28 April 2021

Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt - 7. Kapitel: Fortsetzung: erste Erfolge und die Verpflichtung, sich politisch zu äußern

 "[...] Die Deutschen, um unter anderen besonders sie zu nennen, sind die leichte Beute profaner Machthaber geworden, seitdem sie nach keinen geistigen Denkern mehr die Augen erheben konnten. Ungelehrte, Geringe hatten vordem durchaus gefühlt: das sind sie, durch die ich etwas gelte. Mein Recht und Leben ist geschützt durch sie. Man muß das gekannt haben – oder es künftig nochmals erwerben von Grund auf –: das Vertrauen in menschliche Güte und Duldsamkeit, die Achtung des Menschen, die Selbstachtung.

In der jetzt noch währenden Pause der Humanität möchte ich einem Jungen, ob an der Front oder zu Hause, nicht gern gewisse Züge von sonst berichten: Vielleicht käme ich an den Unrechten. Er würde mir bestenfalls ins Gesicht lachen, wollte ich ihm erzählen, daß ein großer Arzt seinen Studenten einprägte: »Der Beruf des Arztes ist, das Leben zu erhalten.« Leben erhalten? Ein Menschenleben? Eine Kartoffel ist mehr wert.

Der Name des denkwürdigen Mediziners war Nothnagel in Wien. In Berlin begann der Physiker Helmholtz jeden Kursus mit dem Satz: »Vorausgesetzt, daß die Natur erkennbar ist.« Man sage es ihnen, die Jungen von 1944 werden antworten: »Entweder versteht er Giftgase und Gleitbomben zu machen, oder er soll den Mund halten.«

Denn von der Wissenschaft haben sie gehört als einer bloßen Utilität. Ersatz für echtes Essen, neue Tricks, um möglichst schnell möglichst viel Leben zu vernichten: das sind ihre Grenzen, hiermit endet die menschliche Erkenntnis. Aber von 1890-1898 war ich befreundet mit einem jungen Doktor, der seine Jahre an aussichtslose Untersuchungen setzte. Sie sind zu keinem Ergebnis gelangt, oder auch die negative Entscheidung der Natur wäre ein Erfolg. Das war sie bei allen, die urteilten, und mein Freund ein ausgezeichneter Schüler der Helmholtz und Dubois-Reymond.

Sie können nichts dafür, den neuen Jungen ist das Bedürfnis, uninteressiert zu denken, abhanden gekommen. An ihrer Stelle, wenn es um das eigene Leben, sonst um keines geht, wäre auch zu meiner Zeit jedem das Denken um des Denkens willen vergangen. Oder das Gestalten. Ich habe die ersten fünfzehn Jahre meine Romane unter der stillen Zustimmung, etwas lauteren Ablehnung von zweitausend Personen geschrieben. Die Welt erfuhr nichts davon. Sie waren damals sozial unbrauchbar, ähnlich wie die Experimente des jungen Physikers von der Natur abschlägig, beschieden wurden. [...]

Unsere Väter hinterließen uns meistens an Geld das Nötigste. Ich habe mein ererbtes Einkommen erhalten genau bis zu der deutschen Inflation. Da brauchte ich es nicht mehr. Als das Geld entwertet war, verdiente ich es haufenweise – mit denselben Romanen, die vorher nichts abwarfen. Ich habe für glückliche Zufälle zu danken, angenommen sei: dem Zeitalter, das ein Zusammentreffen verheerender Umstände mit anderen, gleichfalls ungeahnten ist.

Eine ähnliche Koinzidenz von Unglück und Glück hat sich einige Male wiederholt, zuletzt als ich meinen Wohnsitz in Berlin notgedrungen aufgab und nach Frankreich übersiedelte. Man nennt es Exil, es soll sehr hart sein, ist es wohl auch. Wer vor dem Hunger bewahrt bleibt, kann wieder, wie Heinrich Heine, vor Heimweh nicht schlafen. [...]

Die Verehrung ist eine mitbekommene Gabe, um den Geist ungenügsam und wach zu erhalten. Sie ist eine sittliche Gabe, befähigt zu unterscheiden, nach unten und oberhalb. Goethe – wie ich wiederholen will – empfand es als Unrecht, wenn seine späteren Zeitgenossen ihn mit Tieck – einem Romantiker von Rang – verglichen. »Ich vergleiche mich auch nicht mit Shakespeare.« Er hatte »Faust« vollendet – und sah zu einem anderen auf. Daher die Vollendung: sein Werk empfing sie vermöge des immer tätigen Antriebs, streng zu messen und, wo es recht war, zu verehren.

Auch die Heiterkeit ist ursprünglich, im Gegensatz zur Skepsis, die erworben sein will. Ein Gemüt, das ohne sie wohl auskäme, wird von jähen Freuden gewiß hingerissen wie jedes andere, und noch mehr. Da waren zum Beispiel die Bühnenerfolge. Sie kamen auch bei mir vor; einen bedeutungsvollen, weniger für mich als für die Zeit und den Augenblick, ließ ich den ganzen Abend über mich hingehen, hinter der Szene oder vor der Gardine, jedesmal »oben«, mit einer bezwungenen Menge unter mir. Für den ganzen Genuß eines Erfolges scheint es wichtig, daß man anwesend und daß man »oben« ist.

Als mir nachher in meinem dunklen Zimmer noch immer das Herz klopfte, fragte ich mich: Warum eigentlich? Meine Bücher waren gerade damals in allen Häusern, das Theater faßte jeden Abend nur tausend Personen. Aber die Anschaulichkeit, körperlich verstanden! Die Gegenwart meiner Gestalten und Ereignisse, nicht in dem besonnenen Geist stiller Leser, sondern angesichts einer Menge – alle berauscht, wenn der Fall einmal eintritt. Das Mitwissen wird unkontrolliert übertragen von erregten Sinnen auf andere erregte Sinne. Endlich muß der unschuldige Urheber des Vorganges gestehen, daß er nicht gekannt hat, was er anrichten werde – und ist selbst überwältigt.

Es ist wahr, daß ich gewissen anderen emotionellen Wirkungen meiner Arbeit ein innigeres Andenken bewahre – je ferner sie nachgerade sind. Als Fünfundzwanzigjähriger in Rom erfand ich eine meiner ersten Geschichten. Sie hatte nichts Besonderes, nur daß sie eine der ersten war. In demselben Alter ist manchem mehr und Besseres eingefallen. Aber ich sprang vor Freude bis an die Decke. Die Zimmer in alten römischen Häusern haben unterhalb des echten Plafonds einen falschen aus bemaltem Papier: zwischen beiden laufen die Mäuse. Hoch war es nicht, mein Scheitel stieß wahrhaftig gegen die nachgiebige Bespannung. Dieser Nebenumstand prägte mir den Augenblick des Glücks für mein Leben ein.

Die Nebenumstände tragen zum Glück bei, wenn sie es nicht entscheiden. Ich war nicht mehr fünfundzwanzig, schon dreiunddreißig und endlich genötigt, etwas zu können. Da begegnete mir der »Blaue Engel«, wie das Ding jetzt überall heißt. Der Film, eine ziemlich genaue Photographie des Romans, ist wieder fünfundzwanzig Jahre später gedreht worden, übrigens durch Zufall. Wie lange Zeiten muß man seine eigenen Empfindungen begleiten, um sie anlangen zu sehen – wo, in welchem Zustand, bleibt fraglich.

1931 war die französische Kolonialausstellung, eine seltene Darbietung von Pracht und Macht. Großer Abend im Hôtel de Ville, zwischen den unvergleichlichen republikanischen Garden schritt man befangenen Sinnes, falls man Sinne hatte, viele Stufen hinan, jede mit zwei Gardes. Lange Erwartung der Hauptperson. Als der alte Marschall Liautey eintraf, empfing die Versammlung ihn stehend. Vorher war dem Bürgermeister mein Name genannt worden; er breitete beide Arme aus. »C'est vous l'auteur de l'Ange bleu!« Dies ist der Gipfel des Ruhmes, den ich kenne.

Der Marschall setzte mich später an seinen Tisch. Eine volle Minute hat er meine Hand mit seiner festgehalten, hat unseren Ländern Frieden und Freundschaft gewünscht. Wäre ich Deutschland gewesen.

Aber gegenwärtig ist erst das Jahr 1904, ich sitze wie gewöhnlich im Teatro Alfieri, einem Florentiner Schauspielhaus vom alten Stil, mit fünf hohen Rängen enger Logen, und immer leer. Die Vorkriegszeit in Italien besaß das Geheimnis, wie man für hundert Zuschauer, der Kopf zwei Lire, ein herrliches Theater macht. »La Bottega del Café« des Settecento-Venezianers Goldoni, es gibt kein gleiches Wunder der Anmut, außer Mozart. In der Pause wurde eine Zeitung verkauft, darin las ich die Geschichte, die einstmals der »Blaue Engel« heißen sollte.

