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28 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.6-8) Schule, Kurbetrieb, die zwei Welten

Sechstes Kapitel 
Den Zwang und Kerker der Schule konnte man freilich nicht ausschalten. Im Winter war der Schulweg bis auf Prügeleien und Schneeballschlachten ohne Belang. Im Sommer wurde er dadurch gewürzt, daß wir am geöffneten Kurtheater vorbei mußten. Es war ein Holzbau, äußerlich eine verwitterte Bretterbaracke, die mein Großvater, wie auch Brunnen- und Elisenhalle, Annaturm und anderes, durch seinen Freund und Maler-Architekten Josef Friedrich Raabe, der zu Goethe in engen Beziehungen stand, hatte errichten lassen. Wenn wir zur Schule gingen, waren meist Proben, und vor den Eingängen standen die Schauspieler. Was im Theater selbst vorgehen mochte, blieb uns Kindern lange ein Mysterium; um so wilder wucherten die Gerüchte. Einst wurde mir ein Jüngling gezeigt, der heute sein Benefiz hatte. Was sollte das sein: Benefiz? Etwas Furchtbares sicherlich. Ohne es zu ahnen, kamen wir der altgriechischen Ritualbühne und den Gepflogenheiten des römischen Kolosseums in unsren Gedanken sehr nahe, denn uns war der Jüngling todgeweiht. Es hieß, er müsse am Abend zum Schluß des Stückes sich selber erstechen, oder er werde hingerichtet. Diese Sache erschien mir selbstverständlich. Von einem flüchtigen Gruseln abgesehen, nahm ich sie hin, als ob man gesagt hätte, morgen werden uns in der Schule Bibelsprüche abgehört. [...] 
Am Schluß der Stunde sang man: »Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen!« Wir setzten stillschweigend hinzu: dafür, daß die Schule zu Ende ist. Nie jauchzte ein tiefer gefühlter Dank zum Himmel. Mit dem letzten Ton brausten wir auf die Straße. [...] 
Eines Tages auf dem Nachhausewege wurde mir Carls Betragen überaus wunderlich. Aus der Schule getreten, suchte er sogleich einen Ruheplatz, dann einen zweiten. Der Posthof, ein Kastanienhain, war mit hängenden Ketten zwischen niedrigen Granitpfeilern eingefaßt: Carl suchte auf einer der Ketten Ruhe. Dann kam die Straße mit mehreren Prellsteinen: er schleppte sich von Prellstein zu Prellstein fort. So sind wir allmählich nach Hause gelangt. Eine halbe Stunde später erfuhr ich, daß meinen Bruder eine schwere Krankheit befallen habe. Die Mutter weinte und stellte sich den denkbar schlimmsten Ausgang vor. Der Vater war ernst: man müsse sich auf alles gefaßt machen, nur Gott könne wissen, ob wir Carl behalten würden oder nicht. Aber dennoch: er hoffe zu Gott. Ich erlebte nun eine Reihe sorgenvoller Tage und auch Nächte mit, da ich zuweilen von meiner Schwester Johanna, als gelte es, von meinem Bruder Abschied zu nehmen, geweckt wurde oder auch von den Geräuschen erwachte, die, da eigentlich niemand im Hause schlief, die ganze Nacht nicht aufhörten. Mein Vater zog außer meinem Onkel, Doktor Straehler, noch einen älteren Arzt, Doktor Richter, ein ortsbekanntes Original, hinzu. Wenn mein Bruder die Krankheit – es handelte sich um eine Lungenentzündung – dann überstand, so retteten ihn, wie mein Vater wenigstens annahm, seine Ratschläge. Tagelang verbrachte Carl im Zustand der Bewußtlosigkeit. Barbier Krause, ein zweiter Krause, zugleich Heilgehilfe, wie es damals üblich war, der seine Stube in einem kleinen Anbau schrägüber von der Schenkstube hatte, setzte Schröpfköpfe und operierte mit Blutegeln. Die Krankenstube betrat ich nicht. Meine Schwester und meine Mutter müssen mich von dem, was dort geschah, unterrichtet haben. Der Kranke, von schrecklichen Phantasien geplagt, sah Reihen von Leichnamen, die unter dem Gasthof zur Krone bestattet waren. Als der brave Barbier ihm Schröpfköpfe setzte, rang er seine Hände zum Himmel, und indem er sich beklagte, in was für Hände er gefallen sei, gab er sich selbst die tragikomische Antwort: in Bierhände. Es kam die Krisis und damit der große und befreiende Augenblick, als plötzlich das Fieber gesunken war und Doktor Richter erklären konnte, die Gefahr sei nach Menschenermessen vorüber. Es ist natürlich, daß meine Mutter mich unter Freudentränen in die Arme schloß. Aber auch mein Vater, von dem ich bis dahin ebensowenig glaubte, daß er lachen wie daß er weinen könne, nahm seine Brille ab und tupfte sich mit dem Tuche die Augen. Als man den Kranken, der mit seltsamer Klarheit seinen eigenen Zustand verfolgt hatte, von dem glücklichen Umschwung verständigte, ergriff ihn eine glückselige Erschütterung. Wir mußten alle zu ihm hineinkommen: »Vater, Vater, ich bin gerettet! Gerhart, denk doch, ich bin gerettet! Mutter, Mutter, ich bin gerettet! Hannchen, hörst du, ich bin gerettet!« wiederholte er, uns die Hände, so gut es gehen wollte, entgegenstreckend, in einem fort. Es hieß so viel: ich darf wieder bei euch bleiben.
Bei diesem Anlaß, der mich wohl zum erstenmal in ein andres als mein eignes Schicksal verwickelte, wurde mir deutlich, welche Fülle verborgener Liebe unter dem so gleichmäßig nüchternen Wesen eines Vaters, einer Mutter beschlossen liegen kann. Von diesen unsichtbaren Kräften und Verbundenheiten hatte ich bis dahin nichts gewußt. Fast befremdeten sie mich, als sie zutage traten, da sie scheinbar über mich hinweggingen, meinem Bruder und nicht mir galten. Und so wurde mir nicht ohne eine gelinde Bestürzung klar, daß mein Bruder nicht nur mein Bruder, sondern der Sohn meiner Eltern war und wie groß der Anteil werden konnte, den ich ihm von ihrer Liebe abtreten mußte. [...]


