28 Juni 2022

Thomas Mann: Doktor Faustus - Adrian Leverkühn

 Zeitblom bedauert, dass der Abschied von Adrian recht formlos war, weil es für ihn ein ganz wesentlicher Abschnitt war 

Zitat: 

"[...] erst jetzt, so schien es mir, lösten sich unsere Existenzen voneinander ab, begann für jeden von uns das Leben auf den eigenen zwei Beinen, und ein Ende sollte es haben mit dem, was mir doch so notwendig (wenn auch zwecklos) erschien, und was ich wieder nur mit denselben Worten, wie weiter oben, bezeichnen kann: nicht mehr sollte ich wissen, was er tat und erfuhr, nicht mehr mich neben ihm halten können, auf ihn acht-, ein unverwandtes Auge ihm auf ihn zu haben, sondern musste ihm von der Seite gehen gerade in dem Augenblick, wo mir die Beobachtung seines Lebens, obgleich sie gewiss an diesen nichts ändern konnte, am allerwünschenswertesten schien, nämlich wo er die gelehrte Laufbahn verließ, 'die Heilige Schrift unter die Bank legte', um mich seines Ausdrucks zu bedienen, und sich ganz der Musik in die Arme warf. [...] / 

Hier lasse ich einen Brief folgen, den ich zwei Monate nach meinem Dienstantritt in Naumburg von ihm erhielt, und den ich mit Empfindungen las, wie sie wohl eine Mutter bei solchen Mitteilungen eines Kindes bewegen mögen, – nur dass man freilich einer Mutter dergleichen schicklich vorenthält. [...] Seiner Antwort schicke ich nur noch voraus, dass ihre altertümliche Ausdrucksweise natürlich parodisch gemeint und Anspielung auf skurrile Hallenser Erfahrungen, das sprachliche Gebaren Ehrenfried Kumpfs ["Theologie-Professor Kumpf in Halle, der überdies zur Lutherparodie wird, als er mit der Semmel nach dem Teufel wirft, den er in der Zimmerecke zu sehen meint" (Wikipedia: Inkarnationen des Teufels)] ist, – zugleich aber auch Persönlichkeitsausdruck und Selbststilisierung, Kundgebung eigener innerer Form und Neigung, die auf eine höchst kennzeichnende Weise das Parodische* verwendet, sich dahinter verbirgt und verhüllt. *[das die Parodie mit ihren Mitteln umwandelnd - mit diesem ungebräuchlichen Ausdruck macht Zeitblom darauf aufmerksam, dass es dabei nicht um einfache Satire handelt, sondern, dass Adrian dabei - unabsichtlich -die Sprache einer Inkarnation des Teufels als 'Persönlichkeitsausdruck und Selbststilisierung' verwendet - vgl. H.-P.HaackZweideutigkeit als System]

Er schrieb: [...] /

Hier nun heißt es: 'Gott vertrauen, landt und leut beschauen, thut niemand gerauen.' [...] geht ein anderer Puls an als an der Saala, weil nämlich ein ziemlich Volk hier versammelt ist, mehr als siebenhunderttausend, was von vornherein zu einer gewissen Sympathie und Duldung stimmt, wie der Prophet schon für Ninive Sünde ein wissend und humorhaft verstehend Herz hat, wenn er entschuldigend sagt: 'Solche große Stadt, darinnen mehr als hunderttausend Menschen.' Da magstu denken, wie es erst bei siebenhunderttausend Nachsicht erheischend zugeht, wo sie in den Messe-Zeiten, von deren herbstlicher ich als Neu-Kömmling eben noch eine Probe hatte, aus allen Teilen Europas, dazu aus Persien, Armenien und anderen asiatischen Ländern noch erklecklichen Zustrom haben.
Nicht als ob mir dies Ninive sonderlich gefiele, [...]" (16. Kapitel, S.148-150)

"darauf sitzen dir Nymphen und Töchter der Wüste, sechs oder sieben, wie soll ich sagen, Morphos, Glasflügler, Esmeralden, wenig gekleidet, durchsichtig gekleidet, in Tüll, Gaze und Glitzerwerk, das Haar lang offen, kurzlockig das Haar, gepuderte Halbkugeln, Arme mit Spangen, und sehen dich mit erwartungsvollen, vom Lüster gleißenden Augen an.
Mich sehen Sie an, nicht dich. Hat mich der Kerl, der Gose-Schleppfuß ["mit seinen Vorlesungen, in denen er das Geschlechtliche verteufelt" (Wikipedia: Inkarnationen des Teufels)] in eine Schlupfbude geführt! Ich stand und verbarg meine Affecten, sehe mir gegenüber ein offen Klavier, einen Freund, geh über den Teppich drauf los und schlage im Stehen zwei, drei Akkorde an, weiß noch, was es war, weil mir das Klangphänomen gerade im Sinne lag, Modulation von H- nach C-Dur, aufhellender Halbton-Abstand wie im Gebet des Eremiten im Freischütz-Finale, bei dem Eintritt von Pauke, Trompeten und Oboen auf dem Quartsextakkord von C. Weiß es im Nachher, wusste es aber damals nicht, sondern schlug eben nur an. Neben mich stellt sich dabei eine Bräunliche, in spanischem Jäckchen, mit großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen, Esmeralda, die streicht mir mit dem Arm die Wange. Kehre ich mich um, stoße mit dem Knie die Sitzbank beiseite und schlage mich über den Teppich zurück durch die Lusthöhle, an der schwadronierenden Zatzenmutter vorbei, durch den Flur und die Stufen hinab auf die Straße, ohne das Messinggeländer nur anzufassen." (16. Kapitel, S.153)

"Neben dieser äußeren geistig-künstlerischen Entwicklung durchläuft Leverkühn während des Leipzig-Aufenthalts auch eine innere seelische Entwicklung. Insbesondere der Kontakt zu einer Prostituierten („Esmeralda“), die der Komponist scheinbar zufällig kennenlernt, bewirkt – wie später die geheimen Aufzeichnungen Leverkühns offenbaren –, dass dieser sich immer mehr zum Teufel hingezogen fühlt. Der Ruf „hetaera esmeralda“, den Leverkühn als Tonfolge „h-e-a-e-es“ motivisch wiederkehrend in seine Werke einbaut, wird zum Ausdruck jener Verlockung. Um musikalische Genialität zu erlangen und neuartige, die alte klassische Harmonie sprengende Musikwerke schreiben zu können, lässt sich Adrian von Esmeralda bewusst und trotz deren Warnung mit Syphilis infizieren und zahlt so seinen Tribut an den Teufel." (Wikipedia)

17. Kapitel

Zeitblom: "Der kategorischen Weisung, diesen Brief zu vernichten, bin ich nicht gefolgt - wer will es einer Freundschaft verargen, welche das darin auf Delacroix' Freundschaft für Chopin gemünzte Beiwort 'tief aufmerksam' für sich in Anspruch nehmen darf? [...]  ich lernte, es als ein Dokument zu betrachten, von dem der Vernichtungsbefehl ein Bestandteil war, so dass er eben durch seinen dokumentarischen Charakter sozusagen sich selber aufhob." (S.155) (Zweideutigkeit als System)

H.-P. HaackZweideutigkeit als System (zu Doktor Faustus)

"Als letzter großer Roman gedacht, ist in Doktor Faustus die Vielschichtigkeit der Bedeutungsebenen in bis dahin unerreichte Höhe getrieben. Vordergründig ein Künstlerroman, ordnet ihn Thomas Mann weiteren Romangattungen zu ist. In seinen Selbstkommentaren spricht er von einem "religiöse[n] Buch"[1] "einer Lebensbeichte"[2] einem "Epochen-Roman"[3], einem "Roman der Musik"[4] einem "Gesellschaftsroman"[5] einem "verkappten Nietzsche-Roman" [6] und dem Versuch, Musik mit Sprache wiederzugeben . [7] Seine "essayistischen Teile" [8] – eine weitere Bezugsebene - enthalten Begriffsbestimmungen zur Kunst.

Thomas Manns pointierte Formel "Zweideutigkeit als System" [9] wurde zu seiner bekanntesten Forderung an die Kunst. Adrian Leverkühn äußert sie, bezogen auf die Musik und am Beispiel der enharmonischen Verwechslung. Musik ist hier eine Chiffre für Kunst. [10]"

27 Juni 2022

Thomas Mann: Doktor Faustus - Aufklärung und Volk

 Zeitblom spricht statt von Aufklärung lieber als von Aufhellung (Enlightenment), als er sich dem Begriff "Volk" nähert.

