30 April 2020

Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch - Aus dem Karneval

"Endlich war er angebrochen, der heilige Valentinstag, der den Karneval mit sich bringt. Den Karneval! den ganz Rom ersehnt, der jedem und wäre es auch nur eine frohe Stunde bringt. Aber was für ganz Rom der laute Künder froher Feste ist, das beginnt in Stille mit der sich ewig wiederholenden Kränkung der unglücklichen Bewohner des Ghetto. Der erste Akt des Karnevals spielt in dem Saale der Konservatoren auf dem Kapitol, wo die Abgeordneten der Judenschaft dem Senate und den Bürgern der Stadt Rom einen Tribut – jetzt nur noch figürlich in einem Blumenstrauße – entrichten und dafür die Erlaubnis erhalten, noch ein Jahr länger in Rom verweilen zu dürfen. Zwei Deutsche hatten dieser traurigen Zeremonie auf dem Kapitole beigewohnt. Der eine ein lebengeprüfter, doch heiterer Mann auf der Mittaghöhe des Daseins; der andere in jenem glücklichen Alter, in dem der Frohsinn des Jünglings, sich mit dem Nachdenken des Mannes verbindend, die Genußfähigkeit steigert. Der ältere hieß Alwyl, Hermann der jüngere. Ein zufälliges Begegnen auf der Reise hatte sie zueinandergeführt, ihre Seelen sich gefunden, sie waren Freunde geworden in der edelsten Bedeutung des Wortes. Und wie in dem Gefühl Alwyls sich etwas von der Liebe eines Vaters zeigte, der in dem Sohne die eigene Empfänglichkeit der Jugend widergespiegelt sieht, so mischte sich in die Freundschaft, welche Hermann für jenen hegte, eine Art von Sohneszärtlichkeit, die sich achtend und liebend unterzuordnen strebte. Tieferschüttert durch die auf dem Kapitole erlebte Szene, gingen sie schweigend einher, bis Alwyl in heftigen Worten seiner Erbitterung gegen diese, gegen jede Art von Unterdrückung Luft machte. Hermann fühlte wie er, hörte ihm aufmerksam zu, doch plötzlich flog ein Lächeln über sein Gesicht, und Alwyl, der es bemerkte, fragte nach der Ursache desselben. [...]
Hermann war schon im vorigen Jahre anwesend gewesen, und auf die wiederholte Frage des Freundes, was sein glückseliges Lächeln bedeute, gestand er, daß ihm plötzlich eine schöne Erinnerung des letzten Karnevals in der Seele auftauche. »Ich sah im vorigen Karneval gleich in den ersten Tagen eine junge Römerin in griechischer Maske«, sagte er. »Sie glauben nicht, Alwyl, wie schön sie war! Hoch, schlank, voll, flammend wie eine Italienerin und dabei doch der süßeste Liebesblick, den je ein weibliches Auge gehabt hat. So mag Julia ausgesehen haben –« »Und Sie möchten den Romeo machen!« ergänzte Alwyl. »Warum denn nicht?« fragte Hermann fröhlich. »Sie, bester Freund, würden sich ebenfalls nicht lange besinnen, die Rolle zu übernehmen, wenn Sie die Griechin sähen. Ich warf ihr mein schönstes Bukett zu, sie dankte mir mit einem Veilchenstrauße, den ich aufhob und den – lachen Sie mich nicht aus – ich aufbewahrt habe. Ich sagte mir damals, es geschähe, weil es der erste Strauß sei, den mir eine Römerin zugeworfen habe. Frage ich mich aber ehrlich, so bewahrte ich ihn um des Mädchens willen.« [...]
»Sehen Sie das schöne Mädchen, die oben auf dem zurückgeschlagenen Wagen sitzt«, rief Hermann. »Diese reizende Tochter des Regimentes in ihrer kleidsamen Uniform ist die Schwester meines Wirtes, eines ehrbaren Schuhmachers, und die starke Frau neben ihr ist die Mutter des –«
Ein lautes Lachen der Umstehenden unterbrach die Rede. Mit großer Leichtigkeit war ein gewandter Wilder auf den Wagentritt gesprungen und hatte der starken Padrona ein paar große Orangen auf den Busen gelegt. Der Einfall ward belacht. Die Donna Romana lachte mit den andern, ließ die Orangen einen Moment liegen, steckte dann Blumen in die Früchte und warf sie dem kecken Burschen wieder zu, der sich in einiger Entfernung gehalten hatte, den Erfolg seiner dreisten Neckerei abzuwarten. Die Männer aus dem Wagen sendeten dem Übermütigen reiche Ladungen von Konfetti nach, denen er sich durch die Flucht entzog, während er die zurückerhaltenen, blumengeschmückten Orangen einer andern schlankeren Schönheit verbindlich überreichte. [...]