Siebentes Kapitel 
Mein Großvater, wurde gesagt, war Bade- oder Brunneninspektor. Er war also gleichsam ein souveräner Herr des Kurbetriebes mit allen seinen vorhandenen Anstalten: voran dem Brunnen, seiner Bedienung, seinem Ausschank und seinem Versand, der Pflege der Elisenhalle und der Vermietung ihrer Verkaufsläden, dem Kursaal, seiner Verpachtung und seinem Betrieb, den gärtnerischen Anlagen der Promenaden und der Pflege des Parks, der Kurkapelle und dem Theater. Wo er nicht ganz befahl, war dennoch sein Einfluß maßgebend. Ich glaube, er besaß auf dem fürstlich-plessischen Kurgebiet sogar Polizeigewalt. [...]

Achtes Kapitel 
Die Jahre bis zur Vollendung des zehnten sind Schöpfungsjahre in jedem Sinn, und sie enthalten Schöpfungstage. Das Kind ist in dieser Spanne Zeit sein eigener geistiger Schöpfer und Weltschöpfer. So war denn auch ich der Demiurg meiner selbst und der Welt. Aber wie gesagt, sieben Tage genügten mir nicht, denn ich hatte deren bis zum Beginn des siebenten Jahres bereits zweitausendeinhundertneunzig nötig gehabt. Die Sonne ging auf, und ein neuer Schöpfungstag meiner selbst und der Welt begann. Vielfach ging ich darin wie ein Künstler vor, der sich durch provisorische Formgebung dem vollendeten Ganzen annähert.   Die immer wiederkehrende Mahnung meines Vaters sowie meiner Mutter lautete: »Gerhart, träumere nicht!« oder: »Träume nicht!« Es betraf dies natürlich die Zeiten des Ausruhens, wenn mein Bewegungsdrang in der freien Luft nicht mehr weiterzutreiben war. In der Tat, ich versann mich bei jeder Gelegenheit, so daß man die Frage immer wieder mit Recht an mich richten konnte: »Komm zu dir! Wo bist du denn?!« Ich versann mich etwa, wenn ich vor der Zeit meines ersten Schulgangs, das Kinn in die Hände gestützt, am Fenster lag und auf den fernen Hochwald starrte, den heiligen Berg, hinter dem die Welt zu Ende war und von dessen Spitze aus man in den Himmel stieg. Dieser Berg und seine Bestimmung waren mir immer wieder anziehend. Wenn nicht ich selbst, so ist mein Geist von dort aus unzähligemal in den selbstgeschaffenen Himmel gestiegen und hat sich mit der Rätselfrage der Weltbegrenzung abgemüht. Dabei erwog ich die menschliche und meine eigene Einsamkeit, die ich schon sehr früh erkannt habe. Die unbegreifliche Größe des Schicksals erfüllte mich, solange ich ihr nachhing, mit einer schauervollen Beklommenheit. Ich fragte mich: Wie rettet man sich aus der eigenen Verlassenheit? Halte dich an Vater und Mutter! – Vater und Mutter teilen dieselbe Verlassenheit und Verlorenheit! – Wende dich an Bruder und Schwester, die Tausende und Tausende deiner Mitmenschen! Und nun gab ich die Antwort mir selber mit einem Bilde aus meiner bildgenährten Traumes- und Vorstellungswelt: die Gesamtheit der Menschen sah ich als Schiffbrüchige auf einer Eisscholle ausgesetzt, die von einer Sintflut umgeben war. Kinder in den frühesten Bewußtseinsjahren nach der Geburt fühlen vielleicht stärker als Erwachsene das Rätsel, in das sie versetzt worden sind, und bringen vielleicht von dort, wo sie kurze Zeit vorher noch gewesen sind, Ahnungen mit. [...]