"Hier ein ungescheutes Wort, das aus den Erfahrungen unserer Tage kommt. Für den Freund der Aufhellung behalten Wort und Begriff des 'Volkes' selbst immer etwas Archaisch-Apprehensives,  und er weiß, dass man die Menge nur als 'Volk' anzureden braucht, wenn man sie zum Rückständig-Bösen verleiten will. Was ist vor unseren Augen, oder auch nicht just vor unseren Augen, im Namen des 'Volkes' nicht alles geschehen, was im Namen Gottes, oder der Menschheit, oder des Rechtes nicht wohl hätte geschehen können! - Tatsache nun aber ist, dass wirklich Volk immer Volk bleibt, wenigstens in einer bestimmten Schicht seines Wesens, eben der archaischen, und dass Leute und Nachbarn vom Kleinen Gelbgießer-Gang –, die am Wahltage einen sozialdemokratischen Stimmzettel abgaben, gleichzeitig imstande waren, in der Armut eines Mütterchens, das sich keine oberirdische Wohnung leisten konnte, etwas Dämonisches zu sehen und bei ihrer Annäherung nach ihren Kindern zu greifen, um sie vor dem bösen Blick der Hexe zu schützen." (S.42)

26 Juni 2022

Thomas Mann: Doktor Faustus - Ines

  " 'Serenus, schelten, verachten, verwerfen Sie mich?' 'Mitnichten, Ines', erwiderte ich. 'Bewahre Gott, ich habe es mir immer gesagt sein lassen jenes 'Die Rache ist mein, ich will vergelten'. Ich weiß, Er senkt die Strafe schon in das Vergehen hinein und tränkt es ganz mit ihr, so dass das eine nicht vom anderen zu unterscheiden ist und Glück und Strafe dasselbe sind. Sie müssen sehr leiden. Säße ich hier, wenn ich zum Sittenrichter gemacht wäre? Dass ich für Sie fürchte, das leugne ich nicht. Aber Ich hätte auch das für mich behalten ohne Ihre Frage, ob ich Sie schelte.'

'Was ist Leiden, was sind Furcht und demütigende Gefahr', sagte sie, 'im Vergleich mit dem einen, süßen, unentbehrlichen Triumph, ohne den man nicht leben wollte: das leichtfertige, Entgleitende, das Weltliche, die Seele mit uns fahrlässiger Nettigkeit Quälende, das aber dennoch wahren menschlichen Wert hat, an diesem seinem ernsten Werte festzuhalten, sein Stutzertum zum Ernst zu zwingen, das Lose zu besitzen und es endlich, endlich, nicht einmal nur, sondern zur Bestätigung und Versicherung nie oft genug, in dem Zustand zu sehen, der seinem Wert gebührt, im Zustand der Hingebung, der tief seufzenden Leidenschaft!'
Ich sage nicht, dass die Frau sich genau dieser Worte bediente, aber sehr annähernd so drückte sie sich aus. Sie war ja belesen und gewohnt, / ihr inneres Leben nicht stumm zu führen, sondern es zu artikulieren, und hatte sich als Mädchen sogar in der Dichtkunst versucht. Ihre Worte besaßen gebildete Präzision und etwas von der Kühnheit, die immer entsteht, wenn die Sprache Gefühl und Leben ernstlich zu erreichen und in sich aufgehen zu lassen, sie in sich erst wahrhaft leben zu lassen bestrebt ist. Dies ist kein alltäglicher Wunsch, sondern ein Erzeugnis des Affektes, und insofern sind Affekt und Geist verwandt, insofern aber auch ist der Geist ergreifend." (S.357/58)

"Ines Rodde, Helmut Institoris

Ines ist die Tochter der verwitweten Senatorin Rodde. Der fiktive Biograph Zeitblom beschreibt sie als nicht ohne weiblichen Reiz mit ihrem schweren Haar, mit ihren kleinen, Grübchen bildenden Händen und ihrer vornehm auf sich haltenden Jugend. Er deutet auch die Kehrseite ihres Wesens an, „in ihrer seelischen Gebrechlichkeit, mit ihrem verhängten Blick voll distinguierter Trauer, ihrem schräg vorgeschobenen Hälschen und ihrem zu schwacher und prekärer Schelmerei gespitzten Mund.“

Von „patrizischer Abkunft“, aber ohne Mitgift, heiratet sie den von Haus aus reichen Privatdozenten Dr. Helmut Institoris, der in seinen kunsttheoretischen Vorlesungen zur Renaissance für alles Starke und Rücksichtslose schwärmt, selbst aber keine Kraftnatur ist. Eher klein, leise und lispelnd sprechend, zart und nervös, ist er Stammgast in einem Sanatorium für reiche Leute in Meran.

Aus der lieblosen, nur als bürgerliche Fassade geführten Ehe gehen drei Kinder hervor, die Ines Institoris von ihren Kindermädchen aufziehen lässt. Schon vor der Heirat war sie von dem „knabenhaften Frauenliebling“ Rudi Schwerdtfeger fasziniert, den sie nun zu ihrem Geliebten macht. Sie führt fortan ein Doppelleben, aber diese Beziehung vermag bei aller Leidenschaftlichkeit nicht ihre Leere zu füllen, zumal Rudi ihre Liebe nur „aus Kavalierspflicht“ erwidert. Ines wird zur Morphinistin. Als Schwerdtfeger schließlich, eingefädelt von Leverkühn, eine andere heiraten und nach Paris ziehen will, erschießt Ines den treulosen Liebhaber, als dieser nach seinem erfolgreichen Münchener Abschiedskonzert mit der Straßenbahn nach Hause fährt, und besiegelt damit zugleich ihr eigenes bürgerliches Schicksal." (Wikipedia)

mehr zu Doktor Faustus in diesem Blog

Doktor Faustus (Wikipedia)

Die Entstehung des Doktor Faustus* (Wikipedia) 

*Mit einer gewissen Verwunderung entdecke ich, dass etwas über 60 Prozent des gegenwärtig vorliegenden Artikels zur 'Entstehung' von mir stammen, fast alles im November 2007 eingestellt. Das scheint mir ein guter Beleg dafür, eigene Texte zur freien Verfügung ins Internet zu stellen. Hätte ich den Text irgendwo in meinem Lektüretagebuch festgehalten, wäre ich jetzt vermutlich nicht auf ihn gestoßen. Außerdem hätte H.-P.Haack dort nicht seine Überlegungen zu Zweideutigkeit als System verlinken können. Ich benutze diese persönliche Anmerkung auf diese scharfsinnigen Beobachtungen hinzuweisen.



23 Juni 2022

Uwe Wittstock: Februar 33 : Der Winter der Literatur

 Uwe Wittstock: Februar 33 : Der Winter der Literatur München C.H.Beck 2021


Carl Zuckmayer (S.11-21) Ernst Udet (S.17-21)

Erich Maria Remarque (S.26-30)

Th. Mann und Hanns Johst* verstanden sich in der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg noch recht gut, beide waren nationalistisch deutsch. (S.70-72)
"In den 1920er Jahren wurde Johst einer der bekanntesten deutschen Nachwuchs-Dramatiker, den die politisch Rechten für sich reklamierten. In dieser Zeit war er auch gut bekannt mit Thomas Mann, den er bewunderte. 1922 kündigte Johst diese Verbindung wegen Manns Bekenntnis zum demokratischen Staat aber auf.[2]" (Hanns Johst - Wikipedia) Ja, er schrieb sogar an Himmler, man könne "vielleicht Herrn Thomas Mann, München, für seinen Sohn ein wenig inhaftieren? Seine Produktion würde ja durch eine Herbstfrische in Dachau nicht leiden.“ (Hanns Johst)

10.2.33 Th. Mann: Leiden und Größe Richard Wagners (Vortrag auch auf Auslandstournee)
"Er nennt Wagner einen 'Sozialisten und Kulturutopisten' [...] lobt [...] seine 'europäische Artistik' und behauptet sogar, dass man Wagner inzwischen 'ganz sicher einen Kulturbolschewisten nennen würde.' " (S.91)

14.2.33 Vicki Baum Menschen im Hotel Uraufführung des Hollywood-Films in Berlin (S.105-109)
15.2.33 Max von Schillings lässt sich von Bernhard Rust drängen, Käthe Kollwitz und Heinrich Mann aus der Akademie zu drängen. (S.109-123) "Während seiner Amtszeit als Präsident der Preußischen Akademie der Künste begannen die erzwungenen Austritte und Ausschließungen bedeutender jüdischer und unangepasster Künstler (Käthe KollwitzHeinrich MannRicarda HuchAlfred DöblinThomas MannMax LiebermannAlfons PaquetFranz WerfelJakob Wassermann). Max von Schillings betrieb auch die Entlassung zweier bedeutender Kompositionslehrer: er drängte Arnold Schönberg zum Rücktritt von seinem – eigentlich auf Lebenszeit geltenden – Vertrag und er versetzte Franz Schreker zwangsweise in den Ruhestand." (Wikipedia)
Ricarda Huch tritt allerdings nicht gedrängt, sondern aus Empörung über den Schutz des Rechtes auf freie Meinungsäußerung zurück und verfasst dabei einen Brief, der schon vor Thomas Mann Wesentliches von dem formuliert, was dessen Brief an den Rektor der Bonner Universität so auszeichnet. 
16.2.: Brecht und Margarete Steffin (S.125-27), Else Lasker-Schüler (S.127/28)
17.2.: Oskar Maria Graf u. Mirjam Sachs ( (1890–1959), eine Cousine von Nelly Sachs). (S.129/32) - Görings Schie0ßerlass (S.132/33); Überfall auf Staatliche Kunstschuele (S.133/34); Carl von Ossietzky will bleiben, Hans Sahl berichtet später davon. (S135/36)
18.2.: Heinrich George tendiert von links nach rechts. Georg Kaisers Silbersee wird aufgrund von Protesten von Nazis u.a. nach drei Premieren abgesetzt. (Danach bis 1945 kein Stück von Kaiser mehr gespielt).  Die wesentlichen Mitwirkenden gehen ins Exil, Gustav Brecher begeht dort Selbstmord aus Angst vor den Deutschen. (S.137/40)
22. Februar: Göring ernennt 40.000 SA- und SS-Männer und 10.000 Angehörige des Stahlhelms zu Hilfspolizisten
H. Johsts Stück Schlageter wird ein riesiger Bühnenerfolg, Johst wird reich und später Chef der Reichsschrifttumskammer, Präsident des deutschen PEN-Zentrums und Gruppenführer der SS. (S.169-71)
24.2.: Therese Giehse (S.171/72)  
25.2.: Gabriele Tergit (S.174/5) Ferdinand Bruckner u. Gustav Hartung (S.175-179)
27.2.: Walter Mehring, Bert Brecht, Mascha Kaléko (S.180-191);  Benn schreibt an Egmont Seyerlen (Gottfried Benn/Egmont Seyerlen, Briefwechsel 1914–1956. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Schuster. Stuttgart 1993)

