28 November 2023

Puschkin: Eugen Onegin (2. Begegnung)

Alexander Sergejewitsch Puschkin

Eugen Onegin

"[...] Eugen Onegin gilt als das moderne russische Nationalepos. [...] Der Versroman ist gegliedert in acht Kapitel (Gesänge), denen jeweils ein kurzes Zitat aus der französischen, italienischen oder antiken Literatur bzw. eines russischen Autors vorangestellt ist. Insgesamt umfasst das Gedicht 384 Strophen. Die sogenannte Onegin-Strophe baut auf dem Sonett auf. Die Strophe zu je 14 Zeilen in vierfüßigen Jamben folgt einem komplizierten und strengen Reimschema, das über das ganze Gedicht hin eingehalten wird, mit Ausnahme der Briefe Tatjanas und Onegins, sowie Tatjanas Traumes [...]" 
 (Wikipedia

»Mein Onkel tut sehr brav und bieder,

Jetzt plötzlich sterbenskrank zu sein:

So schätzt man ihn doch einmal wieder;

Gescheitres fiel ihm selten ein.

Sein Beispiel – andern eine Lehre!

Wenn nur, o Gott, die Qual nicht wäre,

Vom siechen Greis bei steter Wacht

Nicht loszukommen Tag und Nacht!

Und diese Last gemeinster Pflichten:

Solch halbem Leichnam beizustehn,

Mit Arzenei zur Hand zu gehn,

Wehleidig ihm sein Pfühl zu richten –

Da seufzt man wohl und denkt für sich:

Wann endlich holt der Teufel dich!«


2.

So machte seine bittren Glossen

In Extrapost ein junger Fant,

Dem als der Sippe letztem Sprossen

Das Glück der Erbschaft vorbestand.

Euch, die ihr Ruslan und Ludmillen

So warm empfingt mit Freundeswillen,

Sei meines Versromanes Held

Hier mit Verlaub gleich vorgestellt:

Mein Freund Onegin ward geboren

Am Newastrand, der auch wohl gar,

O Leser, deine Wiege war,

Zu deines Namens Glanz erkoren!

Einst kam auch ich dort gut zurecht –

Doch mir bekommt der Norden schlecht.


3.

 Sein Vater lebte bloß vom Borgen,

Seit der den Dienst mit Fug quittiert,

Vergaß bei Tanz und Schmaus die Sorgen –

Und war dann schließlich ruiniert.

Das Schicksal blieb Eugen gewogen:

Nachdem Madame es süß verzogen,

Gab man, weil trotzig, wenn auch gut,

Das Kind Monsieur l'abbé in Hut.

Der zage Franzmann hielt in Sachen

Des Unterrichts von Sanftmut viel,

Von Strenge wenig, mit dem Ziel,

Dem kleinen Schalk es leicht zu machen;

Ließ gehn, was irgend Zucht noch litt,

Und nahm ihn hübsch zum Stadtpark mit.


Der Jüngling ging auf einen Ball und wurde von der Schönheit von Damenfüßchen entzückt.


30

[...]       Allein

In Rußlands grenzenloser Weite

Gibt's hübscher Füßchen kaum drei Paar.

Ach, unvergeßlich immerdar

Bleibt eines mir! ... Noch heute, heute,

So ernst ich bin, verfolgt es mich,

Und selbst im Traume zittre ich.


31.

Wann nur, in welchen Wildnisbanden

Schlägst du sie, Tor, dir aus dem Sinn?

O Füßchen, Füßchen! Wo zulanden

Schwebt heut ihr über Blumen hin?

Gehätschelt in des Südens Milde,

Ließt ihr im öden Schneegefilde

Des rauhen Nordens keine Spur;

Dem wohlig weichen Teppich nur

Wart ihr gewohnt euch anzuschmiegen.

Vergaß ich blinder Schwärmer nicht

Verbannung, Heimat, Ruhm und Pflicht,

Um eurem Zauber zu erliegen?

Mein junges Glück entschwand im Blühn,

Gleich eurer Spur im Wiesengrün.


32.

Dianens Busen, Floras Wangen,

O Freunde, reizen meinen Sinn!

Und dennoch zieht mich mehr Verlangen

Zum Füßchen Terpsichores hin.

Denn, wie es Augen selig blendet

Und, Gunst verheißend, Wonne spendet,

Entfesselt es in Lust und Qual

Der Wünsche ungemeßne Zahl.

