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21 Juli 2021

Vischer: Auch Einer - Letzte Begegnung in Assisi

 "Die Fresken im Kloster draußen großenteils verdorben; monochrom. Erhalten eigentlich nur eines der Seitenbilder: der Leichnam des heiligen Franziskus, umgeben von trauernden Mönchen und Volk. Der Meister, schwerlich Crescenzio, hat die streng auf die Sache losgehende Art des Giotto. Schmerz, andächtig rührungsvolles Schauen in die stillen Züge des Toten, diese Affekte in ihrer Einfachheit, ohne Zusatz feinerer Mischung, aber auch ohne abflachende Rundungen, und nur um so ergreifender. Die ausgewachsene Kunst füllt Formen und Ausdruck, spielt aber stets an der Grenze hin und über sie, wo das fühlbare Zeigen ihres Könnens beginnt. An der vollen Krone des Baums, der in Sommersmitte prangt, findet man immer schon einige welke Blätter. – Eigentümlich hat mich der tote Franziskus berührt, der tiefe Friede in seinen hageren Büßerzügen. Was ist es, worin er liegt? Ein gläserner Sarg? Nicht mehr zu erkennen. – Als Ort wird Assisi zu denken sein. –

*

Jetzt weiß ich, wohin! – Der Fremde im Rückweg lange schweigsam. Ich auch. »Die Bilder,« beginnt er endlich, »haben mich seltsam ergriffen, – auch darum, weil die Szene, die wir zuletzt gesehen, in Assisi vorzustellen ist. Ich habe eine traurige Nachricht: der Tod zielt jetzt eben in meine Verwandtschaft.« – Er nennt mir seinen Namen, sein Vaterland Schweden, seinen Heimatsort Gotenburg und seinen Stiefbruder – Erik. Dessen Witwe, ein Juwel aller Frauen, liege todkrank nieder in Assisi. – Zu Schiff, zu Schiff!

*

Neapel. So weit wär' ich. Der Seesturm überstanden, ich wußte gut, daß er mir nichts anhaben könne. Das Dampfschiff gilt für altersschwach, es müsse noch dienen, solange es halte; der Kapitän stand immer an der Maschine, sah hinab, horchte, ob sie noch gehe. Bald alles seekrank außer mir und der Bedienung des Fahrzeuges. Halte mich am Mast und schaue und höre. Ton durchaus wie von Millionen Trommlern, die mit anwachsender Schlaggewalt zum Sturme wirbeln, immer wieder von vorn beginnend. Womöglich furchtbarer das dünne, schneidend scharfe Pfeifen des Winds in den Tauen, wie wenn einer auf der schermesserschmalen Kante von Papier pfeift, – dies ins Unendliche gesteigert. Wogen – eine Welt; nicht jede gelingt, die gelungenen herrlich in der Linie ihrer Hohlkehlen und Roßhalsrücken, drüber die Schaummähnen, die der Sturm flockig hinausbläst. Wälzt sich eine heran, man meint jedesmal, sie müsse das Schiff umstoßen oder überflutend begraben, doch sie nimmt es auf ihre Schultern, dann schießt es ins nächste Wogental hinab. Welches Brausen und Donnern! Kann sonst den Wind nicht ausstehen; so gefällt er mir, wie neulich in Sorrent auf der Klippe: wenn einmal doch, dann auch recht! – Weinen, Jammern, Beten ringsum. Ich lasse mir stark den Syrakusaner munden; der Kellner preßt sich, um einschenken zu können, an Mastbaum oder Wand, wenn ich dann nicht schnell trinke, ist der Wein fort, als schlüge jemand mit Gewalt unten ans Glas. Nacht, unmöglich oben zu bleiben, ich muß hinab in meine Koje und wie ich entkleidet bin, beschleicht mich eine kurze Anwandlung von Feigheit. Was doch Kleider, namentlich Stiefel, ein Gefühl von Halt geben! – Da unten ist's unheimlich; an der Schiffwand höre ich mitten unter dem dumpfen Brummstoß der Wellen und dem Aechzen aller Rippen des hohlen Baues manchmal etwas wie Saugen und Gurgeln, als lutschten da draußen die Mollusken so vorläufig am Holz in Aussicht auf bessere Speise. Auf der Treppe sitzt ein großer, schöner Kerl mit langem Bart, in flotter Uniform, Leibjäger irgend eines vornehmen Herrn, und weint wie ein Kind; – vielleicht ein andermal beherzt; sind halbantike Menschen, lassen alles heraus. [...] – Gegen Morgen ermattet die Sturmwut; man kann auf das Verdeck, doch als ich mich auf einen Feldstuhl gesetzt und eingenickt, rollt mich ein Ruck wie eine Kugel das Verdeck entlang. Hat mich gefreut, daß ich wieder hell lachen kann. – Der Sturm mit all seinem Lärm ist mir ganz still vorgekommen im Vergleich mit dem höllischen Traum, mit dem stummen Brüten in der Luft, das den Larven voranging, und mit ihren Hohnrufen.

*

Rom. Nur eine Wanderung hier über das Kapitol hinaus. Morgen vorerst Perugia. – Dum Capitolium scandet cum tacita virgine pontifex. Horaz hatte doch Momente. Cum tacita virgine – begleite mich, Bild der priesterlichen Jungfrau – mit ihren, ihren Zügen! – Ueber das Forum hinaus ein Stück in die Campagna, an diesem stillen Abend im Mondschein. Mein Leben wird Vergangenheit, es ist müdes, weiches Verdämmern ohne Empfindungsschwäche. Tiefes Weh nur, wenn ich vergleiche. Trümmer von so großem – und mein Dasein niemals mit vollem Band an großes geknüpft. Schäme mich vor den Geistern, die hier schweben. Horaz kann sich doch wenigstens rühmen, das äolische Versmaß der lateinischen Sprache angeeignet zu haben. Aber die Männer, die Helden! Und ich? Ja einmal, einmal, da wollte es werden, habe gekämpft für ein Vaterland. Kurzer Traum! – Ihr Gewaltigen habt Reiche besiegt, habt die Welt beherrscht.

Wohl seh' ich auch im Geist, wie blondlockige Gotenscharen dort auf den Palatinus hinaus und ins Kolosseum dringen und die Mauern brechen. Alte Geschichten. Mein Deutschland schläft wieder, nachdem eine Halbheit auf zweifelhaften Wegen zustande gekommen. Man muß auch das lernen: hingehen, ohne ein Vaterland erlebt zu haben. Gefaßt, ganz gefaßt. Und so wird's wieder ruhig in mir, sanft. Ich fange eure Größe ein in süßem Diebstahl, ihr Trümmer, atme Heldenluft in großer Stille.

*

Was haben die deutschen Künstler da drin im Café Greco? Haschen heftig nach den Zeitungen. Wird auch der Mühe wert sein! – Mich kümmern keine Neuigkeiten mehr.

*

Perugia. Es ist so, sie liegt drüben in Assisi; man hat sie in die freiere Bergluft gebracht, zur Muhme Cornelia. Ihr Vater, ihre Söhne bei ihr. Habe an ihn geschrieben, ob ich erscheinen darf. Mir war nur still und feierlich zumute: jetzt bin ich nicht mehr so ruhig. Mutarm, schwer, bang, daß mir fast Arm und Fuß den Dienst versagt, bis Antwort da ist. – Stehe wieder vor dem Geburtshaus ihrer Mutter, verwechsle sie immer, und wenn ich da nach der Loggia hinaussehe, sehe ich statt ihrer Cordelia als Kind dort zwischen den Oleandern herabschauen.

*

Man erwartet mich, soll kommen, schnell. Mir wird schon leichter. Ich darf.

*

Es ist gewesen. Es ist. Ja, wie dort auf dem Bilde des Kölner Meisters die heilige Jungfrau, so umgeben von Weinenden, Vater, Kindern, so lag sie. Und auch wie der selige Geist im blauen Lichtmeer der verklärten geheimnisvollen Grotte.

*

Kniend an ihrem Bett – sie weint – weint sie auch um mich? – Es gibt Krieg, sagt sie. – Ich wußte nichts von der Welt draußen. – Der Vater bestätigt: Krieg Deutschlands mit Frankreich. – Ist die Stunde wieder da, wo in Christiania – ihr Aufruf –? Sie mahnt nicht, diesmal nicht. – In mir Entschluß, augenblicklich. Nun weiß ich meinen Weg, sage ich, – sie schweigt, sie weint, reicht mir die Hand, die weiße, bleiche, – hebt sie, nachdem ich sie lang gehalten, und legt sie auf mein Haupt, segnend, Worte flüsternd, unhörbar, meine Tränen strömen, – sie bedarf Ruhe – Leb wohl! leb wohl! – Ein sanftes »wohl« kann ich noch vernehmen – ein Blick ruht auf mir – ich werd' ihn ewig sehen. Und du, Erik! – dein Geist über uns – ich sah ihn freundlich nicken. – Ja, ja, nun weiß ich meinen Weg. –

*

         

Der Erdenstoff verzehrt sich sacht und mild,
Bald ist's vorbei und du bist ganz nur Bild!
Du schwebst hinweg, schon strahlen wie von ferne
In fremdem Glanz der Augen milde Sterne.

Sei, Bild, mein Schild, solang der heiße Tag
Mich noch umtost mit wildem Stoß und Schlag!
O senke, steigt der dunkle Zorn mir wieder,
Auf mich herab die träumerischen Lider.

Die Blicke, die, dem reinen Kinde gleich,
Nicht wissen, wie so gut sie sind, so weich!
Ganz Geist, kannst du nun allerorten leben
Und auch zu mir, dem Umgetrieb'nen, schweben.

Vielleicht ist doch in nicht zu ferner Zeit
Ein bleibend Haus zur Rast für mich bereit.
Dann schwinge sanft um meinen Totenhügel
Am stillen Abend deine Geisterflügel.

*

Hier endigt das Tagebuch. Weitere Aufzeichnungen haben sich nicht gefunden; nur die Tage der Schlachten jenes Sommers sind noch eingetragen, zuletzt der Entscheidungstag von Sedan.