28. Februar: Ossietzky entscheidet sich wieder gegen Flucht

Erich Mühsam hat am 27. Februar erstmals Geld für Fahrkarte nach Prag, wird um 5:00 Uhr morgens verhaftet, fast gleichzeitig mit Egon ErwinKisch und Carl von Ossietzky 47 Personen in Gemeinschaftszelle; Brecht und Weigel fahren nach Prag.

Verordnungen des Reichspräsidenten erstens zum Schutz von Volk und Staat und zweitens gegen Verrat am deutschen Volk (Abschaffung der Grundrechte und Erweiterung der Todesstrafe)

Hitler: "Ich brauche keine Bartholomäusnacht." Er hat die Verordnungen, die ihm staatliche Gewalt für die geplanten Verbrechen geben. Martin Buber empfiehlt Willi Münzenberg Flucht über das Saarland; aber 1940 wird Münzenberg aus der KPD ausgeschlossen und stirbt.

Döblin wird verfolgt, kann Verfolger abschütteln; Klaus Mann fährt nicht nach Berlin

130 Kommunisten verhaftet (S. 200-210)

1. März: Döblin meldet sich bei Ludwig Binswanger in Kreuzlingen an. Fritz Langhoff kommt nach Berlin, wird gewarnt flieht zu wechselnden Adressen (S. 211-16)

3. März: Barbara Brecht zweieinhalb Jahre wird von Irene Grand aus Deutschland nach Österreich gebracht. In Nohra bei Weimar "Am 3. März 1933 wurde im Gebäude der Heimatschulbewegung am Rande der Gemarkung Nohra das KZ Nohra als das erste Konzentrationslager in der Zeit des Nationalsozialismus eingerichtet. Heute erinnert nichts mehr an dieser Stelle an das KZ.[4] " (Wikipedia) (S. 216-18)

4. März: Gabriele Tergit  und Benno Reifenberg entkommen dank Verbindungen zur politischen Polizei (Nazis, aber für gesetzliche Regelungen) (Seite 218-221)

5. März: Wahltag Mirjam Sachs, Lebensgefährtin von Oskar Maria Graf, stimmt in München gegen Hitler, kommt nach Wien (S. 222-225)

6. März: Nelly Kröger kann von einem Fischer nach Dänemarkgeschmuggelt werden. (S. 225-30)

7. März: Eine Volksbuchhandlung in Dresden wird von der SA ausgeraubt, die erste Bücherverbrennung der Nazis (S. 230 - 235)

8. März: Harry Graf Kessler fährt ohne Fluchtgedanken nach Paris. Else Lasker-Schüler muss Lesung absagen (Seite 235-36)

10. März: Hermann Kesten, Thomas Mann. Ehemaliger Reichsinnenminister Wilhelm Sollmann von der SPD wird verprügelt, kommt in Schutzhaft, kann dann aber über das Saarland entkommen (Seite 237-44)

11. März: Erika und Klaus Mann sind in München (Seite 244-46)

13. März: Therese Giese erzählt noch einen hitlerfeindlichen Witz, wird denunziert und entkommt über Österreich in die Schweiz. Klaus Mann fährt nach Paris

Gottfried Benn* legt den Mitgliedern der Abteilung für Dichtkunst der Akademie der Künste eine Unterwerfungserklärung unter den NS-Staat vor, die wird von allen Anwesenden unterschrieben. [*Benn verfasste mit Max von Schillings  eine   Loyalitätsbekundung für Hitler, die den Mitgliedern eine nicht-nazistische politische Betätigung verbot: „Sind Sie bereit unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Reichsregierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage.“[8] Die Mitglieder mussten bei Drohung ihres Ausschlusses unterschreiben.] Lauter NS-treue Schriftsteller treten neu ein. ["darunter Werner BeumelburgHans Friedrich BlunckHans CarossaPeter DörflerPaul ErnstFriedrich GrieseHans GrimmHanns JohstErwin Guido KolbenheyerAgnes MiegelBörries Freiherr von MünchhausenWilhelm SchäferEmil Strauß und Will Vesper.[9][10]"(Wikipedia)] Benn ist entsetzt über den Niveauverlust (S. 247-55)

15. März: Manès Sperber (Seite 258-61); Verprügelungen durch SA,  Rudolf Diels berichtet nach dem zweiten Weltkrieg darüber (S. 263/64) (Gesamtkapitel: S. 256-64)

Lebensabrisse (Seite 265-72)

Nachwort (Seite 273-75)



22 Juni 2022

Psalmen Salomos

Die bittere Frucht des Makkabäerkriegs.

1

1 Ich schrie zum Herrn in meiner äußersten Drangsal,
zu Gott, als Sünder [mir] zusetzten[1].
2 Plötzlich drang mir Kriegsgeschrei in die Ohren;
’ich sprach‘: Er hört mich[2], weil ich voll Gerechtigkeit bin.
3 Ich bildete mir ein, ich sei voll Gerechtigkeit,
weil ich Glück hatte und reich an Kindern ward[3].

[131]

4 Ihr[4] Reichtum erfüllte alle Welt,
und ihr Ruhm [drang] bis ans Ende der Erde.
5 Sie stiegen hinauf bis zu den Sternen,
dachten, sie könnten nicht zu Falle kommen.
6 Sie wurden übermütig in ihrem Glück
und konnten es nicht ertragen.
7 Ihre Sünden [geschahen] im Verborgenen,
und ich wußte es nicht.
8 Ihre Greuel [gingen] über die Heiden vor ihnen[5];
sie haben das Heiligtum des Herrn schändlich entweiht.

  1.  Die Drangsal ist die Not, in die die jüdische Gemeinde durch den Angriff der syrischen Könige auf ihre Religion gebracht wird. Die „Sünder“ sind somit die heidnischen (vgl. z. B. 2,1. 2, auch Gal. 2, 15) Syrer, und der Krieg von V. 2 ist nichts anderes als der makkabäische Aufstand. Das redende Subjekt ist die fromme Gemeinde, bezw. die pharisäische Partei im Namen der Gemeinde.
  2.  ἐπακούσεται. Lies dafür mit M. Schmidt: εἶπα ἀκ. oder besser mit v. Gebhardtεἶπα ἐπακ.
  3.  Das V. 2b Gemeinte stellt sich nachträglich als bloße Einbildung heraus: dem Glücke des Siegs folgt die bitterste Enttäuschung der Frommen. Die Hasmonäer, das durch die makkabäische Erhebung emporgebrachte WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt Herrschergeschlecht, und ihr (sadduzäischer) Anhang sind zwar Juden und konnten deshalb die Frommen lange über ihr wahres Wesen täuschen (V. 7), aber in der That sind sie voll heidnischer Sitten und treiben es schlimmer als die Heiden selbst (V. 8). In Wahrheit sind sie somit eine Gefahr für die Gemeinde. Vgl. auch 8,1-6.
  4.  Gemeint sind hier und im Folgenden die „Kinder“ Judas von V. 3 — natürlich nicht die Gesamtgemeinde, wohl aber eine starke und vielfach maßgebende Richtung in ihr.
  5.  Dieses πρὸ αὐτῶν kann nur zeitlich gemeint sein, nicht = neben ihnen, um sie (ἐνώπιον). Es liefert damit den endgiltigen Beweis, daß der Ps. auf Herrscher oder Gewalthaber jüdischen Geschlechts geht, die es schlimmer treiben als die Heiden (Seleuciden), die früher die Gewalt innehatten.

Wikisource Psalm 1 in: Psalmen Salomos (Dort finden sich auch die Psalmen 2-18.)


vgl. auch:

Paul Rießler: Jüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel 

1. Psalm: Der Hasmonäer Frevel

1. Ich schrie zum Herrn in meiner höchsten Not,

zu Gott beim Angriffe der Sünder.