Alwyl hatte einen Balkon erreicht, von dem er dem Pferderennen zusehen wollte, als Hermann heraufkam und freudestrahlend ausrief: »Meine Griechin ist da und schöner als je!«
»Wo denn?« fragte der andre.
»An der Ecke der Via Frattina! Und nun leben Sie wohl, denn ich muß hin, ich muß wissen, wer sie ist, wo sie wohnt. Sie hat mich erkannt. Dies ist der Strauß, den sie mir zugeworfen hat. Adieu!«
Vergebens rief Alwyl ihn zurück, um einige Verabredungen für den Abend mit ihm zu treffen; er war nicht zu halten und eilte die Straße hinauf, in der bereits die Dragoner zweimal vorübergesprengt waren, um Bahn zu machen für das Rennen der Pferde. [...]
Alwyl bemerkte den Wagen und die Buketts zuerst. »Ob das nicht unsere Dominos sind?« fragte er lebhaft.
»Das ist Giuditta!« rief Hermann, und die lange gesparten Sträuße flogen als ebenso viele Liebesgrüße dem schönen Mädchen entgegen. Sie empfing sie mit freundlichem Blick, mit jenem anmutigen Gruß der Hand, der nur den Italienerinnen eigen ist; als darauf Hermann hinzutrat, ihr einen schönen Zweig künstlicher Rosen zu bieten, wählte sie lange unter den Blumen, die sie in ihrem Körbchen hatte, und reichte ihm den schönsten ihrer Sträuße, während sie, zu dem Herrn gewendet, der hinter ihr saß, mit schelmischem Lächeln einige Worte sprach.
Dann zog der Wagen in der Fila weiter, Hermanns Blicke folgten ihm lange. Er war ganz ernsthaft geworden, als Alwyl ihm gestand, nie ein schöneres Mädchen gesehen zu haben, und ihm Glück zu der Eroberung wünschte.
»Spotten Sie nur!« rief Hermann, »ich verdiene das. Warum mußte ich Ihnen auch erzählen, daß ich mich wie ein Knabe in ein hübsches Lärvchen vergafft habe. Aber denken Sie davon, was Sie wollen, ich fühle es jetzt an meinem Zorn, an meinem Unwillen, ich habe Giuditta geliebt, und ich liebe sie noch.«
Er sprach die Worte in so gereiztem Tone, daß Alwyl ihn befremdet ansah und ihn fragte, weshalb er denn zornig und unwillig sei gegen das schöne Mädchen mit den großen, schuldlosen Kinderaugen.
»Grade deshalb!« sagte Hermann. »Sieht sie nicht aus, daß man sie für einen Engel des Lichtes halten müßte, und da kommt der Quacksalber, der mir ihren Namen entgegenruft; da begegnen wir ihr selbst, wie sie verkleidet zu einem Rendezvous geht, und nun sitzt der gezierte Dandy hinter ihr, mit dem sie lächelnd spricht, während sie doch gestern tat, als suchte sie nur mich in der Menge. Es wird wohl der schöne Fremde sein, der jetzt das Haus ihrer Tanten soviel besucht.« [...]
Ein schönes Bukett, ein Körbchen mit Naschwerk flogen in das Fenster; das bleiche Mädchen, die sich nicht vorbereitet haben mochte auf solchen freundlichen Gruß, schien verlegen, ihn nicht erwidern zu können. Plötzlich nahm sie eine schwarze Schleife von ihrer Brust, brach eine rote Nelke von dem Blumentopfe auf dem Fenster, und beides ineinanderknüpfend, warf sie es Alwyl zu, der es grüßend an seinen Hut befestigte und weiterziehen wollte, als ihm ein Doktor den Weg vertrat, der mit einigen Damen in einem Wagen scharmutzierte.
Alwyl sah ihn an, es war derselbe Mann, der am vorigen Tage Giuditta begleitete, es mußte nach Hermanns Beschreibung derselbe sein, der diesen mit dem Namen Giudittas beunruhigt und gereizt hatte. Alwyl fing an, ein wohlberechnetes Spiel zu vermuten, und wünschte um Hermanns willen der Sache auf den Grund zu kommen. Er trat, sobald der Wagen vorüber war, der die Aufmerksamkeit des Doktors gefesselt hatte, an diesen heran und fragte: »Seid Ihr der Doktor, der neulich einem jungen Deutschen Heilung seiner Blindheit versprach?«
»Der bin ich. Ich wollte ihn mit dem Wunderbalsam lacrime della Giuditta heilen, aber der Törichte entschlüpfte mir, und ich glaube, er ist so stockblind, daß ihm nicht zu helfen sein wird.«
»Kennt Ihr den jungen Deutschen?« fragte Alwyl.