In Wahrheit stand auf dem Blatt etwas ganz anderes, war nur mißverständlich berichtet, und datiert aus Berlin. Gleichviel, in meinem Kopf lief der Roman ab, so schnell, daß ich nicht einmal bis in das Theater-Café gelangt wäre. Ich blieb versteinert sitzen, bemerkte dann, daß der Vorhang wieder offen war, und so viel Beifall aus dankbarem Herzen hat nicht oft ein Schauspiel von einem einzelnen Gast erhalten.

Der Protagonist der Komödie ist ein Verleumder. Sein boshafter Tratsch bringt ein kleines Campo, in der Mitte der Brunnen, ringsum die schmalen Häuser, fassungslos durcheinander. Die Tänzerin im ersten Stock, die Hausfrauen, Ladnerinnen, Cafégäste – ein aufgestörtes Wespennest. Zuletzt entdecken sie den Anstifter, wollen einmütig über ihn her, er kann nur flüchten. Seinen runden Mantel über dem Kopf geschlossen, entkommt er um die Ecke. Mir erschien Zug um Zug von einer außerordentlichen Vollendung.

Ich selbst hatte etwas fertiggebracht, das war es, war die ganze Ursache meines Glücksgefühls. Hätte es erhöht werden können? Wenn die Zeitung, die übrigens nur Ungenaues enthielt, gleich die Geschichte fortgesetzt hätte! Sie konnte geradesogut schreiben: Nur ein Vierteljahrhundert Geduld, dies wird der Film sein. Der Maire wird ausrufen –. Der Marschall spricht –. Weitere fünfzehn Jahre, nur vierzig im ganzen, und das Hollywood des zweiten Krieges sucht nach Auskunftsmitteln«, wie es unbeanstandet das Produkt einer nunmehr feindlichen Industrie noch einmal machen kann.

Hätte ich 1904 dergleichen mehr vorausgewußt, ich wäre darum nicht glücklicher gewesen. Das Glück, wie ich es kenne, gebiert und trägt sich selbst. Die Glücksfälle sind Höhepunkte einer inneren Heiterkeit, die hervorbringt: das ist ihr Grund und Beruf. Man hat sie oder hat sie nicht. Ganz anders steht es mit dem Erkennen der eigenen Relativität. Die Skepsis will gelernt sein.

Ein Anfänger, der Glück hat – nicht das äußere, ich meine ein inneres Gelingen –, überschätzt sich, er geht bis zu unschicklichen Vergleichen. Zu der Zeit des »Blauen Engels« war ich noch sehr jung, vermutlich jünger als alle anderen desselben Alters. Als ich das Buch schnell und geläufig hinschrieb, dachte ich leichtsinnig: mehr hat auch Goldoni nicht gekonnt. Das Stück im Teatro Alfieri, oder ein anderes, verfertigte er in drei Tagen, weil er gewettet hatte. Nun, und? Voll übermütiger Begeisterung griff ich viel höher hinauf. Eine komische Handlung tragisch bestimmt, die lustige Fratze, darunter die harte Wahrheit selbst, wer macht das. Wer – hat – das gemacht? dachte ich und dachte einen Namen.

Das habe ich verlernt. Denn ich erfuhr höchst lebendig, daß auf Jahrhunderte die Größe höchstens einmal trifft, und daß lange aushalten muß, wer in seiner begrenzten Laufbahn auch nur der Vollkommenheit vielleicht begegnen soll. Ich habe, um oft vollkommen zu sein, zu oft improvisiert, ich widerstand dem Abenteuer nicht genug, im Leben oder Schreiben, die eins sind. Nicht, daß ich mich belogen hätte: das lohnt nicht, soviel wußte ich immer.

Gern gestehe ich, daß die sinnlose Sehnsucht nach einem zugrunde gegangenen Deutschland mich in der Verbannung nie belästigt hat. Hitler-Deutschland hätte mich abgestoßen, wäre ich auch keines seiner vorgesehenen Opfer gewesen. Dagegen brachten mir die Atmosphäre Frankreichs und seiner Sprache gerade den Gewinn, der in diesem Zeitpunkt der willkommenste war. Ohne Vorausberechnung der Ereignisse und meiner veränderten Lage hatte ich unternommen, die Geschichte eines Königs von Frankreich zu schreiben. [...]"

(Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, 7. Kapitel)

27 April 2021

Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt - 6. Kapitel eine Art Autobiographie

 [...] Ein Zeitalter wird besichtigt. Von wem? ist immer die Frage. Sie verpflichtet X, sich vorzustellen, aber mit Maßen. Zu sagen: ich bin der und der, und bin es ganz für mich allein, ergibt Widersprüche. Ein moralischer Wirrwarr tut sich auf. Mit wirklichem Recht weiß X nicht einmal, ob er platt wie der Tisch ist oder die Höhen und Tiefen eines geschlachteten Kalbes aufweist.

Das besichtigte Zeitalter kennt sich ebensowenig. Wie nun, wenn zwei Masken einander begegnen. Aus meinen jungen Tagen gedenke ich der italienischen Masken, des Stenterello von Florenz. Ami la vita? wurde er gefragt. Ob er das Leben liebe. Er umgürtete mit den Händen seine Taille, die gleichfalls la vita genannt wird. Aber ja, antwortete er, ich liebe die Ohren, die Füße, la vita, alles liebe ich.

Auf Umwegen und durch ein Mißverständnis hatte sich herausgestellt, daß er das Leben liebe. Mehr und Besseres kann eine gesamte Zeitgenossenschaft, jeden X mit einbegriffen, über sich nicht aussagen. Sie kommt darauf umständlich wie Stenterello: Ein Zeitalter tötet, tötet – um endlich zu bemerken, daß es das Leben liebte.

Le maschere hieß ein Spiel, das ich mit Entzücken sah – vor dreißig Jahren, aber sie konnten das Entzücken nicht tilgen. Der Maestro Mascagni hat wahrhaftig mehr gemacht als nur die eine Oper, durch die sein Name lebt. Wie das glücklich und schön war, alle die Masken, jede aus einer anderen der hundert Städte Italiens, jede ein herkömmlicher Charakter. Zusammen aber, mit ihren grotesken Nasen oder auf süß geschminkten Gesichtern, stellten sie die Menschheit dar. Sie sangen unvergeßlich reizend. Die Menschheit wäre erfreulich, wenn sie es könnte, wie sie im Grunde möchte.

Das wirkliche Leben ist nicht so übersichtlich, ist im Durchschnitt nur mäßig begabt. Die Intensität von gutem Theater wird in der Wirklichkeit selten erreicht. Was ist ganz ernst? Das Spiel der Kinder.

Hieran erinnerte meine Gedenkrede an den Theatermann Max Reinhardt. Er war in der Verbannung gestorben, und ich sprach plötzlich englisch: beiläufige Einzelheiten eines Zeitalters, das noch ganz anders ausschweift.

Diesmal könnte man das Leben intensiv nennen, wäre es nur nicht ganz so verlottert. Une vie de bâton de chaise, heißt das. Jemand, dem ich gern glaube, sagte: »Der Krieg ist ein Hinter-die-Schule-Laufen.« Er ist, was man will: hochherzig, teuflisch, Ehrensache, Niedertracht, heldenhaft allerseits, ein großes Schauspiel sowieso. Eigentlich aber liefert er Schülern eine Ausrede, die gegen Tadel geschützt ist, um nicht zu arbeiten, nichts mehr zu lernen.

Um Gottes willen, was erlaube ich mir. Hunderttausende lassen sich töten, opfern sich in einer einzigen Schlacht! Zählt das nicht höher, als hätten sie Ingenieur studiert? Aber erstens will keiner sterben, die anderen sollen es für ihn. [...]

Kriege ersten Ranges, die napoleonischen, jetzt dieser, gefährden bei mehreren Generationen das Lebensgefühl. Sie waren die unsinnigste Überanstrengung aller Lebenden – immer ohne ergiebige Arbeit, ohne daß gelernt wurde. Davon erholen sich die Folgenden nicht so bald. Ein Lebensgefühl ist noch schwerer wieder aufzubauen als die zerstörten Länder und Städte, ganz zu schweigen von den Lücken im Nachwuchs.

Zuletzt kommt alles ins Gleiche. Meines Amtes ist es nicht, das Schicksal einer Welt zu beklagen, wenn sie es gewollt hat. Die einen ergingen sich in Herausforderungen des Unheils. Die anderen waren, um es aufzuhalten, weder einmütig noch entschlossen. Gut, ich beklage alle, obwohl ich es nach ordentlicher Überlegung nicht dürfte. (Den gewissen X beklage ich nicht. Bei ihm allein finde ich unverzeihlich, daß er nichts ändern konnte.) [...]