2. Es tönte Kriegsgeschrei mir in den Ohren; ich sprach: 
Er hört mich, weil ich von Gerechtigkeit erfüllt.
3. Ich bildete mir ein, ich wäre von Gerechtigkeit erfüllt, 
weil’s mir so gut gegangen, 
weil ich so reich an Kindern war.
4. Ihr Reichtum war in aller Welt bekannt;
bis zu der Erde Ende drang ihr Ruhm.
5. Bis zu den Sternen stiegen sie empor;
sie dachten, nie zu Fall zu kommen.
6. So wurden sie in ihrem Glück übermütig
und konnten's nicht ertragen.
7. Doch im Verborgenen geschah in ihrer Sünden;
ich wusste nichts davon.
8. Doch ihre Greuel gingen über die der Heidenwelt vor ihnen,
und sie entweihten grauenhaft das Heiligtum des Herrn.
(S.881)
[...]

Zu den Psalmen Salomons
Die 18 Lieder gaben ein treues Bild der religiösen Stimmung innerhalb des palästinensischen Judentums der letzten Zeit vor Christi Geburt. Sie stammen aus pharisäischen Kreisen 
(siehe 9,4 freie Wahl vgl. Jos. Ant. XIII 5,9 "Die Pharisäer behaupten, nicht alles sei des Geschickes Werk; bei einigem stehe es vielmehr bei uns, ob es geschehe oder nicht. Die Essener lehren, das Geschick leite alles.") Ihre Ursprache war hebräisch oder aramäisch (Kautzsch, Pseudepigr. II 1903 127 ff DLZ V 1902. R.H.Charles  Pseudepigr. II 1913, S.625ff).
[Psalm] 1 1 Ich = die jüdische Gemeinde. Sünder = die heidnischen Syrer unter Antiochus Epiphanes und den späteren Seleukidenkönigen
(S.1322)





Achtzehngebet

 1. Achtzehngebet


1 Lobspruch

Herr, öffne meine Lippen!
Mein Mund verkündige dein Lob!
Gepriesen seist du, Herr,
du unser Gott
und unsrer Väter Gott!
Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs,
du großer, starker, schreckensvoller Gott,
du höchster Gott,
du Schöpfer Himmels und der Erden,
du unser Schild
und unsrer Väter Schild,
du unsere Zuflucht von Geschlechte zu Geschlecht!
Gepriesen seist du, Herr,
du Schild des Abraham!

2 Lobspruch

Du bist gar stark,
erniedrigest die Stolzen.
Du bist so kraftvoll,
hältst über Trotzige Gericht.
Du lebst in Ewigkeit,
erweckest Tote.
Du läßt die Winde wehen,
den Tau herniederrieseln.
Du sorgst für Lebende,
belebst die Sterbenden.
In einem Augenblick
läßt du uns Heil ersprießen.
Gepriesen seist du, Herr,
der du die Sterbenden belebst!

3 Lobspruch

Du bist so heilig,
und furchtbar ist dein Name,
Nicht gibt es außer dir sonst einen Gott
Gepriesen seist du, Herr;
du heiliger Gott!

[4 - 18] (Wikisource)


Zum Achtzehngebet

Das heute noch übliche Tagesgebet der achtzehn Lobsprüche entstand nach dem Jahr 70 n. Chr. Die Belebung der Toten (2) ist nach Ez 37, 1 ff die Wiedererweckung des scheinbar toten Israel nach der scheinbaren Vernichtung Israels durch die römische Weltmacht im Jahre 70. Das Gebet liegt in einer palästinensischen und einer längeren babylonischen Form vor (s. Berakot b. O. Holtzmann 1912) [Mischna I 1].

2 Die Toten sind das scheinbar tote Israel. [...]

(Wikisource)

19 Juni 2022

Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

 Katarina PoladjanZukunftsmusik (7 Kurzrezensionen bei Perlentaucher)

Bewohner der Kommunalka: Warwara, Maria, Janka, Kroschka Frauen/Mädchen in 4 Generationen; weitere zunächst nichtssagende Namen, bis zwischen den Personen Beziehungen erkennbar werden. Der Funktionär Matwej, ist zu Maria hingezogen, als er eine Experiment mit tödlichen Folgen gemacht hat, sucht er das Gespräch mit ihr. In Angst, verfolgt zu werden, lässt er sich darauf ein,  Kroschka vom Kindergarten abzuholen (S.121)

"Was die Amerikaner vom Mond übrig gelassen hatten, hing tief am Nachmittagshimmel." (S.123) Matwejs Vorgeschichte (S.124-129)
Jankas Begegnung mit Pawel und Andrej (S.136-140)
Behutsam sind in den locker gedruckten 185 Seiten des Romans surrealistische Elemente eingestreut. Der Professor, von dem immer nur gesprochen wird, der aber nie auftritt, ist durch ein Loch in seinem Zimmer, das zum Himmel offen ist, verschwunden ("Ein Schleudersitz, der ganz leicht auf und ab schwang. Genau über dem Sitz klaffte oben in der Zimmerdecke ein Loch. Janka [...] sah hinauf zu dem Loch in der Decke. Zu ihrer Überraschung sah sie den Himmel." S.65) Janka reißt ihrem Kind im Kindergartenalter einen Arm aus ("Janka nahm Marwej das Kind ab, riss Kroschka dabei versehentlich einen Arm aus, legte den Arm auf die Kommode, drückte das Kind an sich, küsste es ab." (S.169) Darauf nimmt es die Oma mit sich "nahm Kroschka und den ausgerissenen Arm. Ist alles halb so schlimm, murmelte sie im Hinausgehen." (S.170) Das Kind zeigt bei allem keinerlei Reaktion. "Das müsste erst einmal halten, sagte [der Funktionär] Matwej [...], legte das Werkzeug beiseite und blickte Maria über seine Brille an. (S.171)
Am Schluss findet Janka in der überfüllten Gemeinschaftswohnung eine Tür, die sie noch nie gesehen hat: "Dahinter tat sich eine Landschaft auf: Die Sonne stand tief über den Wassern des schwarzen Flusses [...] ungewöhnlich kleine Kirschbäume blühten in voller Pracht unter einem wolkenlosen Himmel.
Lange stand Janka einfach da und schaute, war glücklich [...] und verbeugte sich tief." (S.185)
Die einzige Sexszene des Romans spielt zwischen der Urgroßmutter Warwara, die nicht Warenka genannt werden will, und Ippolit, der sonst keine Rolle spielt; die lebensgefährlichen Experimente, die Matwej an Freiwilligen im Auftrag des Staates durchführt, der Student, der dabei umkommt; das Fest, bei dem Janka singen will, Pawel und Andrej, die Gitarre, die Karisen, ...

18 Juni 2022

Heinrich Böll

 Da dieser Literaturblog erst 2007 begonnen wurde, kann es nicht verwundern, dass seine Werke hier nur als wieder gelesene auftauchen, bezeichnenderweise nur das Irische Tagebuch mit einem eigenen Artikel.

Unter Lieblingsbücher habe ich erwähnt, dass ich selbstverständlich Brecht und Böll gelesen habe, dass aber keins ihrer Werke zu meinen Lieblingsbüchern zählt.

Böll als Figur auf dem Kölner Rathausturm

Besonders geschätzt habe ich:

 Irisches Tagebuch (1957)

Erzählungen aus Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (1958)

 Billard um halbzehn (1959)

Die Ansichten eines Clowns (1963) habe ich auf Anregung hin gelesen, aber - ohne sie abzulehnen, nie besonders geschätzt. In Erinnerung habe ich besonders den Kohlgeruch ("Kohl dämpft die Sinnlichkeit"), den der Erzähler durch die Telefonleitung hindurch riechen konnte. 

Mit Einfühlung gelesen habe ich (ganz anders als den "Clown")  das Gruppenbild mit Dame  (1971). Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) war für mich ein wichtiges Literaturerlebnis, auch wenn ich mich mit dem Stil nicht besonders anfreunden konnte. Ich habe sie gern im Unterricht besprochen.  1990 habe ich ein Aufsatzthemadazu gestellt, doch meine Computer-Notizen dazu finde ich trotz des ungebräuchlichen Stichworts "Mörderbraut" nicht mehr. 

Menschlich ein großes Vorbild, nicht zuletzt durch seine Aufnahme von Solschenizyn und seine Teilnahme an den Sitzblockaden in Mutlangen wurde er mir als Lektüre unwichtig, auch wenn ich einige Erzählungen aus Interesse 'nachangeschafft' habe. Literaturnobelpreisträger wurde er vermutlich wie Hermann Hesse  wohl mehr wegen der Breitenwirkung seines Werks und seiner Person als aufgrund der Anerkennung seines literarischen Ranges. Dass er als Statue auf dem Kölner Rathausturm ein Denkmal erhalten hat, erfuhr ich erst heute aus dem Wikipediaartikel (Bild sieh oben!). (Welche deutschen Schriftsteller, die nach 1945 hervorgetreten sind, wurden schon durch ein Denkmal geehrt?)


14 Juni 2022

Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus

  Wolfgang KoeppenDas Treibhaus 

Es ist ein historischer Roman aus einer längst vergangenen Zeit aus der frühen BRD. Das merkt man an dem Zitat: "es reiste sich gut mit der Deutschen Bundesbahn".