Vischer: Auch Einer - ein Traum

 Der Traum dieser Nacht sei aufgezeichnet, schnell, bevor er sich verwischen kann! So gut ich's vermag nach so viel Grausen, Beben und Entzücken. Ich wandle wieder auf dem Korso. Der Himmel wie neulich in Pästum. Die schwere Wolkenwand sinkt herab und schließt den Spalt, durch den man dort die Abendsonne im trüben Schirokkogelb leuchten sah. Nacht. Die Begegnenden sehen sich nicht mehr. Schwül und schwüler, endlich fast zum Ersticken. So muß es in und um Pompeji gewesen sein, als der alte Plinius den Atem aufgab. Jetzt langsam wächst eine Ziegelröte über den Himmel, geht in feuerrotes Glanzlicht über. Stille, todesbang. – Horch, welcher Ton? Man hört ein wehendes Blasen, etwas wie ein Fegen, es wird zu einem lauten und lauteren stürmischen Speien, jetzt knallen Donnerschläge dazwischen – jetzt wankt zuckend die Erde unter mir – ich schaue um und auf, der Monte Pelegrino hat sich in den Aetna verwandelt, offen ist die fürchterliche Esse, glutrot fährt die Lohe aus der Unterwelt empor, und rings am schrecklichen Geisterberge schlängeln sich Lavabäche zu Tal und verlöschen zischend im flammenden Gewässer des Hafens. [...]

– was hebt sich aus dem Krater empor? Ein Drachengespann – es reißt hinter sich einen Wagen aus dem Schlund – er scheint leer – dann richtet sich ein Schatten in ihm auf – jetzt schwebt er wie auf sicherem Boden in ebener Linie durch die Lüfte – herwärts der Stadt, meinem Standort zu, – ist das nicht etwas wie eine weibliche Riesengestalt, was aus ihm emporragt? – – der Wagen senkt sich – schwebt sinkend näher und näher – deutlicher im schwefligen Glut- und Blutschein wird die Lenkerin des Drachenpaars – Augen wie Fackeln brennen aus ihrem Antlitz – ihre Locken sind von Gold, ringeln sich aber wie Schlangen, blaue Funken knistern aus ihren Spitzen – jetzt wankt mir der Mut, ich denke an Flucht, die Beine sind mir lahm, angewurzelt stehe ich, denn das ist ja – sie! sie! das Weib, das mir die Seele ver– der Wagen hält in Lüften – ein Blick – was für ein Blick! Ich kenne ihn! – trifft mich, streift dann über die Köpfe der Menge hin –; sie wirft stolz ihr Haupt auf und erhebt die Stimme, – es ist der Ton, mit dem sie einst jene Stellen des Olaflieds sang, woraus es hervorklang wie Mitleid und Hohn zugleich, – nur lauter jetzt, greller, ein Herrscherton – so mag einst Libussa ihre Schlachtbefehle gerufen haben – »Adoratemi! Sono la santa Rosalia!« Das Volk starrt sie an, dann rufen Stimmen: Auf die Knie! Seht ihr das Kreuz auf ihrer Stirn? – und alles sank auf die Knie. Ich sehe hin nach ihrer Stirne und erkenne mit Grausen – – »Betet nicht an! das ist kein Kreuz! schaut besser hin – eingeätztes Bild eines Dolches!« – Das entsetzliche Weib wendet den Blick wieder nach mir und herrscht mir jetzt griechische Worte zu: »Ἄνω τὴν κεφαλὴν! Βλέπε ἄνω!« Ich schaue über ihr Gorgonenhaupt hinweg, hinauf nach dem speienden Krater. Da fliegt wie eine Rakete emporgetrieben ein schwarzer Körper zwischen den Flammengarben auf, hält dann im Schweben still, fängt an mit den Beinen zu gaukeln, zu zappeln, wie ein Hampelmann, tanzt baumelnd, sich überschlagend eine Weile in den Lüften, kugelt dann abwärts und herwärts, immer näher, bis er über meinem Haupte flattert, und beginnt nun mit kreischender Stimme zu stottern: »Gu– gu– guck mich an!« Ich lache, doch verzwungen und angstvoll, und rufe: »Du bist der Stotterer vom Theater S. Carlin in Neapel!« »Oho, oho,« stammelt es jetzt, »wie du– du– dumm! Ich bin ja der Pla– Pla– Plato! Kann auch pfei– pfeifen!« – Er pfiff, der schrille Ton ging in eine Schelmenmelodie über, und es war jetzt, als pfiffen zwei Stimmen, eine höhere und eine tiefere, und die tiefere schien aus einem großen Loch in der Brust zu kommen. – O, ich hatte mir's nur verhehlen wollen, – schon vorher hatte ich die nun verzerrten Züge, die halbgrauen, nun wild flatternden Locken erkannt, die mir einst so ehrwürdig erschienen. [...]

Hat sich der Himmel aufgetan? Vor mir wölbte sich die blaue Grotte von Capri, nicht Bild, nicht Gemälde, sondern Wirklichkeit. Und doch auch wieder nicht. Denn wohl raunt das Volk von gewissen Felshöhlen an jener Inselküste, es seien Spiriti darin, aber was leuchtet hier, welch Unbekanntes, Neues, welchen Wunderkern umschließen diese blauerglänzenden Wölbungen? Eine Erhöhung des Felsens ragt aus dem Wasser, wie zur natürlichen Ruhestätte gebildet; auf weißer Decke, die darüber sich breitet und faltenreich niederfällt, in weißem Gewande, das Haupt auf weißem Schlummerkissen ruht ein Weib, mir entgegengekehrt, das Angesicht mir gegenüber, halbgeschlossen sind die von langen Wimpern überschleierten Augen. Friede wohnt auf ihrer Stirne, ein seliges Lächeln umspielt ihre Lippen, Verklärung ist dies Antlitz. Das magische Licht, das auf Correggios berühmter »Nacht« vom Christuskind ausgeht, auf den Gesichtern der anbetenden Gruppe wiederscheint und im Dunkel der Hütte, der nächtlichen Landschaft verschwebt, es ist stumpf und erdig gegen die Lichtfülle, die von diesem Himmelsbilde ausströmt und doch nicht blendet, sondern mondscheingleich das Blau, das vor lauter Leuchtkraft wie Rot auf das Auge wirkt, zu sanfter Kühle ermäßigt. Ich sollte die Züge dieses Weibes kennen, sprach es in mir. Nur so wagte ich es im Innern zu sagen, denn sehr wohl beim ersten Blicke kannte ich sie. Doch drang es mir über die Lippen: »Soteira!« flüsterte ich und trat um einen kleinen Schritt näher; das Wasser, das ihr Felsbett umschwankte, schien zugleich fester Boden, der dem Fuße Stand und Gang erlaubte. Sie öffnete jetzt die Augen und ließ sie auf mir ruhen. Wer beschreibt den Blick! Mir war wie damals, als sie sich über mich beugte und das feuchtkühle Tuch auf meine Stirne legte, nur dasselbe Gefühl ins Unmeßbare, ins Unsagbare erhöht. Nun sprach sie, – es war jener grundgute Ton, der mir einst ins Herz des Herzens gedrungen –: »Nicht wahr, hier ist es gut still und kühl?« – »Ja, du Gute,« sagte ich, »aber das ist ein Ort für Reine, da darf ich nicht bleiben; verzeih, verzeih, daß ich hier eingedrungen; aber du glaubst nicht, o, du glaubst nicht, wie fürchterlich es droben aussieht im Tale der Schrecken.« Wie vorher ruhten diese Augen auf mir mit dem Blick der Güte und des Mitleids, den keine Zunge nennt. Dann hob sie langsam den Arm, bot mir die schneeweiße Hand und sagte: »Reiche die deine, das kühle Lichtblau hat alles, alles abgewaschen.« Zitternd hob ich die Hand und faßte die ihre. Sie war kalt, aber nie im Leben hat der Druck einer warmen, lebendigen Hand einen Menschennerv und ein Menschenherz so selig durchzittert, wie mich die Berührung dieser weichen, zarten Finger, die wie aus Schnee gerundet schienen. Ich hielt sie fest und flüsterte: »Ewig.« – »Ja,. ewig,« hauchte sie. * Ich glaubte sie noch zu halten, als ich erwachte. Dies Erwachen! Hinweggespült aus meiner hämmernden Brust ist der Krampf und Brand des Lebens, sanft geht mein Puls. Ich bin frei. [...]

Aus Wust und Wut,

Aus Schwefelglut, 

Aus atemloser Schwüle 

Hinab in Meeresgrund, hinab ins Kühle. 

Da ruh' ich aus 

Im Felsenhaus 

Von all dem Angstgewühle, 

Gebadet in der sanften, reinen Kühle. 

Im tiefen Blau Ruht eine Frau, 

Lichtweiß auf weißem Pfühle, 

Und lächelt selig in der stillen Kühle. 

Nah' ich mich ihr? 

Sie schaut nach mir, 

Fragt mich, ob ich auch fühle, 

Wie gut es weilen ist in dieser Kühle. 

Reicht mir die Hand, 

Daß ich den Brand 

Aus meinem Busen spüle 

Und mit ihr ewig bleibe in der Kühle. 

Aber da bin ich noch und was nun tun? Der aufzuckende Gedanke, ich müsse nun auf und fort, hinwärts, dorthin – nein! Mein Traum und die Fragen, die Zwecke der Wirklichkeit: zwischen ihnen ist kein Verhältnis, keine Gleichung. Auch den Gedanken, mein Gesicht könne eine Ahnung gewesen sein, halte ich nieder. Ich mag mich mit keinerlei Fragen einlassen. Mir ist alles vollendet. Ich bin. Ich habe das Gefühl, zu sein. Mit ihr, in ihr. Tief in der blau schimmernden Grotte. – Die Dinge am Tageslicht sind mir nun pure Gegenstände, nichts mehr mit mir verwachsen.

(Vischer: Auch Einer, Kapitel 26)

Vischer: Auch Einer - Religion

 Wie ist es nun mit der mythologischen Trübung? – Ich nenne sie, diese Bilderwelt der Religion, kurzweg Pigment. – Dies führt auf eine Betrachtung, die bei der reinen, verzweifelten Ratlosigkeit anlangt. Die Sache liegt schlechthin amphibolisch, antinomisch.

Für –: Ohne Pigment keine Religion – denn Religion muß ja doch eine Gefühlsgemeinschaft sehr vieler und ein Kultus sein. Es kann keine farblose Volksreligion geben. Die Andacht muß etwas zum Anreden haben, also vorgestellte übersinnliche Person, Personen und, zum Anschauen, Ansingen, auch Tatsachen. Woher sollte die Kirchenmusik – und Musik ist doch das Unentbehrlichste zum Kultus – ihren Text nehmen? – Das weiter zu demonstrieren, wäre vom Ueberfluß. Kurz, »Stützen«, wie es Lessing nennt.