»Sehr wohl. Er heißt Hermann D., ist seit zwei Jahren in Rom und denkt noch lebhaft des verwichenen Karnevals und einer schönen Griechin. Ihr seid sein Freund?«
»Gewiß! das bin ich; und deshalb darf ich fragen, was bewog Euch, den Verhältnissen eines Fremden nachzuspähen?«
»Die Lust und die Pflicht, einer schönen Frau zu dienen.«
»Die schöne Frau ist Giuditta Marchetti!« sagte Alwyl.
»Vielleicht ist sie's«, entgegnete der Gefragte und wollte sich entfernen.
Aber Alwyl hielt ihn fest. »Nein!« sagte er, »so entkommen Sie mir nicht. Das geht über den Maskenscherz hinaus. Wer sind Sie, mein Herr? Was ist Ihnen Signora Marchetti? Was wollen Sie mit dem Spiele, das Sie offenbar leiten?«
»Sie fragen viel auf einmal«, meinte der andre. »Indes ich bin zu antworten bereit.« Er reichte Alwyl eine Karte hin, auf welcher der Name Horazio Viviano stand, und sagte: »Ich bin Advokat in Bologna und seit drei Wochen wegen einer Familienangelegenheit, die mich und meine Cousine Giuditta nahe angeht, in Rom. Das Spiel, das ich – um mich Ihres Ausdruckes zu bedienen – leiten soll, hängt damit genau zusammen.«
»Aber wie das?« fragte Alwyl.
»Das zu erörtern ist hier nicht der Platz. Sie sehen, ich bin Ihnen mit Vertrauen entgegengekommen. Ihr junger Freund gefällt mir und gefällt, was wohl die Hauptsache ist, auch einer andern mir werten Person. Wollen Sie mir die Auskunft über ihn geben, die ich bedarf?«
»Zu welchem Zwecke?« sagte Alwyl.
»Um zwei Glückliche zu machen! Meine Wohnung ist auf meine Karte geschrieben. Darf ich Sie morgen in den Frühstunden erwarten?« [...]
Zur verabredeten Stunde begab sich Alwyl in Horazios Wohnung. [...] Horazio sagte: »Damit Ihnen, mein Herr, mein Betragen gegen Ihren jungen Freund und Sie sowie das Verhalten meiner Cousine nicht zu befremdlich und zu auffallend erscheinen, müssen Sie mir erlauben, Ihnen einen kleinen Abriß der Verhältnisse zu geben, in denen meine Cousine und ich uns befinden. Ein älterer Bruder der beiden Fräulein Marchetti hat bei seinem Tode diesen beiden Schwestern sein sehr bedeutendes Vermögen zu lebenslänglichem Nießbrauche vermacht mit der Bedingung, daß sie es später mir und Giuditta hinterlassen und daß wir uns miteinander verheiraten sollten, um das Erbe, welches aus Gütern in der Mark besteht, zusammenzuhalten. Wer von uns beiden sich weigert, diese Ehe einzugehen, ist, wenn die Tanten es wollen, seines Anteils verlustig, und sie dürfen darüber nach Gefallen zugunsten des andern oder sonst nach ihrem Ermessen verfügen.
Nun werden Sie es begreiflich finden, daß die Herzen sich nicht immer den Verordnungen eines gestorbenen Onkels fügen können. Ich liebe eine junge Römerin, deren Vater sie mir geben würde, wenn ich das Erbteil meines Onkels besäße. Er verweigert mir die Hand seiner Tochter, wenn ich es verliere, obgleich er reich ist und ich auch ohne dasselbe imstande wäre, mit der Zeit meiner Frau ein behagliches Leben zu schaffen. Ich kam nach Rom, um zu versuchen, ob es mir nicht gelänge, meine Tanten für meine Wünsche zu gewinnen, die sich bis jetzt dagegen erklärt hatten. Ich sprach mit Giuditta davon, fand sie, nicht ohne eine kleine Verletzung meiner Eitelkeit, sehr geneigt, der Verbindung mit mir zu entsagen, und es kam mir vor, als ob irgendeine andere Neigung sich ihres Herzens bemächtigt hätte. Als ich in sie drang und ihr erklärte, daß für uns beide die Hoffnung auf Freiheit der Wahl am größten sei, wenn auch sie die Heirat mit mir ablehne, gestand sie endlich, daß sie einen jungen Deutschen zwar nicht liebe, denn sie habe ihn nie gesprochen, aber doch nicht vergessen könne, seit sie ihn im vorigen Karneval gesehen. Diese Mädchengrille schien mir sehr unbedeutend; indes als sie mir am ersten Karnevalsabende erzählte, der junge Deutsche sei wieder da und ebenso galant für sie als im vorigen Jahre, als sie ihn mir am Montag zeigte und der Doktor, der zufällig in meiner Nähe war, ihn einen braven jungen Mann nannte, da entstand in mir der Gedanke, ob man nicht die Freiheit des Karnevals dazu benutzen könnte, mir und Giuditta volle Freiheit zu verschaffen und vier Menschen glücklich zu machen.«
