In der ganzen Tiefe des Waldes herrschte es ununterbrochen fort, wie die Zweige und Äste krachten und auf die Erde fielen. Es war um so fürchterlicher, da alles unbeweglich stand; von dem ganzen Geglitzer und Geglänze rührte sich kein Zweig und keine Nadel, außer wenn man nach einer Weile wieder auf einen gebogenen Baum sah, daß er von den ziehenden Zapfen niederer stand. Wir harreten und schauten hin – man weiß nicht, war es Bewunderung oder war es Furcht, in das Ding hinein zu fahren. Unser Pferd mochte die Empfindungen in einer Ähnlichkeit teilen, denn das arme Tier schob, die Füße sachte anziehend, den Schlitten in mehreren Rucken etwas zurück.

Wie wir noch da standen und schauten – wir hatten noch kein Wort geredet – hörten wir wieder den Fall, den wir heute schon zweimal vernommen hatten. Jetzt war er uns aber völlig bekannt. Ein helles Krachen, gleichsam wie ein Schrei, ging vorher, dann folgte ein kurzes Wehen, Sausen oder Streifen, und dann der dumpfe, dröhnende Fall, mit dem ein mächtiger Stamm auf der Erde lag. Der Knall ging wie ein Brausen durch den Wald und durch die Dichte der dämpfenden Zweige; es war auch noch ein Klingeln und Geschimmer, als ob unendliches Glas durcheinander geschoben und gerüttelt würde – dann war es wieder wie vorher, die Stämme standen und ragten durch einander, nichts regte sich, und das still stehende Rauschen dauerte fort. Es war merkwürdig, wenn ganz in unserer Nähe ein Ast oder Zweig oder ein Stück Eis fiel; man sah nicht, woher es kam, man sah nur schnell das Herniederblitzen, hörte etwa das Aufschlagen, hatte nicht das Emporschnellen des verlassenen und erleichterten[542] Zweiges gesehen, und das Starren, wie früher, dauerte fort.

Es wurde uns begreiflich, daß wir in den Wald nicht hineinfahren konnten. Es mochte irgendwo schon über den Weg ein Baum mit all seinem Geäste liegen, über den er nicht hinüber könnten, und der nicht zu umgehen war, weil die Bäume dicht stehen, ihre Nadeln vermischen und der Schnee bis in das Geäste und Geflechte des Niedersatzes ragte. Wenn wir dann umkehrten und auf dem Wege, auf dem wir gekommen waren, zurück wollten, und da sich etwa auch unterdessen ein Baum herüber legt hätte, so wären wir mitten darinnen gewesen. Der Regen dauerte unablässig fort, wir selber waren schon wieder eingehüllt, daß wir uns nicht regen konnten, ohne die Decke zu zerbrechen, der Schlitten war schwerfällig und verglaste, und der Fuchs trug seine Lasten – wenn nirgends etwas in den Bäumen um eine Unze an Gewicht gewann, so mochte es fallen, ja die Stämme selber mochten brechen, die Spitzen der Zapfen, wie Keile, mochten nieder fahren, wir sahen ohnedem auf unserm Wege, der vor uns lag, viele zerstreut, und während wir standen, waren in der Ferne wieder dampfe Schläge zu vernehmen gewesen. Wie wir umschauten, woher wir gekommen, war auf den ganzen Feldern und in der Gegend kein Mensch und kein lebendiges Wesen zu sehen. Nur ich mit dem Thomas und mit dem Fuchse waren allein in der freien Natur.

Ich sagte dem Thomas, daß wir umkehren müßten. Wir stiegen aus, schüttelten unsere Kleider ab, so gut es möglich war, und befreiten die Haare des Fuchses von dem anhangenden Eise, von dem es uns vorkam, als wachse es jetzt viel schneller an als am Vormittage, war es nun, daß wir damals die Erscheinung beobachteten und im Hinschauen darauf ihr Fortgang uns langsamer vorkam, als Nachmittag, wo wir andere Dinge zu tun hatten und[543] nach einer Weile erst sahen, wie das Eis sich wieder gehäuft hatte – oder war es kälter und der Regen dichter geworden. Wir wußten es nicht. [...]" 

(Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters Margarita)

26 März 2022

Adalbert Stifter: Die Narrenburg

 Text bei Zeno.org

Wikipedia

Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu "Der Nachsommer"

Adalbert Stifter: "Die Narrenburg" - Beziehungen zu "Der Nachsommer"

 Auf gewisse Ähnlichkeiten zwischen dieser Erzählung und dem Roman "Der Nachsommer" werde ich noch hinweisen. Vorerst lege ich Wert darauf, dass Stifter in seinen frühen Erzählungen keineswegs originelle Wörter, Bilder und Metaphern scheute:

Bei der Beschreibung der Burg im Kapitel "Das graue Schloß" heißt es:

"Abgesonderte Bauwerke, gleichsam selber wieder Schlösser, standen auf verschiedenen Punkten, niedere Mauern liefen hin und her, Brüstungen bauschten sich, die Anmut griechischer Säulen blickte sanft herüber, ein spitzer Turm zeigte von einem roten Felsgiebel empor, eine Ruine stand in einem Eichenwalde, und weit draußen auf einer Landzunge, deren Ränder steil abfielen, schimmerte[368] das Weiß neuester Gebäude. [...] umfangen durch dieselbe klafterdicke, hohe, graue Eisenmauer, durch welche sie hereingelassen worden waren [...]. Wie ein dunkles Stirnband umzirkelte sie den weiten Berg und schnitt seinen Gipfel von der übrigen Welt heraus." (S.367/68)

"Ein Gedränge uralter, riesenarmiger Eichen schritt von dem Neubau gegen die Ruine hinüber, und man sah zwischen den Stämmen Damhirsche wandeln und grasen." (S.369)

Aber schon hier wird auch das abstrakte Vollverb 'sein' verwendet, wo man eher ein ausdrucksvolleres Wort erwarten würde. 

"[...]  von der vierten Seite stand das alte Schloß und die Lindenallee, grau und grün gemischt – und von oben war die tiefe Bläue des Himmels und das niederfließende Gold der Sonne." (S.377)

Was aber sind die Gemeinsamkeiten mit dem Nachsommer?

Der Protagonist heißt Heinrich, er wandert viel und treibt Naturstudien, sammelt Steine (freilich auch Blumen und trocknet sie, während im Nachsommer die sorgfältig und kunstvoll gepflegten Rosen eine wichtige Rolle spielen).