Zitat:

Er reiste im Schutz der Immunität, denn er war nicht auf frischer Tat ertappt worden. Aber wenn es sich zeigte, daß er ein Verbrecher war, ließen sie ihn natürlich fallen, lieferten ihn freudig aus, sie, die sich das Hohe Haus nannten, und welch ein Fressen war es für sie, welch ein Glück, welche Befriedigung, daß er mit einem so großen, mit einem so unvorhergesehenen Skandal abging, in die Zelle verschwand, hinter den Mauern der Zuchthäuser vermoderte, und selbst in seiner Fraktion würden sie bewegt von der Schmach sprechen, die sie alle durch ihn erlitten (sie alle, sie alle Heuchler), doch insgeheim würden sie sich die Hände reiben, würden froh sein, daß er sich ausgestoßen hatte, daß er gehen mußte, denn er war das Korn Salz gewesen, der Bazillus der Unruhe in ihrem milden trägen Parteibrei, ein Gewissensmensch und somit ein Ärgernis.

Er saß im Nibelungenexpreß. Es dunstete nach neuem Anstrich, nach Renovation und Restauration; es reiste sich gut mit der Deutschen Bundesbahn; und außen waren die Wagen blutrot lackiert. Basel, Dortmund, Zwerg Alberich und die Schlote des Reviers; Kurswagen Wien Passau, Fememörder Hagen hatte sich's bequem gemacht; Kurswagen Rom München, der Purpur der Kardinäle lugte durch die Ritzen verhangener Fenster; Kurswagen Hoek van Holland London, die Götterdämmerung der Exporteure, die Furcht vor dem Frieden.
Wagalaweia, rollten die Räder. Er hatte es nicht getan. Er hatte nicht gemordet. Wahrscheinlich war es ihm nicht gegeben zu morden; aber er hätte morden können, und die bloße Vorstellung, daß er es getan hatte, daß er das Beil gehoben und zugeschlagen hatte, diese Annahme stand so klar, so lebendig vor seinen Augen, daß sie ihn stärkte. Die Mordgedanken liefen wie Ströme hochgespannter Energie durch Leib und Seele, sie beflügelten, sie erleuchteten, und für einen Weile hatte er das Gefühl, es würde nun alles gut werden, er würde alles besser anpacken, er würde zupacken, er würde sich durchsetzen, er würde zur Tat gelangen, sein Leben/ ausschöpfen in neue Reiche vorstoßen - nur leider hatte er wieder nur in seiner Phantasie gemordet, war der alte Keetenheuve geblieben, ein Träumer von des Gedankenblase angekränkelt.
Er hatte seine Frau beerdigt. Und da er sich im bürgerlichen Leben nicht gefestigt fühlte, erschreckte ihn der Akt der Grablegung, so wie ihn auch Kindtaufen und Hochzeiten entsetzten und jedes Geschehen zwischen zwei Menschen, wenn die Öffentlichkeit daran teilnahm und gar noch die Ämter sich einmischten." (S.7/8)

"Elke war zu ihm gekommen, als sie hungrig war, und er hatte damals Konserven, ein warmes Zimmer, Getränke, einen kleinen schwarzen Kater und nach langem Fasten Appetit auf Menschenfleisch, eine Formulierung, die Novalis für die Liebe gebraucht." (S.11)

"Die Hauptfigur ist der Mittvierziger Felix Keetenheuve, Journalist in der Weimarer Republik, während der Zeit des Dritten Reichs vorwiegend in England im Exil und dort für Rundfunksendungen Richtung Deutschland eingesetzt. Nach 1945 kehrt er nach Deutschland zurück und wird Bundestagsabgeordneter für die SPD. Zu Beginn des Romans reist Keetenheuve mit dem Zug nach Bonn, wo im Parlament die entscheidenden Abstimmungen zur Westintegration der jungen Republik stattfinden sollen. Er hat gerade seine junge Frau Elke beerdigt. Deren Eltern hatten sich bei Kriegsende umgebracht, weil der Vater Gauleiter der NSDAP war. Keetenheuve hatte Elke zugunsten der Politik vernachlässigt. Deswegen war sie dem Alkohol verfallen, wie er sich nun vorwirft.

Keetenheuve ist – nicht nur aufgrund des erlittenen Verlustes – verstört und unsicher. Er ist ein kompromissloser Intellektueller, ein Schöngeist, der der Lyrik von E. E. Cummings und Charles Baudelaire mehr abgewinnen kann als einem bürgerlichen Lebensstil. Aufgrund seines Exils ist er das Aushängeschild seiner Partei, gleichzeitig dort aber genauso isoliert wie im gesamten Parlament: die pragmatische Arbeit der Abgeordneten ist ihm zuwider, den Fraktionszwang lehnt er ab, besteht darauf, sich in eigener Verantwortung zu entscheiden. Er sieht die alten Eliten aus der Weimarer Republik und der Nazizeit wieder nach der Macht greifen. Exnazis und Mitläufer sitzen bereits wieder an den entscheidenden Positionen." (Wikipedia)

Zitat:

"Frost-Forestier schaltete das Licht ein, und es wurde hell in einem enormen Raum, einem prächtigen Festsaal des 19. Jahrhunderts mit Stuckplafond und gedrechselten Säulen, dies war Frost-Forestiers Schlafkammer, Eßraum, Arbeitszimmer, Salon, Küche, Laboratorium, Bad.Keetenheuve erinnerte sich an die schweren Vorhänge vor den hohen Fenstern, sie waren generalsrot und standen, ständig geschlossen, wie ein Feuerball gegen die Natur. Leise nur war das Zwitschern zu hören, das Jubelsingen, das Erwachen der Vögel draußen im Park, und was sich im Saal ereignete, war der Arbeitsbeginn in einer Fabrik, die Ankurbelung eines Fließbandes, ein Ablauf ausgeklügelter wohlberechneter Bewegungen, rationell und präzise und Frost-Forestier war das Werk, das in Gang gesetzt wurde. Er eiferte den elektronischen Gehirnen nach.

Das war ein Knipsen und Schalten! Ein großer Funkkasten sprach Nachrichten aus Moskau. Ein kleiner Bruder des großen glühte und wartete auf seine Zeit. Eine Kaffeemaschine erhitze sich. Aus dem Boiler stürzte das Wasser in die Brause. Frost-Forestier stellte sich unter den Strahl. [...] Frost-Forestier übersah, während er duschte, sein strategisches Feld. / Es berieselte ihn heiß und kalt. Er war ein trainierter, ein proportionierter Mann." (S.25/26)

"Erich war umgekommen. In der kleinen Stadt hatte man später eine Straße nach ihm genannt; aber die Leute, stumpfsinnig, engherzig, vergeßlich wie eh und je, nannten die Gasse weiter die Kurze Reihe. Keetenheuve fragte sich immer wieder, ob Erich wirklich für seine Überzeugung gestorben war, denn er musste den Glauben der Jugend damals schon verloren haben. Vielleicht aber hatte Erich sich im Augenblick seines Todes wieder zu dieser Hoffnung bekannt, und das nur, weil die Menschen der kleinen Städte in jenen Tagen/ gar so entsetzlich waren. Die Gesetzlosigkeit schlug Erich auf dem Markt, aber der Ekel war es, der ihn tötete. [...] Keetenheuve [...] er war unschuldig, ganz unschuldig am Lauf der Welt, aber gerade weil er unschuldig war, stand vor ihm die uralte Frage, was ist Unschuld, was Wahrheit, o alter Statthalter des Augustus. Er sah sich im Spiegel.

Die Augen, der Brille ledig, blickten gutmütig, und einen gutmütigen Trottel hatte in der Kollege vom 'Volksblatt' genannt, am letzten Abend, als er ihn zum letzten Male sah. Das war vor zwanzig Jahren gewesen, an dem Tag, an dem der Kommissar in das 'Volksblatt' einzog. Die jüdischen Redakteure flogen gleich, kluge Leute, gewandte Leitartikler, hervorragende Stilisten, die alles falsch vorausgesehen, alles falsch gemacht hatten, ahnungslose Kälber im Gatter des Schlachthofes; die anderen bekamen die Chance, sich zu bewähren. Keetenheuve  verzichtete auf die Bewährung. Er holte sein Gehalt und reiste nach Paris. Er reiste freiwillig, und niemand hinderte ihn. In Paris fragte man verwundert: Was wollen Sie eigentlich bei uns? Erst als die Soldaten über die Champs Élysées marschierten, hätte Keetenheuve es erklären können. Aber da war er auf dem Wege nach Kanada: zusammen mit deutschen Juden, zusammen mit deutschen Antifaschisten, deutschen Nationalsozialisten, jungen deutschen Fliegern, deutschen Seeleuten und deutschen Handlungsgehilfen schwamm er tief unten im Bauch eines Schiffes von England nach Kanada. Der Kommandant des Dampfers war ein gerechter Mann; er haßte sie alle gleichermaßen. Und Keetenheuve war es nun, der sich fragte: was will ich hier, was tue ich hier, nur nicht teilhaben, nur die Hände in Unschuld waschen, ist das genug?
Keetenheuves Kopf saß, wo er hingehörte, kein Fallbeil hatte ihn vom Rumpf getrennt. Sprach das gegen Keetenheuve oder sprach es, wie einige meinten, gegen die Gewerkschaft der Henker in der Welt? Keetenheuve hatte viele Fein/de, und es gab keinen Verrat, dessen man ihn nicht zieh. So hätte mich Georges Grosz gemalt, dachte er. Sein Gesicht trug nun schon sehr den Ausdruck der herrschenden Schicht er war des Kanzlers Abgeordneter und Oppositioneller in Ergebenheit; ach ja, in Ergebenheit.
Halbakt eines Managers – so stellte ihn der Spiegel dar. Spiegelein Spiegelein an der Wand, fleischig war er nun, die Muskeln ungeübt, die Haut schimmerte weiß mit einem blauen Unterton wie Magermilch in den Kriegen, entrahmte Frischmilch hieß es, oh schönes Wort des staatlichen Euphemismus, man zählte zu den Gemäßigten, man fand sich ab, man richtete sich ein, man vertrat behutsame Reformen im Rahmen der Tradition, man hatte Kreislaufstörungen und war lüstern (kiss me) you will go. Er war ein stattlicher Mann, er verdrängte mehr Luft, als er je erwartet hatte, Luft zu verdrängen." (S. 28-31)