Gegen –: Diese Stützen sind ebensosehr Spieße ins Mark der Religion. Der tiefstliegende Schaden ist: sie dienen als Surrogate fürs Wesen; die Menschen, wie sie einmal in Mehrheit sind, meinen, sie dürfen sich dafür, daß sie an das Pigment glauben, die Religion ersparen. Da haben wir nun den »Glauben«, der = Religion gilt. Millionen Seelen, die nie von einer Ahnung des Unendlichen, nie von einem Gefühl der erhebenden Tragödie des Lebens durchhaucht worden sind, gelten nun sich und der Welt als religiös, weil sie glauben. Diese schnöde Verwechslung hat sich als allgemeines Vorurteil fixiert, mit Macht bekleidet, hat gefoltert, verbrannt, gekreuzigt, gepfählt, lebendig geschunden, Gedärme aus dem Leib gehaspelt, geblendet, verstümmelt, lebendig begraben, erdolcht, gespießt, vergiftet, – es gibt keine so wildviehische und keine so teuflisch durchdachte Grausamkeit, die nicht die gläubige Verfolgungswut mit technischer Vollendung ausgeübt hätte. Bekreuzt euch nicht davor, stillgläubige Seelen! Das folgt haarscharf aus der Verwechslung des Pigments mit dem Wesen! Bekreuzt euch nicht, gebildete Konsistorien! Ihr verbrennt, kreuzigt, pfählt nicht mehr, aber nun haben wir der Unzähligen noch nicht gedacht, denen ihr moralisch das Herz gebrochen, das Gewissen mißhandelt habt, indem ihr sie in die Wahl stießet: gläubiges Bekenntnis gegen die eigne bessere Ueberzeugung oder mit Weib und Kind zum Bettelstab greifen! Und du, zahmer Vermittler, sage nur ja nicht, der tote Glaube tauge freilich nichts, der Auferstandene müsse Leben in uns werden, und wie du es sonst schön ausdrücken magst. Nein! nein! Glauben und Religion sind zweierlei, und jener hat dieser von je mehr geschadet als genützt. Was, »den Glauben beleben«? Nichts da, fort mit dem Glauben, und die Religion kann leben!

*

Ihr lobt euern Schiller, ihr kennt sein Distichon:

»Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,
Die du mir nennst. Und warum keine? Aus Religion.«

Aber ihr lest es im gewohnten Dusel und seid zu denkfaul, zu begreifen, was es besagt, was daraus folgt.

*

[...] Wir sind der christlichen Bilderwelt entwachsen, und sie ist uns zum freien ästhetischen Schein geworden, wie die alte Mythologie. Doch nein, wir, auch wir stehen nicht gleich zu beiden. An jene knüpft sich für uns eine Rührung, die einen Anklang an Glauben hat, ohne eigentlich Glauben zu sein, – innige Reminiszenz unsrer Kinderzeit. Faust am Osterfest, – Weihnachtsrührung, – und am stärksten: Versetzung in die Schönheit des Madonnenideals, der heidnischen Göttin, deren Bild das durchweichte und entzückte Herz des Mittelalters mit der Ahnung aller Unschuld und sittlichen Güte echter Weiblichkeit durchläutert hat. [...]

Eigentlich ist auch die reine Religion allerdings nicht farblos. Zur Farbe hat sie nichts Geringeres als die Weltgeschichte, die mythenlos wahre. Das aber ist von viel zu langer Hand, mit dieser ungeheuren Palette kann der religiöse Volkserzieher nicht malen, da braucht es einen idealen Auszug, nämlich eben die Mythen. Und so fallen denn die Armen ins Leere, die über das mythisch illustrierte Christentum hinaus sind. Es liegt in der Tat so traurig, daß man jammern möchte. Die alte Ehrfurcht sind sie los, für eine neue können sie die Begründung nicht finden. Moral ruht schlechterdings auf Religion, und da sie mit der bunten Religion die reine wegwerfen, so werden sie Lumpenhunde, lassen sich in den Wirbel der Hetzjagd reißen, die jetzt los ist, der Hetzjagd nach dem Glück, das keines ist. Ihnen sagt niemand, zeigt niemand einfach aus dem inneren Wesen der Seele und aus dem Verhältnis der Einzelseele zur Seele der Menschheit, daß und warum es keinem Menschen wohl wird, außer im Guten. Sagt man es ihnen je, so hängt man doch den Märchenkram wieder daran, den sie nicht mehr ertragen, und so laufen sie weg. [...]

Luther ließ einen guten Teil des Pigments stehen, dessen bedurfte ja die Mehrheit, und wenn jetzt die Mehrheit dem entwächst, so ist sie doch nicht die Allheit, ein Rest Bedürftiger bleibt in alle Zeit. Wie sollte nun ein neuer Luther etwas schaffen können für beide: für die, welche der Kinderkost bedürfen, und für die andern, die sie nicht mehr verdauen? – Oder bildet sich vielleicht eine Gemeinschaft für die reine Religion, die sich allmählich ausdehnt? Nichts, nichts, da ist ja kein Kultus möglich!"

(Vischer: Auch Einer, Kapitel 26)

17 Juli 2021

Theodor Vischer: Auch einer - Aphorismen und Ermahnungen

 Es ist schwer vorstellbar, dass Vischer diese Einzelüberlegungen und Aphorismen in seinen Roman aufgenommen hat, ohne dabei an Goethes Vorbild in den Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meister (Makariens Archiv) zu denken. Dabei kann er in der Schwebe lassen, ob es Gedanken des Autors Vischer oder seiner Figur A.E. handelt. Manches - wie zum Beispiel der Bezug auf die "Pfahldorfgeschichte" - ist freilich eindeutig Aussage von A.E.

Es hat daher wenig Sinn, Gedanken von unserem heutigen Standpunkt als fragwürdig zu kennzeichnen, wenn nicht klar ist, ob nicht Vischer damit seine Figur A.E. charakterisieren und kritisieren will (z.B. bei allen Aussagen über "das Weib").

"Wißt es, ihr Köpfe, mit meinen Fehlern und mit meinem Wahnsinn hab' ich so gut ein Recht, zu existieren, wie ihr mit euren Fehlern und mit eurem Kahlsinn!"

"Stehe oft und gern nachts auf einer der kleinen Brücken, sehe hinab auf den dunkeln Kanal, da und dort von Lichtschein überblitzt. Wenn dann eine Gondel durchfährt, so ganz still, nur selten der Ruf: Sta li! sonderbar, dann ist mir oft, als liege ich, der da oben zusieht, zugleich tot in der Gondel, und der Tote freue sich zugleich der stillen Nachtfahrt."

"Was aber nun tun? Nachdem die Pfahldorfgeschichte fertig ist? Die Reiseerinnerungen niederschreiben? Gar drucken lassen? Pah! Diese Flut vermehren, unter die Schmierer gehen, die nichts leben können, ohne es zu schreiben? Wieder etwas komponieren? einen Roman, Drama? Pah! als ob dazu dein Talent reichte!"

"Ferner: du darfst kein Menschenverächter werden, weil du nie wissen kannst, wer aus der schlechten Mehrheit fähig, empfänglich ist, in die Minderheit heraufgehoben zu werden. Die Grenze zwischen beiden ist flüssig. Man kann also heiter bleiben trotz der Weltlumperei, und man braucht diese Stimmung, eben um jene Grenze flüssig zu erhalten. Umgekehrt soll man auch der Festigkeit der Grenze von oben nach unten nicht trauen. Zählst du dich zur guten Minderheit: du magst recht haben, aber zupfe dich an der eignen Nase, besinne dich auf die Blindheit deiner Jugend, falle nicht in Sicherheit und Dünkel, insbesondere prüfe dich daran, ob du aktiv bist. Hochmut kommt vor dem Fall."

"Nichts schadet ja dem großen Geiste mehr, als wenn man den guten Leuten zumutet, ihn mit Haut und Haar zu bewundern; [...]"

"Von der Dichtkunst erwartet die Mehrheit der Menschen, sie solle ihnen ihre gewöhnlichen Vorstellungen, nur mit Flittern von Silber und Goldpapier ausgeputzt, angenehm entgegenbringen. Da sie in Wahrheit das gemeine Weltbild vielmehr auf den Kopf stellt, so wäre kein großer Dichter je berühmt geworden, wenn nicht die wenigen, welche wissen, was Phantasie ist, allmählich einen Anhang gesammelt und denselben mehr und mehr erweitert hätten. Sie haben Stein auf Stein in das stehende Wasser der Meinung geworfen, bis die Wogenkreise den ganzen Spiegel in Bewegung setzten. Wäre dies nicht, so stände heute noch Wieland, Iffland, ja gar Kotzebue in der Blüte der öffentlichen Gunst, Goethe und Schiller gälten für Phantasten. Man würde sich nur größere Dosis von Schauer ausbitten, als die alten Lieblinge boten, und in diesem Punkt eine Beimischung aus den Ritterromanen vorziehen; [...]

"Das Ideale stellt die gemeine Ansicht von Welt und Leben auch dann auf den Kopf, wenn es die Dinge ganz naturgemäß geschehen läßt. Echtes Kunstwerk hat mitten im klaren doch immer Traumcharakter, ist von »Geisterhauch umwittert«."

"Die meisten Menschen wissen sich nicht zu behandeln, daher stehen sie mit sich selbst auf so schlechtem Fuße."

"Das Weib ist schamhafter als der Mann, weil es weniger unschuldig ist. Das Mädchen weiß das Geschlechtliche weit früher als der Knabe, lernt früh, wenn auch noch unbeteiligt, das ganze Listgetriebe des Männerfangspiels kennen, das Weib ist sich des Geschlechts weit bewußter als der Mann und hat dies Wissen zu verbergen, daher muß es mehr Scham haben. Dies ist im geringsten keine Schande für das Weib. Es erhebt sie. Sie ist mehr Naturwesen als der Mann, und wird sittliches Wesen, indem sie es verhüllt, mit Bildungsleben zudeckt. Bedarf übrigens der Mann weniger Schamhaftigkeit, so ist das lange kein Freibrief für Schamlosigkeit. Ich halte an meinem alten Spruch, den ich mir damals in den norwegischen Bergen eingezeichnet: Scham verloren u. s. w. Wer gemein ist, mag noch manches leisten, aber er ist eben gemein. Den Mann, der darin richtig bestellt ist, wird man besonders daran erkennen, daß er gut unterscheidet, wo Zynismus berechtigt ist, wo nicht, und daß er gut erkennt: der gröbste Zynismus ist unschuldiger als der feinste Obszönismus. Darin liegt eine große Schwäche des Weibs, daß es im Gespräch so gern Nebenbeziehungen findet, Anspielungen, Stiche, Ausfälle, wo davon keine Spur ist. Der Mann redet gewöhnlich einfach und ehrlich auf die Sache los und denkt nicht daran, was man dabei sonst und nebenher noch denken könnte. [...]