Wenigstens essen und ruhig schlafen wollen alle. X, die zahllosen Personen dieses Namens, haben für die voraussichtlichen Sieger dieses Krieges – und Zeitalters – Stellung genommen, zuerst aus den primitiven Beweggründen, die auch ein Höhlenbewohner hätte. Von den Deutschen, wenn sie siegen könnten, drohen für unabsehbare Zeiten schlechte Ernährung, gehetzte Nächte, lustlose Arbeit ohne anderes Ergebnis als nur wieder Krieg. Der Sieg der Alliierten soll den Menschen, die übrigbleiben, so viel Sicherheit des Lebens bringen, wie manche Tiere ohne Krieg haben.

Unbescheidene erwarten mehr. Schonung, ja etwas Pflege von Seiten der Gewinner, die den Krieg führten unter dem Zeichen der Menschenfreundschaft. Oder mindestens die Gegner eines Feindes waren, der sich als der Antichrist, als ein wahres Anathem etabliert hatte. Da sollte es doch nicht schwer sein – ich bitte um Entschuldigung –, nie wieder Faschist zu werden. Das war doch der Widersacher, der Fluch, der so furchtbar schwer, so über die Maßen teuer zu entkräften war. [...] Eine Figur wie diesen Hitler richtet doch der Augenschein! Die reichen Leute haben ihn für ihren Volltreffer gehalten.

Die Lichtseite

Dies war die Nachtseite des Zeitalters, das X und alle anderen X über sich ergehen lassen, wenn sie nicht vorziehen, dem Zeitalter beizupflichten wegen seiner Lichtseite. Natürlich hat es eine, sie läßt sich schnell benennen. Es ist die Mitwisserschaft der meisten. Niemand, der nicht halbwegs aufgeklärt wäre über Technik und Verlauf der Vorgänge. Ja, sogar die sozialen Anlässe sind Gemeingut. Die geistigen Grundlagen – das wäre viel verlangt. Um ihre Kenntnis sich zu bemühen, ist unter anderen X da.

Dieses Zeitalter ist eines der durchschautesten, nur daß die meisten es sich nicht sehr zu Herzen nehmen. Ihre Herzen sind von den nächsten tödlichen Sorgen schwer. Was kümmert sie die Ergründung der Tiefen. Die Oberfläche, wo sie weilen, ist gerade unheimlich genug. Aber sie wissen. Ich bezweifle, daß – nur beispielsweise – die Menschen des Dreißigjährigen Krieges über ihre wirkliche Lage so weit unterrichtet gewesen sind wie meine eigenen Leidensgefährten.

Ein Beweis wäre vielleicht, daß 1618-1648 von Deutschland einfach wiederholt wurde, was Frankreich während einiger voriger Jahrzehnte schon durchgeübt hatte. Eine Liga der Großgrundbesitzer und provinzialen Monopolisten zerriß und zerstörte das Königreich – natürlich ohne sich zu ihrer Sache zu bekennen. Wenn man die Herren hörte, verteidigten sie einen Glauben, sprich: Weltanschauung; unter denselben Umständen hätten sie seither ihren Antibolschewismus angepriesen. Der Befreier Henri Quatre handelte revolutionär, seither wäre er Bolschewik genannt worden. Indessen hieß er Ketzer, und die wirklichen Zusammenhänge blieben im dunkeln. Sonst wäre nicht ein verwandter Tatbestand gleich nachher im Nachbarlande eingetreten.

An unserem Zeitalter ist das Hellste, daß es über sich Bescheid weiß. Es faßt sogar den Vorsatz, seine eigenen Fehler auf seine Nachfolger nicht zu übertragen. Was seine Zuständigkeit offenbar überschreitet. Niemals mehr Krieg! scheint diesmal das wirkliche Kriegsziel zu sein. Niemals wieder Krieg von einer so wenig berufenen Seite wie der deutschen. Wenn das deutsche Verhältnis zur Welt schon vorher falsch war, kann Deutschland es mit Krieg am wenigsten richtigstellen. Sein Sieg wäre schädlich gewesen für alle und für Deutschland.

Auch wenn der Fall Deutschland einmal erledigt, kann doch nicht im Vorhinein ausgeschlossen werden, daß eine andere Macht – Mächte verlieren mitunter die Macht über sich selbst – in ein falsches Verhältnis zur Welt tritt. Dies wäre sogar sicher, sobald eine Macht sich dem Faschismus post festum, eigentlich einem posthumen Faschismus ergäbe. Sie wird ihn anders benennen, der Name hat Unglück gebracht. Die Sache, die er deckte, kann irgendwo wieder für möglich erachtet werden. Die Sache wäre modifiziert, die Lage darf nicht gleich wiederzuerkennen sein. Ganz den gleichen Kriegsmachern wird keine Nation noch einmal hereinfallen.

Die allgemein menschliche Neigung, auf Katastrophen hinzuarbeiten, kann schwer vergessen werden. Sie ist zu oft bewährt. Dieses Zeitalter bezeugt inmitten seiner Katastrophe ein sympathisches Vertrauen auf die Lenkbarkeit der menschlichen Beziehungen, zur Vernünftigkeit hin, zur Beherrschtheit hin. Es meint, jetzt sei des Unfugs genug – womit es wahrhaftig recht hätte. [...]"

(Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt - 6. Kapitel)

Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt - Lebensgefühl

 Lebensgefühl

Die wenigen Jahrhunderte, die noch nahe genug liegen, daß sie mich nicht befremden, haben offenbar das Leben auf ungleiche Art empfunden. Da sind aufbegehrende Zeitalter, und da sind die zurückgefallenen. Einmal wird ein Glaube revidiert, er drückt nicht die Gemüter, er erhellt sie. Renaissance und Reformation haben, bei stark abweichendem Inhalt, beide das Lebensgefühl verstärkt.

Aber Jesuitismus und Barock setzen es nachher nicht herab; mit anderen Mitteln haben sie es nochmals angespannt. Der Pessimismus wird produktiv: die Tragiker und die Moralisten bezeichnen ein großes französisches Jahrhundert. Das vorhergegangene war ebensowohl italienisch wie deutsch gewesen. Mir bedeutet es viel, daß der Vorrang Frankreichs anhebt in demselben Augenblick, da das Lebensgefühl streng – streng bis zur Ausschweifung wird.

Etwas Äußerstes, von den Erfindungen des Gefühls die gewagteste, war die Majestät. Ludwig der Vierzehnte hatte sie dargestellt, mit innerem Vorbehalt, die Herzen waren es, die sie forderten und ihm grenzenlos zutrugen. Er ist einige Male vor sich erschrocken, hat sich bedacht und sich zurückgenommen.

Achtzig Jahre nach ihm erfuhr die Majestät ein gewaltsames Ende, aber genau so vielversprechend wie vormals sie, trat nunmehr der Zauber der Freiheit ein. Wieder einmal will das Leben sich fühlen und wird spektakulär – mit einer Revolution, die, außer in der Schwärmerei ihres Morgenrots, von niemand als endgültig genommen wurde und für integral gehalten nur von einigen Fremden.

Ihr Sinn ist eigentlich vollendet bei Voltaire, der an ihr wirkliches Erscheinen nie geglaubt hätte. Die Freiheit, will sagen die Unabhängigkeit der Person, geht bei ihm weit, sie kommt der Souveränität gleich; die Fürsten empfanden diesen Geist als die absolute Macht, die sie hätten sein wollen. (Sein eigener König ließ sich nicht verblüffen.) Er folgte aber auf den anderen äußersten Typ, Pascal, den Anbeter der Allmacht, der, vor ihr hingekniet, verzückt, gebückt, sobald er spricht, nur immer bezeugen muß, ihr Thron sei leer. Voltaire, ein Erschütterer alles Weltlichen, tastet Gott nicht an.

So haben Menschen die Autorität ausgeübt, wenn sie ihren Mißbrauch denunzierten, und dem Zweifel arbeiten sie zu, gerade mit ihrem Zuviel an Gläubigkeit. Weltanschauung, was auf deutsch diesen Namen trägt, hat einen doppelten Boden. Nicht mißzuverstehn, notgedrungen ehrlich ist das Lebensgefühl.