Er liebt die Tochter seines Gastgebers. Freilich im Nachsommer wird jeder überschwängliche Gefühlsausdruck vermieden, während das Liebespaar in der Narrenburg sich schon in der ersten Begegnung, die geschildert wird, sich sehr ausführliche Liebesgeständnisse macht:

"[...] aber was wollte ich Euch denn eigentlich erzählen?«

»Wie es kam, daß du mir so gut geworden bist.«

»Ach, die arme Thrine mußte den Stadtschreiber heiraten – sie tat es wohl gerne, und ging gerne mit, und die Plumi auch; aber ich war dann so arm, daß ich es Euch gar nicht beschreiben kann – – – und da kamet Ihr und habt mich mit so guten Augen angeschaut, und mit so schönen, und seid dann wieder so traurig geworden, daß es ordentlich ein Schmerz und eine Seligkeit war – – höret, wenn Ihr falsch sein könntet, das wäre nun recht abscheulich ...«

»Nein, Anna, du unschuldsvoller Engel, sei mir gut, so lange mir dieses Leben währt; ich kann mir kein größeres Glück und keine größere Freude denken und wünschen als dich. Du bist viel besser als ich – und wenn du mein Weib bist, und wenn wir immer und immer beisammen sein werden, dann will ich ihnen in der Stadt zeigen – – nein, wir gehen gar nicht in eine Stadt, – unter Blumen und Bäumen will ich dich hüten, daß du bleibst, wie du bist, du holde, liebe Dichtung ...«

»Laßt diese Dinge, und hört nur« – fiel sie ihm in die Rede. »Es war fast närrisch, wie sehr ich Euch gut ward die Hühner, und die Blumen, und die Tauben halfen doch alles nichts, ich konnte die Thrine nicht vergessen, und sie kam kaum jeden Sonntag heraus. – Der Vater ließ mich fast nichts arbeiten, und ich tat auch nichts im Hause als unnützes Zeug, höchstens die Küchlein füttern, [347] weil sie meinten, ich sei ihre zweite Mutter, und die Blumen begießen, und diese Laube zimmern lassen. – – Und wenn ich dann in meiner Kammer das Abendgebet verrichtet hatte und der Wind in die Fenstervorhänge blies, da war ich recht traurig. – Die Bücher, welche mir Thrine immer schickte – – sagt, habt Ihr auch schon einmal bei einem Buche geweint?« [...]

»Es war mir öfters, als seid Ihr in einem solchen Buche gestanden und daraus in unsern Garten getreten – und wenn Ihr hinten saßet und das Antlitz so wie nachdenkend in Eure beiden Hände drücktet, so dachte ich, dies sei meinetwegen.«

»Es war auch deinetwegen – es war auch deinetwegen.«

»Seht Ihr? – und darum wars auch so da ich mir dachte, ich will ihm recht gut werden, war ich es schon, mehr war ich es, als es nur ein Mensch aussprechen kann, und [348] ich dachte, Ihr müßtet mich ja auch unaussprechlich lieben, es könne ja gar nicht anders sein, es sei so gewiß, als wenn Ihr es schon selber gesagt hättet.«

»Und wenn es nun nicht gewesen wäre?«

»Es mußte ja, weil sonst alles ein Unding gewesen wäre, las nicht sein kann – ich weiß nicht, warum der Bach in die Pernitz fließen muß, aber ich weiß, das er es muß.«

»O, du ahnungsreiches Herz! er muß es, und er ist selig, daß er es muß. Das Ziel und Ende seiner Wanderung findet er dort – was weiter sein wird, ist ungewiß; nur ins ist sicher, das Beisammensein, und dieses eine ist alles, ob nun gezählte Jahre fließen, oder die ungezählte Ewigkeit, ob die Körper sich berühren, ob nicht, es bleibt so – – Die Leute nennens sonst auch Treue – – Aber siehe, der häßliche Fliederschatten deckt dir deine Stirne, und das süße Auge – neige das Haupt – so – noch ein wenig, mehr gegen mich – so –. Ich möchte den Mond dort an jenes blaue Fleckchen fest bannen, daß er immer herschiene und immer deine reine Stirne und das rührend schöne Auge beleuchtete – –.«

Und er nahm ihre Hand, drückte sie gegen sein pochendes Herz, gegen seine Lippen, gegen seine Augen – ihren Mund zu küssen, wagte er nicht. – Ihr Auge aber voll scheuer, unbewußter, heißer Zärtlichkeit blickte auf ihn, und sie sagte mit vor Rührung zitternder Stimme: »Da ich Euch nun so schnell und so sehr liebgewonnen und es Euch gesagt habe, da ich gar in der Nacht herausgekommen bin, weil Ihr so sehr batet, so dürft Ihr nun nicht falsch sein, Ihr dürft es durchaus nicht.«

»Gegen die Natur, geliebtes Herz, kann man nicht falsch sein, man ist es nur gegen Wiederfalsches – man verläßt nur den, der uns verließ, noch ehe er uns fand, weil er in uns nur seine Freude suchte. Du liebst, wie die Sonne scheint; du siehst mich an, wie sich das grenzenlose Himmelblau der Luft ergießt; du kommst, wie der Bach zum [349] Flusse hüpft, und wandelst, wie der Falter flattert: und gegen den schönen Falter, gegen den Bach, die Luft und gegen das goldne Sonnenlicht bin Ich nie falsch gewesen, und gegen dich vermöcht ichs nicht zu sein um alle Reiche dieser Erde – siehe, Anna, es ist so; – – aber, Anna, sage, liebst du mich denn auch wirklich so, so unaussprechlich, so über alles Maß, wie ich dich liebe? – – so sag es doch, Anna – – nicht?!«

Aber sie sagte nichts, nicht eine Silbe; das naturrohe Herz, das nie gelernt hatte, mit seinen Gefühlen zu spielen und sie zu lenken, war bereits von ihrer Allmacht iiberwältigt, und sie konnte nichts tun, als das unsäglich gute Antlitz gegen ihn emporheben und den Mund empfangen, der sich gegen ihren drückte – und so süß war dieser Kuß daß sie mit der einen Hand den sich ungestüm empordrängenden Hund wegstemmte, während sie hinübergebeugt emporgehobenen Hauptes die Seligkeit von den Lippen des teuren Mannes saugte. Er hielt sie mit beiden Armen fest umschlungen und fühlte ihren Busen an seinem klopfenden Herzen wallen.