Das Füßchen lieb' ich, o Elvine,

Am Tische, vom Damast verhüllt,

Auf Wiesen, die der Lenz erfüllt,

Am Winterabend vorm Kamine,

Im glatten Ballsaal, hoch am Strand,

Auf schroffgranitner Klippenwand.


Gegen Ende des Versromans wird Puschkin auf die Füßchen zurückkommen und erklären, sie hätten zu einer Abschweifung geführt, die erst jetzt wieder durch den ordnungsgemäßen Ablauf der Darstellung ersetzt werde. Romantische Ironie, wo ich sie nicht erwartet hätte. Hatte ich doch Puschkin als ersten Höhepunkt der russischen Literatur für ihren Klassiker gehalten. (Arge Unkenntnis)

Puschkin gilt mit seinem Gesamtwerk und insbesondere mit dem Eugen Onegin als Begründer der russischen Literatursprache.[4] Um 1820 war die Verkehrssprache der russischen Oberschicht Französisch, amtliche und wissenschaftliche Texte wurden in der Regel in französischer Sprache geschrieben, kirchliche und weltliche russische Texte bis ins frühe 19. Jahrhundert in einem Kirchenslawisch, das zu Puschkins Zeit schon nicht mehr allgemein verständlich war. Kinder des Adels, wie Puschkin und Onegin selbst sowie Tatjana und Olga Larina, hatten französische Erzieher oder Sprachlehrer. Russisch lernte Puschkin von seiner Kinderfrau und perfektionierte es in der Zeit seiner Verbannung im Umgang mit der bäuerlichen Bevölkerung." (Wikipedia)


"Erzählt wird der Roman aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers, eines „Freundes und Bruders“ Onegins. Puschkins Skizze "Selbstporträt mit Onegin am Ufer der Newa" entstand schon, bevor das erste Kapitel in St. Petersburg gedruckt wurde, und Reinhard Lauer interpretiert sie als „bildliche Realisierung der künstlerischen Gesamtstruktur des Romans.


Der moderierende Autor und sein problematischer Held waren gleichberechtigte Instanzen im Versroman, die einander kannten“.[2]

Wie bei Sterne oder Diderot begleitet und interpretiert der Erzähler ironisch die Handlungen seiner Personen, spricht den fiktiven Leser an, räsoniert mit ihm und schweift immer wieder vom Faden der Erzählung ab. Er ergeht sich in allerlei Exkursen über die unterschiedlichsten Themen, die feine russische Gesellschaft und deren Konventionen, die Literatur im Allgemeinen und die französische im Besonderen, über die Probleme mit den Defiziten der russischen Sprache beim Schreiben seines Romans bis hin zu seinen an Fetischismus grenzenden Lobreden auf die Schönheit des weiblichen Fußes. Eingeschoben in den Text sind ganze Gedichte und lyrische Naturbeschreibungen. Der Roman steckt voller Zitate und Referenzen russischer Autoren, europäischer Philosophen und Literaten und voller Anspielungen auf die aktuelle russische Politik, die selbst Nabokov in seinem zweibändigen Kommentar zum Roman nicht alle entschlüsselt hat.[3]"(Wikipedia)


Onegin wird nach seiner stürmischen Jugend gesetzter:


37.

Nein, sein Gefühl war bald erstorben,

Die bunte Welt erschien ihm leer;

Und, die er sonst so heiß umworben,

Die Schönen reizten ihn nicht mehr:

Er war es satt, genarrt zu werden.

Auch Freundschaft schuf ihm nun Beschwerden,

Denn ewig konnte man doch nicht

Zum Beefsteak oder Nachgericht

Champagner durch die Kehle jagen,

Und auf Verlangen obendrein

Mit schwerem Kopf noch geistreich sein;

Ja, sonst bereit, sich gleich zu schlagen,

Selbst Ehrenhändel ließ er nun,

So Degen wie Pistole, ruhn.


38.

 Ein Leiden, welches aufzuklären,

Obschon verwandt mit Englands Spleen,

Die Ärzte längst verpflichtet wären,

Kurz: Rußlands Trübsinn hatte ihn

Seitdem bedenklich in den Krallen.

Sich aber einfach totzuknallen,

Das, Gott sei Dank, mißfiel ihm just;

Nur schwand ihm jede Lebenslust.

Und nun erschien er auf den Festen

Gleich Ritter Harold eisig stumm

Und blieb für Tanz und Spiel ringsum,

Für holde Seufzer, zarte Gesten,

Skandalgeschichten, Spott, Bonmots

Vollkommen kalt und teilnahmslos.