Wäre es schmerzlich bis nahe der Selbstvernichtung, das Leben stark fühlen ist alles. Es ergibt die Werke und die Taten. Es bannt das menschliche Gefolge. Der junge Werther beendet seine Leiden freiwillig: die Mitlebenden wurden überzeugt. Sie haben der Nachwelt, als Andenken eines nach außen leichten Jahrhunderts, des achtzehnten, gerade Werther und Manon überliefert. Beide beschwert ihre unstillbare Begierde zu leben, nichts stillt sie, nur der frühe Tod. [...]

Der Freiheitskrieg der Deutschen hat sich bei ihnen, in ihnen, für ihr Gemüt und ihre Geschichte nachhaltig ausgewirkt: Seine Folgen halten bis zur Stunde an. Weder der dreißigjährige des 17. Jahrhunderts noch die zwanzigjährigen Kriege Friedrichs des Großen hinterließen vergleichbare Spuren.

Es blieb, beiläufig achtzig Jahre, der Respekt vor Rußland. Es wurde übernommen der Begriff Napoleon, als die sieghafte Macht schlechthin. Besiegt, gestürzt, wuchs er insgeheim und beständig, nistete sich ungenannt, kaum mehr bewußt, in Deutschland dennoch ein – bis zur Nachahmung, bis den Deutschen ihn zu wiederholen möglich schien. Ungeheuerlicherweise schien es ihnen auch erlaubt. Sie hatten inzwischen vergessen, moralische Werte mitzuzählen. [...]

Wenn nicht das Auftreten des Völkerbefreiers, sondern seine Vertreibung das Ereignis unter allen gewesen wäre, hätte nach seinem Abgang das Lebensgefühl nicht dermaßen herabgesetzt sein dürfen. Das aber war es. Das deutsche Lebensgefühl ist damals nicht, wie das französische, angegriffen gewesen durch die Überanstrengung der Nation während eines Vierteljahrhunderts, durch Menschenverluste, proportionell unersetzlich. Der deutsche Freiheitskrieg war umsonst. Er hat nichts gekostet, außer der besseren Zukunft, die ohne ihn bestimmt schien. Der deutsche Sieg über Napoleon, insoweit er deutsch war, trug in sich seine Strafe. »Der Mann ist ihnen zu groß«, hatte Goethe gesagt, und er hat recht behalten.

Deutsche Zeitgenossen, die keine Freude an der vergeblichen Befreiung fanden, sind kaiserlich gesinnt gewesen. Sie taten sich weniger Zwang an als die anderen. Der Anschluß des kontinentalen Westens an Frankreich war als Gedanke vernünftig, als Unternehmen erträglich, um nicht beglückend zu sagen. Man hatte vor Augen, daß die Gegenwart der verkörperten Revolution, ihr Anblick, ihr Beispiel die Nationen nicht ausstrich, nicht schwächte. Im Gegenteil, erst der Kaiser hat sie verwirklicht. Das 19. Jahrhundert, wie es dann geworden ist, seinen mächtigsten Antrieb, die nationale Idee, hat es immer noch von ihm.

Ein Jahrhundert umdenken wollen ist müßig, vergebens vermißt man sich gegen das wirklich Geschehene. Wahr bleibt, daß die Vereinigten Staaten des Westens greifbar nahe, daß sie damals in freundlicherer Gestalt angeboten waren als sie es morgen sein werden nach dem Sieg über Hitlerdeutschland. Wenn die einen entmachtet sind, die Potenz der anderen gelitten hat und als Vermächtnis dieses Zeitalters nur Elend und Mißgefühle bleiben, dann soll ein friedlicheres, geeintes Europa nunmehr in Aussicht stehen. Leichter und schöner, um einen längst unmöglichen Gedanken dennoch zu fassen, war das Reich des Okzidents, da jemand von sich sagen konnte: »Ich setze nicht die Könige von Frankreich fort. Ich bin der Nachfolger Karls des Großen.« [...]

Mit voller innerer Aufrichtigkeit, aber wo ist sie in Kriegszeiten, hätten alle voraussehen können, was die Räumung des nationalen Bodens wirklich bringen werde anstatt der Freiheit der Nation. Als er den Herrn los war, brach der König von Preußen sein Versprechen, eine Verfassung zu geben. Erstaunlich wäre gewesen, wenn er es gehalten hätte. Der Betrug an einem Volk, das gekämpft hatte, ist der preußischen Monarchie vorbehalten worden, solange sie noch bestand, hundert Jahre. Das waren mithin hundert enttäuschende Jahre, ihre Erfolge und Mißerfolge beiseite. [...]

Die deutsche Nachkriegsliteratur ist sichtlich der Befreiung von Napoleon zu danken; daher wird an der Romantik nichts derart wahrgenommen, als folgte sie zeitlich auf die große Dichtung des 18. Jahrhunderts. Die Klassiker haben befestigt und erhalten, was den Deutschen je zu eigen war an Form und Vernunft. Sie fassen Deutschland zusammen, will meinen: aus seiner Geschichte, dem Leben der Nation in allen Zeiten erwecken sie die guten Momente, bei ihnen sieht Deutschland normal, edel sogar sieht es aus; man erfährt, so könnte es sein. Wäre nicht jeder dieser Autoren eine erlesene, einmalige Blüte des Bodens, und nicht dieses Bodens allein, alle zusammen würden verführen, das Beste zu erwarten von Deutschland.

Die Romantiker haben den Tatbestand richtiggestellt. Ungestalt und das Unterbewußte herrschen vor – nicht aus innerem Zwang allein, auch gewollt, in Flucht aus äußerer Not. Man hält es ja nicht aus, unter staatlichen, gesellschaftlichen Umständen, die von den Schlägen der Französischen Revolution schon niedergebrochen, nachher zurechtgekramt und einer schwachen Nation doch wieder aufgehalst sind. Um die Ehre der besser unterrichteten Intelligenz zu retten, spielt man verrückt oder ist es wirklich. Man tut mystisch, mit dem Tod auf du und du, – um vor dem Sterben aufzuschreien: nur leben!

Man erzählt Märchen, lustig leichtflüssig, aber die Laune ist erheuchelt, die Verlegenheit wäre schrecklich, müßte man ein einziges Mal die unverblümte Wirklichkeit hinschreiben – noch schlimmer: ein wahres Wort über Dinge, die da kommen. Die deutschen Romantiker sind keine Analytiker (bis auf einen) und werden niemals Propheten. Die Atmosphäre der Zeit ist ihnen zu dick, um hindurchzublicken. Sie wissen sich nicht zu helfen gegen all die Heuchelei, sind selbst auch eingefangen. [...]

Das Lebensgefühl der deutschen Romantiker ist das niedrigste, das eine Literatur haben kann. Das kommt nur vor, wo, mit oder ohne Nötigung, falsch gehandelt wurde. Eine Mannschaft von Romanciers, die soziale Tatsachen darstellt, kann meinen, die nächste équipe werde für ihre Zeit dasselbe tun. Hundert Jahre ist dies wahr gewesen, in Frankreich wie in Rußland. Aber Zaubermärchen, altdeutsche Maskierung, künstliche Verzückung, ein grundloser Tiefsinn, wer soll das fortsetzen. Diese Dichter schreiben wie die letzten Menschen.

Goethe, der große Liebhaber des Lebens, mochte die ganze Gesellschaft nicht. Er nannte sie krank. Sie standen aber für ein Land, das nicht gesund war, es auch nie wieder ganz geworden ist. [...]

Das Lebensgefühl hatte in Deutschland seinen niedrigsten Stand gehabt sogleich nach dem Sturz des Kaisers Napoleon. Es steht niedriger als damals seit diesem Krieg, seit seinem Anfang, seit den Siegen. Mit Recht. Solange Hitler siegte, unterlag Deutschland.

21 April 2021

Hebbel

 Man spricht nicht mehr von ihm. Seine Werke sind nicht aktuell, sein Dichtertum nicht so bedeutend, dass seine Werke Weltliteratur geworden wären.

Aber seine Tagebücher [ein nicht ganz charakteristisches Beispiel] zeigen einem Menschen, der mit äußerster Kraft an sich arbeitet, Autodidakt, der sich zu Hohem berufen fühlt und der viele Schwierigkeiten durchsteht auf dem Wege. Manchmal zufrieden, selten euphorisch oft recht verzweifelt (vergleiche Golo Mann sieh unten).