Ich hatte die Masern. Ich war glücklich darüber, denn ich brauchte ja nicht zur Schule zu gehen. [...]
Es wurde bereits gesagt, daß ich sowohl in der bürgerlichen Welt wie in der des damals so genannten niederen Volkes zu Hause war. In dieser Beziehung glich ich entfernt dem Euphorion, da ich mich immer wieder von der einen zur anderen hinab- und von jener zu dieser emporbewegte. In gewissem Sinne ging dies Auf und Ab immer höher hinauf, immer tiefer hinunter: etwa von der Réunion im kleinen Blauen Saal, wo sich die Elite der Badegesellschaft, Adel, Schönheit, Reichtum, Jugend, zusammenfand, irgendein namhafter Pianist sich hören ließ, von Beethoven, Liszt, Chopin und andern großen Künstlern gesprochen und dabei Champagner, Mandelmilch, Sorbet und anderes getrunken wurde, bis zu einer gewissen Treppe Unterm Saal, wo arme Frauen, Töpfe im Arm, stundenlang anstanden bis zur Küchentür und auf Abfälle warteten. Und was die Breite meiner Euphorionbewegung betrifft und die Antäuspunkte ihrer Absprünge, so lagen diese bald in der vorderen, bald in der hinteren Welt, die durch den Hauptbau des Gasthofs getrennt wurden und von denen die eine die der glücklich Genießenden, die andere die der Arbeit, der Sorge, des Verzichtes, der Verzweiflung war. Ohne die Sonnenseite des Daseins vor der Fassade des Hauses scheel anzusehen, rechnete ich mich doch durchaus zur andern Partei, die gewissermaßen im Schatten lebte. Wieder und wieder stürzte ich mich ins Licht, doch nie, ohne bald in den Schatten zurückzukehren.   Meine Träumereien, wachend wie schlafend, tags wie nachts, mochten vom Niederschlag meiner Erfahrungen gespeist werden, aber sie gingen weit darüber hinaus. Jägerszenen, Kämpfe mit Bären, Gegenwärtigsein bei sterbenden und gestorbenen Menschen, meine Eltern als Geister wiederkehrend, Fliegen ohne Flügel, wie ich oft im Traume tat, das konnte mit keiner meiner Erfahrungen irgend etwas zu tun haben.
(Gerhart HauptmannDas Abenteuer meiner Jugend, 1937)

07 März 2016

Lisa Barendt: "Danziger Jahre"

Lisa Barendt: "Danziger Jahre" aus dem Verlag Frieling und Partner C. 1992, ISBN 3-89009-368-X 

Es ist die Autobiographie einer Arbeiterfrau aus Danzig, die Kindheit, Jugend und erste Ehejahre in Danzig erlebt hat. Aufgrund Kriegsgefangenschaft bis 1920 und ab 1923 beginnender Arbeitslosigkeit des Vaters ist die Familie lange sehr arm. Dann bekommt das Mädchen Kinderlähmung. Da sie aus sozialdemokratischen Kreisen stammt, hat ihre Verwandtschaft, nicht zuletzt ihr Geliebter und Ehemann einiges unter nationalsozialistischer Verfolgung zu leiden. Nach dem Einmarsch der Russen wird sie mehrmals von russischen Soldaten vergewaltigt und flieht dann mit ihren drei Kindern zunächst nach Mecklenburg und von dort nach Hamburg. 