"Puschkins Gedicht ist von maßgebenden Literaturkennern schon früh als eine Art Enzyklopädie, „Enzyklopädie des russischen Lebens“ (Belinskij),[6] „literarische Enzyklopädie“ (Fennel, nach Johnston etc.) erkannt worden. Die Hauptfigur des Gedichtes, der Erzähler (nicht zu verwechseln mit dem Autor selbst), verlässt die Bühne nicht für einen einzigen Moment. Er kommentiert, interpretiert und parodiert nicht nur die Handlung, sondern alles, was mit dieser Handlung im weitesten Sinne zusammenhängt, sowie alles, was zum Beschreiben einer solchen Handlung benutzt wird bzw. benutzt werden könnte. Abgehandelt werden in präziser Form insbesondere alle bekannten Stilarten der Literatur, alle literarischen Themen, alle im Gang befindlichen literarischen Streitereien und – nicht zuletzt – Puschkins eigene Entwicklungsgeschichte in der Literatur, inkl. allem, was er als seine Fehlgriffe ansieht, wobei auch hier mit Ironie und beißendem Spott nicht gespart wird. Puschkin unterstützt seinen Erzähler in diesem Unterfangen damit, dass er jede Aussage mit der ihr eigenen Musik untermalt, d. h. durch die Form dupliziert[7]. Das Werk wird deshalb allein schon wegen dieser Verschmelzung von Form und Inhalt als absolut einmalig angesehen.[8]" (Wikipedia)


54.

Zwei Tage lang gefiel die Stille,

Das freie Land ihm wirklich gut,

Der dunkle Wald, die Saatenfülle,

Des Bächleins leise Murmelflut;[279]

Am dritten schien der Fluren Segen

Ihn freilich kaum noch anzuregen!

Und endlich ließ ihn alles kalt.

Ihn drückte nun auch hier sehr bald

Dieselbe Langeweile nieder,

Wie dort bei Prunk und Stadtgewühl,

Theater, Ball und Kartenspiel.

Der alte Trübsinn kehrte wieder

Und hing ihm wie sein Schatten an,

Wie Weiber am geliebten Mann.


55.

Dafür kann ich so recht genießen,

Wenn mir des Dörfleins Ruhe winkt,

Wo im verborgnen Lieder sprießen,

Der Leier Stimme süßer klingt.

Dort darf ich schlendern, wunschlos sinnen,

Im Nachen schaukelnd Träume spinnen,

Dem far niente still geweiht.

Mit froher Ungebundenheit

Beschenkt mich jeder neue Morgen:

Ich lese wenig, schlafe viel

Und frage kaum nach Zweck und Ziel.

War's nicht dies Dasein ohne Sorgen,

In goldner Freiheit auf dem Land,

Wo ich das reinste Glück empfand?


56

O Blumen, Liebe, Flur und Frieden,

Euch geb' ich mich von Herzen hin!

Es freut mich, daß ich so verschieden

Von meinem Freund Onegin bin,[280]

Weil nun kein Leser, mich bespöttelnd,

Noch jemand sonst, der, Arges zettelnd,

Mich selbst mit ihm vergleicht, fortan

Gewissenlos behaupten kann,

Ich hätte mich sehr unverfroren,

Von Byrons stolzer Art verführt,

Hier deutlich selber porträtiert;

Als müßten alle Herrn Autoren

Nur immerfort mit sich allein,

Dem lieben Ich beschäftigt sein!


57.

Beiläufig: Dichter schwärmen immer,

Sobald ihr Herz von Liebe quillt.

Auch mich entzückte früh der Schimmer

Süßholder Wesen, deren Bild

Mir heimlich in der Seele webte,

Bis es der Muse Hauch belebte;

Und so besang ich froh-bereit

Mein Ideal, des Berglands Maid,

Die am Salgir gefangnen Schönen.

Nun fragt ihr lieben Freunde mich

Jetzt gar so oft: »Für wen, o sprich,

Entströmt dein Schmerz in Leiertönen?

Wem aus der eifersücht'gen Schar

Der Mädchen bringst du Opfer dar?


58.

Wes Zauberblick voll Seligkeiten

Belohnte mit der Liebe Dank

Den tiefen Wohllaut deiner Saiten?

Sprich, wen vergöttert dein Gesang?«[281]

Ei, niemand, Freunde, Gott zum Zeugen!

Der Leidenschaften Sturmesreigen

Warf Trostes bar mich an den Strand.