Golo Mann über Hebbelss Tagebücher:
Mann  verweist darauf, dass er selbst begonnen habe, "ein Tagebuch zu führen mit der Überschrift 'Im Stil Hebbels.' - seines war besser. 
Übrigens trotz aller von außen kommenden Erniedrigungen, der Armut, der Hilfe unerfreulicher Gönner oder Gönnerinnen, entschieden stolzer. Sogleich die ersten Sätze:
'Ich fange dieses Heft an nicht allein meinem künftigen Biografen zu gefallen, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiss sein kann, dass ich einen erhalten werde. Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein und diejenigen Töne, welche mein Herz angibt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten aufbewahren.'
Nicht eigentlich Notizen am Abend oder am nächsten Morgen über des Tages Tun und Geschehen. Selten Datierungen; immer dort, wo lange Partien aus eigenen Briefen abgeschrieben werden; sonst nur gelegentlich. Neue Freunde oder Bekannte werden nicht eingeführt, nicht einmal sein schlichter Münchner Bettschatz; sie erscheinen da, wo sie ihm etwas des Erinnerns Wertes sagen, wo es etwas Komisches, Groteskes, Ernstes, Trauriges über sie zu notieren gibt. An einem Münchner Jahresende erwähnt er, im Laufe des Jahres Schelling und Goerres kennen gelernt zu haben; wann das war, und welchen Eindruck diese beiden höchst merkwürdigen Gestalten auf ihn gemacht hatten, erfahren wir nicht. [...] Jugend, zumal einsame, ist die Epoche des Philosophierens, im Gespräch mit anderen oder mit sich allein. Er liest keine Philosophen von Profession, nur solche, die, wie Lichtenberg, auf eigene Faust grübeln – 'Originalphilosophen' nannte man sie im 18. Jahrhundert. Genau dies ist er selber.' Alles kann man sich denken, Gott, den Tod, nur nicht das Nichts.'
Mit sich selber beschäftigt bis zum Extrem, manchmal zufrieden und dankbar euphorisch nie, oft zweifelnd bis zur Verzweiflung – die Quellen als eines Unglücks sei sein Dichtertalent, zu bedeutend um unterdrückt zu werden zu gering, um ihn zu tragen – immer angespannt, immer äußere und innere Erlebnisse mit dem selben Willen zum Wissen analysieren, hält er auch seine nächtlichen Träume für wert, festgehalten zu werden. Und seine Phantasie ist die stärkste und buntes der im Traum.
Das Politische im engeren Sinne interessiert ihn kaum. Freilich aber kann er nicht umhin, über das historische Stück Zeit nachzudenken, mit ihm er wird zu Rande kommen müssen: noch immer die nach revolutionäre, nach napoleonische Zeit. Ein Zeitalter der Ruhe, meint er. Auch: ein Zeitalter der Massen, nicht mehr der einzelnen, welche Letztere es umso schwerer haben, sich zu finden und sich durchzusetzen. Übrigens ist er selber durchaus kein Revolutionär, nicht wie sein Jahrgangsgenosse, Georg Büchner."
(Golo Mann in: Die ZEIT 17.12.1982)

Zitate aus den Tagebüchern 
(in Klammern die fortlaufende Nummerierung der ersten Ausgabe)
"Ich fange dieses Heft an nicht allein meinem künftigen Biografen zu gefallen, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiss sein kann, dass ich einen erhalten werde. Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein und diejenigen Töne, welche mein Herz angibt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten aufbewahren. [...]" (1)

"Duften ist das Sterben der Blume." (1909)
"Durch den Dichter allein zieht Gott einen Zins aus der Schöpfung, denn nur dieser gibt sie ihm schöner zurück." (2024)
"Das Weib, sobald es ein Kind hat, liebt den Mann nur noch so, wie er das Kind liebt." 
(2052)
"Selbstverachtung ist nur versteckte Eitelkeit. [...]" (2187)
"Die Welt ist Gottes Sündenfall." (3031)
"Die allgemeinen Schmerzen als persönliche fühlen: großes Unglück!" ((3672)
"Schlaf ist genossener Tod." (3723)

18 April 2021

Augustus

 " 'Weder in Raum noch Zeit setze ich den Römern eine Grenze. Ein Reich ohne Ende habe ich Ihnen verliehen', erläutert Jupiter seiner Tochter Venus und fügt hinzu: 'Krieg wird ruhen und die verrohte Welt neigt sich zur Milde.' So Vergil in seiner Äneis. [...]" 

" 'Friede' bedeutete Schweigen der Waffen innerhalb und Vormarsch der Legionen außerhalb der Grenzen. Beides war untrennbar. Das eine gab es nicht ohne das andere, und um beides zu verwirklichen hatten die Götter Rom auserwählt.

Gefunden war damit eine Legitimationsformel, die eine durch Bürgerkrieg und Not gepeinigte Welt dankbar begrüßte. Dazu bot Tacitus seinen Lesern eine eindrucksvoller Geschichte: Der Feldherr Cerialis habe aufständische germanische Häuptlinge gedrängt, einen Blick in die Zukunft zu tun und ihnen vorgeführt, was sie dort sehen würden, wenn Rom nicht mehr wäre: 'Was kann es dann anderes geben als wechselseitige Kriege aller Völker?… Das Imperium ist ein Gebilde, dass nicht zerstört werden kann ohne das Verderben derer, die daran rütteln'. "
(S. 133)

Die drei Dogmen
"Das erste Dogma dieser göttlichen Prophetie erklärte Pax, die personifizierte Göttin des Friedens, zum Sinnbild des ganzen Zeitalters [...] 
Das zweite Dogma, das die Entscheidung Jupiters mit Leben füllte, sprach von der Zivilisation: Sie, so betonten Politiker und Literaten, könne es nur innerhalb der Reichsgrenzen geben; sie eigne weder sesshaften Barbaren noch umherschweifenden Nomaden. Wenn Menschen wie etwa die Friesen glaubten, von Rom beherrscht zu werden bedeute Sklaverei, so schulde man ihnen nichts außer Mitleid, erläuterte Plinius." (S. 133)
"Das dritte Dogma sprach von der Gottesfurcht: 'Alle Völker', verkündete Cicero, 'übertreffen wir an Religiosität und durch die Einsicht, dass alles dem Regiment und der Lenkung der Götter anheimgestellt ist.' Seinen Zeitgenossen sprach er aus dem Herzen. Sie glaubten an die Götter und zweifelten nicht, dass diese die Befolgung ihres Willens mit der Weltherrschaft belohnten. So deuteten sie die Geschichte Roms als göttliche Offenbarung und huldigten der Idee, die Himmlischen hätten Rom als Dank für die ihnen erwiesene Verehrung mit dem Imperium belohnt" (S. 134)

Werner Dalheim: Die Herrschaft des Augustus und die Geburt Jesu. Das Augustinische Imperium im Spiegel der christlichen Überlieferung, in: Augustus. Herrscher an der Zeitenwende,  herausgegeben von Marietta Horster und Florian Schuller 2014, S.133-143)

14 April 2021

Thomas Mann: Joseph und seine Brüder

 Wie Abraham Gott entdeckte

Gott war mächtiger als alle anderen. Er hatte alle besiegt. Und weil Abraham (Abram/Abiram) ihn entdeckt hatte, war er mit ihm auf Du und Du. ("Sie waren Zwei, ein Ich und ein Du, das ebenfalls 'Ich' sagte und zum anderen 'Du'." S.318) So konnte er auch mit Gott verhandeln, unter welchen Bedingungen Sodom und Gomorra zerstört werden sollten oder nicht. (Th. Mann: Joseph und seine Brüder, Fischer einbändige Ausgabe 1964, S.314ff.)

Lange her, dass ich das mal durchgelesen habe. Den 1. Band angefangen 1963, 1964 auszugsweise bis zur Wiedererkennungsszene. Fürs Studium dann 1964 erstmals der Zauberberg, der aber vollständig und ziemlich genau, bis 1965 zwei- oder teilweise dreimal.

Einen besseren Zugang zu "Joseph und seine Brüder" habe ich durch die Lesung von Gert Westphal im Radio gewonnen, die ich später dann zu großen Teilen auf Kassette besaß.


11 April 2021

Fanny Lewald: Wandlungen 3. Band, Kapitel 6: Das Gespräch der Freunde, Kapitel 7 Auguste und Friedrich, Kapitel 8 Auguste, Sidonie, Friedrich und Erich

Sechstes Kapitel 

[...] »Ich sagte Dir nicht, daß ich unsere Trennung beabsichtige, ich sprach nur aus, daß ich an die Möglichkeit eines solchen Schrittes gedacht habe in mancher schweren Stunde!« und wieder schwiegen die Freunde.

Erich hatte Recht gehabt, sie standen an dem Scheidewege, der sie Beide trennen konnte. Grade darum aber fühlten sie, wie theuer sie einander waren, wie lange und wie mächtige Erinnerung sie verkettete, wie das Beisammensein der letzten Jahre sie noch fester verbunden hatte, und wie sie einander in Zukunft fehlen würden.