»Heinrich,« flüsterte sie, »ich möchte dich doch du nennen.«

»So nenne, mein Herz, nenne.«

»Und eine Bitte habe ich – –.«

»So rede.«

»Die Bitte, daß du nie, nie mehr auf dieser Erde ein anderes Mädchen so liebst, wie mich – – und daß ich – ...«

»Was, Engel, daß du ...?«

»Nicht wahr, Heinrich, du nimmst kein anderes Weib, ich müßte mich dann recht schämen.«

»Und ich, bei dem lebendigen Gotte, mich noch mehr. Anna, höre mich: jetzt lieben wir uns bloß, das ist leicht und süß, aber es muß mehr werden. Ich werde dich von hier fortführen; du mußt meine Gattin werden, ich dein Gatte – das ist schwer, aber unendlich süßer: immer an[350] demselben Herzen, losgetrennt von Vater und Mutter und von der ganzen Welt. Du mußt lieben, was ich liebe, du mußt teilen, was ich teile, du mußt sein, wo ich bin, ja außer mir muß dir nichts sein: ich aber werde dich ehren bis ins höchste Alter, werde dich schützen, wie den Schlag meines Herzens, werde dein Geliebtes lieben, werde außer dir nichts haben – – und wenn eines stirbt, muß das andere Trauer hegen bis zum Grabe. Anna, willst du das?«

»Ja, sagt einmal, kann es denn anders sein?«

»Freilich, wo es recht ist, kann es ja nicht anders sein; das andere ist eben keine Ehe.«" (Stifter: Die Narrenburg   1. Kapitel Die grüne Fichtau)


25 März 2022

Gottfried Keller: Strapinski

 "[...] Hierauf beging er als stolzer Weltmann in stattlichen Tanzschritten den Kreis, hie und da sich vor den Anwesenden huldreich verbeugend, bis er vor das Brautpaar gelangte. Plötzlich faßte er den Polen, ungeheuer überrascht, fest ins Auge, stand als eine Säule vor ihm still, während gleichzeitig wie auf Verabredung die Musik aufhörte und eine fürchterliche Stille wie ein stummer Blitz einfiel.

»Ei ei ei ei!« rief er mit weithin vernehmlicher Stimme und reckte den Arm gegen den Unglücklichen aus, »Sieh da den Bruder Schlesier, den Wasserpolacken! Der mir aus der Arbeit gelaufen ist, weil er wegen einer kleinen Geschäftsschwankung glaubte, es sei zu Ende mit mir. Nun, es freut mich, daß es Ihnen so lustig geht und Sie hier so fröhliche Fastnacht halten! Stehen Sie in Arbeit zu Goldach?«

Zugleich gab er dem bleich und lächelnd dasitzenden Grafensohn die Hand, welche dieser willenlos ergriff wie eine feurige Eisenstange, während der Doppelgänger rief: »Kommt, Freunde, seht hier unsern sanften Schneidergesellen, der wie ein Raphael aussieht und unsern Dienstmägden, auch der Pfarrerstochter so wohl gefiel, die freilich ein bißchen übergeschnappt ist!«

Nun kamen die Seldwyler Leute alle herbei und drängten sich um Strapinski und seinen ehemaligen Meister, indem sie ersterm treuherzig die Hand schüttelten, daß er auf seinem Stuhle schwankte und zitterte. Gleichzeitig setzte die Musik wieder ein mit einem lebhaften Marsch; die Seldwyler, sowie sie an dem Brautpaar vorüber waren, ordneten sich zum Abzuge und marschierten unter Absingung eines wohleinstudierten[322] diabolischen Lachchors aus dem Saale, während die Goldacher, unter welchen Böhni die Erklärung des Mirakels blitzschnell zu verbreiten gewußt hatte, durcheinanderliefen und sich mit den Seldwylern kreuzten, so daß es einen großen Tumult gab.

Als dieser sich endlich legte, war auch der Saal beinahe leer; wenige Leute standen an den Wänden und flüsterten verlegen untereinander; ein paar junge Damen hielten sich in einiger Entfernung von Nettchen, unschlüssig, ob sie sich derselben nähern sollten oder nicht.

Das Paar aber saß unbeweglich auf seinen Stühlen gleich einem steinernen ägyptischen Königspaar, ganz still und einsam; man glaubte den unabsehbaren glühenden Wüstensand zu fühlen.

Nettchen, weiß wie ein Marmor, wendete das Gesicht langsam nach ihrem Bräutigam und sah ihn seltsam von der Seite an.

Da stand er langsam auf und ging mit schweren Schritten hinweg, die Augen auf den Boden gerichtet, während große Tränen aus denselben fielen.

Er ging durch die Goldacher und Seldwyler, welche die Treppen bedeckten, hindurch wie ein Toter, der sich gespenstisch von einem Jahrmarkt stiehlt, und sie ließen ihn seltsamerweise auch wie einen solchen passieren, indem sie ihm still auswichen, ohne zu lachen oder harte Worte nachzurufen. Er ging auch zwischen den zur Abfahrt gerüsteten Schlitten und Pferden von Goldach hindurch, indessen die Seldwyler sich in ihrem Quartiere erst noch recht belustigten, und er wandelte halb unbewußt, nur in der Meinung, nicht mehr nach Goldach zurückzukommen, dieselbe Straße gegen Seldwyla hin, auf welcher er vor einigen Monaten hergewandert war. Bald verschwand er in der Dunkelheit des Waldes, durch welchen sich die Straße zog. Er war barhäuptig, denn seine Polenmütze war im Fenstersimse des Tanzsaales liegengeblieben nebst den Handschuhen,[323] und so schritt er denn, gesenkten Hauptes und die frierenden Hände unter die gekreuzten Arme bergend, vorwärts, während seine Gedanken sich allmählich sammelten und zu einigem Erkennen gelangten. Das erste deutliche Gefühl, dessen er inne wurde, war dasjenige einer ungeheuren Schande, gleich wie wenn er ein wirklicher Mann von Rang und Ansehen gewesen und nun infam geworden wäre durch Hereinbrechen irgendeines verhängnisvollen Unglückes. Dann löste sich dieses Gefühl aber auf in eine Art Bewußtsein erlittenen Unrechtes; er hatte sich bis zu seinem glorreichen Einzug in die verwünschte Stadt nie ein Vergehen zuschulden kommen lassen; soweit seine Gedanken in die Kindheit zurückreichten, war ihm nicht erinnerlich, daß er je wegen einer Lüge oder einer Täuschung gestraft oder gescholten worden wäre, und nun war er ein Betrüger geworden dadurch, daß die Torheit der Welt ihn in einem unbewachten und sozusagen wehrlosen Augenblicke überfallen und ihn zu ihrem Spielgesellen gemacht hatte. Er kam sich wie ein Kind vor, welches ein anderes boshaftes Kind überredet hat, von einem Altare den Kelch zu stehlen; er haßte und verachtete sich jetzt, aber er weinte auch über sich und seine unglückliche Verirrung.