In einer Rezension über

W. Gippert: Kindheit und Jugend in Danzig 1920 bis 1945

"Die erste Autobiografie behandelt Lisa Barendt, die 1916 im Arbeiterviertel Schidlitz-Stolzenberg geboren ist. Sie wird damit mitten im Ersten Weltkrieg geboren, der Vater befindet sich während ihrer Geburt in Russland. Der Wohnraum ist knapp, Kinderreichtum und -sterblichkeit prägen ihre Kindheit, die sich erst nach der Rückkehr des Vaters, 1920, verbessert. Das Umfeld, in dem Lisa Barendt aufwächst, ist ein sozialdemokratisches. Der Vater ist Mitglied in der SPD, und Themen wie Inflation oder Arbeitslosigkeit werden offen diskutiert. Lisa wird Mitglied in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ), in der sie auch ihren zukünftigen Mann kennen lernt. Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus erlebt Lisa Barendt mit ihrer Familie und ihren Freunden nationalsozialistische Repressionen: Ihr Freund wird zusammengeschlagen, verhaftet, und in ihrem Elternhaus werden die Scheiben eingeschlagen. Lisa Barendt zieht sich ins Private zurück. Im Krieg muss sie ihre drei Kinder versorgen, während ihr Mann eingezogen wurde. Lisa Barendt hat ihre Lebensgeschichte unter dem Titel „Danziger Jahre. Aus dem Leben einer jungen Frau bis 1945/46“ im Alter von 68 Jahren verschriftlicht. In der Längsschnittstudie verzichtet Gippert nicht, historische Lücken aufzufüllen, während er die Biografien nachzeichnet. So erläutert er beispielsweise die SAJ, die bisher kaum erforscht wurde." (W. Gippert: Kindheit und Jugend in Danzig 1920 bis 1945, Essen 2005)

vgl. auch:


28 April 2011

Fritz Reuter: Stavenhagener Bildungsanstalten

Wer hat wohl nicht in seiner Jugend jenes niederdrückende, katzenjämmerliche Unbehagen empfunden, wenn es nach genossenen Jahrmarkts- und Königschuß-Freuden wieder zur Schule gehen heißt, wenn der sonnige Sommertag mit der müffigen Schulstube vertauscht werden soll und die kleinen gelenkigen Glieder verdammt sind, unter der Zuchtruthe des Präceptors in grausamer Unbeweglichkeit der endlichen, fröhlichen Auferstehung entgegen zu harren? Ich gestehe gerne ein, daß ich nie zu den sehr eifrigen Besuchern der Schule gehört habe, und glaube, daß mir dafür als Strafe jenes Unbehagen tief in die Seele geimpft ist, denn wenn ich jetzt in alten Tagen unruhig schlafe und von bösen Träumen gequält bin, so habe ich mich entweder nicht präparirt, oder irgend einer meiner vielen Lehrer hält mir ein schrecklich roth perlustrirtes Exercitium unter die Nase, das er mir dann schließlich um die Ohren schlägt, wonach ich dann stets erwache und Gott danke, daß ich nicht mehr nöthig habe in die Schule zu gehen. Aber es hilft nicht; ich habe versprochen, auch über die wissenschaftlichen Anstalten meiner Vaterstadt Bericht zu erstatten, ich muß also wieder in die Schule.