O glücklich, wer dem Sinnenbrand

Des Sanges reine Glut vermählte,

Zwiefach so steigernd ihren Glanz

Und mit Petrarcas Ruhmeskranz

Begnadet – alles, was ihn quälte,

Vom Herzen warf! Nur mich allein

Zwang Liebe, blöd und stumm zu sein.


59.

Sie schwand; die Muse kehrte wieder,

Der Schleier fiel von meinem Blick.

Befreit nun ruf' ich alte Lieder,

Gefühl, Gedanken mir zurück.

Mein Herz ist still, derweil ich schreibe;

Die Feder malt zum Zeitvertreibe

Kein Köpfchen, keine Füßchen mehr,

Wie sonst, um meine Strophen her.

Kein Funke kann im Busen zünden,

Der Seufzer starb, ich traure nur,

Und bald wird auch die letzte Spur

Der einst'gen Seelenstürme schwinden.

Gleich fang' ich ein Poem sodann

In fünfundzwanzig Sängen an.


60.

 Schon hab' ich nebst der Form des Planes

Mir einen Helden ausgedacht –

Inzwischen hier des Versromanes

Ersten Gesang zum Schluß gebracht;[282]

Hab' viel gebessert, viel gestrichen,

Zwar wimmelt's noch von Widersprüchen,

Doch sei's darum. Und kurz und gut:

Dem Zensor zahl' ich gern Tribut,

Und übergebe zur Vernichtung

Mein Werk der Rezensentenhand.

So zieh denn hin zum Newastrand,

Du, meine neugeborne Dichtung,

Und wirb mir dort des Sängers Lohn:

Mißdeutung, Undank, Spott und Hohn!


Auch wenn die Wikipedia davor warnt, den Erzähler mit Puschkin gleichzusetzen: Der Erzähler beschreibt hier die politisch/literarische Wirklichkeit seiner zaristisch-russischen Gegenwart.


Puschkin: Eugen Onegin 1. Buch/Gesang  (Übersicht)


2. Buch/Gesang

1.
Der Landsitz, wo Onegin gähnte,
War recht ein Plätzchen zum Gedeihn;
Dort durfte, wer nach Glück sich sehnte,
Dem Himmel wahrhaft dankbar sein.
An eines Bächleins klarem Spiegel
Stand unterm Windschutz sanfter Hügel
Allein für sich ein Herrenhaus.
Sein Giebel schaute frei hinaus
Auf Saatengold und grüne Matten;
Rings lagen Dörfchen still verstreut,
Viehherden grasten weit und breit,
Und flüsternd wölbte seine Schatten
Des Parks verträumter Wipfelwald,
Ernster Dryaden Aufenthalt.


2.
Das Schloß, von ernst behäb'gen Zügen,
Wie sich's für Schlösser so gebührt,
War würdevoll und streng gediegen
Nach alter Baukunst ausgeführt:
Hochhelle Räume, breite Gänge,
Im Saal schwerseidne Wandbehänge,
Des Zaren Bild in Hermelin
Und bunte Fliesen am Kamin.
Heut gilt das alles für veraltet,
Weiß Gott warum; wie dem auch sei,
Für meinen Freund blieb's einerlei,
Welch ein Geschmack darin gewaltet:
Denn gähnend fand er's ganz egal,
Ob alter, ob moderner Saal.

3.

Er fand im selben Raum Behagen,

Wo vierzig Jahr' lang frommbeseelt

Der Dorfgreis Fliegen totgeschlagen

Und mit der Magd herumkrakeelt.

Ein schlichtes Zimmer: eichne Diele,

Zwei Schränke, Sofa, Tisch und Stühle,

Kein kleinster Tintenfleck zu sehn.

Die Schränke prüfend fand Eugen:

Hier Wirtschaftsbücher, dort die Spender

Des Seelentrostes: Schnaps, Likör

Und Apfelwein, ein ganzes Heer;

Von Anno acht den Volkskalender.

Sonst hatte bei der Pflichten Last

Der Greis kein Buch mehr angefaßt [...]


39.

Drum, Freunde, schlürft in vollen Zügen

Des Lebens kurzbemeßne Lust!

Ich freilich kenne seine Lügen,

Bin mir der Täuschung kühl bewußt

Und mag den Irrwahn nicht mehr teilen.