Wenn ein Fürst Land und Leute nimmt; wenn ein Priester die Lehre seiner Kirche ohne Überzeugung verkündet, aber die Güter seiner Pfründe mit Würde verzehrt; wenn ein dünkelvoller Lehrer die Ehren und Vorteile eines hohen Lehramtes innehat und genießt, ohne von der Höhe seiner Wissenschaft den mindesten Begriff zu haben und derselben auch nur den kleinsten Vorschub zu leisten; wenn ein Künstler ohne Tugend, mit leichtfertigem Tun und leerer Gaukelei sich in Mode bringt und Brot und Ruhm der wahren Arbeit vor wegstiehlt; oder wenn ein Schwindler, der einen großen Kaufmannsnamen geerbt oder erschlichen hat, durch seine Torheiten und Gewissenlosigkeiten Tausende um ihre Ersparnisse und Notpfennige bringt, so weinen alle diese nicht über sich, sondern erfreuen sich ihres[324] Wohlseins und bleiben nicht einen Abend ohne aufheiternde Gesellschaft und gute Freunde.

Unser Schneider aber weinte bitterlich über sich, das heißt, er fing solches plötzlich an, als nun seine Gedanken an der schweren Kette, an der sie hingen, unversehens zu der verlassenen Braut zurückkehrten und sich aus Scham vor der Unsichtbaren zur Erde krümmten. Das Unglück und die Erniedrigung zeigten ihm mit einem hellen Strahle das verlorene Glück und machten aus dem unklar verliebten Irrgänger einen verstoßenen Liebenden. Er streckte die Arme gegen die kalt glänzenden Sterne empor und taumelte mehr als er ging auf seiner Straße dahin, stand wieder still und schüttelte den Kopf, als plötzlich ein roter Schein den Schnee um ihn her erreichte und zugleich Schellenklang und Gelächter ertönte. Es waren die Seldwyler, welche mit Fackeln nach Hause fuhren. Schon näherten sich ihm die ersten Pferde mit ihren Nasen; da raffte er sich auf, tat einen gewaltigen Sprung über den Straßenrand und duckte sich unter die vordersten Stämme des Waldes. Der tolle Zug fuhr vorbei und verhallte endlich in der dunklen Ferne, ohne daß der Flüchtling bemerkt worden war; dieser aber, nachdem er eine gute Weile reglos gelauscht hatte, von der Kälte wie von den erst genossenen feurigen Getränken und seiner gramvollen Dummheit übermannt, streckte unvermerkt seine Glieder aus und schlief ein auf dem knisternden Schnee, während ein eiskalter Hauch von Osten heranzuwehen begann. [...]"

Wovon handelt die Erzählung? (Auflösung)




23 März 2022

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben

Meine erste Lektüre fand 1999 statt. Ich war sehr beeindruckt, habe aber nichts festgehalten 

Zur wiederholten Lektüre zunächst nur so viel:

Gekonnt auf die deutsche Leserschaft abgestellt ist sein Lob der deutschen Literatur und seine Kritik an der "mosaischen" Religion mit der von orthodoxen Juden betriebenen wortgetreu übernommenen Sabbatheiligung, sogar bezogen auf seinen Großvater, den Rabbiner, dem er sogar Heuchelei unterstellt. indem er sich so von der jüdischen Religion distanziert, macht er - ohne es ausdrücklich auszusprechen - deutlich, dass es bei der Judenverfolgung um reinen Rassismus ging und dass fehlendes Verständnis für die Religion keine bedeutsame Rolle gespielt haben kann. Für seine persönliche Kritik an der Religion zieht er Goethe heran "Es erben sich  Gesetz und Rechte/ Wie eine ew'ge Krankheit fort", ohne zu erwähnen, dass Goethe den Teufel (Mephisto) diese Worte sprechen lässt. Dann sein Lob seines blonden, blauäugigen Deutschlehrers, der der Klasse vor Augen hielt, dass Jesus ein Jude war und der deswegen strafversetzt wurde.

Reich-Ranicki als Person war mir nie sympathisch; doch meine Bewunderung kann ich ihm nicht versagen, und ich fühle schon auf den ersten Seiten mit ihm, weil er seine Liebe für deutsche Kultur durch die Nazis so grausam "enttäuscht" wurde - wobei enttäuscht ein viel zu schwaches Wort ist.

Zitate:
"In der Charlottenburger Volksschule erging es mir nicht so schlecht: ich wurde weder geprügelt noch schikaniert. Aber ganz einfach war es nun doch nicht. Indes haben mir nicht die Lehrer den Alltag erschwert, sondern die Mitschüler. Sie sahen in mir – und verwunderlich war das nicht – den Ausländer, den Fremden. Ich war etwas anders gekleidet, ich kannte ihre Spiele und Scherze nicht, noch nicht. Also war ich isoliert. Schlichter ausgedrückt: ich gehörte nicht dazu. [...]  Jeder Schüler erhielt ein Exemplar, aus dem er dann etwa eine halbe Seite vorlesen musste. Ich schaffte das einigermaßen, aber das Buch begeisterte mich nicht, mit dem Autor konnte ich nicht viel anfangen – und kann es bis heute nicht. Es handelte sich um Peter Roseggers "Als ich noch der Waldbauernbub war". Böcklin und Rosegger – so gut meinte ist das Leben mit hier nun doch nicht." (Seite 31/32)

Um sich an seinen Mitschülern zu rächen beschloss er, ein guter Schüler zu werden, und wählte dafür Mathematik.
"Lange dauerte meine Liebe zur Mathematik nicht. Als ich 13 oder 14 Jahre alt war, vernachlässigte ich das Fach und die meisten anderen ebenfalls. Ein anderes Fach, ein einziges, hatte es mir inzwischen angetan – ein Fach übrigens, das mir für die Rache an jenen Mitschülern, die mich verspotteten, noch viel besser geeignet schien als die Mathematik. Ja, ich rächte mich, ich wurde nun und blieb bis zum Abitur der beste Deutschschüler der Klasse. Aus Trotz? Das mag zutreffen, aber so ganz richtig ist es natürlich nicht.
Da gab es noch einen anderen Faktor, da hat noch ein anderes Motiv mitgewirkt – und es lässt sich kaum überschätzen: Das Lesen von Geschichten, von Romanen und sehr bald auch von Theaterstücken machte mir immer mehr Spaß. Und ehe ich mich's versah, da war’s um mich geschehen. Ich war glücklich – wohl zum ersten Mal in meinem Leben. Ein extremes, ein unheimliches Gefühl hatte mich befallen und überwältigt. Ja, ich war verliebt. Halb zog sie mich, halb sank ich hin – ich war verliebt in sie, die Literatur. (S. 34/35)

