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03 April 2021

Stendhal: Die Kartause von Parma

Zitate: 


8. Kapitel

"[...] Fabrizio wollte mit ihm sprechen, nicht nur weil er ihn für einen klugen Mann hielt, sondern auch weil er in seinen Augen ein treuer ergebener Freund war. Zweck und Ziel dieses Abstechers und die Empfindungen, die unseren Helden während der 50 Stunden bestürmten, so lange seine Reise währte, sprachen dermaßen gegen jeglicher kühlen Überlegung Hohn, dass es zweifellos im Hinblick auf unsere Erzählung besser gewesen wäre, wir hätten sie unerwähnt gelassen. Ich fürchte, Fabrizios abergläubische / Veranlagung könnte ihm das Wohlwollen des Lesers verscherzen. Doch war es schließlich nun einmal so. Weshalb sollten wir ihn auch beschönigen, und zwar ihn eher als andere? Auch den Grafen Mosca und den Fürsten habe ich ja nicht im geringsten schmeichelhaft geschildert.

Fabrizio also – da denn nun alles gesagt werden soll – begleitete seine Mutter bis zum Hafen von Laveno auf dem linken Ufer des Lago Maggiore am österreichischen Gestade, wo sie um acht Uhr abends an Land stieg. [...]
Fabrizio hatte das Herz eines Italieners. – Ich bitte deswegen für ihn um verzeihende Nachsicht. Diese abträgliche Eigenschaft, die ihn weniger liebenswert wird erscheinen lassen, bestand vornehmlich in Folgendem: er hatte nur ab und zu Anwandlungen von Eigenliebe und Selbstgefälligkeit, und schon der bloße Anblick erhabener Schönheit stimmte ihn weich und nahm seinem Herzweh den bitteren und schmerzlichen Stachel. So blieb er auf dem Felsen sitzen, und da er sich nicht weiter vor den Landjägern in acht nehmen musste, weil ihm die finstere Nacht und die Stille weit und breit Schutz boten, traten lustvolle Tränen in seine Augen und er erlebte hier, ohne dass er von sich aus viel dazu tat, die seligsten Augenblicke, die er seit langem ausgekostet hatte." (S.160/61) Stendhal: Die Kartause von Parma 

Diese Reflexionen, insbesondere die ironische Ansprache an den Leser und der Wechsel zwischen dem Erzähler-Wir und Erzähler-Ich - interessieren mich weit mehr als der Gang der Handlung. Ein Grund, weshalb ich es nicht fertiggebracht habe, wesentlich über di erste Seite hinaus zu lesen, wohl aber das Vorwort zweimal. Das mag für die Qualität des Autors sprechen, hindert mich aber daran, den Text so zu lesen, wie er es geplant hat. Freilich konnte er noch nichts über die Wikipedia wissen, die mich schon über die Handlung informiert hat. 

8. Kapitel
 "Fabrizio beschlich ein tiefes Unbehagen. Die schöne Anwandlungen von männlicher Tugend, die eben doch sein Herz hatte höher schlagen lassen, wandelte sich in die gemeine Freude, die man empfindet, wenn man an einem Raub teilhat. Ach was! sagte er sich schließlich mit den erloschenen Augen eines Menschen, der mit sich selbst hadert, da mir meine Abkunft das Recht verleiht aus derlei Missständen Nutzen und Vorteil zu ziehen, wäre es über alle Maßen einfältig von mir, wenn ich mir nicht auch meinen Anteil daran sichern wollte. Nur darf ich mir es nicht einfallen lassen, darüber öffentlich herzuziehen. Diese Überlegungen waren gar nicht so abwegig; aber Fabrizio war aus den höchsten Höhen erhabenen Glücks herabgestürzt, in die er sich eine Stunde zuvor empor getragen gefühlt hatte. Der Gedanke an seine bevorrechtigte Stellung hat er jenes allezeit so zarte und empfindliche Pflänzchen verdorren lassen, das man gemeinhin Glück heißt." (S. 165)
"Alles Wirkliche dünkte ihn noch seicht und schmutzig. Ich kann es ja verstehen, dass man die Wirklichkeit nicht gern ins Auge fasst, dann darf man aber auch nicht darüber reden oder gar urteilen. Vor allem darf man keine Einwände dagegen erheben, die sich auf das Stückwerk eigene Unerfahrung und Unwissenheit gründen.
So brachte es Fabrizio, obwohl es ihm sonst keineswegs am Verstand fehlte, nicht zustande, einzusehen, dass ein halbwegs ehrlicher Glaube an Vorbedeutungen und Vorzeichen für ihn eine Art gläubiger Religion war, ein tiefer Eindruck, den er in seiner frühesten Kindheit empfangen hatte. An diesen Glauben zu denken, bedeutete ihm tiefes Fühlen, es war für ihn ein Glück. [...] Während er aber glaubte, er überlege folgerichtig und sei der Wahrheit auf der Spur, verweilten seine Gedanke in seligem Glück bei der Erinnerung an alle die Fälle, bei denen er nach dem Vorzeichen in vollen Umfange die glücklichen oder unheilvollen Ereignisse eingetreten waren, die sie anzukündigen schienen, und dann war seine Seele von Ehrfurcht erfüllt und weich gestimmt. Er hätte einen unüberwindlichen Widerwillen gegen jeden Menschen verspürt, der solche Vorzeichen geleugnet hätte, vor allem wenn er sie sogar noch höhnisch abgetan hätte." (S. 166)
"Diese Denunziation eines aus der Art geschlagen Bruders ist der ursprüngliche Anlass zu meinem gegenwärtigen Leben. Ich kann sie verabscheuen, ich kann sie gering achten, aber schließlich hat sie /meinem Schicksal eine andere Wendung gegeben. Was wäre aus mir geworden, nachdem ich einmal erst einmal nach Novara verbannt war und aus Gnade und Barmherzigkeit beim Verwalter meines Vaters geduldet wurde, hätte nicht meine Tante ein Liebesverhältnis mit einem allmächtigen Minister gehabt? [...]
Doch er warf kaum einen Blick auf das große, alte schwarze Gebäude. Die edle Sprache dieser Architektur ließ ihn völlig gefühllos. Die Erinnerung an seinen Bruder und seinen Vater machte seine Seele jedem Gefühl für Schönheit unzugänglich. (S. 167) 