Ein leiser Wunsch nur quält zuweilen

Mein Herz mit ungewisser Pein:

Ich möchte nicht verurteilt sein,

Ganz spurlos aus der Welt zu scheiden;

Begehre keinen eitlen Ruhm –

Nur soll mein Erdenpilgertum

Sich noch in solchen Schimmer kleiden,

Daß freundlich, wenn auch matt beschwingt,

Ein Schall doch von mir Kunde bringt,


40.

Um da und dort ein Herz zu rühren;

Daß, vom Geschick bewahrt, fortan

Mein Lied im Strom sich nicht verlieren,

In Lethes Nacht versinken kann;

Ja, daß vielleicht (o schönstes Hoffen!)

Einst noch der dümmste Narr betroffen

Vor meinem Bilde stille steht

Und staunend ausruft: »Welch Poet!«

Dir aber sag' ich treuverbunden,

O Freund der Musen, wärmsten Dank,

Wenn mein bescheidner, flücht'ger Sang

In deiner Brust Asyl gefunden

Und gönnerhaft dein Finger rührt

Den Lorbeer, der das Haupt mir ziert.


2.Buch/Gesang (Übersicht)

3.Buch/Gesang

Motto

Elle était fille, elle était amoureuse.

Malfilâtre


1.

»Schon fort? Ein Kreuz mit euch Poeten!« –

»Leb wohl, Onegin, höchste Zeit!« –

»Schön, schön, ich will dich nicht verspäten;

Doch wohin eilst du? Gib Bescheid.« –

»Zu Larins.« – »Hm ... Gesteh mal ehrlich:

Ist's auf die Dauer nicht beschwerlich,

Dies Hocken in Familie, sprich?« –

»Durchaus nicht.« – »Traun, das wundert mich;

Man malt sich solche Dorfgeschichte –

So ist's doch? – schon von weitem aus:

Ein russisch-philiströses Haus,

Sehr gastfrei, eingemachte Früchte,

Nebst ewig gleichem Redeschwall

Von Wetter, Flachs und Rinderstall ...« –


2,

 »Das läßt sich immer noch ertragen.« –

»Man stirbt vor Langerweile, Freund.« –

»Dir mag die große Welt behagen,

Mich lockt ein Heim, wo traut vereint

Zwei Herzen ...« – »Himmelst du schon wieder?

Freund, bitte, keine Schäferlieder!

Du fährst nun, schade. Noch ein Wort:

Hör, Lenski, könnt' ich wohl mal dort

Die Phyllis sehn, die all dein Dichten

Begeistert, stets im Traum dir nah,

Und Harm und Schwarm et cetera? ...

Stell mich doch vor.« – »Du scherzt.« – »Mitnichten!« –

»Dann gern.« – »Wann also?« – »Gleich, steig ein,

Wir werden sehr willkommen sein.« –


3.

 »Wohlan!« – Sie fahren los, gelangen

Ans Ziel und sehn sich allbereit

Behaglich-würdevoll empfangen

Mit umstandsreicher Gastlichkeit.

Hier ist die alte Zeit zu spüren:

Auf kleinen Tellern Konfitüren,

Gastfreundlich wird herangeschafft

In hohem Kruge Beerensaft. 

...

4.

Der Abend kommt, die Freunde scheiden

Und kutschen heim bei Dämmerlicht.

Nun laßt uns hören, was die beiden

Zu reden haben. Lenski spricht:

»Du gähnst, Onegin?« – »Laß das Fragen,

Gewohnheit, Freund, hat nichts zu sagen.« –

»Doch mehr als sonst.« – »Ach was, egal!

Wie schnell es dunkelt, schau doch mal!

Andrjuschka, zugefahren! Scheußlich,

Dies öde Feld ... Na, tut mir leid:

Mama wirkt etwas bäurisch breit,

Scheint aber sonst ganz brav und häuslich ...

Daß der verdammte Beerensaft

Mir nur keine Beschwerden schafft!


5.

Hm ja, die Töchter ... wer von beiden

War Tanja?« – »Jene, die so trüb

Und schweigsam, wie um uns zu meiden,

Ans Fenster trat und abseits blieb.« –

»Dich reizt die Jüngre?« – »Ja – weswegen?« –

»Mir wär' an jener mehr gelegen,

Wär' ich, wie du, apollbeseelt:

Den Augen deiner Olga fehlt,

Gleichwie van Dycks Madonnen, Leben;

Ihr Rosenlärvchen, prallgesund,

Gleicht dort dem Mond, der dumm und rund

Sich anschickt, uns Geleit zu geben.«

Wladimir wich der Antwort aus

Und schwieg verdrossen bis nach Haus.