»Wovon denkst Du zu leben? Stehen Deine Plane für die Zukunft fest, wenn man Dein Entlassungsgesuch annimmt?« fragte Erich, der eine liebevolle Genugthuung darin empfunden hatte, den Freund in seiner Nähe und durch seine Hülfe vor Nahrungssorgen geschützt, in relativem Wohlstande zu wissen.

»Ich habe vor, das ererbte Capital für den Bedarf der nächsten Jahre zu verwenden. Sobald ich frei bin, denke ich nach Italien, nach Rom zu gehen.« »Nach Rom? was willst Du dort?« »Ich will Geschichte studiren und Archäologie! Gelingt es mir, diese Studien, wie ich es wünsche, für die Gegenwart nutzbar, für die Nichtstudirten zugänglich zu machen, bin ich im Stande, die Kenntniß der alten Welt und ihrer Kunst zu popularisiren, wie ich's möchte, so hoffe ich der Menschheit damit manches Werkzeug zur Ausrodung des Urwaldes in die Hand zu geben, an dessen Stätte einst unser Tempel stehen soll!« »Und Deine Frau?« fragte Erich. »Auguste soll mit mir gehen!« antwortete Friedrich. »Grade für sie, für die Zukunft unserer Ehe, erwarte ich viel von einer solchen Reise. Der Anblick einer ihr neuen Welt, die großen und mächtigen Eindrücke, die ihr Italien bieten wird, müssen Augustens Sinn erweitern. Das Alleinsein der Reise wird uns näher zu einander führen. Auch in diesem Punkte ersehne ich die Ortsveränderung, und mich dünkt, daß Augustens Entfernung auch Deiner Ehe ersprießlich sein werde.« [...]

Friedrich fühlte sich frisch und jung, Erich traurig und alt, als sie sich an dem Abend trennten. 

Siebentes Kapitel

Frei geworden durch die Mittheilung gegen den Freund, hatte Friedrich beschlossen, gleich am nächsten Morgen Auguste in seine Absicht einzuweihen, obschon ihm davor bangte. Sie saß am Frühstückstische, als er nach einem Gange durch den Garten bei ihr eintrat. »Hast Du gesehen,« rief sie ihm entgegen, »daß die Mairöschen heraus sind? Ich ging früh nach den Radiesbeeten, und fand den Garten wie verzaubert seit gestern. Alles ist voll Rosen!« Sie sah heiter aus, hatte Rosen in einem Glase Wasser auf den Tisch gestellt und selbst einige Rosen an die Brust gesteckt. »Ja!« sagte Friedrich, »auch mir ist die Schönheit unseres Gartens selten so entgegengetreten. Er ist in den drei Jahren ein ganz anderer geworden. Man arbeitet wirklich einen Theil seines Herzens hinein in solch kleinen Besitz. Es hat mich gerührt, als mir heute das Stückchen Erde in so blühendem Dank entgegen schimmerte!« [...]

Auguste und Friedrich

[...] Sie ließ ihn nicht enden. »Wenn Du daran dächtest,« rief sie, »von hier fort zu gehen, so würde ich Dich für den größten Thoren erklären; es sei denn, daß Du irgend eine Superintendentur, oder sonst eine sehr bedeutende Stellung in der Stadt erhieltest, bei der man neben besserem Gehalte eine Position hätte. Aber sonst – sonst wäre es ein Wahnsinn von hier fort zu gehen!« [...]

»Was ist mir Italien?« rief sie aus, »was sind mir seine todte Pracht und seine große Vergangenheit? Hier bin ich heimisch, hier will ich bleiben. Und Friedrich selbst, was will er dort? Was hofft er dort Tröstliches zu finden, das er hier nicht hätte? Was kann er mir dort bieten? Muß ich denn heimathlos werden, muß ich auch noch Mangel und Nahrungssorge kennen lernen, nun denn! so will ich sie doch lieber hier, lieber in der Nähe von Menschen erdulden, die mich nicht verlassen werden! Nur nicht im fremden Lande, unter fremden Leuten, deren Sprache man nicht einmal kennt, von Ort zu Ort wandern, unter dem Drucke täglicher Noth und Sorge!« Ihre Thränen erstickten sie fast, sie schluchzte laut. Mit der zügellosen Phantasie der Unbildung, die vor jedem unerwarteten Ereigniß stutzig wird und sich empört, hatte sie sich die ihr bevorstehende Veränderung ihrer äußeren Verhältnisse in so übertriebener Weise ausgemalt, daß sie sich bereits landflüchtig und am Bettelstabe wähnte, weil ihr Mann seine bisherige amtliche Stellung mit einer freien Thätigkeit vertauschen wollte. Im Grunde konnte sie auch kaum anders empfinden. War sie doch selbst von Kindheit an zu dieser Denk- und Anschauungsweise angeleitet, deren Folgen sich jetzt offenbarten. So lange man die Frauen in dem Glauben erzieht, daß sie als Mädchen von den Eltern, als Gattinnen von dem Manne ein fertiges behagliches Dasein zu fordern haben, weil ihnen der Verkehr mit der Außenwelt und der Erwerb eigentlich nicht zustehen, so lange man sie in dem Wahne erhält, daß die höchste Aufgabe des Weibes in der Ehe das Sparen dessen sei, was der Mann erworben hat, so lange werden alle nicht reichen Männer, alle Männer, deren Einnahmen nicht fest gesichert sind, gerechte Bedenklichkeiten gegen die Ehe hegen, und in allen kritischen Fällen keine Stütze an ihren Frauen haben. Mit der oberflächigen Bildung, mit dem Dilettantismus in den Künsten, mit denen in Deutschland die Jugend der Frauen ausgefüllt wird, gewöhnt man sie an eine unnütze, unfruchtbare Beschäftigung, die in der Ehe meist mit einer eben so unfruchtbaren Haushaltsarbeit vertauscht wird. Es kommt aber nicht darauf an, daß der Mensch Etwas thue, sondern daß er das Vernünftige, das Nützliche thue. Und die Untüchtigkeit der Frauen, die sich mit Angst an das Amt, an die feste Einnahme des Mannes klammern, die den Mann selbst dadurch mehr oder weniger zum Sklaven seines Amtes, zum Sklaven der Regierung machen, hat mehr Antheil an der Unfreiheit unserer politischen Verhältnisse, als es bei oberflächiger Betrachtung scheinen mag. [...]

Achtes Kapitel

Auguste und Sidonie

[...] »Ich bin der Meinung, und Erich stimmt mir vollkommen bei,« erklärte die Baronin, »daß man Friedrich hindern müsse, seine Entlassung zu nehmen. Ein solcher Schritt macht so viel übles Aufsehen. Was sollen der Gemeinde die Bekenntnisse, mit denen er diesen Entschluß nothwendig rechtfertigen müßte? Die Leute denken ohnehin mehr als sie sollten, glauben weniger als ihnen unerläßlich wäre. [...]

Menschen, die sich an Streit gewöhnt haben, verlieren Maß und Ziel, sobald das erste Wort des Zwistes ausgesprochen ist. Nicht der gegenwärtige geringe Anlaß ist es, der sie dann erfaßt; die ganze Vergangenheit tritt vor sie, alle frühere Uneinigkeit wird lebendig, und bei dem gleichgültigsten Anlaß haben sie unter schwerem Leiden das ganze Unglück ihres Lebens durchzukämpfen. Mit einer Erbitterung, wie sie sie niemals noch empfunden hatten, mit dem festen Vorsatze von beiden Seiten, das eigene Recht, den eigenen Willen zu behaupten, erhoben sie sich von dem Mahle; Auguste, um Sidonien mitzutheilen, daß sie, und um welchen Preis sie Friedrich nicht begleite, Friedrich, um das Entlassungsgesuch an das Ministerium aufzusetzen. Indeß noch hatte er es nicht beendet, als Erich bei ihm eintrat. Er bekannte offen, daß er in Folge einer Unterredung mit Auguste komme, und während er diese mit Wärme vertheidigte und beklagte, versuchte er es nochmals, den Freund zum Ueberlegen seines Entschlusses, ja zum Bleiben in seinem Amte zu bestimmen. »Ich habe Dir gestern zugegeben,« sagte er, »daß Du gehen, daß Du Deiner Ueberzeugung folgen müssest. Es ist aber bei lebhaften Menschen eine eigene Sache um die Ueberzeugungen. Ich selbst, weniger erregbar als Du, habe große Sinnesänderungen an mir erfahren, habe an Dir, mein Freund, solch vollständigen Wechsel des Glaubens und der Ueberzeugungen erlebt, daß ich mißtrauisch geworden bin gegen die Beständigkeit des Menschen überhaupt. Laß mich also nochmals die Bitte wiederholen, Du mögest nicht in augenblicklicher Erregung einen letzten Entschluß fassen, der Dich gereuen könnte.« [...]