Es gab in Stavenhagen drei solcher Bildungsanstalten für den menschlichen Geist und Marteranstalten für das menschliche Sitzfleisch, die ich hier im aufsteigenden Klimax folgen lasse: ‘de Becker-Schaul’, ‘de Köster-Schaul’ un ‘de Rekter-Schaul’. Einen organischen Zusammenhang hatten diese drei Schulen durchaus nicht; man konnte in jeder anfangen und in jeder aufhören, oder man konnte mit demselben Nutzen alle drei durchmachen; denn von dem, was man heutzutage Methode nennt, war in allen dreien nicht die Rede, bloß in der Rektor-Schule wurden die Prügel nach einer festgestellten Methode verabfolgt, worüber ich an seinem Orte berichten werde.
Die Becker-Schule hat ihren Namen von der alleinigen Directrice und alleinigen Lehrerin, der Frau Becker oder ‘Mutter Beckersch’, wie sie von allen Leuten genannt wurde, einer sehr alten, emeritirten Weber-Wittwe, die dies Privat-Institut ohne Beihülfe von Staatsund Stadt-Mitteln auf eigene Faust begründet hatte, indem – wie der Stavenhägener Bürger sich damals ausdrückte – "sei ehre Nohrung dorvon söcht," die aber nur schwach sein konnte, da sie von jedem Insassen ihrer Bänke nur einen Schilling wöchentlich als Einspringe-Geld in die geheiligten Hallen der Wissenschaft erhob. – Hier wurden die Anfangsgründe aller Wissenschaft, ausdauerndes Sitzen und verständiges Maulhalten eingeübt. Wer damit durch war, kam ganz allmählich auf dem Wege der Buchstaben Kenntniß und des a-b, ab, b-a, ba in die Fibel, aus welcher er in dieser Schule nicht wieder herauskam. Frau Becker saß während der Lehrstunden auf einem Binsenstuhle, umgeben von ihrem kleinen Völkchen, welches in einstimmigem Unisono ihre alten treuen Lehrerohren mit a-b, ab, b-a, ba erfreute. In ihrer Hand hielt sie ein Instrument von eigener Erfindung, wie es für ihren gebrechlichen Körperzustand paßte, der ein öfteres Aufstehen nicht mehr erlaubte, eine Birkenruthe, die an einem Stück Bohnenstange befestigt war und mit welchem sie bis in die entferntesten Ecken ihres Schullokals reichen konnte, um jeden Versündiger gegen a-b, ab, b-a, ba auf der Stelle abstrafen zu können. Offenbare Bösewichter, bei denen die kindliche Birkenruthe nicht mehr fruchten wollte, wurden auf die beschämendste Weise dem öffentlichen Hohne preisgegeben; sie wurden mit einem gewaltigen Esel um den Hals vor die Thüre auf die Straße gestellt und dienten in ihrer Verworfenheit der gemeinen Sittlichkeit als abschreckendes Beispiel.
Unter diesen Bedingungen hätte sich nun vernunftgemäß ein hohes Ehrgefühl unter der städtischen Jugend entwickeln müssen; aber leider schlug die Sache gerade in’s Gegentheil um. Wenn ein solcher Eselträger öffentlich ausgestellt war, versammelte sich die übrige Jugend aus der Straße um ihn und baten ihn: "Korl, ick gew Di ok en Stück von minen Appel, lat mi ok mal eins den Esel ümhängen." – "Krischaening, nu mi mal! – Deihst ‘t nich? – Na täuw, ick nem Di ok nich wedder mit nah min Großmutting ehren Goren." – Ja, mein bester Freund, Karl Nahmacher, kam schon nach der zweiten Stunde, in der er sich hartnäckig gegen die Sitzverordnungen gesträubt hatte, jubelnd nach Hause zurück: "Mutting ick heww den Esel üm hatt! Vatting, ick heww mit den Esel up de Strat stahn!"