6.

Bei Larins hatte mittlerweile

Eugens Besuch sehr vorteilhaft

Und tief gewirkt. Mit Windeseile

Drang dies Gerücht zur Nachbarschaft:

Die Neuigkeit ward flugs verbreitet,

Es ward geklatscht, geraunt, gedeutet,

Und man verriet sich mitteilsam

Tatjanens künft'gen Bräutigam.

Ja, ganz Erfahrne wollten wissen,

Die Heirat sei perfekt, jedoch

Verschoben, denn man habe noch

Um neue Ringe schreiben müssen.

Daß Olga Lenski zugedacht,

Galt allen längst als ausgemacht.


7.

Tatjana nahm Geschwätz und Fragen

Unwillig auf, doch insgeheim

Empfand sie leises Wohlbehagen –

Unmerklich wuchs der Neigung Keim;

Bis endlich, was den Blick noch trübte,

Der klaren Sonne wich: sie liebte ...

So aus dem Schoß der Erde sprießt

Die Saat, sobald der Frühling grüßt.

Längst trieb ein scheues Glücksverlangen

Sie ruhelos durch Qual und Lust,

Längst sehnte sich die junge Brust

Aus tiefem Wirrsal, stetem Bangen

In keuschen Wonnen aufzugehn:


8.

Und harrte ... Endlich kam der Rechte.

»Der ist es!« rief ihr Herz befreit.

Ach, nun ist alles, Tag und Nächte,

Der stille Traum der Einsamkeit

Von ihm erfüllt, und all ihr Denken,

Ihr Hoffen, Fühlen, Sichversenken

Gilt einzig ihm! Sie weicht im Haus

Dem heitren Wort der Ihren aus,

Entzieht sich treubesorgten Fragen.

Sie wandelt wie verstört umher

Und kann nun kaum die Gäste mehr

Mit ihrem Alltagsklatsch ertragen,

Die stets im Kommen so geschwind

Und zum Verzweifeln seßhaft sind.

"1824 schied er [Puschkin] endgültig aus dem Hofdienst aus und wurde auf ein Gut der Familie im Gouvernement Pskow verbannt. 1823 hatte er mit der Arbeit am Eugen Onegin begonnen, die er jetzt intensiv fortsetzte. 1825 wurde das erste Kapitel veröffentlicht. 1826 wurde er von dem neuen Zaren Nikolaus begnadigt, durfte nach St. Petersburg zurückkehren, wo er öffentlich aus dem Onegin vorlas und sich sofort wieder Probleme mit der staatlichen Zensur einhandelte. Während der Cholera-Epidemie von 1830 kehrte er auf sein Gut zurück, wo er weiter intensiv an dem Roman arbeitete. 1831, dem Jahr seiner Heirat mit der sechzehnjährigen Natalja Goncharova, beendete er nach acht Jahren den Roman, der die schwierigste Zeit in seinem Leben begleitet hat.

Publiziert wurde der Roman in St. Petersburg ab 1825. Das zweite Kapitel wurde 1826 gedruckt, Kapitel 3 folgte 1826"  (Wikipedia)

Zur Fortsetzung


18 November 2023

Steffen Mau u.a.: Triggerpunkte

 In jedem Buchladen zu haben oder zu bestellen: Mau: Triggerpunkte

Aus den Rezensionen:

Dass sich 84 Prozent der Befragten Anerkennung für geschlechtliche Selbstbestimmung wünschen, findet Apin verblüffend (tz)

"ökonomisch schlechter und besser Gestellte unterscheiden sich gar nicht so sehr durch ihre Werte und die Einschätzung politischer Dringlichkeiten, sondern allenfalls in ihrer Ansicht über die Art und Weise, wie Politik und Gesellschaft damit umgehen sollen" (Welt)

 "überraschende Einsichten zu Kipppunkten und verblüffenden Allianzen" (FAZ)

Interview:

Die heutige Polarisierung der Gesellschaft, erklären die Soziologen Steffen Mau und Thomas Lux im Tagesspiegel-Gespräch mit Hans Monath. 