Da Friedrich schwieg, wie es seine Art war, wenn er lebhaft nachdachte, rief Erich: »Und was wird damit gewonnen sein, wenn Du dem Kinde, dem unfertigen Menschen den Glauben an einen persönlichen Gott zerstörst?«

»Fühlst Du denn nicht, fühlt Ihr Alle nicht,« sagte Friedrich, »wie undenkbar ein Gott ist, den Ihr in Eurer Endlichkeit, mit Euren endlich beschränkten Eigenschaften ausgestattet habt? Fühlt Ihr denn nicht, wie schwer Ihr Euch versündigt an dem unerfaßbaren Principe, das Alles schafft und hält, wenn Ihr diesem Allwaltenden menschliche Eigenschaften beilegt? Ihr sprecht von einem liebenden, von einem rächenden, von einem lohnenden und strafenden Gotte in ganz persönlichem Verhältniß zu Euch selbst. Und über und in uns Allen lebt die Kraft, die unbegreifbare Werdekraft, die Nichts gemein hat mit Liebe und mit Haß, mit Lohn und Strafe, und die Ihr profanirt, indem Ihr sie verkörpert!«

»Aber glaubst Du,« fiel ihm der Baron in's Wort, »glaubst Du, der Du selbst Dich zu klein nennst, die Werdekraft zu begreifen, daß das Kind und der Ungebildete diese kalte Abstraction erfassen, sich zu eigen machen können? Die Phantasie des Kindes, des Naturmenschen ist plastisch. Nimm ihm das Bild, unter der er das Allmächtige verehrt, nimm ihm die schöne Vorstellung eines allliebenden Vaters, die das Christenthum uns gegeben hat, und seine Phantasie wird sich leicht ein ungeheuerliches Phantom erschaffen aus dem Wesen, dem er sich hülflos gegenüber sieht. Es ist für den reifsten Menschen schwer, sich verständnißlos vor den Endfragen unseres Werdens und Vergehens zu bescheiden. Und Du hättest den Muth, eine solche Entsagung dem Volke aufzuerlegen? Du hättest den Muth, dem Volke, von dem Du täglich gezwungen bist, die nothwendige Unterwerfung unter eine Autorität zu fordern, soll es nicht wüster Verwahrlosung und anarchischer Zerstörung anheim fallen, Du hättest den Muth, einem solchen Volke den Glauben an die höchste Autorität zu nehmen, den Glauben an den Allmächtigen? – Bedenke das, Friedrich!«

»Ich habe Alles bedacht! Alles erwogen!« antwortete Friedrich ruhig. »Grade weil ich fühle, daß es Frevel wäre, an den Glauben des Volkes, bei seinem jetzigen Bildungsgrade, zerstörend Hand zu legen, darum muß ich gehen. Ich habe versucht, mich mit mir selbst abzufinden, ich habe vermitteln wollen. Ich wollte die Kinder, das Volk nicht in Disharmonie setzen mit der Welt, in der sie leben. Ich sprach ihnen von einem höchsten Wesen, aber ich gab ihm weder menschliche Eigenschaften wie Liebe und Rache, noch konnte ich ihn als einen Belohner oder Strafer darstellen. Ich sprach von dem Allgeiste, der parteilos und ruhig wirkend über dem All schwebt, der dem Menschen die volle Freiheit, die alleinige Verantwortlichkeit für seine Handlungen gelassen hat, aus denen Glück und Unglück, Lohn und Strafe für ihn erwachsen –«

»Nun, und was war die Folge davon?« fragte der Baron eifrig.

»Die nächste Kirchenvisitation, Du hast es ja mit mir erlebt,« antwortete Friedrich, »die Kirchenvisitation ermittelte schnell, daß den Kindern der Begriff einer Vorsehung, die Vorstellungen von Lohn und Strafe im Jenseits, vom Teufel und von der Hölle, von der Erbsünde und von allen anderen Dogmen fehlten, und ich erntete die mündliche Zurechtweisung des Superintendenten, den schriftlichen Tadel des Consistoriums dafür. Es giebt keine Vermittlung zwischen Glauben und Unglauben, keine, Erich! – Und ich gehe, weil ich erkenne, daß der Einzelne nicht vorschnell zerstören soll, was für Millionen seiner Mitlebenden noch das Heiligste und Höchste ist!«

Es entstand eine lange Pause. Endlich sagte der Baron: »Ja! Du kannst nicht bleiben, Du mußt fort! Aber bringe mir ein Opfer, das mit Deiner eben ausgesprochenen Ueberzeugung leicht vereinbar ist. Es kann einem Manne von Deiner Einsicht nicht darauf ankommen, durch ein öffentliches Bekenntniß Aufsehen und Proselyten im Volke zu machen, denn auch das wäre eine Gewaltsamkeit. Die religiösen Fragen zittern in der Luft, Ronge und Wislicenus haben die Gemüther aufgeregt. Mache Dein Fortgehen zu keiner Demonstration. Verweile noch unter uns, laß die Leute sich an den Gedanken Deiner Reise gewöhnen. Du nützest mir damit. Es ist ein Freundschaftsdienst, den ich von Dir begehre.« [...]

»Verweile noch!« rief der Baron mit der leidenschaftlichen Wärme seiner ersten Jugend, »prüfe, bedenke Alles. Nimm einen Urlaub für's Erste, gehe nach Italien – aber laß mir die Hoffnung, daß eine Sinnesänderung für Dich möglich ist, und daß Du uns erhalten bleiben kannst!«

»Guter, treuer Freund!« sagte Friedrich, »täuschen wir uns nicht –«

»So gönne mir Zeit,« fiel ihm der Baron in's Wort, »mich an den Gedanken zu gewöhnen, Friedrich! – und gehe unbekümmert. Die Sorge für Deinen Stellvertreter und für Auguste bleiben mein, bis Du zurückkehrst!«

Friedrich hatte keine Worte. Stumm drückte er dem Freunde die Hand, dann trennten sie sich für den Tag

(Fanny Lewald: Wandlungen 3. Band Kapitel 6, 7 und 8)


07 April 2021

Juli Zeh: Über Menschen - Clash of Civilizations zwischen Berlin und Bracken

 Juli Zeh: Über Menschen (Perlentaucher) 2021

Verlagsseite mit Leseprobe, Leserstimmen, Interview, Pressestimmen, Video

Sehr konstruiert und lebensnah. Alle aktuellen Probleme in "Bracken" durchgespielt. 

Von "Unterleuten" zu "Über Menschen".

Jochen-der-Rochen, Robert, Gustav. Dora wirbt für nachhaltige Gutmensch-Jeans.

"Die Welt verlangte 3.900 Einkäufe, ansonsten würde sie auf ihrem Untergang bestehen." (S.53)

"In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben. Wirst du dich dran gewöhnen müssen.

Dora muss wieder an Robert denken. Ihm hat sie tatsächlich einmal vorgeworfen, dass er sich über andere Menschen erhebt. Dass er sich für einen Supra-Menschen hält. Vielleicht nicht direkt in Nietzsches Sinn. Aber für einen, der mehr weiß, mehr kann und mehr darf als die anderen. Weil er im Besitz einer höheren Wahrheit ist. Robert ist wütend geworden. Er hat gesagt, dass er nur das Beste für die Menschen will. Warum Dora genau darin ein Problem sah, hat er nicht verstanden." (S.128)

"Während sie der Hündin zusieht, begreift sie mit einem Mal, dass der Clash of Civilizations tatsächlich existiert. Nur nicht zwischen Morgen- und Abendland. Sondern zwischen Berlin und Bracken. Zwischen Metropole und Provinz, Zentrum und Peripherie." (S.132)

Teil eins: Rechte Winkel
Bracken 7 
Robert 20 
Gote 37 Hier wird das Symbol der Mauer eingeführt (S.39)
Müllinsel 48 Gustav 56 Pfandflaschen 65 R2 – D2 76  Pflanzkanacken 85 Taschenlampe 93 Bus 99 Center 103 Axel 107 Tom 113
Teil zwei: Saatkartoffeln
AfD 123 Jojo 131 Brandenburg 143 Steffen 149 Mon Chérie 155 Franzi 164 Horst Wessel 171 Rochen 182 Krisse 187 Hortensien 190 Soldaten 196 E-Mail 200 Farbe 205 Sadie 212 Museum 223 Messer 231 Über Menschen 236
Teil drei: Raumforderung
Au revoir 247 Skulptur 252 Vater, Tochter 261 Herr Proksch 268 Raumforderung 275 Frühkartoffeln 284 Einhorn 294 Fleischlappen 102 Pudding 311 Pieps 317 Gebrüll 325 
Floyd 331 Blühende Freundschaften 342 Fest 349 Schütte 359 Hochsitz 369 
Power Flower 374 Stau 379 Proksch ist tot 386 Regen 398

sieh auch: Corpus Delicti (2009)  Unterleuten (2016) Neujahr (2018)

03 April 2021

Stendhal: Die Kartause von Parma

Zitate: 


8. Kapitel

"[...] Fabrizio wollte mit ihm sprechen, nicht nur weil er ihn für einen klugen Mann hielt, sondern auch weil er in seinen Augen ein treuer ergebener Freund war. Zweck und Ziel dieses Abstechers und die Empfindungen, die unseren Helden während der 50 Stunden bestürmten, so lange seine Reise währte, sprachen dermaßen gegen jeglicher kühlen Überlegung Hohn, dass es zweifellos im Hinblick auf unsere Erzählung besser gewesen wäre, wir hätten sie unerwähnt gelassen. Ich fürchte, Fabrizios abergläubische / Veranlagung könnte ihm das Wohlwollen des Lesers verscherzen. Doch war es schließlich nun einmal so. Weshalb sollten wir ihn auch beschönigen, und zwar ihn eher als andere? Auch den Grafen Mosca und den Fürsten habe ich ja nicht im geringsten schmeichelhaft geschildert.