Den directen Gegensatz gegen diese bloß durch die Birkenruthe etwas gestörte Schulidylle bildete ‘de Köster-Schaul’; hier war von einer Appellation an das Ehrgefühl durchaus nicht die Rede, hier herrschte der Stock in seiner unverhülltesten Gestalt; statt von der Hand einer alten, schwachen, gutmüthigen Frau wurde hier das Züchtigungs-Instrument von der Faust eines vierschrötigen Einpaukers geschwungen, der unermüdet mit blauer Puckelschrift allerlei Bestellungen an die Fassungsgabe seiner Scholaren ausrichtete. – Die Schulstube des Küsters Voß sah ärger aus als ein Gefängniß-Lokal des wailand Stockhauses zu Dömitz, und seine Schüler glichen Verbrechern. Er war ein Anhänger prophylaktischer Curen, er prügelte in der ersten Stunde Alle ohne Unterschied durch, damit seine Rangen inne würden, was ihrer harrete, wenn sie in den andern sich ein Vergehen zu Schulden kommen ließen. Ungefähr so, wie es früher in Mecklenburg bei den Pferdejungen der Bauern angewendet wurde, denen ja auch regelmäßig am ersten Mai die obbesagte Cur verordnet wurde, damit sie den Sommer über die Pferde nicht in den Weizen laufen ließen. Er prügelte seine Schüler in die Fibel hinein und hinaus und dann wieder in Lutheri Katechismus hinein, worin sie dann zeitlebens stecken blieben. Hätte er seine Armkraft zum Holzhacken verwandt, so wären beide Theile, er sowohl, wie seine Schüler, besser daran gewesen, er hätte mehr verdient, denn auch er bezog nur wöchentlich einen Schilling pro Puckel.
Außerhalb seiner Schulstube war dieser Pädagog ein ebenso gefürchteter Schläger, allerlei unheimliche Faust und Schemelbein Geschichten spukten durch sein Leben, und oftmals kam er mit einem blauangelaufenen Auge zu Platz – das andere war ihm einmal bei einer Schlägerei abhanden gekommen. Ich erinnere mich einer Scene, deren Schluß ich selbst mit angesehen habe, worin er neben seiner Schlagfertigkeit noch ein Stück Humor entwickelte, und die deshalb hier ihren Platz finden mag. – Der Klempnermeister Belitz, dem der Volkswitz den Beinamen ‘Oberförster’ gegeben hatte, weil er sich als Holzdieb in den großherzoglichen Forsten vor Allen auszeichnete, ein kleiner, zusammengetrockneter, dorniger Kerl, geht vor Küster Voß, der hinter dem Branntweinglase sitzt, immer auf und nieder und sagt in Folge eines vorausgegangenen Streites: "Ja, Vadder Voß, wi willen seihn, wo de Voß de Egt treckt." Voß rührt sich noch nicht bei dieser Anspielung auf seinen Namen. – "Wi willen seihn, wo de Voß de Egt treckt," wiederholt Belitz mit dreisterer Betonung. – Da erhebt sich Küster Voß, schlägt den ‘Oberförster’ mit dem Ausrufe: "Wrampige, wormmadige Kirl!" zu Boden, faßt ihn in dem Rockkragen, schleppt ihn auf die Straße und von da in den Rinnstein und zieht ihn in demselben immer auf und nieder: "Süh so, Vadder Belitz, treckt de Voß de Egt!"

Dieser Schulmann starb nicht in seinem Beruf, sondern in dem Stavenhäger Wallgraben.

(Fritz Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen)

22 April 2011

Die Zuchtmittel des Stavenhagener Rektors

Fritz Reuters hochdeutsche Schriften sind weniger bekannt als seine plattdeutschen, sind auch gewiss weniger charakteristisch, aber auch interessant. Sein Bericht über Meine Vaterstadt Stavenhagen ist kulturhistorisch und biographisch interessant. Zunächst der Blick in die Schulstube eines Rektors:

In der Mitte der Stube, mehr nach den Fenstern hin, so daß er Alles mit einer gelinden Halsdrehung gut übersehen konnte, saß der Herr Rektor auf einem hölzernen, rundlehnigen Stuhle, der von ihm ‘Katheder’, von den Jungen aber ‘Kantheder’ genannt wurde. Diese letztere Benennung war sehr alt, sie stammte noch von seinem Vorweser im Amte, dem Kantor Bewernitz – vor ihm gab’s in Stavenhagen nur Kantoren, er war der erste Rektor – und ‘Kantheder’ sollte also weiter nichts bedeuten, als Sitz des Kantors. Man sieht, wie sinnreich auch plattdeutsche Jungen sein können. Rechts von ihm saßen die Jungen, links von ihm die Mädchen, und an einem Mitteltisch die überschüssigen Jungen und überschüssigen Mädchen in gemischter Ordnung. Vor ihm lagen drei Instrumente – und nun komme ich auf das, was ich oben versprochen habe nachzuweisen, daß in Stavenhagen wenigstens in einer Schule nach Methode geprügelt wurde – diese mehr oder weniger langen, hölzernen Instrumente hatten verschiedene Namen und Anwendung. Da war erstens der Gelbe, lang und dünne, er fand seine Anwendung bei Plaudern, Butterbrod- und Apfel-Essen und Klecksen im Schreibebuch; dann war da zweitens der Braune, kürzer und dicker, wurde verwandt bei notorischer Faulheit, bei Widerrede, oder wenn nachgewiesen wurde, daß ein Junge dem andern heimlich das Tintenfaß ausgesoffen hatte; und endlich war drittens da der Dachs, kurz, dick und schwer, von gewisser Aehnlichkeit mit einem eichenen Schemelbeine. zum Ruhme des Herrn Rektor muß ich gestehen, daß dieser letztere nur in den alleräußersten Fällen von Verstocktheit, Verruchtheit und offenbarer Widersetzlichkeit in Anwendung gebracht wurde; aber er war doch da und, wie das mecklenburgische Sprichwort sagt: ‘De Furcht wohrt de Haid’.’ – Mit dem armen Dachs nahm’s ein kläglich Ende. Ein schon längst verstorbener Bösewicht sollte wegen verschiedener Missethaten den Dachs schmecken; frech entriß er den Händen des Rektors den geschwungenen Dachs und schleuderte ihn in die Ecke; der Herr Rektor ward blaß; nach dieser gräßlichen Beleidigung seiner Autorität konnte er nicht weiter dociren; er schloß die Schule. Aber am folgenden Morgen wurde ein feierliches Vehmgericht über den Verbrecher gehalten; der primus scholae mußte als Ankläger vortreten, die erste Knabenbank wurde zu Vehmrichtern ernannt, und es wurde von diesem collegium abgestimmt, ob der Verbrecher noch länger die Schule besuchen dürfe, oder ob er cum infamia in perpetuum zu relegiren sei. Eine Stimme, die meines alten guten Freundes Karl Nahmacher, der schon seit Jahren seinen Sitz als ultimus der Bank beharrlich festgehalten hatte, und nun als der Letzte zur Abstimmung kam, rettete ihn; er blieb. – Ja, er blieb – aber in stiller Verachtung. Den andern Morgen jedoch war der Dachs verschwunden. Allerlei dunkle Gerüchte liefen in der Schule und auf der Straße um; Frau Rektorin habe die Unzweckmäßigkeit seiner früheren Verwendung eingesehen und ihn zweckmäßig zum Kaffeekochen verwandt; wir wissen’s aber besser. Ein ebenso großer Bösewicht, wie der vorher erwähnte, den ich jedoch ebenfalls nicht nennen werde, weil er von Jugend auf mein Freund gewesen ist, hatte ihn in ein Mauseloch gesteckt. Da wäre er nun wohl für immer in seiner Höhle geblieben, wär der alte, gute Herr Rektor nicht eines Tages gestorben, wäre das alte, gute Schulhaus nicht an meinen Freund Bunsen verkauft, und hätte dieser nicht eine neue Versohlung und Verdielung für gut befunden. Und da geschah es denn, daß eines schönen Tages der alte vergessene Dachs zum Vorschein kam und in seiner alten treuherzigen Weise die Zimmerleute fragte: "Gu’n Morgen ok! Kennt Ji mi woll noch?" Und siehe da! sie kannten ihn wieder, denn es waren Stavenhäger Kinder. – Er ist jetzt in meinem Besitz, er hat mir auf meiner Laufbahn als Schulmeister wesentlich weiter geholfen und wird von mir als Reliquie aus einer schönen Zeit hoch geschätzt. (Fritz Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen)

14 Juni 2010

Matilda

Roald Dahls Erstklässlerin leidet unter schrecklichen Eltern wie Harry Potter, doch es sind ihre leiblichen. Sie hat die Kraft, sich zu wehren, doch ohne Zauberei, nur mit Intelligenz. Sie trifft auf eine makellos schöne Lehrerin, die Karikatur einer dummen Blondine, doch die erkennt Matildas Begabung und setzt sich für sie ein. Matilda trifft auf einen formidablen Gegner, vor dem alle zittern. Doch der ist kein Zauberer, sondern ein Verschnitt aus Uwe Beyer und Magaret Thatcher. Matildas Schulleiterin hat sich als Hammerwerferin ins Kinderschleudern eingeübt und ist von mythischer Aggressivität, doch fürchtet sie die Schulaufsicht, Recht und Gesetz.
Da entdeckt Matilda ihre Zauberkraft, fernhinwirkend wie Oskar Matzerath, doch übt sie sie nicht an Glasscheiben, sondern an Kreide und Schultafel.

Bleibt nur die Frage: Kannte Dahl nur die Bibel oder auch schon Heine?