Die Hohenstaufengräber in der Kathedrale kann ich nicht zum zweitenmal sehen. Hic situs est magni nominis Imperator et rex Siciliae Fredericus II. – – Kann nicht zur reinen Anschauung, nicht zur ungeteilten Stimmung gelangen vor dem Porphyrsarg. Der Hohenstaufen schiebt sich mir in die Bildkammer der Phantasie herein, wie ich ihn einst gesehen, in Formen so schön, als stände er nicht neben deutscher Alb, – kahl, matt rötlich beleuchtet von der Abendsonne. Verliere mich in die Frage, ob es geschichtliche Notwendigkeit gewesen, daß diese großen Kaiser Stiefväter ihrem Heimatland waren. Erwäge das vielbesprochene Für und Wider. Es gräbt, bohrt, sticht in mir, daß unsre Geschichte Gipfel hat, die keine Gipfel für unsre Nation sind. Alte Pein, einem belächelten Volk anzugehören, wacht auf. Werde mir nun selber bös, daß ich angesichts des großen Gegenstandes Auge und Gefühl nicht rein gegenständlich stimmen, meinen Vorsatz, die Politik zu lassen, nicht halten kann. Also eben fort, hinaus wieder an den Hafen, meinem Liebling, meinem Herzblatt gegenüber, dem Monte Pelegrino!"

(Vischer: Auch Einer Kapitel 25)


07 Juli 2021

Vischer: Auch Einer - Allerlei

 Auch Einer bedauert, dass es an Tischen mit 8 Personen so oft zu Zweiergesprächen kommt, zwischen Nachbarn und - noch schlimmer - überkreuz und würde so gerne im Interesse der Gemeinschaft als Diktator dafür sorgen, dass gemeinsam bedacht wird. Auch wenn er aufgrund seiner Rolle dann nichts Inhaltliches beitragen könnte.

Wie müsste er sich gefühlt haben, in Corona- und Twitterzeiten, wo künstlich ein Abstand der Filterblasen hergestellt wird? Befreit, weil es nicht mehr das Durcheinander gibt, und er mit sich selbst ernsthaft ausdikutieren könnte? Oder am Boden zerstört, weil selbst ein Diktator nicht mehr zusammenführen könnte?

"Abends sehr Erholung, Ausspannung bedurft. In Gesellschaft. Und hier? fängt erst die rechte Folter an. Zu acht an einem Tisch, eine Zahl, durchaus nicht zu groß, um recht gut noch eine gemeinschaftliche Unterhaltung zu erlauben. Beginnt folgendes liebliche Spiel: A eröffnet mit C ein Sondergespräch, dann E mit G, dann H mit F, und D foltert mich B, ich soll mit ihm eines führen. Da jedes dieser vier Sondergespräche das andre übertrommelt, so fangen alle das Schreien an, und nun hört man das eigne Wort nicht mehr. Ich suche auszuwickeln, suche laut ein Gespräch für alle aufs Tapet zu bringen, – vergeblich, niemand begreift mich. Nicht genug, weiter! Sie fangen übers Kreuz an: A mit D, E kräht nach mir (B) herüber, E mit H, G mit F. Nun ist zum Beispiel in einer der lieblichen Gruppen von Preußen und Bayern die Rede, in der Diagonale schlagen den zwei Politikern die Namen Dante und Petrarca, von andrer Seite Zervelatwurst und Gansleberwurst, in der dritten Kreuzung scheußlicherweise auch noch die Begriffe Aktien und Prioritäten, in der vierten die Streitfrage über Sängerin Blözke und Grilli aufs Trommelfell. Noch nicht genug. Eine kurze Pause tritt ein. D fragt A, welcher altdeutsch versteht, nach einem verwickelten Punkte, nämlich: wann das E geschlossen, wann offen zu sprechen sei. Man sieht, es ist ihm wirklich darum, belehrt zu werden, den andern ist es auch von Interesse, mir nicht weniger, und alle horchen. Während nun der A eben recht im Zug ist, den Punkt auseinander zu setzen, bricht ihm der D, der ihn ja eben selbst gefragt hat, in die Rede mit der Frage, ob er gestern im Konzert gewesen sei, gleich darauf fängt der C mit mir vom Theater an und so läuft es fort: Jeder hat vergessen, daß er soeben sich für einen Zusammenhang interessierte. Ich schoß auf und fort, zermartert, zerschunden, zerfetzt, zersägt, zerrieben, zerdroschen, zerwirbelt, zerraspelt in allen Nerven kam ich nach Hause. Das war meine Abenderholung: nach schwerer Tagesarbeit noch schwerere am Abend! Möchte das arme Hirn entlasten und muß mir alle seine Saiten zerreißen lassen. Die Mehrheit der Menschen besteht nicht gerade ganz aus Betrügern, Räubern, Dieben, Mördern, aber aus sozialen Ungeheuern, und zwar durch alle Stände und beide Geschlechter, die Weiber treiben's ärger, aber die Männer kaum um ein Haar besser. Was habt ihr dumpfe Geschöpfe nur für eine Vorrichtung in den Hörwerkzeugen, daß ihr das eine Gespräch gegen die andringende Lautmasse der fremden Gespräche in eurer Auffassung zu isolieren vermögt? Einen eisernen Rolladen? Einen Ofenschirm von Sturz? Ei was! nichts habt ihr, grobe, stumpfe, abnorme Sinne habt ihr und konfus im Kopf wollt ihr sein und bleiben, alles schlechterdings nur halb denken, und mich, der ich normale Sinne habe und klar sein will, mich haltet ihr für ein Monstrum! Ihr wollt sprechen und gehört sein, ihr wollt hören, und im Augenblick vergeßt ihr es wieder, weil euch noch viel lieber als Sprechen und Hören das Wirrsal, weil der Durmel  euer Element ist.

Für richtige Sinne und für wirkliche Bildung gibt es an einem Tisch, wo nicht so viele sitzen, daß ein gemeinsames Gespräch unmöglich wird, durchaus keinen einzelnen. Neben einem plätschernden Brunnenrohr kann man sich unterhalten, denn es spricht keine Worte, welche die Gesprächsworte durch Bezeichnungslaute aus einem andern Zusammenhang kreuzen, neben einem Separatgespräch ist es unmöglich. Ein Mensch, der gesunde Natur, Disziplin des Denkens und der Form hat, wird sich also im genannten Fall nie, absolut nie an einen einzelnen wenden, wissend, daß, sobald er's tut, die Losung zum allgemeinen Gesprächschaos gegeben ist, er wird immer nur nach der Mitte, ins ganze hinein sprechen.

Da nun die Menschen auch hierin wirr, wild, willkürlich und disziplinlos sind, was folgt? Das folgt, daß sie nicht einmal der Gesprächsfreiheit im Privatleben wert sind. Das folgt, daß man sie auch hier in das Joch der parlamentarischen Ordnung einspannen sollte. Das folgt, daß eine Gesprächspolizei organisiert werden müßte. Macht mich zum Vorstand und ich verspreche euch, ein Tyrann erster Klasse, ein Nero, Caligula, Attila, Dschengis-Chan, Tamerlan der Gesprächszucht zu werden! Aber Strafgewalt müßt ihr mir geben! Mit Geißeln und Skorpionen will ich sie züchtigen, die Gesprächs-Buschklepper, Gesprächs-Strauchdiebe, Gesprächs-Räuber, Gesprächs-Mörder, Gesprächs-Meuterer, in die Wasser der Urflut will ich sie zurückstoßen, diese Gesprächs-Ichthyosauren! Und nie werde ich meine Vollmacht mißbrauchen, nie mir zum Vorteil anwenden, nein, andern soll sie zugute kommen auf meine Kosten! Ein Leben, das der Gerechtigkeit gewidmet war, sei Zeuge für meine Beteurung!

Ach Gott, es ist ja auch dies nur ein schöner Traum! Ich weiß ja: ein Unsinn! Da aber der Zustand, wie er besteht, auch ein Unsinn ist, so bleibt's eben dabei: gerade so unfähig, wie einen vernünftigen Staat zu bauen, ist die Menschheit auch, eine Gesellschaft zu bauen, oder umgekehrt, wie man will!

O Einsamkeit, wie gut bist du!" (Vischer: Auch Einer, Kapitel 24)

*

"Wißt es, ihr Köpfe, mit meinen Fehlern und mit meinem Wahnsinn hab' ich so gut ein Recht, zu existieren, wie ihr mit euren Fehlern und mit eurem Kahlsinn!" [...]

Auch den Hamlet macht sein Idealismus bös, grausam gegen die arme Ophelia. Ein Weib schlecht, so werden es alle sein. – Ein Engländer hat einen unsrer Shakespeare-Erklärer, der die Ophelia für eine leichte Weltdame nimmt, auf Pistolen gefordert. Recht. Der hat meinen Geschmack.

*

Was ich immer aufs neue bewundern muß, ist das höchst Stimmungsvolle in allen Teilen dieses Dramas, das doch von Gedankentiefe und scharfer Bewußtheit strotzt. Das Grundgefühl ist Schwüle; dies ist längst erkannt und oft gesagt, aber es ist nicht bloß Schwüle in dieser bestimmten Situation. Hamlet geht um wie ein Mensch, der zu enge Schuhe anhat und sie nicht ablegen kann, dem daher alles Blut nach Herz und Gehirn schießt, und der es daher in seiner Haut fast nicht aushält, und der richtige Zuschauer fühlt nicht nur, wie schwer seine Lage, sondern wie furchtbar schwer das Leben überhaupt ist. Nur der paradiesisch naive, der beschränkte und der gewissenlose Mensch lebt leicht, dem tiefer Gehenden hämmern die Pulse, wenn er bedenkt, welch ein fürchterliches Schraubenwerk das Leben ist, das uns zwischen Fragen einpreßt bis zum Ersticken. Der Monolog »Sein oder Nichtsein« ist nach seinem Gedankengehalt sehr überschätzt worden, sein Wert liegt in der Stimmungstiefe: unerreichbar der Ausdruck des Brütens, das nicht weiß, wohinaus, des atemlosen Eingeengt-, Eingeschnürtseins."

(Vischer: Auch Einer, Kapitel 24)

08 Juni 2021

Vischer: Auch Einer - In Norwegen

Zum größeren Zusammenhang sieh: Herr Rau: Lehrerzimmer Auch Einer (1879) – Teil 3

"Norwegen. Christiania. Schlimmes kann doch auch Gutes tragen, zum Beispiel Sorge vor Emphysem ein freies Jahr. Möchte schon lang Italien sehen, aber auch Norwegen. Gut, gut, Herr Doktor, Sie wollen mich nach Italien, aber da ist Juli und August zu heiß, dagegen in Norwegen die Zeit der hellen Nächte, also zuerst Norden, dann Süden! Durchgesetzt und – einmal ein Glück – ein Stellvertreter geschickt zur Hand, Urlaub herausgeschlagen, fort, fort!