Die Lebenseinstellungen sind gar nicht so unterschiedlich, wie es nach außen scheint. Trotzdem gibt es in der Gesellschaft bestimmte "Triggerpunkte": "Das sind Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, bei denen sachliche Diskussionen in emotionale umschlagen und sich die Menschen anders positionieren, als sie es zuvor getan haben", führt Mau aus. "Viele Menschen haben aus unterschiedlichen Gründen Vorbehalte gegen Gendersternchen, befürworten in ihrer großen Mehrheit aber die Gleichberechtigung und gleiche Bezahlung von Frauen und Männer. Ein Triggerpunkt, also Auslöser von politischer Emotionalisierung, sind in diesem Zusammenhang etwa Verhaltensvorschriften. Wenn bestimmte Akteure sagen, du musst dich grundsätzlich verändern, in der Art, wie du sprichst, und das auch in deinem privaten Raum, dann provoziert das Reaktanz, also Abwehr, und viele sagen: Das mache ich jetzt nicht mehr mit."

Mitschriftversuch:

Steffen Mau zu Gast bei Silke Hohmann: Ist unsere Gesellschaft wirklich so gespalten?  - über das Buch Triggerpunkte von Stefan Mau u.a.

80% sagen: Die Ungleichheit hat sich vergrößert, aber dennoch besteht kein ernsthaftes Interesse an Umverteilung

Der Grund: Gewerkschaft u. Linke sind inzwischen zu schwach, deshalb wird die reale Ungleichheit weniger beachtet.

Heute gibt es eher horizontale Konflikte

Triggerpunkte: Genderstern, Lastenfahrrad, SUV werden weit mehr beachtet als der Konflikt zwischen Reich und Arm.

Meritokratie war in 70er Jahren bei höheren Schichten angesehen (Rechtfertigung der eigenen Position); heute aber wird sie oft in der Arbeiterklasse vertreten: denn damit wird eine Kritik an sozialen Transfers an Migranten begründet. (Es ist also ein Konflikt innerhalb der Gruppe der sozial und wirtschaftlich Benachteiligten.)

Klima: nicht Streit zwischen Klimaleugnern und Dramatisierenden; vielmehr geht der Streit jetzt mehr um Lastenverteilung bei der Umwandlung/Transformation;

Ökologie:

Sicht der Mittelklasse: eine Frage des Lebensstils

Sicht der Arbeiterklasse: Klassenfrage im Werden, Lastenausgleich,

Wer muss sich wieviel verändern?

Es gibt keine Generationenkluft, es stehen nicht Jugendliche (FFF) gegen Ältere. Denn von den 16-29Jährigen haben nur 62%, von den Älteren (über 60 J.) haben  75% große Sorge wegen des Klimawandels

Genderfrage: Die übliche Vermutung ist: Es geht um einen Wertewandel: Jung aufgeschlossen, Ältere dagegen, aber real ist es gar nicht so.

Untersuchungsmethode der Studie: Es wurden Fokusgruppen gebildet, d.h. z.B.  Alt und Jung, Stadt und Land diskutierten miteinander

Dann wurde verglichen, was für  Argumente die jeweiligen Gruppen verwendeten.

Als Triggerthemen wurden dafür kontroverse Überschiften angeboten wie  "Eigene Zeiten für die Benutzung von Schwimmbädern allein für Transpersonen", "Einschränkungen speziell für Migranten aus arabischen Ländern".

Stichworte, die Auseinandersetzungen triggern (hoch emotional werden lassen) sind solche die repräsentativ für moralische Grundpositionen sind: z.B. Messerstecher, Lastenfahrrad, ...

Verallgemeinerbare Prinzipien für Triggerpunkte sind z.B Sonderrechte für Minderheiten, umgekehrte Diskriminierung (Ausstellungsbesuch speziell für Schwarze - dagegen protestieren Personen, die selbt gar nicht in die Ausstellung gehen wollen).

Es geht dabei um das Gefühl eines Kontrollverlusts. um den Verlust individueller Autonomie, gerade im Konflikt mit gesellschaftlich Benachteiligten. Z.B. bei Sprachpolitik, die angeblich  "von denen da oben" vertreten würde, aber in Wirklichkeit von Benachteiligten propagiert wird.

Störung des Spielfelds (ungesättigte Konflikte)

Einstiegsfenster für neue Art des politischen Diskurs

Triggerpunkt sorgen für Affektpolitik, Erregungsgesellschaft; z.B. der Streit über gendergerechte Sprache wird extra angeheizt.

Die Spaltung entsteht nicht an der Basis, sondern wird von Meinungsmachern von oben in die Gesellschaft hineingetragen.

Mau hat das schon früher beobachtet, ist aber überrascht von der Geschwindigkeit der Dynamik. Der Grund dafür dürfte sein, dass das Ausmaß und Tempo der Veränderungen die Veränderungsbereitschaft überfordern (Stichwort: Veränderungserschöpfung).