"Korodin verließ am Bahnhof die Straßenbahn. [...] Die nächste Generation sollte klüger sein, sie sollte es besser haben. Seit fünftausend Jahren! Nicht jedem war ein Schwert gegeben. Und ein Schwert, was nützt es? Man kann mit ihm fuchteln, man kann mit ihm töten und man kann durch das Schwert umkommen. Aber was ist gewonnen? Nichts. Man muss zur rechten Zeit in Gordium erscheinen. Die Gelegenheit macht den Helden. Als Alexander aus Mazedonien kam, war der Knoten seine Trotzes müde. Überdies war das Ereignis belanglos. Indien wurde sowieso nicht erobert; nur die Randgebiete waren ein paar Jahre besetzt, und zwischen der Besatzung und der Bevölkerung entwickelten sich Tauschgeschäfte.

Was ist am wirklichen Potsdamer Platz? Ein Drahtverhau, eine neue und recht kräftige Grenze, ein Weltende, der eiserne Vorhang; Gott hatte ihn fallen lassen, Gott allein wusste, wozu. Korodin eilte zur Haltestelle des Oberleitungsbusses, des hauptstädtisch stolzen, des modernen Vehikels, das zwischen den weit voneinander entfernt liegenden Regierungsvierteln Massen transportieren konnte. Korodin hätte/ es nicht nötig gehabt, sich an der Haltestelle in die Schlange der Wartenden zu reihen. Er hatte zwei Automobile in der Garage seines Hauses. Es war ein Akt der Bescheidenheit und der Kasteiung, daß Korodin in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Politik fuhr, während der Chauffeur, bequem und morgenmunter, Corodins Kinder im Wagen zur Schule brachte. Korodin wurde gegrüßt. Er dankte. Er war ein Volksmann. Aber der Gruß der Unbekannten machte ihn nicht nur dankbar; er machte ihn auch verlegen. [...] (S.41/42)

"Korodin fiel ein, daß er noch nicht gebetet hatte, und er entschloß sich, aus dem Strom zu gleiten und eine Teilstrecke zu Fuß zu gehen.

Keetenheuve hatte seine Wohnung im Bonner Abgeordneten-Ghetto an diesem Morgen nicht aufgesucht, für ihn war sie ein bloßes Pied-a-terre der Unlust, eine Puppenstube der Beengung "morgen Kinder wird’s was geben morgen werden wir uns freun, was sollte er da; was er brauchte, trug er bei sich in der Aktenmappe, und selbst dies war noch Ballast auf der Wanderschaft. [...]" (S.43)

Auch Keetenheuve hatte den Bus verschmäht. Auf dem Münsterplatz traf Keetenheuve Korodin, den Bescheidenen. Korodin hatte zum heiligen Cassius und zum heiligen Florentius gebetet, den Beschützern dieser Stätte, er hatte ihnen die Sünde des Hochmuts bekannt ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie diese hier, und er hatte sich selbst und vorläufig und für diesen Tag von der Schuld absolviert. Daß Keetenheuve ihn zur Münstertür hinaustreten sah, machte Korodin aufs neue verlegen. Waren die Heiligen durch das Gebet des Abgeordneten nicht versöhnt worden, und straften Sie nun Korodin, indem sie ihnm Keetenheuve in den Weg stellten? Vielleicht aber war die Begegnung auch das schöne Walten der Vorsehung und ein Zeichen, daß Korodin in Gnade stand.

Es galt als ungewöhnlich, wenn Abgeordnete einander feindlicher Parteien, mochten sie auch in den Ausschüssen zusammenarbeiten, gelegentlich sogar zusammenhalten, selbzweit spazierten. Für jeden war es anrüchig, mit dem andern gesehen zu werden, und für die Parteileiter war es ein Anblick, als wandele einer aus ihrer Herde öffentlich mit einem Strichjungen und zeige schamlos seine perverse Veranlagung. [...]

Überdies, es wimmelte von Journalisten in der Stadt, und das Bild der Friedlichen konnte am Montag im 'Spiegel' stehen und Anlaß zu größtem Unfrieden geben. All dies bedach-/te Korodin wohl, aber Keetenheuve war ihm (beinah hätte er 'hol's der Teufel' gesagt) nicht unsympathisch, deshalb haßte er ihn auch manchmal mit einem geradezu persönlichen Haß, nicht nur mit der kalten, routinemäßigen Ablehnung der Parteigegnerschaft, denn er hatte ('hol's doch der Teufel'), in auffälliger, nicht zu übersehender, nicht zu unterdrückender Weise das Gefühl, daß hier eine Seele zu retten sei, daß man Keetenheuve noch auf den rechten Weg bringen könne, man durfte ihn am Ende vielleicht sogar bekehren. Korodin, die beiden großen teuren Automobile meist in der Garage, umschwärmte aufrichtigen Herzens eine neue Priestergeneration, die Arbeitsgeistlichen des nahen Reviers. Das waren verknurrte Männer in groben Schuhen, von denen sich Korodin einbildete, daß sie Bernanos und Bloy gelesen hätten, während nur er es war, der von diesen Geistern, und das sprach für ihn, beunruhigt wurde, und so empfingen die verknurrten Männer zuweilen einen Scheck von Korodin und fanden im übrigen, daß er menschlich nicht viel hergab. Für Korodin aber war dieses Scheckgeschenk Urchristentum, reine Opposition gegen die bestehende Ordnung, gegen die eigene Schicht und gegen die teuren Automobile, und tatsächlich hatte er schon Schwierigkeiten wegen seiner 'roten Neigungen', erhielt sanfte Vorwürfe, und der Bischof, sein Freund, der, wie Korodin, Bernanos gelesen hatte, aber sich durchaus nicht beunruhigt, sondern nur befremdet fühlte, der Bischof hätte den Scheck lieber in einer anderen Opferlade gesehen. (S.41-44)

"Keetenheuve hatte, als er nach Paris reiste, in Frankfurt übernachtet, und am Morgen hatte er vor dem Schauspielhaus in Frankfurt, von der Terrasse eines Cafés aus, wo er knusprige Hörnchen aß und Himalayablütentee trank, einen Aufmarsch der Hitlerjugend beobachtet, und da hatte sich vor seinen Augen der Platz aufgetan, der weite bunte Platz, und alle, alle waren sie mit Fahnen, mit Wimpeln, mit Flöten, Trommeln und Dolchen in ein breites tiefes Grab marschiert. es waren Vierzehnjährige, die ihrem Führer folgten, und neunzehnhundertneunddreißig waren sie zwanzigährig, waren sie die Sturmtruppe, die Flieger, die Matrosen – sie waren die Generation, die starb. Korodin blickte zum Himmel auf. Die Wolken schwärzten sich. Er ahnte ein Gewitter. [...] Er winkte ein zufällig des Weges kommendes Taxi herbei. Er haßte Keetenheuve. Er war eben doch ein Verlorener, ein Mann ohne Verantwortung, ein Vagabund, der keine Kinder hatte. Am liebsten hätte Koordin Keetenheuve in der Allee stehen lassen. Mochte der Blitz ihn erschlagen! [...] Aber dann siegte doch Koordins gute Erziehung über Angst und Abwendung, und mit gefrorenem Lächeln ließ er Keetenheuve in den Wagen klettern.

Sie saßen stumm nebeneinander. Es tropfte und blitzte, und Regenschleier legten sich wie Nebel über die Häupter der Bäume [...] und wieder hatte Keetenheuve die Vorstellung, sich in einem großen Treibhaus zu befinden. Sie fuhren an der Rückseite des Präsidentensitzes, an der Front der Kanzlervilla vorbei, schmiedeeiserne Tore standen offen. [...] / [...] Sie hielten vor dem Bundeshaus. Korodin zahlte den Wagen. Er wehrte ab, daß Keetenheuve an den Kosten der kleinen Fahrt partizipiere, aber er ließ sich vom Fahrer eine Quittung geben, Korodin wollte dem Staat nichts schenken." (S.47/48)

Nation als Käfig

Keetenheuve fühlte sich einig mit allen Widerständigen, einig selbst mit den Militärs unter ihnen, mit den Männern des zwanzigsten Juli. Er sagte es ist Mergentheim.
Doch der erwiderte: "Ich bin nicht Missionar. Ich bin Journalist. Hier schau dir das Jahrbuch des Hohen Hauses an! Den Widerstand haben deine Kollegen schon wieder aus ihrem Lebenslauf gestrichen. [...] / Du verlierst. Du verlierst mehr, als du ahnst. Denn diesmal kannst du auch nicht mehr emigrieren. Wohin denn? Deine alten Freunde denken heute wie wir, und alle Erdteile, ich sage dir, alle Erdteile sind durch Vorhänge des Misstrauens geschlossen. Du bist vielleicht nur eine Mücke. Aber die Elefanten und die Tiger fürchten sich vor dir. Und deshalb hüte dich vor ihnen. [...] Was Mergentheim gesagt hatte, beunruhigt er Keetenheuve nicht. Es stimmte ihn nur trauriger, der schon traurig war; aber es erschütterte nicht, bestätigt zu hören, was man lange schon weiß und fürchtet, hier die nationale Restauration, den restaurative Nationalismus, auf den alles hinauslief. Die Grenzen öffneten sich nicht. Sie schlossen sich wieder. [...]