"Was die überwiegende Mehrheit der Juden jahrelang davon abhielt, auszuwandern, lässt sich kurz sagen: es war nichts anderes als der Glaube an Deutschland. Erst durch die "Kristallnacht", die "Reichspogromnacht" im November 1938, geriet dieser Glaube ins Wanken – und auch dann keineswegs bei allen noch in Deutschland lebenden Juden." (S. 62)

"Ja,  das trifft die Sache: Millionen haben weggesehen." (S.81)

Liebesgeschichten (S.82 ff.)
Liebe zur deutschen Literatur, zum Theater und zu Schiller.. "Nie habe ich mehr gelesen als in der Gymnasialzeit." (S.93)

"Sollte ich mit zwei Namen andeuten, was ich als Deutschtum in unserem Jahrhundert verstehe, dann antworte ich, ohne zu zögern: Deutschland – das sind in meinen Augen Adolf Hitler und Thomas Mann. Nach wie vor symbolisieren diese beiden Namen die beiden Seiten, die beiden Möglichkeiten des Deutschtums. Und es hätte verheerende Folgen, wollte Deutschland auch nur eine dieser beiden Möglichkeiten vergessen oder verdrängen." 
(S. 104/105)

Theater (S.106 ff.)
"Geben Sie Gedankenfreiheit" erhielt 1937 ständig lauten Beifall, dennoch wurde die Inszenierung lange nicht abgesetzt. Sie wurde 32 x gespielt. Die Nazis fühlten sich schon sicher, denn zu den Worten sei schon zu Schillers Lebzeiten geklatscht worden. (S.113)
"Werner Krauss habe ich bewundert, Käthe Dorsch beinahe verehrt und Käthe Gold geliebt. Gustaf Gründgens indes hat mich nahezu hypnotisiert." (S.123)
"In Gründgens sah ich den typischen Repräsentanten der Kultur der zwanziger Jahre, eben der 'Asphaltkultur,' der er im Dritten Reich treu blieb. [...] Er war der Antityp der Zeit. Nicht Blut und Boden verkörperte er, wohl aber das Morbide und das Anrüchige, das Zwielichtige. Nicht die Helden spielte er und auch nicht die Gläubigen, sondern die Gebrochenen und die Degenerierten, die Schillernden. Er war ein Narziß und ein Neurastheniker, der Rollen bevorzugte, die es ihm ermöglichten, das Narzißtische und das Neurasthenische zu verdeutlichen und zu akzentuieren." (S. 124)
Der Höhepunkt von Gs Laufbahn sei sicher sein Mephisto in Faust I und II gewesen.
Aber für mich, der als ich als Jude im Dritten Reich lebte und dem die Angst in den Gliedern saß, war es ein Hamlet von 1936 noch wichtiger. Es wurde schon oft gesagt, dass jede Generation im Hamlet sich selber gesucht und gefunden hat, die eigenen Fragen und Schwierigkeiten, die eigenen Niederlagen. Auch ich habe Züge und Umrisse meiner Existenz im nationalsozialistischen Deutschland im Hamlet wieder erkannt – dank Gründgens. (S.125)

Ein Leiden das uns beglückt (Sexualität und Liebe) S.131 ff.
R entnahm das Technische zur Sexualität dem Brockhaus, das Seelische fand er bei Hermann Hesse in Nazi? und Goldmund.[...]

Die Tür führte ins Nebenzimmer S.145 ff.
Kontakt mit einer Schauspielerin, Verse aus "Der Tor und der Tod" von Hofmannsthal
"Es war doch schön… Denkst du nie mehr daran?
Freilich, du hast mir wehgetan, so weh.
Allein was hörte nicht in Schmerzen auf?" (S. 146)

Zweiter Teil von 1938-1944 S.163 ff.
In Polen Begegnungen mit Frauen

Der Tote und seine Tochter Seite 189 ff.
Teofila Langnas hatte soeben den Selbstmord ihres Vaters erlebt.
"So unvergleichbar unsere Situation – wir waren beide ihr beide nicht gewachsen, wir waren beide überfordert. Sie wusste seit zehn Minuten, dass sie keinen Vater mehr hatte. Sie weinte, sie konnte nichts sagen. Und ich, was sollte ich einem Mädchen sagen, das sich vor zehn Minuten vergeblich bemüht hatte, ihren Vater vom Gürtel loszuschneiden? Wir, beide 19 Jahre alt, waren gleichermaßen ratlos. Ich war mir der Dramatik des Augenblicks bewusst, aber mir fiel nichts anderes ein, als den Kopf der Verzweifelten zu streicheln und ihre Tränen zu küssen. Sie nahm es, glaube ich, kaum wahr. [...] 
Dann aber tat ich etwas Ungehöriges, etwas, was für mich selber überraschte, was ich in dieser Situation noch vor zehn Sekunden für ganz unmöglich gehalten hätte: Ich fasste sie plötzlich an, ich griff zitternd nach ihrer Brust. Sie zuckte zusammen, aber sie sträubte sich nicht. Sie erstarrte, ihr Blick erschien dankbar. Ich wollte sie küssen, ich unterließ es. [...] (S.197/98)
Bei der Beerdigung
"Ein Freund ihres Vaters fragte etwas verwundert, wer denn eigentlich der junge Mann sei, der sich offensichtlich der Tochter des Toten annahm. Vielleicht hielt er es für unpassend oder etwas ungehörig. Aber wir beide, sie und ich, wir machten uns keine Gedanken darüber. Wir empfanden es schon als selbstverständlich, dass wir an diesem düsteren, diesem regnerischen Tag im Januar 1940 zusammen waren. Und wir blieben zusammen." (S.198)

Die Vertreter der deutschen Gemeinde mit der jüdischen Gemeinde, wurden von den Deutschen in " 'Ältestenrat der Juden' und bald, was wohl verächtlicher klingen sollte, 'Judenrat' " umbenannt. Für die Volkszählung wurden viele Büroangestellte gebraucht. 
R. meldete sich dafür. 
"Der Briefwechsel mit den deutschen Instanzen wuchs schnell. Immer mehr Schriftstücke mussten täglich übersetzt werden: bisweilen aus dem Deutschen ins Polnische, meist aber aus dem Polnischen ins Deutsche. Ein besonderes Referat wurde nötig. Man nannte es 'Übersetzungs- und Korrespondenzbüro' und beschäftigte dort vier Personen: einen jungen Juristen, eine ziemlich bekannte polnische Roman Autorin, Gustawa Jarecka, eine professionelle Übersetzerin und mich. Ich, der jüngste, der zehn bis fünfzehn Jahre jünger war als die anderen, wurde zum Chef des Büros ernannt. Weil man mir organisatorische Fähigkeiten zutraute? Vor allem wohl deshalb, weil ich, was nun kein Kunststück war, besser Deutsch konnte als jene, die plötzlich meine Unterergebenen waren. 
Ich wurde also, zum ersten Mal in meinem Leben, gebraucht. Ganz unverhofft hatte ich eine feste Anstellung mit einem Monatsgehalt – wenn auch einem bescheidenen. Ich war zufrieden – nicht zuletzt deshalb, weil ich zum Unterhalt der Familie ein wenig beitragen konnte. 
(S. 203/204)