Wie freier schon die Brust, seit ich das Meer wieder gesehen! Eigentlich zum erstenmal; denn damals auf Sylt und Föhr habe ich es noch nicht so recht verstanden, brachte noch nicht Ernst genug. Zuerst groß, unendlich in Stille. Dann mäßig bewegt, also alles sehen dürfen: die Großheit der Horizontale, Helldunkel, Farbe, Durchsichtigkeit, Spiel der Reflexe und der herrlichen, schwanenhalsigen Bogenlinien! Die Seele jauchzte mir. O, da gibt es viel Gott! [...]


O Rappe, o Rappe, dein Sattel ist leer,
Sag an, was bringst du für traurige Mär'?
    Merk auf, Herr Olaf!

›Dein Liebster ist hin, daß Gott sich erbarm',
Ihn wieget die Nixe im schneeweißen Arm!‹
    Merk auf, Herr Olaf!

›Bei den Fischen wohnt er im tiefen Meer,
Die Sonne siehet er nimmermehr.‹
    Merk auf, Herr Olaf!«

Wer könnte die Töne dieses Gesangs beschreiben! Schweres Dunkel, sich verdichtend, anschwellend, war ihre Grundstimmung. Bei den Lockworten der Nixe gingen sie in eine schmelzende Süßigkeit über, wurden heißer und heißer, man meinte den wollüstigen Jubel zu hören, der nach den gezogenen Klagelauten aus den Wirbeln der Nachtigallstimme auflodert. Sie sanken in ein tiefes Weh gegen das Ende, aber wirklich am Ende, beim letzten Verse stieg wie ein Geist aus den gesungenen Tränen des Mitleids ein Etwas hervor und mischte sich unsagbar mit ihnen, – ein Etwas – Triumph und Schadenfreude wären ein plumper Ausdruck; auch wenn ich es umschreiben wollte: »dahin kann ein Weib einen Mann bringen,« es wäre nackt und roh übersetzt, o, es war unheimlich und doch unwiderstehlich! – Die letzten Töne verklangen im Echo der Felsen, und jetzt sah sie wieder zurück, diesmal auf mich. Wer kann sagen, was über ihr Angesicht zuckte! Ein Schatten von Ernst, dann wieder Lust, Reiz, Wonne, Mutwille, Witzgeist, Spott, Uebermut, helles Siegesfrohlocken, das beim Himmel noch etwas andres besagte, als: »so kann ich singen!« Aber wer hätte das triplex aes circa pectus bewahrt! Ja, so konnte sie singen – und? – [...]


Bergen. Alter Königssitz; jetzt still trotz Handelsverkehr. Eingemietet in einer »Stube« der alten Hansekaufleute. Getäfelt, behaglich. Deutsche Erinnerungen. Tüchtige alte Stadt; bürgerlich, angenehm philisteriös; Holzhäuser, mit weißer Oelfarbe angestrichen; Almendingsplätze, zum Teil anziehend langweilig mit Gras bewachsen. Festung darüber, hoch auf den mastenreichen Hafen herabschauend. Will arbeiten, einmal wieder etwas lesen, nur selten hingehen. Es regnet viel, mir jetzt recht. Goldrun auf der Herreise lang still, dann voll Spott, höhnte auf Registraturen, Amtsstuben, Sitzen, Verdorren. – Jetzt still und zahm.

Man hat die griechischen Studien wieder aufgenommen; Phädon, dann soll es an den Oedipus König. Ich muß doch teilnehmen; man lädt mich sehr ein.

*

Stille Tage. Gesammelte Abende. Dieser Dyring ist doch dem wilden Wesen ein Halt. Wie sanft ist sie, wenn sie an seinen Blicken hängt, auf seine Worte lauscht! Seine hohe Stirn, sein tiefes Auge breitet Meeresstille aus. Arnhelm in einer wahren Andacht, oft wie verzückt. Das Griechische fließt wie Honig des Hymettus von ihren Lippen; wie ertönt da das klangvolle ος der Endungen!

*

Merkwürdig, wie der Tod Leben entzünden kann! Ueber dem Phädon, dem sterbenden Sokrates gibt's viel zu denken an ihn. Der Tod ist pures Nichts, sage ich; der Tod ist, wobei man überhaupt nichts denken kann. Entweder ich lebe, dann bin ich nicht tot, oder ich bin tot und dann lebt keiner, der es bedauerte, daß er tot ist. Man hat Angst davor, sich einmal tot vorzufinden, aber der Tote sucht und sieht sich ja nicht. Daher ist es purer Unsinn, an den Tod zu denken. Wenn nur die Phantasie nicht wäre, die uns zwingen will, uns vorzustellen als im Tode lebend und uns tot wissend! Eine Witwe hat mir erzählt, sie habe den plötzlichen Tod des Vaters dem kleinen Töchterchen einen Tag lang verheimlicht, dann aber das nicht länger gekonnt. Das Kind schweigt eine Weile und sagt dann: aber da wird der Vater traurig sein, daß er tot ist! – Genau wie die alten Völker: Schattenleben im Scheol, im Hades; – tot und im Tod so viel lebend, um zu wissen, wie unangenehm der Tod sei. – Was ist nun das Uebel? Es braucht Denken, viel Denken, diese Phantasie fernzuhalten, als stäken wir lebend im Tod, und zu begreifen, daß man an den Tod schlechthin nicht denken soll. So kommt es, daß man vor lauter Denken, warum man an den Tod nicht denken soll, zuviel an den Tod denkt. [...]

Drontheim. Da wär' ich! Frei! Weit weg! Wie am Ende der Welt! – Wild auf wilden Wegen weiter, immer weiter. – Frei? Wenn nur die Träume nicht wären – auch ins Wachen herein! Diese beständige Bangigkeit, dies Weh in der Herzgrube! Ich fürchte keinen Menschen und bin doch so atemlos zusammengeschnürt – Träume voll Todesangst – ich bin vergeistert, wohne im Reich der Dämonen. * Hätte mich das Ungetüm zerrissen bei Jostedalsbrä, mir wäre wohl besser. Die Bärenjagd mitmachen, – ich hoffte eine Kraftkur für die arme Seele. Im ewigen Schnee, am Eis der Gletscher: Ausstürmen, Kühlung! Will es ohne Schuß wagen, mit angepflanztem Haubajonett. Bär steht, Stoß fehlt. Die Rotjacke hat mich mit wohlgezieltem Schusse gerettet. Unkraut verdirbt nicht. Aber Tatzenhieb über die Schulter. Gut, daß der Doktor die Jagd mitmachte, der Schwede Erik hat mich in den Gard bringen lassen, verbunden. Wundfieber. Wilde Phantasien: Goldrun, goldglänzende Bärin, haut mich über die Brust, schleppt mich hinter den Ovsthusfoß, umarmt mich dort als Meerfräulein, verwandelt sich plötzlich in den Wolf Fenrir. – Am andern Tage wieder hell, doch schwach. Der Doktor gar guter, gesund nüchterner junger Mann. Sitzt an meinem Lager, der Ton seiner Stimme, der Blick seiner Augen so ehrlich und beruhigend; erzählt: hat sich als Arzt in Bergen nieder gelassen, holt bald seine Braut von Schottland herüber. Wird nicht müde, sie zu rühmen, wie reiches Seelenleben, und dabei so sanft, gut, brav; Vater ein Schotte, Mutter auf Perugia; heißt Cordelia, »und,« sagt er, »ist auch Cordelia«. Malt sich rührend sein nahes Glück auf, – wie die Zimmer einrichten – alles. Mir tönt das wie ferne Glocken, wie alte Sage von der ins Meer versunkenen Stadt. Einfaches Menschenglück! – Für mich nie! * Geheilt weitergewandert. Ueber wüste Hochebenen, todeseinsam. Oft hungernd fortgeschleppt, bis ein ärmlicher Säter mich aufnahm. Ein Schneehuhn flattert auf, ein Fuchs schleicht, keine Menschenseele. An Bergseen schwerträumend. Hinab? Unter? Nein, weiter! Ich sehe Gestalten im Geist über diese Wüsten schreiten, kriegerische, abgemagert, zerlumpt, ungebeugt, ein jugendlich Haupt ihr Führer. König Sverrir, der du mit deinen kühnen Banden einst hier ringend mit Kälte, Schnee, Hunger umhergeirrt, Kriegern in Birkenrinde gekleidet, oft der Verzweiflung nahe, sich fragend, ob sie sich nicht lieber hoch von den Klippen stürzen oder gegenseitig töten sollten, – hast ausgehalten mit deiner Schar, ein halb Jahrhundert gekämpft gegen Priesterherrschaft, drunten im Sognefjord in blutiger Seeschlacht gesiegt, – o, so etwas! wer mir das brächte! – Aber will aushalten! Will mich nicht schämen vor euch Heldengeistern. Bin Mann. [...]

Als sie mich wegschüttelte, als ich den Kopf an den Schrank schlug, da fiel mir Siegfried ein: »Daz im sin Houbet lute an eime Schamel erklank«. Er hat dann das wilde Weib bezwungen, dafür hat sie ihn morden lassen. – Bin ich fertig mit ihr? Daß aber doch auch das Denken nichts, gar nichts helfen will! Besinne mich auf alle Weisheitssprüche – was ich nur aufgraben kann, aus dem gefrornen Gedächtnis heraushauen – Sprüche Salomonis, Weisheit der Brahmanen, Sakja-Munis herrliche Arzneien gegen die Leidenschaft, Konfutses Weisheit, Sieben Weise Griechenlands, Plato – ach, über dem fällt mir der sanfte Gang in Westfjorddalen wieder ein, unsre Plato-Abende in Bergen, jede Stunde, wo sie gut war und vernünftig – – fort, weiter; die Stoiker, Markus Aurelius, der reine Kühlbrunnen seines Εἰς ἑαυτὸν –, Goldworte des Neuen Testaments –: da taute aus Knabenzeit wieder in mir auf: »Denen, die den Herrn lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen,« – die Augen wurden mir feucht –; mein Spinoza – Kant – der fiel mir nach langer Zeit wieder ein, sein ehrliches Schriftchen: »Von der Macht des Gemütes, durch den bloßen Vorsatz seiner kranken Gefühle Meister zu werden«, – u. s. w. u. s. w. u. s. w. – Und alles umsonst! Die Leidenschaft ist eine profunde Sophistin. Was sagt sie? Sie sagt: alles ganz wahr und schön, mag auf alle Fälle passen, nur auf diesen nicht; der ist von absoluter Besonderheit. Das Diese kämpft gegen die Wahrheit und Macht des Allgemeinen, will sich in seiner zäh gebackenen Dichtigkeit nicht von ihm perforieren lassen. Ja die Diesheit, das ist etwas gar Dunkles, Schweres, ein großes Geheimnis. [...]