Aber er wollte nicht in einem Käfig sitzen, dessen Tür von Bereitschaftspolizei bewacht wurde, die eine nur mit einem Paß hinausließ, um den man den Käfigobersten bitten musste, und dann ging’s weiter, man stand zwischen den Käfigen, dort, wo kein Hausen war, man riebt sich in diesem Stand an allen Gittern, und um in einen anderen Käfig hineinzukommen, / brauchte man wieder das Visum, die Aufenthaltsbewilligung von diesem Käfigherrscher. (S. 60-62)

Knurrewahn 

"Sie lebten in Symbiose, in dem Zusammenleben ungleicher Lebewesen zu gegenseitigem Nutzen; aber sie waren/nicht sicher, ob es Ihnen nicht schade. Knurrewahn hätte nicht sagen können, er nehme durch Keetenheuve Schaden an seiner Seele. Doch Knurrewahn, der sich vor dem Ersten Weltkrieg selbst gebildet und mit einer schon damals nicht mehr ganz neuen Literatur fortschrittsgläubiger Naturerkenntnis vollgestopft hatte (die Welträtsel schienen gelöst zu sein [...]) leugnete das Dasein der Seele. So war das Unbehagen, das Keetenheuve ihm bereitete, dem Ärger eines gewissenhaften Unteroffiziers an einem Einjährigen zu vergleichen, der das Exerzierreglement nicht begreift, schlimmer noch, es nicht ernst nimmt. Leider brauchte die Armee Einjährige, und die Partei brauchte Keetenheuve, der (dies ahnte Knurrewahn) vielleicht gar kein Offizier kein Offiziersaspirant, sondern einfach ein Hochstapler war (S. 68/69)
Knurrewahn atte viel durchgemacht; aber er war nicht weise geworden. Sein Herz war gut gewesen; nun hat er es sich verhärtet. Er war aus dem ersten Weltkrieg mit einem Steckschuß heimgekehrt und hatte zum Erstaunen der Ärzte weiter gelebt [...]" (S. 70)
"Lasalle war ein Porträt des Abgeordneten als junger Mann. Der junge Mann war tot; er hatte den Ärzten Recht gegeben und den Herzsteckschuß nicht überlebt. Heute stand K der Schlapphut, den er nicht trug. Er polterte eigensinnig, nicht nur beim Skat [...]" (S. 72)

"Er führte diplomatische Gespräche. Wer waren seine Gäste? Herr Hitler, Führer, Herr Stendhal, Konsul. Wer servierte? Herr Chamberlain, Ehrenwert.
Hitler: Diese Luft ist eine milde; die Rheinlandschaft ist eine historische; diese Terrasse ist eine anregende. Schon vor 19 Jahren –
Stendhal: Meine Bewunderung und meine Verehrung! O jung zu sein, als sie von dieser Terrasse nach Wiessee aufbrachen, um ihre Freunde zu killen! Wie bewegt mich das Schicksal der Jünglinge. [...]/ 
Chamberlain zittern die Hände. Er schüttet die zerlassene Butter auf das Tischtuch und sagt: Peace in our time.
Aus dem Wasser hebt sich der Leichnam der Tschechoslowakei und stinkt. Die Vorsehung ist im Bauch des Leichnams gefangen und wandert ratlos auf und ab. Drei Lautsprecher kämpfen gegeneinander. Der eine schreit: Planmäßig! Der andere brüllt: Plansoll! Der dritte singt den Chor aus der Dreigroschenoper: Ja, mach nur einen Plan. Lautsprecher eins und Lautsprecher zwei fallen wütend über Lautsprecher drei her und verprügeln ihn.
Senator McCarthy schickt Zwei Lügendetektoren herüber, um den Fall zu untersuchen." (S. 85/86)

Ausschussarbeit:
"Korodin las die Zahlen vor, und zuweilen guckte er Keetenheuve an, als erwarte er von ihm einen Einspruch oder eine Zustimmung. Keetenheuve schwieg.. Er konnte sich auf einmal zu Korodins Zahlen so wenig äußern wie der Zuschauer einer Zaubervorstellung zu den rätselvollen und eigentlich langweiligen Vorgängen auf der Bühne; er weiß, dass ein Trick angewandt und er getäuscht wird. Keetenheuve war von der Nation in diesen Ausschuß gesetzt, um aufzupassen, daß niemand hintergangen werde. Dennoch – für ihn war die Beratung jetzt nur noch ein verblüffender Zahlenzauber! Niemand würde die Millionen sehen, von den Korodin sprach. Niemand hatte sie jemals gesehen.[...] So recht begriff es keiner. Selbst Stierides, der Bankier der Reichsten, begriff das magische Spiel der Zahlen nicht; aber er war Meister in einem Yoga, das seine Konten wachsen ließ. (S. 96)
"Eine beliebte Volksschriftstellerin nannte einen ihrer vielen Romane Highlife; sie oder ihr Verleger setzten den englischen Titel auf das deutsche Buch, und Millionen, die gar nicht wußten, was das Wort Highlife bedeutete, verschlangen den Band. Highlife – vornehme Welt, ein Zauberspruch, was war das, wer gehörte dazu?" (S.114)
"Ein Priester kam in die Weinstube. Ein kleines Mädchen begleitete den Priester. Das kleine Mädchen war wohl zwölf Jahre alt und hatte rote Söckchen an. Der Priester war groß und stark. Er sah wie ein Landmann aus, aber er hatte den Kopf eines Gelehrten. Es war ein guter Kopf. Der Priester reichte dem kleinen Mädchen die Weinkarte, und das kleine Mädchen las schüchtern die Namen der Weine. Das kleine Mädchen fürchtete, es würde Limonade bekommen; aber der Priester fragte sie, ob sie Wein trinken wolle." (S.114) 
"Keetenheuve hatte kein Verlangen, nach Hause zu gehen; seine Abgeordnetenabsteige war ein Pied-à-terre / der Unlust, eine Puppenstube der Angst, in der er nur eines fühlen würde – wenn er dort stürbe, niemand würde trauern. Den ganzen Tag fürchtete er sich schon vor dieser traurigen Stube." (S.119/20)
Ethik
"Ein Kind zu schlagen, ist eine schlechte Tat. Aber war es ein schlechter Gedanke, die Bank berauben zu wollen? [...] gerade ein entwickelter, ein scharfer, ein zarter Sinn für Gut und Böse wird die Frage, ob ein Bankraub sittlich oder unsittlich sei, überhaupt nicht beantworten können." (S. 127)

Die Heilsarmeemädchen 
"Gerda wäre gern davon gelaufen, aber die zweifelte, ob Lena, die kleine Sechzehnjährige, ihr folgen würde, und so musste sie stehen bleiben und die Nähe des räuberischen Mannes erdulden. [... Keetenheuve] "hörte, während Gerda sie verkniffenen Mundes und mit brennenden Augen beobachtete, die Geschichte eines Flüchtlings. Lena erzählte sie ihm mit einem sanften, zärtlich die Silben verschlucken den Dialekt. Sie kam aus Thüringen und war Mechanikerlehrling. Sie behauptete, Zeugnisse zu haben, daß sie Mechaniker sein und schon als Werkzeugemacher gearbeitet habe. Ihre Familie war mit Lena nach Berlin geflogen, und dann waren sie in den Bund geflogen worden und hatten lange in Lagern gelebt. Lena, der kleine Mechaniker, wollte seine Lehrzeit beenden, und dann wollte er als Werkzeugmacher viel Geld verdienen, und dann wollte er studieren und Ingenieur werden, wie man es ihm im Osten versprochen hatte, aber im Westen lachte man ihn aus und sagte ihm, die Drehbank sei hier nichts für Mädchen und das Studieren nichts für Arme. So steckte irgendein Arbeitsamt Lena in eine Küche, steckte sie in die Küche eines Gasthauses, und Lena, der Flüchtling aus Thüringen, mußte die Teller abspülen [...]
So war Lena in die Hauptstadt gekommen. Was tut der Obdachlose, was beginnt der Hungernde? Er hält sich am Bahnhof auf, als ob mit den Zügen das Glück käme. Viele sprachen Lena an. Auch Gerda sprach Lena an. Lena folgte Gerda, dem Heilsarmeemädchen, und sie besah sich die Stadt mit dem 'Kriegsruf' in der Hand, und sie wunderte sich über alles was sie sah." (S. 128/129)