Unter den unterernährten Juden bricht Typhus aus. Zunächst kümmern sich die Deutschen darum nicht.
"War ihnen die Verbreitung der Epidemie etwa gleichgültig? Nein, keineswegs, sie war ihnen vielmehr willkommen.
Im Frühjahr 1940 erhielt der von den Juden bewohnte Bezirk eine neue Bezeichnung: 'Seuchensperrgebiet'. Der Judenrat hatte ihn mit einer drei Meter hohen Mauer zu umgeben, die oben noch mit einem ein Meter hohen Stacheldrahtzaun versehen werden sollte. An den Eingängen zu diesen Terrain, dessen Grenze die Juden nicht überschreiten durften, wurden Tafeln mit einer deutschen und einer polnischen Inschrift aufgestellt: 'Seuchensperrgebiet… Nur Durchfahrt gestattet.' [...]
Am 16. November 1940 wurden die 22 Eingänge [...] geschlossen und von da an Tag und Nacht von jeweils sechs Posten bewacht: zwei deutschen Gendarmen, zwei polnischen Polizisten und zwei Angehörigen der jüdischen Miliz, die 'Jüdischer Ordnungsdienst' hieß. Diese Miliz war nicht uniformiert, doch leicht erkennbar: die Milizionäre trugen neben dem für alle verbindlichen Armband auch noch ein zweites in gelber Farbe, ferner eine Uniformmütze und auf der Brust ein Metallschild mit einer Nummer. Bewaffnet waren sie mit einem Schlagstock.
So war aus dem 'Seuchensperrgebiet', aus dem offiziell 'der jüdische Wohnbezirk' genannten Stadtteil ein riesiges Konzentrationslager geworden: das Warschauer Getto." (S. 203-207)

Die Worte des Narren S.208 ff
"Sein Erkennungszeichen waren zwei jüdische Worte, die er laut ausrief und, wie ein Zeitungsverkäufer, rasch wiederholte. 'Ale glaach', zu deutsch: 'Alle gleich'. Ob es sich um einen Befund handelte, eine Voraussage oder eine Warnung, ob der Mann wahnsinnig war oder einen Wahnsinnigen spielte – das wusste niemand. Dieser unheimliche Mann, der Rubinstein hieß, aber 'Ale glaach' genannt wurde war der Narr des Warschauer Gettos."
Das Warschauer Getto war - nach New York - die größte jüdische Siedlung  auf der ganzen Welt. Die Bewohner waren natürlich nicht gleich, es gab Unterschiede zwischen Reichen, die noch einigen Besitz hatten, Schmugglern (junge Männer, die außerhalb des Gettos arbeiteten und für Geld und Schmuck aus dem Getto überteuerte Nahrung ins Getto schmuggelten) und Profis, die in Zusammenarbeit mit der polnischen Polizei und den deutschen Richtern Wächtern ganze Lastwagen voll Lebensmittel in das Ghetto lieferten).
Die deutschen Wächter machten sich unvorhersehbar nach Belieben eine Freude daraus, Juden sadistisch zu quälen.
Es gab eine von Pferden gezogene Straßenbahn sie war so voll, dass R. und seine Freunde sie aus Angst vor Läusen, "den wichtigsten Überträger des Fleckfiebers" mieden. Aber selbst die Straßen waren weitgehend überfüllt. "Am Straßenrand lagen, vor allem in den Morgenstunden, die mit alten Zeitungen nur dürftig bedeckten Leichen jener, die an Entkräftung oder Hunger oder Typhus gestorben waren und für deren Beerdigung niemand die Kosten tragen wollte." S.212) 
Der Historiker Emanuel Ringelblum sammelte Dokumente über das Leben im Getto, darunter Kopien von Schreiben die R. anzufertigen hatte. 
"Das gesamte Archiv wurde in zehn Metallbehältern und zwei Milchkanistern vergraben, an drei verschiedenen Stellen. Von diesen drei Teilen hat man nach dem Krieg nur zwei gefunden, der dritte gilt als verschollen." (S. 216)


Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist S. 217 ff.
"[...] Es stellte sich rasch heraus, dass man im Getto ohne Schwierigkeiten ein großes Streichorchester gründen konnte: an guten Geigen und Bratschisten, Cellisten und Kontrabassisten war kein Mangel. Schwieriger war es mit den Bläsern. Mithilfe von Inseraten in der einzigen (übrigens sehr schlechten) Zeitung im Getto und auf Anschlagtafeln wurden geeignete Kandidaten gesucht. Es meldeten sich Trompeter, Posaunisten, Klarinettisten und Schlagzeuger aus den Jazzbands und den Tanzkapellen – rasch zeigte sich dass sie, auch wenn sie nie in einem Symphonieorchester gearbeitet hatten, gleichwohl Schubert oder Tschaikowsky tadellos vom Blatt spielen konnten.
Doch es fehlten drei Blasinstrumente. Und so waren bald etwas sonderbare Anzeigen zu lesen: Hornisten, Oboisten und Fagottisten dringend gesucht. Da sich niemand meldete, musste man sich, wenn man Sinfonien aufführen wollte, anders behelfen: die Oboenstimmen wurden von Klarinetten gespielt und die Fagottstimmen von Basssaxophonen – und das klang gar nicht so schlecht. Am schwierigsten hatte man es mit den Hörnern. Man entschied sich für eine allerdings höchst fragwürdige Lösung: sie wurden mit Tenorsaxophonen ersetzt." (S.220)
"Mir will es scheinen, dass in unserem ganzen Leben Musik niemals eine derartige Rolle gespielt hat wie in jener düsteren Zeit. Hat uns Mozart so entzückt und begeistert, obwohl wir hungrig waren und uns unentwegt die Angst in den Gliedern saß – oder vielleicht gerade deshalb? Jedenfalls darf man es mir glauben: Im Warschauer Getto ist Mozart noch schöner gewesen. In diesem Abschnitt meines Lebens hatte also die deutsche Musik die deutsche Literatur verdrängt. Bald sollte sich das Blatt wieder wenden. Da gab es für uns keine Musik – aber doch, höchst unerwartet, Literatur, vor allem deutsche." (Seite 230)
In dieser Zeit hat R in der einzigen (polnischen) Gettozeitung Konzertrezensionen geschrieben unter dem Namen Wiktor Hart.