Mein Zentrum ist außer mir, heißt Goldrun, läuft um, wo es – wo sie mag, mißhandelt mich, entehrt mich. Ich bin nicht mehr Ich. * Dämonisch ist das Weib, dessen Reiz noch fortwirkt, während man sie schon verachtet – Eine Definition unter andern, es gibt noch mehrere. * Oft war sie zwischen Herrschsucht, Siegeshohn ganz untertänig, mehr als recht. Der Hochmut und der Sklavensinn, Die sind in einer Schublad' drin. [...]

        Jetzt schnaube nur, Dampf, und brause! Jetzt rolle nur, Rad, und sause! Es geht nach Hause, nach Hause! Du kannst nicht jagen, o Wagen, Wie meine Pulse mir schlagen! Zur Geliebten sollst du mich tragen! Vorüber, ihr ragenden Stangen! Verschwindet, ihr Meilen, ihr langen! Wer ahnt mein Verlangen und Bangen! Auf den Bänken, wie sie sich dehnen! Wie sie schwatzen und gaffen und gähnen! Es ist nichts, wonach sie sich sehnen. Dort raset der Sturm durch die Tannen, Zum Dampfe noch möcht' ich ihn spannen, Daß er rascher mich reiße von dannen! Hinweg aus dem plappernden Schwarme, O, hin an die Brust, an die warme, In die offnen, die liebenden Arme! * Lekanger am Sognefjord. Getroffen. – Sjöstrand eine Lustaue, als wäre man in Italien, Fruchtgarten an Fruchtgarten. Vögel girren und schlagen, Eichen und Eschen flüstern, Bäche rieseln, groß brandet die Woge. Aber welche Berge, welche Schneehäupter ragen herüber wie Ewigkeit in den Moment der Wonne! Ja hier, hier! Gönne mir mein Glück in deinem heiligen Hage, deiner alten Friedens- und Opferstätte, du Jugendgott mit den blühenden Wangen, gönne mir's, Baldur! Hast's auch Frithjof nicht mißgönnt, als er herübersteuerte von Framnäs. des Vaters Haus, auf seinem Schiff Ellidi, und sie besuchte, die Gespielin seiner Kindheit, die holde Ingeborg, ihm verweigert von den stolzen Brüdern Helgi und Halfdan und verwahrt in deinem Heiligtum! 

Selige Tage, nur Tage, denn noch scheint die Mitternachtssonne unsern Entzückungen. [...]

Diese Nacht, wie ich so die Schlummernde, Hingegossene beschaute, warum kam denn plötzlich ein Grauen über mich? Ich bin doch so sehr im Vollglück. Und warum beim Anblick von Dyrings Bild, das sie als Medaillon am Busen trägt? Er war doch so eine platonische Natur, so ernst, so edel! * Warum wächst denn dies Grauen und muß mir einfallen, wie Faust in der Helena, die ihm der Teufel zuführt, ein Gerippe umarmt? * Habe den griechischen Einladungsbrief wieder gelesen. Wo war meine Nase? Zur Lust locken hart am Grabesrande des väterlichen Freundes! – Und sollte er, er sterbend sie an mich –, ist's glaublich, wenn ich mich gewisser Blicke – doch nein, diese Mißgeburt stoße aus, mein krankes Hirn! – Aber der Brief! Ein Geflick aus Lappen der Sapphobruchstücke! – * Mit ihrem Griechisch ist es auch so weit nicht her, als ich meinte. Dyring und Arnhelm haben ihr immer geschickt nachgeholfen. [...]

Ich meine immer, ich müsse ihr recht fürchterliche Predigten halten und dafür solle sie mich recht küssen. Vereinigter, gleichzeitiger Kußregen und Ohrfeigenregen – so steht's hier ums Wetter, dies wäre meine Losung. [...]

Du reizend Ungeheuer,     

Neig her den schönen Leib! 

Reich mir den Kelch voll Feuer,     

Du wunderbares Weib! 

Willst du mich küssen, drücken,     

Werd' ich mich nicht entziehn, 

Spür' ich in meinem Rücken     

Den Dolch auch immerhin. 

Wie salzlos wär' die Liebe,     

Wie matt ihr Himmelsgold, 

Wenn sie aus einem Triebe     

Allein bestehen sollt'! 

Da ist man erst gerühret,     

Das ist der rechte Spaß, 

Wenn Haß die Liebe schüret     

Und Liebe schürt den Haß. 

In unsrem Liebesorden     

Mag man das Schlichte nicht, 

Da möchte man sich morden,     

Wenn man sich heiß umflicht. 

Sag, welches Erdgeists Laune     

Hat dich so stolz gebaut? 

Mir graut, indem ich staune,     I

ch staune, wie mir graut. 

Sag, welcher wilde Dichter     

Hat dich, o Weib, erdacht? 

In dir die Himmelslichter     

Gemischt mit Hadesnacht? 

Du winkst mir in den Wagen,     

Es ist schon eingespannt, 

Zwei Rappen uns wohl tragen –     

Du weißt, in welches Land. 

Da bin ich schon zur Stelle,     

Die Geißel schwinge frei! 

Nun im Galopp zur Hölle!     

Hurra, ich bin dabei! 

Soll ich's ihr zum Lesen geben? Entsetzlich! Unmöglich! Und doch! – »So war ich mit ihm.« Mit dem Platolehrer! – Sind mit dem Knaben Arnhelm zwei gleichzeitig, drei so gut als gleichzeitig! Denn daß sie mit dem jungen Schöngeist auch »so war«, wie könnt' ich noch zweifeln! – Und hingesagt hat sie's leichtweg, als verstände sich's nur so von selbst!"

(Vischer: Auch Einer Kapitel 18)



27 Mai 2021

Vischer: Auch Einer (6) - Ein Singspiel und eine Romankorrektur

Der Erzähler findet unter den nachgelassenen Papieren A.E.s einige, die deutlich machen, wie sehr A.E. auf die Tücke des Objekts fixiert war. 

Im folgenden Textausschnitt aus Vischers Roman "Auch Einer" habe ich mir gestattet, einzelne Passagen hervorzuheben, damit deutlich wird, was Aussagen des Erzählers des Romans sind und wo er Vischers Korrekturen (in roter Tinte) wiedergibt. 


"Gesondert vom übrigen teile ich ferner die unvollendete Skizze eines Singspiels mit, die mir beim Blättern in die Hände fiel. Die Ueberschrift bezeichnet dies Produkt als Singtragödie.

Akt I

Szene 1. Schreibzimmer

Personen:

Ein Härchen.
Tinte.
Eine Schreibfeder.
Ein Buch.

Das Härchen, mikroskopisch klein, in einem Tintenfaß befindlich, trägt im dünnsten Sopran eine Arie vor, Text gerichtet an die danebenliegende Schreibfeder, welche den ausgedrückten bösen Absichten Entgegenkommendes in einer Antistrophe spitz vorträgt, hierauf entsprechendes Duett.

Demnächst Rezitativ, Baßstimme, ausgehend von einem Buch auf dem Bücherbrett über dem Schreibtisch. Kichernde Antwort von Geistern in der Tinte. Duett von Tinte und Buch vereinigt sich mit Härchen und Feder zu einem gefühlten Quartett.

Szene 2.

Personen:

Hilario, schöner Jüngling.
Die vorhergehenden.

Man hört Schritte, genannte Geister verstummen. Hilario tritt ein. Monolog. Hilario liebt aufs äußerste eine Jungfrau Adelaide. Ist schüchterner Komplexion, hat noch kein Wort gewagt, beschließt zu schreiben. Tunkt ein.

Härchen und Feder vereinigen sich innig, Hilario wird nach mehreren Versuchen, mit dem verfluchten Pinsel zu schreiben, sehr wild, schreibt Grobheiten statt Zärtlichkeiten.

Neue Feder. Fängt von vorn an. Es geht spießend vorwärts. Beschließt Zitat aus Petrarka. Will den Band herabnehmen, er fällt aufs Tintenfaß, das ganze Schreiben wird schwarz übergossen. Hilario beschließt in Verzweiflung, es doch mit dem lebendigen Worte zu versuchen. Er hofft, der Geliebten im Park zu begegnen, will wagen, sie anzureden.

Hinter ihm her höllischer Lachchor genannter Personen der ersten Szene.

Szene 3. Park

Personen:

Eine Pfütze.
Ein Hühnerauge.

Arie mit einem gewissen klebrigen Etwas in der Tonfärbung vorgetragen von der Pfütze, entsprechend von Instrumenten begleitet.

Ein weißlicher Punkt schwebt herbei; derselbe erweist sich, näher sichtbar, als Hühnerauge (äußerst giftiger Blick und Gesamtausdruck). Arie: hornig harter, friktiv brennender Ton. Text offenbart teuflische Absichten. Verschwörungsduett zwischen beiden.

Akt II

Szene 1

Personen:

Die vorhergehenden.
Hilario.
Adelaide, selbstbewußte Jungfrau.
Vögel.

Hilario tritt auf, heiter gespannt, das Hühnerauge schwebt, einen feurigen Faden durch die Luft ziehend, nach ihm hin, verschwindet in seinem Lackstiefel. Er winselt, hinkt, fällt in die Pfütze, wird sehr dreckig. In diesem Augenblick erscheint Adelaide. Lacht sehr, verhöhnt ihn bitterlich. Beide ab. Triumphchor genannter Objekte, vermehrt durch Vögel, welche von Bäumen zugeschaut.

Dies wird genügen, ein Bild von A. E.s Komposition zu geben; ich darf die Geduld des Lesers nicht durch weiteren Auszug ermüden. Es genügt, noch zu erwähnen, daß die Skizze andeutet, Hilario wisse, durch einen Kampf mit einer Reihe ähnlicher Hindernisse vordringend, endlich doch Adelaidens Liebe zu erringen, eine selige Stunde werde ihm in Aussicht gestellt; dann folgt noch eine um weniges ausgeführtere Szene:

Szene X Apotheke

Personen:

Ein Kolben mit Mandelmilchsirup.
Eine junge Katze.
Ein junger Apotheker.
Hilario.

Arie obgedachten Kolbens: weichlich zäher, doch ungleich tückischer Ton, entsprechender Text. Junge Katze erscheint; kindlich heiterer Gesang. Duett. Sehr eilig eintretend Hilario. Aus dem Nebenzimmer kommt der Apotheker. Hilario bittet sehr dringend um einige Tropfen Laudanum, der Apotheker verlangt ärztlichen Vorweis, und allzu gewissenhaft (– noch junger Gehilfe –), da Hilario solchen nicht besitzt, verweigert er die Bitte. Hilario: »dann Mandelmilch, schnell!« – Apotheker: »dies gern!« holt den Kolben, stolpert über die junge Katze, der Kolben liegt zerschellt am Boden, Hilario rasend ab. Furienhafter, grellgellender Verhöhnungschor der Scherben und der Katze. Trio mit der Jammerstimme des Apothekers.