"Es war eine wirkliche Katakombe, ein Keller des Verstecks, ein Hort der Opposition der Jugend gegen die alten Betten der Stadt, aber die junge Opposition gluckste wie Grundwasser dahin, rumorte für eine Nacht im Brunnen/ und verrieselte dann in Hörsälen, in Streberseminaren, auf Büroschemeln und am Arbeitsplatz der Laborantin. "Wir kommen alle, alle in den Himmel", spielte die Studentenkapelle." (S.133/34)

"In den guten Urzeiten der parlamentarischen Idee hätten sich die Abgeordneten geweigert, unter Polizeischutz zu tagen, denn das Parlament war damals, wie es auch zusammengesetzt sein mochte, polizeifeindlich, weil es die Opposition an sich war, die Opposition gegen die Krone, die Opposition gegen der Mächtigen Willkür, die Opposition gegen die Regierung, die Opposition gegen die Exekutive und ihren Säbel, und so bedeutete es eine Pervertierung und Schwächung der Volksvertretung, wenn aus ihrer Mitte die Mehrheit zur Regierung wird und die vollziehende Gewalt an sich reißt. Was heißt dies bei unglücklicher Zusammensetzung des Hauses anderes als Diktatur auf Zeit?" (S.143)
"Aus der Opposition den Kurs der Regierung zu ändern gelänge in Bonn selbst Demosthenes nicht; und auch wenn man mit eines Engels Zungen spräche, man predigte tauben Ohren, und Keetenheuve wußte, während er die letzte Sperrkette passierte, dass es genau gesehen zwecklos war, dass er hier erschien, um im Plenum zu reden. Er würde nichts ändern." (S. 144)

"[...] Knurrewahn will, dass wir uns so oder so verhalten, Knurrewahn und die Partei wünschen, Knurrewahn und die Partei befehlen, statt dass es umgekehrt gewesen wäre, daß die Provinzbooten zu Knurrewahn gesagt hätten, das Volk wünscht, das Volk will nicht, das Volk trägt dir auf, Knurrewahn, das Volk erwartet von dir, Knurrewahn – Nichts. Vielleicht wußte das Volk, was es will. Aber seine Vertreter wußten es nicht, und so taten sie so, als ob wenigstens ein starker Parteiwille da sei. Aber wo kam er her? Aus den Büros." (S.145)

Bespitzelung S.147

Parlamentsdebatte
"Der Kanzler trug sein Anliegen vor. Er war lustlos gestimmt und verzichtete auf Effekte. Er war kein Diktator, aber er war der Chef, der alles vorbereitet, alles veranlaßt hatte, und er verachtet das oratorische Theater, in dem er mitspielen mußte. Er sprach müde und sicher wie ein Schauspieler auf der wegen einer Umbesetzung notwendig gewordenen Durchsprechprobe eines oft gegebenen Repertoirestückes. Der Kanzler-Schauspieler wirkte auch als Regisseur. Er wies den Mitspielern ihrer Plätze an. Er war überlegen. Keetenheuve hielt ihn zwar für einen kalten und begabten Rechner, dem nach Jahren ärgerlicher Pensionierung überraschend die  Chance zugefallen war, als großer Mann in die Geschichte einzugehen, als Retter des / Vaterlandes zu gelten, aber Keetenheuve bewunderte auch die Leistung, die Kraft, mit der ein alter Mann einen einmal gefaßten Plan beharrlich und euphorisch zuversichtlich verfolgte. Sah er nicht, daß sein ganzes Vorhaben am Ende nicht an seinen Widersachern, doch an seinen Freunden scheitern würde?" (S. 149/150)

"Keetenheuve wird instrumentalisiert, zum einen von seinem Fraktionsvorsitzenden Knurrewahn (steht für Kurt Schumacher), der ihn als Redner in die Debatte schickt, um die pazifistische Fassade der Partei zu wahren, ihm aber gleichzeitig Verhaltensmaßregeln mitgibt sowie die Bemerkung, dass man ja nicht grundsätzlich gegen die Wiederbewaffnung sei. Zum zweiten aber auch von der Parlamentsmehrheit und ihrem fast autoritär regierenden Kanzler (Konrad Adenauer), die Frost-Forestier, ein wichtiges Mitglied der Regierung, wenn auch ohne Amtsbezeichnung (Reinhard Gehlen?), auf ihn ansetzt, um ihm das Amt eines Botschafters in Guatemala anzubieten und den Störfaktor Keetenheuve damit endgültig ins Abseits zu schieben. Und schließlich zum dritten von einem den Westmächten nahestehenden Journalistenkollegen, der ihm vertrauliches Material zur Verwendung in seiner Rede zukommen lässt, dies aber gleichzeitig auch der Gegenseite aushändigt, so dass in dem Moment, in dem Keetenheuve seinen Auftritt hat, bereits die Stellungnahme der westdeutschen Regierung ebenso wie die ihr den Rücken stärkenden Stellungnahmen der Westmächte vorliegen – und Keetenheuves Rede damit nichts mehr wert ist.

Am Ende der Debatte weiß Keetenheuve, dass er verloren hat. Wie schon am Abend zuvor irrt er noch einmal durch die nächtliche Stadt und erreicht schließlich die Brücke über den Rhein. Mit dem Satz »Der Abgeordnete war gänzlich unnütz, er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von der Brücke machte ihn frei« endet der Roman." (Wikipedia)

Es lohnt sich, jetzt im Wikipediaartikel weiterzulesen:

"Keetenheuves Scheitern ist jedoch auch in seiner privaten Situation begründet. Nach dem Tod seiner Frau ist er haltlos geworden. So wird er zum Opfer seiner Triebe, die ihn immer wieder (hart an der Grenze zur Pädophilie) zu sehr jungen Frauen hinführen. Kurz vor seinem Tod hat Keetenheuve die sechzehnjährige Lena kennengelernt, die aus Thüringen geflüchtet und ebenso entwurzelt wie Keetenheuve ist. In Thüringen hat sie eine Lehre als „Mechaniker“ begonnen und wundert sich über die Reaktionen auf ihren „unweiblichen“ Wunsch, diesen Beruf auch in der Bundesrepublik ausüben zu können (Männer mit „fetten Händen“ lachen sie aus und belästigen sie sexuell).

In ihrer Not wendet sie sich gemeinsam mit Gerda, einer (lesbischen?) Heilsarmee-Soldatin, die sie im Westen kennengelernt hat, an Keetenheuve. Dieser will Lena durchaus helfen („Keetenheuve ein guter Mensch“), hält es aber für ihr „Schicksal“, dass er sie (quasi als „Gegenleistung“) verführen werde („Keetenheuve ein schlechter Mensch“).

Als es schließlich wenig später auf einem Ruinengrundstück zum Versuch eines Geschlechtsverkehrs zwischen Keetenheuve und Lena kommt, wird dem Abgeordneten die Fragwürdigkeit seiner Existenz bewusst. Unmittelbar im Anschluss an die Szene ertränkt er sich.

Koeppens Umgang mit der historischen Realität

Bei der Rezeption des ersten Romans der Trilogie des Scheiterns (Tauben im Gras) legten Wolfgang Koeppen und viele Interpreten Wert darauf, dass nicht ständig die Formulierung „die Stadt“ durch „München“ ersetzt wird, obwohl das Lokalkolorit der bayerischen Landeshauptstadt in dem Roman leicht wiederzuerkennen ist. Im Falle des Romans „Das Treibhaus“ ist es klar, dass die damalige Bundeshauptstadt Bonn Ort der Handlung ist, da deren Kessellage im Rheintal das „Treibhausklima“ im wörtlichen Sinn des Buchtitels erklärt. Der Titel verweist aber auch auf die „politische Landschaft“, auf die Ghettoisierung der Berufspolitiker, die sich in Bonn bereits vier Jahre nach Gründung der Bundesrepublik unter Verlust der Bezüge zur Realität und zum Volk bemerkbar macht. [...]" (Wikipedia)

Ich denke, mit den hier vorliegenden Zitaten und dem vollständigen Wikipediaartikel hat man schon einen guten Eindruck von dem Roman. Ich werde aber noch weitere Zitate nachliefern und auch ein paar Bemerkungen zu meinem persönlichen Leseerlebnis machen. 


Literatur:

Hilde Schauer: Denkformen und Wertesystemein Wolfgang Koeppens Nachkriegstrilogie


"Er wurde vor allem durch seine Trilogie des Scheiterns bekannt, durch die er sich den Ruf eines bedeutenden Autors der Nachkriegsliteratur erwarb. Diese Trilogie entstand Anfang der 1950er Jahre und setzt sich aus den Romanen Tauben im GrasDas Treibhaus und Der Tod in Rom zusammen. Anschließend veröffentlichte Koeppen nur noch spärlich und schrieb vorwiegend Reiseberichte[...] 

Die hohen Erwartungen an ihn und das öffentliche Interesse an seinem Schaffen demotivierten Koeppen zunehmend.[9] Das Prosastück Jugend fand 1976 als Alterswerk des Autors noch einmal großes Lob in der Literaturkritik.[10]" (Wolfgang Koeppen)