Ranickis Rede im Bundestag am 27.1.2012

Ranicki berichtete, "wie SS-Sturmbannführer Hermann Höfle den Judenrat mit der sogenannten „Umsiedlung der Juden aus Warschau“, auch bekannt unter „Große Aktion“, beauftragte.[1] Reich-Ranicki war auf Auftrag Höfles gezwungen, die Sitzung zu protokollieren.[1] Nachdem die Konferenz geschlossen war und die SS-Führer mit ihren Begleitern das Haus verlassen hatten, musste sich Reich-Ranicki um die polnische Übersetzung des Protokolls kümmern.[1] Er selbst meinte, er habe damals, am 22. Juli 1942, das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte, seiner Mitarbeiterin Gustawa Jarecka diktiert.[1]

Auf Anraten Jareckas heiratete Reich-Ranicki kurz darauf seine Freundin Tosia.[1] Der Obmann des Judenrates Adam Czerniaków nahm sich am nächsten Tag, 23. Juli 1942, das Leben.[1] In dem Abschiedsbrief an seine Frau erklärte Czerniaków, nachdem man von ihm verlangt habe, mit eigenen Händen die Kinder seines Volkes umzubringen, wäre ihm nichts anderes übrig geblieben als zu sterben.[1] Reich-Ranicki erzählte, dass diese Tat damals als Zeichen dafür gesehen wurde, dass die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei.[1] Weiters hielt Reich-Ranicki Czerniaków für einen intellektuellen Mann mit Grundsätzen, der auch in unmenschlicher Zeit an seinen Idealen festhielt.[1] Am Ende der Rede stellte Reich-Ranicki fest, dass die sogenannte „Umsiedlung“ der Juden eine bloße Aussiedlung aus Warschau war: 'Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.' " (WikipediaMarcel Reich-Ranickis Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus)

Anmerkung 1: Broschüre des Bundestags zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus  (pdf)

Sie enthält auf den Seiten 14-20 den vollständigen Wort der Rede Reich-Ranickis.

Daraus: "Als ich bei der Aufzählung der Personengruppen angelangt war, die von der „Umsiedlung“ ausgenommen sein sollten, und dann der Satz folgte, dass sich diese Regelung auch auf die Ehefrauen beziehe, unterbrach Gustawa das Tippen des polnischen Textes und sagte, ohne von der Maschine aufzusehen, schnell und leise: „Du solltest Tosia noch heute heiraten.“ Sofort nach diesem Diktat schickte ich einen Boten zu Tosia: Ich bat sie, gleich zu mir zu kommen und ihr Geburtszeugnis mitzubringen. Sie kam auch sofort und war ziemlich aufgeregt; denn die Panik in den Straßen wirkte ansteckend. Ich ging mit ihr schnell ins Erdgeschoss, wo in der Historischen Abteilung des „Judenrates“ ein Theologe arbeitete, mit dem ich die Sache schon besprochen hatte. Als ich Tosia sagte, wir würden jetzt heiraten, war sie nur mäßig überrascht und nickte zustimmend. Der Theologe, der berechtigt war, die Pflichten eines Rabbiners auszuüben, machte keine Schwierigkeiten. Zwei Beamte, die im benachbarten Zimmer tätig waren, fungierten als Zeugen. Die Zeremonie dauerte nur kurz, und bald hatten wir eine Bescheinigung in den Händen, der zufolge wir bereits am 7. März getraut worden waren. Ob ich in der Eile und Aufregung Tosia geküsst habe, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, welches Gefühl uns überkam: Angst. Angst vor dem, was sich in den nächsten Tagen ereignen werde. Und ich kann mich noch an das Shakespeare-Wort erinnern, das mir damals einfiel: „Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?“ " (S.20)

Und über Czerniaków:

"Von Czerniakóws Selbstmord erfuhr das Getto am nächsten Tag – schon am frühen Morgen. Alle waren erschüttert, auch seine Kritiker, seine Gegner und Feinde. Man verstand seine Tat, wie sie von ihm gemeint war: als Zeichen, als Signal, dass die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei. Still und schlicht war er abgetreten. Nicht imstande, gegen die Deutschen zu kämpfen, weigerte er sich, ihr Werkzeug zu sein. Er war ein Mann mit Grundsätzen, ein Intellektueller, der an hohe Ideale glaubte. Diesen Grundsätzen und Idealen wollte er auch noch in unmenschlicher Zeit und unter kaum vorstellbaren Umständen treu bleiben. Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die „Umsiedlung“ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod."

"Der Deportation im Januar 1943 entkam das Ehepaar, indem es auf dem Weg zum Versammlungsplatz floh. Es lebte fortan versteckt. In dieser Zeit unterstützte Reich-Ranicki zusammen mit seiner Frau die Jüdische Kampforganisation (polnisch: Żydowska Organizacja Bojowa, kurz: ŻOB) bei der Beschaffung einer größeren Geldsumme aus der Kasse des „Judenrates“. Als Anerkennung bekamen sie einen kleinen Teil des Geldes; dieser sollte ihnen die Flucht aus dem Ghetto durch Bestechung der Grenzposten ermöglichen,[7] was am 3. Februar 1943 gelang. Sie fanden nach kurzen Zwischenverstecken für sechzehn Monate einen Unterschlupf bei der Familie des arbeitslosen Schriftsetzers Bolek Gawin" (Wikipedia)

Jüdischer Widerstand gegen den Holocaust

Aufstand im Warschauer Ghetto (Wikipedia)

Warschauer Aufstand als WendepunktWlodzimierz Borodziej im Gespräch mit Michael Köhler 27.7.14

Widerstand im Wilnaer und im Warschauer Ghetto


Dritter Teil von 1944 bis 1958 s. 295 ff.