Fabrizio also – da denn nun alles gesagt werden soll – begleitete seine Mutter bis zum Hafen von Laveno auf dem linken Ufer des Lago Maggiore am österreichischen Gestade, wo sie um acht Uhr abends an Land stieg. [...]
Fabrizio hatte das Herz eines Italieners. – Ich bitte deswegen für ihn um verzeihende Nachsicht. Diese abträgliche Eigenschaft, die ihn weniger liebenswert wird erscheinen lassen, bestand vornehmlich in Folgendem: er hatte nur ab und zu Anwandlungen von Eigenliebe und Selbstgefälligkeit, und schon der bloße Anblick erhabener Schönheit stimmte ihn weich und nahm seinem Herzweh den bitteren und schmerzlichen Stachel. So blieb er auf dem Felsen sitzen, und da er sich nicht weiter vor den Landjägern in acht nehmen musste, weil ihm die finstere Nacht und die Stille weit und breit Schutz boten, traten lustvolle Tränen in seine Augen und er erlebte hier, ohne dass er von sich aus viel dazu tat, die seligsten Augenblicke, die er seit langem ausgekostet hatte." (S.160/61) Stendhal: Die Kartause von Parma 

Diese Reflexionen, insbesondere die ironische Ansprache an den Leser und der Wechsel zwischen dem Erzähler-Wir und Erzähler-Ich - interessieren mich weit mehr als der Gang der Handlung. Ein Grund, weshalb ich es nicht fertiggebracht habe, wesentlich über di erste Seite hinaus zu lesen, wohl aber das Vorwort zweimal. Das mag für die Qualität des Autors sprechen, hindert mich aber daran, den Text so zu lesen, wie er es geplant hat. Freilich konnte er noch nichts über die Wikipedia wissen, die mich schon über die Handlung informiert hat. 

8. Kapitel
 "Fabrizio beschlich ein tiefes Unbehagen. Die schöne Anwandlungen von männlicher Tugend, die eben doch sein Herz hatte höher schlagen lassen, wandelte sich in die gemeine Freude, die man empfindet, wenn man an einem Raub teilhat. Ach was! sagte er sich schließlich mit den erloschenen Augen eines Menschen, der mit sich selbst hadert, da mir meine Abkunft das Recht verleiht aus derlei Missständen Nutzen und Vorteil zu ziehen, wäre es über alle Maßen einfältig von mir, wenn ich mir nicht auch meinen Anteil daran sichern wollte. Nur darf ich mir es nicht einfallen lassen, darüber öffentlich herzuziehen. Diese Überlegungen waren gar nicht so abwegig; aber Fabrizio war aus den höchsten Höhen erhabenen Glücks herabgestürzt, in die er sich eine Stunde zuvor empor getragen gefühlt hatte. Der Gedanke an seine bevorrechtigte Stellung hat er jenes allezeit so zarte und empfindliche Pflänzchen verdorren lassen, das man gemeinhin Glück heißt." (S. 165)
"Alles Wirkliche dünkte ihn noch seicht und schmutzig. Ich kann es ja verstehen, dass man die Wirklichkeit nicht gern ins Auge fasst, dann darf man aber auch nicht darüber reden oder gar urteilen. Vor allem darf man keine Einwände dagegen erheben, die sich auf das Stückwerk eigene Unerfahrung und Unwissenheit gründen.
So brachte es Fabrizio, obwohl es ihm sonst keineswegs am Verstand fehlte, nicht zustande, einzusehen, dass ein halbwegs ehrlicher Glaube an Vorbedeutungen und Vorzeichen für ihn eine Art gläubiger Religion war, ein tiefer Eindruck, den er in seiner frühesten Kindheit empfangen hatte. An diesen Glauben zu denken, bedeutete ihm tiefes Fühlen, es war für ihn ein Glück. [...] Während er aber glaubte, er überlege folgerichtig und sei der Wahrheit auf der Spur, verweilten seine Gedanke in seligem Glück bei der Erinnerung an alle die Fälle, bei denen er nach dem Vorzeichen in vollen Umfange die glücklichen oder unheilvollen Ereignisse eingetreten waren, die sie anzukündigen schienen, und dann war seine Seele von Ehrfurcht erfüllt und weich gestimmt. Er hätte einen unüberwindlichen Widerwillen gegen jeden Menschen verspürt, der solche Vorzeichen geleugnet hätte, vor allem wenn er sie sogar noch höhnisch abgetan hätte." (S. 166)
"Diese Denunziation eines aus der Art geschlagen Bruders ist der ursprüngliche Anlass zu meinem gegenwärtigen Leben. Ich kann sie verabscheuen, ich kann sie gering achten, aber schließlich hat sie /meinem Schicksal eine andere Wendung gegeben. Was wäre aus mir geworden, nachdem ich einmal erst einmal nach Novara verbannt war und aus Gnade und Barmherzigkeit beim Verwalter meines Vaters geduldet wurde, hätte nicht meine Tante ein Liebesverhältnis mit einem allmächtigen Minister gehabt? [...]
Doch er warf kaum einen Blick auf das große, alte schwarze Gebäude. Die edle Sprache dieser Architektur ließ ihn völlig gefühllos. Die Erinnerung an seinen Bruder und seinen Vater machte seine Seele jedem Gefühl für Schönheit unzugänglich. (S. 167) 

Gespräch mit dem Abbate Blanès:
"[   ] Lass dich niemals zu einer Missetat hineißen, so groß und heftig auch die Versuchung sein mag. Ich glaube, ich sehe, dass es darum geht, einen Unschuldigen zu ermorden, der sich ahnungslos dein Recht anmaßt. Kannst du die mächtige Versuchung überwinden, die freilich die Gesetze der Ehre scheinbar rechtfertigen, dann wird dein Leben in den Augen der Menschen sehr glücklich, und leidlich glücklich in den Augen der wahrhaft Weisen sein", setzte er nach kurzem Nachdenken hinzu. (S.169)

9. Kapitel
"Vom Kirchturm herab konnten seine Blicke über die beiden Seearme auf eine Entfernung von mehreren Meilen hinschweifen, und dieser zauberhaft schöne Anblick ließ ihn bald alles andere vergessen, was er sah. Er erweckte in seinem Innern die hehrsten Gefühle. Alle Erinnerungen aus seiner frühsten Kindheit stürmten auf ihn ein und nahmen alles seine Gedanken gefangen. Und dieser Tag, den er als Gefangener oben auf einem Kirchturm zubrachte, war einer der glücklichsten seines ganzen Lebens." (S.172)
"Seltsam ist das, dachte er weiter, das Vergnügen, das ich empfände, wenn ich mit ansehen könnte, wie dieser hässliche Bursche zu sämtlichen Teufeln geht, ist noch zählebiger als die flüchtige Neigung, die ich der kleinen Marietta entgegenbrachte… Sie reicht ja bei weitem nicht an die Herzogin von A… heran, die ich notgedrungen in Neapel lieben musste, hatte ich doch ihr doch gesagt, ich sei in sie verliebt. Großer Gott, wie oft habe ich mich während der langen Stunden zärtlichen Beisammenseins, die mir die Herzogin gewährte, gelangweilt! Niemals aber habe ich dergleichen in dem ärmlichen Stübchen, das gleichzeitig als Küche diente, verspürt, wo mich die kleine Marietta zweimal empfing, und jedes Mal bloß für zwei Minuten." (S. 173)

10. Kapitel
Pferderaub, danach Rückkehr nach Parma (S.179/81)