Hier brach das Fragment mit einem wilden Fahrstriche der Feder ab, die dann wie toll in kratzigen, borstigen Linien auf dem Papier umhergewütet haben, hierauf etliche Male senkrecht aufgestaucht worden sein mußte; dies bewiesen starke, von Spritzaureolen umgebene Tintenkleckse.

Das pathologisch schnelle Abbrechen war mir nicht gerade komisch, es gab an andres, wenn auch noch so Verschiedenes, zu denken.


(Korrekturanmerkungen zum Romantext einer Frau:)


Bei weiterem Durchstöbern stieß ich auf eine Schicht gedruckter Blätter, auf deren Rand ich Anmerkungen mit roter Tinte bemerkte. Das Gedruckte konnte nicht von A. E. verfaßt sein, es war der Anfang eines Romans, dessen Stil und Inhalt weiblichen Ursprung erkennen ließ, das Titelblatt fehlte. Auf einem Beiblatt stand von seiner Hand geschrieben: »Das ist keine Kunst, ideal tun, wenn man alles ungenau nimmt. Wart, Blaustrumpf, wart, Gans, ich will dir's einmal zeigen! Meinst du, die Dinge der Welt laufen nur so glattweg in geölter Kurbel?«

Ich stelle einige Sätze heraus mit den Anmerkungen, um einen Begriff von diesen Korrekturen zu geben:

»Es war ein lachender Morgen Ende Augusts. Wir standen reisefertig. Der gute, liebe Onkel! Es war ihm schwer geworden in seinen Jahren, aber er hatte sich entschlossen; mein Sehnen sollte erfüllt werden, er führte mich nach Paris. Die Koffer waren gepackt –

Anmerkung:
bis auf einen, den Hauptkoffer, wozu der Schlüssel verlegt war –

Die Droschke war bestellt –

Anm.:
und kam nicht.

Endlich steigen wir in den Wagen –

Anm.:
wobei der Onkel fehltrat und umfiel –

Wir sitzen, das Dampfroß schnaubt, die Räder beginnen zu rollen –

Anm.:
das Handgepäck fällt aus dem Netzfach und treibt dem Onkel den Hut an.

Noch ein Gruß an die liebe Schwester Ida, ein Schwenken meines Tuchs –

Anm.:
wobei das Fenster fällt und ihr die Hand einklemmt.

Der Kondukteur coupiert; o, er erschien mir wie ein Götterbote, der meine Seele nach Elysium einlade –

Anm.:
doch der Onkel fand die Billette nicht.

Mir gegenüber – o schöner Anfang! ein junger Mann – in Zivil – hat aber etwas edel Kriegerisches, selbstbewußte Haltung, Blick lebhaft, dabei etwas männlich Herrschendes und doch zugleich so Feines – wohl Gardeoffizier?

Anm.:
worauf besagter Herr den einen und dann den andern Fuß neben den Onkel aufs Polster hinüberlegt und der Onkel sich sanft beschwert und eine sackgrobe Antwort bekommt.

Balsamische Morgenluft weht herein.

Anm.:
Dem Onkel fährt eine Kohlenstaubfaser ins Auge.

Städte und Dörfer im Sonnenglanz fliegen vorüber, die Schwalben schwirren, die Natur taucht, badet, schwimmt beseligt in sich selbst. Ja, die Natur hat Seele, sie ist doch immer seelisch besagend. Die Natur ist Geistflüsterung, der Mensch Geistsprechung, sie ist Geistduftung, der Mensch Geistblitzung. – Dies ist ein Gedanke! Ich zeichne mir ihn in mein Poesiealbum. – Und nun, du Natur der Natur, goldiger Süden, dufte mir labend entgegen!

Anm.:
Sie sucht die mitgenommene Orangentorte, der liebe Onkel hat sie versessen.

Wehe! kann wolkenlos kein Himmel bleiben? Das lachende Antlitz der Natur trübt sich, ein Strichregen beginnt zu fallen, sie sinkt sich selbst als weinendes Kind in die Arme. Aber warum so heftig, deine Tränen netzen mich zu stark! – ›Ja, bitte, edler junger Mann, schließen Sie das Fenster –‹

Anm.:
welches sich nicht schieben lassen will, weswegen der Onkel mithilft. Beide drücken, und da es rasch nachgibt, stoßen sie die Scheibe hinaus.«

Genug und wohl schon allzuviel, der Spaß wäre geradezu langweilig zu nennen, wenn der wunderliche Korrektor nicht auf eine Steigerung losarbeitete. Eine solche lag denn auch im Entwurfe bereit und daneben das Material, woraus er das Hauptmotiv hierzu entlehnte, nämlich einige Blätter aus der Schrift des bekannten Odpropheten von Reichenbach: »Der sensitive Mensch«, auf denen sich das Odleuchten der bei Schnupfen und Katarrh affizierten Körperteile beschrieben findet. Eine große »amplificatio« sollte nun losgehen. Man ist in einen langen Tunnel eingefahren. Die Lampe, angezündet, geht durch irgend einen Zufall wieder aus. Der gute Onkel hat die Reise im Zustand besagter Affektion angetreten. Jetzt, im Dunkel, bemerkt man zuerst, daß beim Husten ganze Lichtgarben, Odlicht der entzündeten Schleimhäute der Mundhöhle, stoßweise seinem Munde entfahren – (diese und alle folgenden Erscheinungen wörtlich nach Reichenbach). Bereits hat auch seine Nase zu leuchten begonnen; sie erscheint in dieser Lichtemanation drei- bis viermal vergrößert, armlang, fußdick, stets intensiver wird das Odglühen, Tausende von roten und gelben Odfünkchen entsprühen dieser furchtbaren Leuchte, dann scheint es wieder, als hänge ein großer Lichtklumpen wie eine baumelnde Laterne von ihr herunter. Aber mehr noch, Entsetzlicheres gelangt zur Wahrnehmung der Insassen des Wagens: durch die Bekleidung hindurch erscheint auf der linken Brust ein handgroßer leuchtender Fleck, – das Herz –, dann etwas tiefer, unter den Rippen, ein schräger Lappen bläulichen Lichts – die Leber des unseligen Greises. Die Augenzeugen wollen zuerst ihren Sinnen nicht trauen; ehe sie Zeit haben, die Häufung dieser wunderbaren Phänomene zu beobachten, hat sich noch andres ereignet. Der Onkel und dann der junge Mann hatten sich in die Scherben der zerbrochenen Scheibe gesetzt; sie schreien erbärmlich auf. Inzwischen sind die genannten Odstrahlungen auf solche Höhe gestiegen, daß der Ruf: Feuer! Feuerjo! mit dem Wehrufe der Verwundeten zusammentrifft. Der Kondukteur erscheint eilig im Wagen (man hat sich die langen Waggons der Schweiz und Amerikas vorzustellen), stürzt alsbald wieder fort und läßt wegen Feuergefahr den Zug stoppen, bringt den Zugführer herein, dieser erkennt in dem jungen Mann einen reisenden Künstler im Fach der natürlichen Magie, der kürzlich in der Hauptstadt aufgetreten ist, fährt ihn an mit Scheltworten über schlechte Charlatankünste; die sämtlichen Passagiere verharren in der Vorstellung, es brenne, der Onkel – ein Greis von chemisch-physikalischer Selbstkenntnis –, ruft dazwischen häufig und vergeblich: »Es ist ja nichts, es ist ja nur Od-positiv!« Die Nichte liegt in Ohnmacht, jetzt ertönt der Schreckensschrei, es komme ein Gegenzug herangebraust –

Bis hierher war dieser schreckliche Hergang skizziert, und hier fand ich das Manuskript abgebrochen. [...]"

(Vischer: Auch Einer, 16. Kapitel)

23 Mai 2021

Vischer: Auch einer (5) - Pfahlbauerzählung: Vortrag des Barden

 Vortrag des Barden: Archäologische Erkenntnisse und darauf gründende Zukunftsvision

"Angus stellte jetzt den älteren der zwei Ehrengäste, Feridun Kallar, den Versammelten vor und bat ihn, die Kanzel zu besteigen.

Ernst und doch freundlich ließ der Mann, wie er nun oben stand, die Augen auf der harrenden Gemeinde verweilen, ein mildes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, die hohe, von krausen grauen Locken umgebene Stirne verkündigte einen Mann des Sinnens und Forschens, die etwas gelbliche Gesichtsfarbe störte nicht im mindesten den Ausdruck von Güte und feiner Laune, der auf diesen Zügen lag, sondern ließ nur schließen, daß anhaltende Geistesarbeit die Verrichtung der Leber etwas beeinträchtigt haben dürfte.