Mau war in  Meseberg beim Koalitionsgespräch:

Darüber berichtet die ZEIT:

"Die Ökologie nennt Mau [...] eine "Klassenfrage im Werden". Die Sorge vor der Bedrohung durch den Klimawandel werde zwar (anders als früher) durch alle Schichten hinweg geteilt, was die Strategien dagegen angehe, erkenne man jedoch deutliche Klassenunterschiede.

Die unteren Schichten seien nicht per se gegen eine ökologische Transformation, jedoch seien die Bedenken hier andere als im grün geneigten Bürgertum: 50 Prozent der Produktionsarbeiter sorgten sich etwa vor einem Wohlstandsverlust durch die Klimawende, in den kulturellen Oberschichten seien es nur 20 Prozent. Mau und seine Kollegen schreiben von einer "Ökologie der Arbeiterklasse", die sich mithilfe ihrer Daten erkennen lasse: Für die unteren Schichten werde die ökologische Frage in erster Linie ökonomisch vermittelt. Dem abstrakten Nutzen des Klimaschutzes stünden die unmittelbaren Kosten entgegen, und Klimapolitik erscheine als Bedrohung, wenn sie nicht explizit mit Verteilungsmaßnahmen einhergehe." (Die ZEIT 17.11.23)

Was folgt also aus alledem für die Grünen im Herbst 2023?

Es folgt zum Beispiel, dass es eine sehr schlechte Idee war, ein Heizungsgesetz niederzuschreiben, ohne sich Gedanken über die soziale Absicherung gemacht zu haben. Es folgt, dass es überdies eine sehr schlechte Idee wäre, weiterhin auf eine Entkopplung der deutschen Wirtschaft von China zu drängen, ohne zugleich darüber zu reden, wer dafür bezahlt, wenn die Waren dadurch am Ende teurer werden (weil man in China günstiger produzieren kann als in Deutschland). Zu viele Kompromisse oder zu wenige; zu radikal oder nicht radikal genug – das sind womöglich die falschen Fragen. Tatsächlich wird es für die Grünen darum gehen, wie der Anspruch, eine Politik für die "Breite der Gesellschaft" (Robert Habeck) zu betreiben, dazu passt, dass man die Wirkungen ebenjener Politik in den Grünen-fernen Schichten so regelmäßig unterschätzt. Wie wollen sie eine Polarisierung der Gesellschaft vermeiden, wenn sie selbst Teil der Polarisierung sind?

In den Führungszirkeln der Partei hat sich schon einmal die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Gemisch aus ideologischer Anmutung (Atomkraft) und sozialer Blindheit (Heizungen) so ungefähr das Gefährlichste ist, was man sich anrühren konnte. Viel wird, so kann man es den Gesprächen entnehmen, derzeit darüber diskutiert, wie man die Zukunftssorgen in der Gesellschaft adressieren kann und zugleich verhindern, dass diese vollumfänglich auf die Grünen projiziert werden. Wie man Interessengegensätze beim Klimaschutz politisieren kann, ohne zugleich zurückzufallen in ein bequemes Freund-Feind-Denken. Und wie geht man damit um, dass die sogenannte Menschheitsaufgabe derzeit politisch und gesellschaftlich erkennbar zum Minderheitsanliegen schrumpft?

Es sind große, grundsätzliche Fragen. Nicht nur für die Grünen. Denn selbst wenn die irgendwann in der Opposition oder, noch besser, mit ihren gottverdammten Wärmepumpen auf irgendeiner voll isolierten Insel sitzen, wird das Heizen mit Gas teurer 

 Politiker fragen sich:

Wie geht man damit um?

1. Selber auf Leidenschaft setzen

2.Ignorierung

3. Resultatorientierung

Die Medien setzen auf Leidenschaft um Aufmerksamkeit zu erreichen. Dshalb Überrepräsentation von Randpositionen (bei sozialen Medien wird das durch Algorithmen noch verstärkt).

Aus Gefühlspolarisierung wird Realpolarisierung.

Ohne Kontakte zu Andersmeinenden entsteht eine Tendenz zu Stereotypen.

Wie soll man vorgehen?

USA sind abschreckend, wie in Europa Koalitionen schwächen Polarisation ab, aber dennoch gibt es auch innerhalb von Koalitionen vermehrt Streit.

Ein Mittel wäre, statt  Triggerpunkte zu diskutieren, reale Konflikte zu betrachten und zu lösen versuchen.