"[...] Auf dem Lastwagen, der allerlei Waren transportierte, saßen schon mehrere Leidensgenossen. Man betrachtete uns nicht gerade mit Sympathie. Aber ein ordentlich gekleideter Pole sprach mich freundlich an. Nach einigen Minuten fragte er mich, den unrasierten und schmutzigen Landstreicher: 'Sie sind wohl Jurist?' So heruntergekommen ich war, etwas war offenbar geblieben und hatte ihn zu seiner Vermutung veranlasst: die Sprache – oder vielleicht die logische Argumentation. Mein Alter schätze er auf knapp fünfzig. Ich war damals 24. (Seite 298/99)


"
Walter Jens oder die Freundschaft S.418-426
30 Jahre Freundschaft, in gewisser Weise beide in der Gruppe 47 Außenseiter, weil dort alle anderen im 2. Weltkr. deutsche Soldaten gewesen waren.
Stundenlange Telefongespräche. 
"Als wir schon längst zerstritten waren, hat Jens einmal gesagt: "Wir verdanken uns gegenseitig sehr viel." Abwägen lässt sich derartiges nicht, aber ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass ich ihm noch mehr zu verdanken habe als er mir." (Seite 424) "Als im Herbst 1990 unsere Beziehung ernsthaft gestört und gefährdet war [...]" (S.426)

Canetti, Adorno, Bernhard und andere S.438ff
Canetti und Adorno waren beide sehr eitel und selbstgefällig.
Zwischen der Eitelkeit Adornos und jener Canettis bestand ein nicht geringer Unterschied. Canettis Eitelkeit hing mit seinem Ehrgeiz zusammen, als kategorischer Ankläger und einsamer Weltenrichter zu fungieren. Freilich entzog sich das symbolische Amt, das er anstrebte und vielleicht schon mit priesterlicher, ja, mit majestätischer Würde zu versehen bemüht war, einer genaueren Definition: Denn es war in einem diffusen Grenzbereich beheimatet – zwischen Literatur und Philosophie, Kunst und Religion, zwischen strenger Zeitkritik und höherer Lebenshilfe. Canetti wurde, nicht zu seiner Unzufriedenheit, als eine fast archaische und mythische Gestalt berühmt, als der 'Prophet von Rustschuk'.
Das alles war Adornos Sache nicht. Auch er wollte gefeiert und geehrt werden – doch vor allem als intellektuelle und wissenschaftliche Autorität. Auch ihm war an einer Gefolgschaft gelegen. Aber niemand sollte ihm blind folgen, vielmehr sein kritisches Denken kritisch bewundern. Die Verehrung Canettis ging bisweilen in Verklärung über. Daran war Adorno nicht interessiert. Nicht das Sakrale war sein Element, sondern die Pfauenhaftigkeit, die er überhaupt nicht tarnte. [...] Adornos Eitelkeit ähnelte jener eines Sängers oder eines Schauspielers: Nicht auf stumme Anbetung hatte er es also abgesehen, sondern auf begeisterten Beifall. Sie so enorm seine Gefallsucht auch war, es verbarg sich in ihr etwas Entwaffnendes, etwas, das seine Eitelkeit begreiflicher und auch sympathischer machte als jene Canettis: Hilflosigkeit. In seinem Bedürfnis nach Zustimmung, in seiner ständigen Sehnsucht nach Lob war etwas Rührendes, etwas Kindliches." S.457/58)

FAZ, Fest (S.477 ff)
Begegnung mit Fest, beinahe eine Freundschaft, wenn auch Fest immer noch etwas förmlich blieb. Als er als Herausgeber der FAZ gewonnen wurde (einer von 6) wünschte er sich Ranicki für den Literaturteil
"Mit den mir vorgeschlagenen Bedingungen und Modalitäten war ich gleich einverstanden, nur sollte im Vertrag ausdrücklich gesagt werden, dass mir 'die Bereiche Literatur und literarisches Leben' oblägen und dass ich unmittelbar den Herausgebern unterstellt sei. Daran war mir besonders gelegen: Ich wollte auf keinen Fall einem Feuilletonchef unterstehen. Mit meinem Einzug in die Redaktion der 'Frankfurter Allgemeinen' sollte also die Kultur in zwei Bereiche mit gleichberechtigten Chefs aufgeteilt werden – das allgemeine Feuilleton, geleitet von Günter Rühle, und die Literatur. Mein Wunsch wurde erfüllt
Fest war zufrieden, und ich war es erst recht. Rund fünfzehn Jahre nach meiner Rückkehr hatte ich endlich einen Posten im literarischen Leben Deutschlands und vielleicht den wichtigsten. Aus dem Literaturteil dieser Zeitung würde sich, das hoffte ich, ein Forum und ein Instrument höchsten Ranges machen lassen – vorausgesetzt, dass keine Schwierigkeiten die Zusammenarbeit mit Fest beeinträchtigten. Dass sie entstehen könnten, darauf wies nichts hin – einstweilen jedenfalls nichts." (S.480)

Der dunkle Ehrengast  "Dieser dezente Herr war ein Verbrecher, einer der schrecklichsten Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands. Er hatte den Tod unzähliger Menschen verschuldet.Albert Speer (S.481)

Ein Streitgespräch mit vier Feministinnen
"[...] Auch ich war angriffslustig, aber mein Interesse an dem bevorstehenden Streitgespräch war schlagartig geschwunden, als ich plötzlich sah, dass eine meiner Partnerinnen eine  außerordentliche Frau war: anmutig und anziehend, verlockend und verführerisch, lieblich und liebreizend, kurz: wunderschön.
Ich war von ihr so bezaubert, dass ich die anderen kaum wahrnahm. In der Diskussion hat sie mir noch besser gefallen: Sie sprach sehr intelligent und sie hatte die höchst sympathische Neigung, mit allem, was ich sagte, einverstanden zu sein. Das angebliche Streitgespräch verwandelte sich in einen heimlichen erotischen Dialog: Was ich sagte, war nur für sie bestimmt, und was sie sagte, war, wollte mir scheinen, an mich gerichtet." (S. 493/94): Lilli Palmer
"Ich las die Verse gleich. Ich war entzückt und gerührt. [...] Eine junge Frau, von der noch nichts publiziert war, hatte mir unzweifelhaft druckbare Gedichte zugeschickt, mehr noch, Gedichte, die bewiesen, dass deutsche Lyrik auch heute schön sein darf und schön sein kann." (S.494/95): Ulla Hahn


Weitere Texte:

Ulrich Greiner über Reich-Ranicki:
"Dieses Land verdankt ihm viel. Das Verhältnis der Deutschen zu einem Juden, zu einem Überlebenden, der so provozierend in die Öffentlichkeit wirkte und Anerkennung suchte, konnte nicht einfach sein, und es gab im Verlauf von Reich-Ranickis bundesdeutschen Lebensjahren manche Missverständnisse, Fehlleistungen, auch Entgleisungen. Alles in allem aber ist es wohl eine geglückte Geschichte. Man muss in der Tatsache, dass dieser Mann ins Land seiner Jugend zurückgekehrt ist und uns die Bedeutung der zuweilen schnöde vergessenen literarischen Tradition aufs Neue beigebracht hat, eine unverdiente Gunst des Schicksals erblicken. Er war ein außerordentlicher Mann, der uns fehlen wird. Mit anderen Worten: So einen Kerl habe ich zeit meines Lebens nicht gesehen."