Er begann: »Hochwürdiger Herr Druide! Hochachtbare Gemeindeältesten, achtbare und ehrsame Mannen! Pfahlbürger! Pfahlkerle, Pfahlekarlier! (Bravo!) Ihr habt mir die Ehre erwiesen, mich zu einem Vortrag über die merkwürdigen Fünde einzuladen, die euer Seegrund zutage gefördert hat. Glücklicherweise bin ich nun in der Lage, euch melden zu können, daß an unsrem See, nur ein paar Stunden von Turik entfernt, gerade dieselbe Entdeckung gemacht worden ist; nämlich an der Stelle, wo jetzt die ehrenwerte Gemeinde Milun auf ihren Pfählen wohnt, legte die große Dürre einen Teil des Grundes trocken, man sah uralte schwarze Stümpfe hervorragen, Kinder fanden Scherben von Töpfen, brachten sie nach Hause, die Alten wurden aufmerksam auf die rohe Form, die arme und ungeschickte Art der Verzierung – es waren, wie ihr es hier gefunden, bloße Reihen von Eindrücken mit Fingernägeln, während man jetzt doch einige feinere Linien, ein Zickzackornament einritzt oder aufmalt –, ebenso auf den zerbrechlichen Ton, der nicht mit feinem Staub aus hartem Gestein verdichtet war, wie man es jetzt tut; man grub weiter, fand in Milun wie in Robanus Knochen von unbekannten ungeheuern Tieren, insbesondere einen Stoßzahn von einem fürchterlichen Geschöpf, das wie ein trampelnder Berg ausgesehen haben muß; Enden vom Geweih des Riesenhirsches Schelch, Wirbel und Schenkelknochen des Ur fehlten so wenig, daß man leicht sah, die beiden gewaltigen Tiere müssen damals weniger selten gewesen sein als jetzt, wo man ihre Gehörne und Köpfe, bringt einmal das Glück die rare Beute, an die Rathaustüre nagelt, wie man das in Turik tut und ich heut auch hierorts gesehen habe. Die menschliche Kunst, – das konnte man leichtlich schließen, – muß damals noch weit zurückgewesen sein; wir haben jetzt angefangen, unsre Flintswaffen glatt zu schleifen; deren fanden sich nur roh gespaltene; man entdeckte keine Spur von Weberei, die Leute von damals werden wohl nur das Gerben verstanden haben, also in lauter Pelz und Leder dahergestiegen sein, und da das Zeug im Sommer doch arg heiß gibt, so mußten sie entweder sehr schwitzen oder sie gingen um diese Jahreszeit eben fast nur so um, wie Selinur den Menschen erschaffen hat. Doch ohne Putz müssen sie nicht gewesen sein, denn von jenem Rötel, womit sich jetzt nur noch wenige alte Leute das Gesicht malen –« (Gelächter – man hört leiser, dann lauter den Namen Urhixidur nennen – Angus blickt finster) – »von jenem Rötel hat man auch dort gar viele Stückchen entdeckt. Und das läßt schließen, daß es an allerlei anderm Schmuck, wie Federn auf dem Kopf, buntem Pelzbesatz an Kleidern und Mützen nicht werde gefehlt haben. Nähen und ein bißchen Steppen und Sticken konnte man schon, aber man sieht aus den Stichen, daß die Nadeln, die wir jetzt aus Vogel- und Mausbeinchen, Fischgräten, ja aus Erz so fein herzustellen und handzuhaben wissen, noch sehr grob gewesen sein müssen. Auch Halsschnurkugeln und Wirtel aus Ton hat man gefunden, sogar mit eingeritzten, freilich sehr uranfänglichen Verzierungen. Man hat keine Wagenreste entdeckt, sie werden nur grobe Schlitten zum Lastführen gebraucht haben; daß aber keine Trümmer von Pflügen vorkamen, das kann nicht beweisen, daß jene unsre Ahnen kein Getreide bauten, kein Brot aßen, das wißt ihr, denn auch bei euch hat man ja die groben Pumpernickel gefunden, wie dort. Und endlich führte man im alten Milun kein so armseliges Leben, daß es nicht so gut wie im alten Robanus schon Schnitzli gegeben hätte. (Heiterkeit.)

»Nun aber, hochwürdige, hochachtbare und achtbare Zuhörer, ist das eigentlich kein so gar besonderer, sondern ein ganz einfacher Fall, und hättet ihr keines auswärtigen Gelehrten bedurft, ihn euch zu erklären, wenn sonst nichts dabei wäre. Ich kann euch weiter nichts Neues sagen, als daß wir in Turik durch unsre vergleichenden Knochenmessungen herausgebracht haben, die Haustiere: Rind, Ziege, Schwein, Hund, müssen dazumal dieselben gewesen sein wie jetzt. Es haben eben vor uns Menschen mit allerhand Getier zusammengelebt wie wir auch, Menschen, die aber nicht so weit waren wie wir; daran ist ja nichts Wunderbares. Wie lang es her ist, wer weiß es? So eine Seeschlammschichte von drei, vier und mehr Fuß Dicke, die braucht schrecklich lange, bis sie fertig ist. Viel Hunderte von Jahren kann's her sein, daß das alte Pfahldorf tief unter dem jetzigen über dem damaligen Seespiegel stand. Es muß verbrannt sein, vielleicht durch Zufall, vielleicht durch Feindeshand. Still flutete dann der See darüber und ungezählte Zeitläufe lang schien die flammende Sonne und der sanfte Mond auf seine Wasser, und still war alles und stumm und öde, während in der Tiefe langsam, langsam eine dünne Lage Schlammes um die andre sich ansetzte und tiefer und tiefer die Zeugen eines untergegangenen Lebens begrub. Da kamen einmal Leute, die suchten sich – wir wissen nicht warum: vielleicht war denen auch irgendwo ihr Pfahldorf abgebrannt – suchten sich einen stillen, guten, fischreichen Platz zum Wohnen, und wählten die Stelle von Milun und wußten nicht, was da unten begraben sei, und schlugen Pfähle und vermehrten Jahr um Jahr ihre Familien und Häuser, und gaben sich Mühe, ihre Geräte, Waffen, Kleider immer besser und feiner, ihre Speisen immer schmackhafter zu bereiten, und lernten auch von Mannen aus andern Städten und Dörfern, mit denen sie im Verkehr waren, und so ist es hier in Robanus auch gegangen und in Turik selbst wohl auch und anderwärts auch, und so sind wir nun miteinander auf der Höhe der Bildung angekommen, auf der wir stehen.

»Nun aber hier kommt der Punkt. Die Sache ist eben nicht wichtig, aber das ist wichtig, was sie zu denken gibt, und hievon zu reden ist nun freilich der Mühe wert und will ich's versuchen, so gut ich kann.

»Auf der Höhe der Bildung habe ich gesagt. Ja, wir glauben, darauf zu stehen, ihr glaubt's auch, nicht wahr? So recht auf der Spitze, dem Giebel, Gipfel, Wipfel der Bildung, und lächelt über die Geschlechter, deren arme Ueberbleibsel wir nun zu Gesicht bekommen haben?

»Seid versichert: genau dasselbe glaubten jene Geschlechter auch und sie standen auch auf dem Gipfel, denn die Höhe, worauf sie standen, war für sie Gipfel. (Stimmen: ›Oho!‹)

»Ihr stutzt. Jetzt wartet, jetzt wollen wir einmal vorwärtsschauen! Vor kurzer Zeit haben wir unsre Webstühle ungleich kunstreicher als früher gebildet, wir weben die schönen gemusterten Stoffe. Feiner schleifen wir den Flintstein für unsre Aexte, Speer und Pfeilspitzen. Noch viel Wichtigeres hat sich ereignet. Wir haben durch Austausch und Verkehr mit den Seen der Nachbarstämme vor kurzem den neuen Stoff, das Erz, kennen gelernt, von dem ihr seit gestern erst wißt, da Odgals Vetter Sachen davon hergebracht hat. Es wird nicht mehr lang anstehen, so wird man alles Geräte, Schmuck, Waffen daraus bilden. Ein andres, ganz absonderliches Ding hat euch wohl der Gast auch schon gezeigt: die kleinen Erzstückchen, die künftig im Handel und Wandel für Tauschware gelten sollen. (Lachen rechts und im Zentrum, Stimmen: ›Lumpenzeug! Windige Bröcklein!‹)

»Man lacht; aber ich bitte: möchtet ihr nicht die Güte haben, darüber nachzudenken, welche Umständlichkeiten euch dadurch erspart werden? Stier, Ochs, Kuh, Kalb dahertreiben, um so und so viel Getreide, gegerbte Häute, Waffen dafür zu bekommen; geht's nicht kürzer und leichter mit Stückchen Erz, deren einer leicht ein paar Hundert im Rucksack trägt? (Stimmen: ›Tür und Tor für Betrug! Werden leicht nachzumachen sein!‹) Ei, habt ihr nicht gesehen, daß man den Stückchen sehr künstliche Stempel gibt, die nicht leicht jemand nachmacht? Und noch dient zu wissen: die fremden Männer haben geheimnisvoll herumgeflüstert, daß sie noch ganz andre Wunderdinge bald bringen werden: Tauschstücke aus einem weiß und aus einem hochgelb glänzenden Körper, der aus den Tiefen der Erde gegraben wird, aber so selten, daß ein Stückchen davon in Form gebracht wirklich ganz wohl so viel Wert hat, als ein Hammel, eine Kuh, die man dagegen eintauscht. – Nun, ich sehe wohl, daß euch das Ding noch zu fremd ist, überlassen wir's der Zukunft, aber noch etwas andres laßt mich erwähnen. Denkt! schon haben die wandernden Männer von jenseits der Alpen, die uns das Erz gebracht und gezeigt haben, wie man es aus Kupfer und Zinn bereitet, uns erzählt, man sei auf einen andern noch besseren Stoff gekommen, der sich fertig in den Bergen finde, nur mit allerhand Erde vermischt, so daß er durch Feuer aus diesen Zusätzen herausgeschieden werden müsse; der gebe, wenn man ihn tüchtig schmiede, Waffen und Geräte, die noch weniger leicht brechen, als die von Erz, er sei zäher und lasse sich doch aufs Aeußerste härten. Er sehe nicht so schön gelb aus, nur schlicht grau, blinke aber doch, wenn er geglättet sei, in einem Glanze, daß man ihm seine Tugend wohl ansehe. Sein Name sei Eisen. Bereits haben auch die fremden Händler Sachen aus diesem Stoffe an den See Leman gebracht, deren einige zu uns herübergelangt sind. Ich hab' etwas hier.« [...] 

Die Zeit und die Leute bleiben nie stehen und immer die folgenden haben die Augen weiter offen und kommen ihnen die Vergangenen vor wie junge Katzen, die noch nicht sehen. Und so haben wir immer neue Gipfel der Bildung, und weil es immer neue gibt, so gibt es keinen. Dazu hab' ich aber noch etwas zu sagen. Es ist gar wohl möglich, daß vor vielen tausend Jahren da oder dort Geschlechter gelebt haben, die in allen Künsten schon so weit waren, als man von jetzt an in vielen tausend Jahren sein wird, und daß all ihr Reichtum und ihre Pracht und feinen Werke dann in Wildnis versunken sind, und daß über dem Schutt die Menschen wieder haben vorn anfangen müssen. Wär' es so gegangen, so hätten wir also einen Weg, auf dem die Wesen ziehen und wandern, der ginge nicht immer bergauf, sondern auch bergab und bergauf. Aber hin wie her, es ist eben ein Weg, eine Bahn, eine Bewegung! [...]

Das alles hat Taliesin gestiftet und mit dem allem will er euch gescheit und gut machen. Er meint's wohl und freundlich und hat niemand mit Fluch bedroht, als die, welche sich selbst verfluchen, weil sie Holzköpfe und steinhart und horndumm bleiben wollen; und wahnsinnig, ja schändlich und scheußlich ist es, zu glauben, er halte die Menschen an, den schrecklichen Gott der Kriegswut und Pfnüsselverstörung zu ehren mit Menschenopfern, und nun sagt einmal, ihr Pfahlmannen, ihr Pfählmannen, die ihr Ketzer und Kriegsgefangene pfählt, kreuzigt, metzget, lebendig verbrennt, wo steht ihr, auf welcher Höhe befindet ihr euch, daß ihr glaubt, herabzusehen auf die Ahnen, deren Reste ihr ausgegraben und bei denen vielleicht, wie roh sie auch waren, doch die grause Sitte der Menschenopfer noch nicht aufgekommen war? Ist das der Gipfel, Giebel, die Zwiebel, der Spitzgipfel, Gipfelspitz und Zipfel eurer Aufklärung?« [...]"

(Vischer: Auch einer, Kapitel 9)