06 Dezember 2009

Die sachliche Schule

Mr. Gradgrind schwebte von der Schule hochzufrieden nach Hause. Es war seine Schule, und er hatte sie zu einem Muster bestimmt. Er wollte aus jedem Kinde darin ein Muster machen - ganz wie die jungen Gradgrinds sämtlich Muster waren.

Es gab fünf junge Gradgrinds und jedes von ihnen war ein Muster. Sie waren von ihrem zartesten Alter an gehofmeistert worden: gehetzt wie junge Hasen. Beinahe seit sie allein laufen konnten, wurden sie angehalten, in die Schule zu laufen. Der erste Gegenstand, mit dem sie in Berührung kamen, oder von dem sie eine Erinnerung hegten, war eine große schwarze Tafel, woran ein garstiger Oger schreckliche weiße Figuren mit Kreide malte.

Nicht daß sie etwas von der Natur oder dem Namen Oger wußten. Bewahre die Tatsächlichkeit! Ich bediene mich nur des Ausdrucks, um ein Ungeheuer in einem pädagogischen Kastell zu bezeichnen, das mit einem, der Himmel weiß aus wie vielen Köpfen bestehenden Haupt die Jugend gefangennahm und sie bei den Haaren in die düsteren statistischen Höhlen schleppte.

Kein Junges von den Gradgrinds hat je ein Gesicht im Monde gesehen. Es war schon oben im Mond, ehe es noch deutlich sprechen konnte. Kein Junges von den Gradgrinds hat je das einfältige Reimgeklingel gelernt: O schimmre, schimmre kleiner Stern. Was du denn bist, wie wüßt' ich's gern! es hat nie Bewunderung für diesen Gegenstand gehegt, da es schon mit fünf Jahren den großen Bären wie ein Professor Owen zergliedern und den Charles Wain wie ein Lokomotivführer treiben konnte. Kein Junges von Gradgrinds hat je eine Kuh auf dem Felde mit jener berühmten Kuh mit dem krummen Horn in Verbindung gebracht, die den Hund emporschleuderte, der die Katze erwürgte, die die Ratte tötete, die das Malz fraß, oder mit der noch berühmteren Kuh, die Tom Thumb verschlang. Es hatte nie von jenen Berühmtheiten vernommen und wurde mit der Kuh nur bekannt, als mit einem grasfressenden, wiederkäuenden, vierfüßigen Tier, das diverse Magen hatte.

Nein, unsere heutige Schule ist anders, und heutige Kinder dürfen spielen mit Gameboy, Handy, Play-station, aber doch bitte nicht in Pfützen oder auf Baugrundstücken. Schließlich schafft das keine Arbeitsplätze.
Dickens kannte noch nicht das Problem mit den Arbeitsplätzen, weil die Gemeinden jedem, der unverschuldet in Not geraten war, im Arbeitshaus Arbeit übergenug verschafften und Waisenkindern zumal. "Hard Times"

MR. GRADGRIND walked homeward from the school, in a state of considerable satisfaction. It was his school, and he intended it to be a model. He intended every child in it to be a model - just as the young Gradgrinds were all models.

There were five young Gradgrinds, and they were models every one. They had been lectured at, from their tenderest years; coursed, like little hares. Almost as soon as they could run alone, they had been made to run to the lecture-room. The first object with which they had an association, or of which they had a remembrance, was a large black board with a dry Ogre chalking ghastly white figures on it.

Not that they knew, by name or nature, anything about an Ogre Fact forbid! I only use the word to express a monster in a lecturing castle, with Heaven knows how many heads manipulated into one, taking childhood captive, and dragging it into gloomy statistical dens by the hair.

No little Gradgrind had ever seen a face in the moon; it was up in the moon before it could speak distinctly. No little Gradgrind had ever learnt the silly jingle, Twinkle, twinkle, little star; how I wonder what you are! No little Gradgrind had ever known wonder on the subject, each little Gradgrind having at five years old dissected the Great Bear like a Professor Owen, and driven Charles’s Wain like a locomotive engine-driver. No little Gradgrind had ever associated a cow in a field with that famous cow with the crumpled horn who tossed the dog who worried the cat who killed the rat who ate the malt, or with that yet more famous cow who swallowed Tom Thumb: it had never heard of those celebrities, and had only been introduced to a cow as a graminivorous ruminating quadruped with several stomachs.