Gespräch mit dem Abbate Blanès:
"[   ] Lass dich niemals zu einer Missetat hineißen, so groß und heftig auch die Versuchung sein mag. Ich glaube, ich sehe, dass es darum geht, einen Unschuldigen zu ermorden, der sich ahnungslos dein Recht anmaßt. Kannst du die mächtige Versuchung überwinden, die freilich die Gesetze der Ehre scheinbar rechtfertigen, dann wird dein Leben in den Augen der Menschen sehr glücklich, und leidlich glücklich in den Augen der wahrhaft Weisen sein", setzte er nach kurzem Nachdenken hinzu. (S.169)

9. Kapitel
"Vom Kirchturm herab konnten seine Blicke über die beiden Seearme auf eine Entfernung von mehreren Meilen hinschweifen, und dieser zauberhaft schöne Anblick ließ ihn bald alles andere vergessen, was er sah. Er erweckte in seinem Innern die hehrsten Gefühle. Alle Erinnerungen aus seiner frühsten Kindheit stürmten auf ihn ein und nahmen alles seine Gedanken gefangen. Und dieser Tag, den er als Gefangener oben auf einem Kirchturm zubrachte, war einer der glücklichsten seines ganzen Lebens." (S.172)
"Seltsam ist das, dachte er weiter, das Vergnügen, das ich empfände, wenn ich mit ansehen könnte, wie dieser hässliche Bursche zu sämtlichen Teufeln geht, ist noch zählebiger als die flüchtige Neigung, die ich der kleinen Marietta entgegenbrachte… Sie reicht ja bei weitem nicht an die Herzogin von A… heran, die ich notgedrungen in Neapel lieben musste, hatte ich doch ihr doch gesagt, ich sei in sie verliebt. Großer Gott, wie oft habe ich mich während der langen Stunden zärtlichen Beisammenseins, die mir die Herzogin gewährte, gelangweilt! Niemals aber habe ich dergleichen in dem ärmlichen Stübchen, das gleichzeitig als Küche diente, verspürt, wo mich die kleine Marietta zweimal empfing, und jedes Mal bloß für zwei Minuten." (S. 173)

10. Kapitel
Pferderaub, danach Rückkehr nach Parma (S.179/81)

19 April 2017

Stendhal: Vanina Vanini

Vanina Vanini liebt einen Karbonaro, der liebt sie auch, fühlt sich aber weiterhin der Befreiung Italiens verpflichtet:

"Um diese Zeit bildete sich eine der am wenigsten törichten Verschwörungen, die je im unglücklichen Italien versucht worden sind. Einzelheiten hierüber würden zu weit abseits führen. So viel aber sei erwähnt: Wenn das Unternehmen von Erfolg gekrönt worden wäre, hätte Missirilli einen guten Teil des Ruhmes für sich beanspruchen können. Es wäre sein Verdienst gewesen, daß sich auf ein zu gebendes Zeichen mehrere tausend Rebellen erhoben und sich gut bewaffnet einem höheren Führer zur Verfügung gestellt hätten. Der entscheidende Augenblick war bereits ganz nahe: da wurde die ganze Verschwörung durch die Verhaftung der Rädelsführer völlig lahmgelegt, wie dies meist zu geschehen pflegt.
Vanina weilte noch nicht lange in der Romagna, aber schon glaubte sie zu erkennen, daß die Liebe zum Vaterlande jede andere Leidenschaft im Herzen ihres Geliebten verjagt habe. Die hochmütige stolze Römerin war empört. Umsonst versuchte sie sich Vernunft zu predigen. Sie verfiel dem düstersten Kummer. Ja, sie ertappte sich bei einer Verwünschung der Freiheit ihres Vaterlandes. Eines Tages begab sie sich nach Forli, um Missirilli aufzusuchen. Bis dahin war ihr Hochmut stärker gewesen. Jetzt war sie nicht mehr Herrin ihres Herzeleids. »Wahrlich,« sagte sie zu ihm, »du liebst mich, als seien wir Eheleute. Das ist nicht nach meinem Geschmack.« Alsbald flossen ihre Tränen, Tränen der Scham, sich so weit erniedrigt zu haben, daß sie Worte des Vorwurfs geäußert hatte. Missirilli antwortete auf diesen Ausbruch wie just ein Mann, der ganz andre Dinge im Kopf hat. Plötzlich bekam Vanina den Gedanken, ihn zu verlassen und nach Rom zurückzukehren. Es bereitete ihr grausame Freude, sich für die Schwachheit zu strafen, nicht stumm geblieben zu sein. In wenigen Augenblicken des Schweigens war ihr Entschluß gefaßt. Sie hätte sich Missirilli nicht für ebenbürtig gehalten, wenn sie ihn nicht hätte verlassen wollen. Und schon weidete sie sich an der Vorstellung, wie schmerzlich überrascht er wohl wäre, wenn er sie vergeblich im Schlosse zu San Nicolo suchte.
Der Gedanke, daß sie die Liebe des Mannes, für den sie so viele Torheiten begangen, nicht hatte erringen können, ließ sie nicht los. Jetzt brach sie das Stillschweigen und begann alles Erdenkliche, um ihm ein paar Liebesworte abzulocken. Zerstreut sagte er ihr einige überzärtliche Dinge. Aber mit viel herzlicherem Tone sprach er alsbald von seinem politischen Vorhaben. Schmerzerfüllt rief er aus:
»Wenn mir auch diese Unternehmung mißglückt, wenn die Regierung abermals dahinter kommt, dann mache ich nicht mehr mit!«
Vanina hörte regungslos zu. Seit einer Stunde hatte sie das Gefühl, daß sie den Geliebten zum letzten Male sähe. Was er eben gesagt hatte, brachte ihre Gedanken in eine neue, verhängnisvolle Richtung.
Vanina sagte sich: ›Die Karbonari haben von mir ein paar tausend Zechinen bekommen. Niemand zweifelt daran, daß ich die Verschwörung begünstige.‹
Sie verlor sich in Grübeleien, von denen sie sich nur losriß, um Pietro zu sagen:
»Willst du vierundzwanzig Stunden mit mir im Schloß San Nicolo verbringen? Die Venta wird wohl deine Anwesenheit eine Nacht entbehren können. Morgen früh werden wir im Park des Schlosses spazieren gehen. Das wird deine Erregung mildern und dir die Kaltblütigkeit verschaffen, die du bei deiner großen Unternehmung nötig hast.«. Pietro willigte ein.
Alsbald verließ ihn Vanina unter dem Vorwande, die Vorbereitungen zur Fahrt nach San Nicolo zu treffen. Sie eilte zu einer ihrer früheren Kammerjungfern, die geheiratet und einen kleinen Handel in Forli begonnen hatte. Bei dieser Frau schrieb sie in ein Gebetbuch, das sie im Schlafzimmer liegen sah, in aller Hast die genaue Ortsangabe, wo die Verschwörer in der kommenden Nacht ihre Venta abhalten wollten. Ihre Denunziation schloß mit den Worten: ›Die Versammlung wird aus folgenden neunzehn Teilnehmern bestehen:...‹ Es folgten die Namen und Wohnungsangaben. Als Vanina die Liste fertig hatte, in der einzig und allein Missirillis Name fehlte, sagte sie zu der Frau, deren Zuverlässigkeit ihr sicher war:
»Bring dieses Buch zum Kardinal-Legaten. Er soll lesen, was hineingeschrieben worden ist, und dir das Buch dann zurückgeben. Hier hast du zehn Zechinen. Wenn der Legat jemals deinen Namen erfährt, bist du des Todes. Aber du rettest mir das Leben, wenn du ihm das darin beschriebene Blatt zu lesen gibst.«"
(Stendhal: Vanina Vanini)


Bemerkungen des Übersetzers

Die beiden Novellen (Anm. d. Red.: Vanina Vanini, Die Campobasso), die Stendhals Ideal in der arte di novellare so recht repräsentieren, den kahlen, reflexionslosen Chronikenstil, sind um die gleiche Zeit, um 1829, wie sein großer Roman ›Rot und Schwarz‹ entstanden. Beide gehen sie auf tatsächliche Geschehnisse zurück. Beider Heldinnen sind Schwestern der Mathilde von La Mole, gleichsam Vorstudien. Stendhals ›Vanina Vanini ‹ hat Paul Heise den Stoff zu einem vieraktigen Trauerspiel ›Vanina Vanini‹ (gedruckt 1896) gegeben.
Arthur Schurig