Alwyl hatte ihm aufmerksam zugehört; nun, als jener geendet hatte, sagte er: »Und welchen Eindruck, glauben Sie, würde Giudittas Erklärung, daß auch sie der Heirat mit Ihnen abgeneigt sei, auf die alten Damen machen?«
»Ich glaube, einen günstigen. Träte ich allein zurück, so möchte es vielleicht dem Einfluß des Abbate Luigi gelingen, die Hälfte des Vermögens der Kirche zu- und mir abzuwenden. Will aber auch Giuditta sich nach eigener Wahl verheiraten, so fügen die Tanten, in denen ein leiser Anflug von Romantik aus ihrer Jugendzeit fortlebt, sich wohl in das Unvermeidliche und teilen das Vermögen einst ganz ruhig zwischen Giuditta und mir. Sie sehen, ich gehe offen zu Werke und bekenne, daß mich, obgleich ich Giuditta wie eine Schwester liebe, hier ganz selbstsüchtige Motive lenken. Sagen Sie mir nun, ob Sie Ihren Freund mit meinen Absichten einverstanden glauben, ob er meine Cousine liebt und daran denkt, sich ihr zu nähern, sie zur Frau zu begehren?«
Von hier an entwickelt Fanny Lewald eine kleine Komödienhandlung, in deren Verlauf es gelingt, die ursprünglich widerstrebenden Tanten und den Abbate dafür zu gewinnen, dass sie die geplante Heirat zugunsten einer Doppelheirat mit ausgewechselten Partnern akzeptieren. 
Das kann man hier nachlesen. Doch den Schluss der Erzählung, die Lewald sicher nur erfunden hat, um ihren ausführlichen Bericht vom römischen Karneval lebendiger zu gestalten, biete ich auch hier schon zur Lektüre an:
Nur noch vierundzwanzig Stunden hatte der Karneval zu leben, überall hörte man seinen nahen Tod beklagen. Wie toll und wild drängte man sich am Dienstagnachmittag in den Corso, um den geliebten Karneval noch einmal zu sehen, um bei ihm zu bleiben bis an sein Ende und ihn mit den Moccolilichtchen zu Grabe zu tragen. Niemand will das erste Lichtchen anzünden, denn wenn das letzte verlöscht, ist die Lust vorüber; und doch blickt jeder umher, ob noch nirgend ein Flämmchen erglänze. Endlich taucht eins auf! ganz fern, ganz unten an der Ecke der Via dei Greci. Wie es so einsam, so scheu durch die Dämmerung flimmert, als fürchte es den noch anwesenden Tag, als traue es sich nicht recht hervor, solange der da sei. Aber der Tag scheidet, und das Lichtchen brennt; da wagt sich ein zweites hervor und ein drittes, und nun folgt die ganze Schar. Von den Balkonen des Mezzanin durch den ersten Stock bis hinauf zu den Fenstern unter den Dächern schlingen sie sich empor. Die einzelnen kleinen Glühwürmchen verwandeln sich wie im Märchen blitzesschnell in große, funkelnde Feuerschlangen, welche sich rastlos über den ganzen Corso fortwälzen. Alles strahlt in Licht und Flammen. Licht! ist das Losungswort dieser Stunden, nur im Flammentod kann der göttliche Frohsinn des Karnevals sein Ende finden. Nicht bang, nicht müde schleicht er dem Ende zu. Frisch, freudig, in höchster Lebensfülle verschwindet er, taucht er unter in ein Meer von Licht und Flammen. Das ist schön. Jeder will sein Teil dazu bringen, jeder muß ein Lichtchen in Händen haben. Aber die Fülle des Glanzes verwirrt, man fürchtet zu erblinden, wenn es ewig so währte, und die bangen Menschen fangen an, hier und dort ein Flämmchen zu löschen. Toren, die ihr seid! Glaubt ihr, es gäbe hienieden eine Lust ohne Ende? Eine Flamme ohne Erlöschen und Sichverzehren? Laßt nur die Lichtchen brennen, laßt nur die Feuerschlange sich schillernd und flimmernd über den Corso wälzen und die Flämmchen den Sankt-Elms-Feuern gleich über Wagen und Fußgängern leuchten. Nur eine kurze Frist, und die Pracht ist zu Ende, und der Flammenstrahl der Freude hüllt sich ein in das matte Grau, in das Halbdunkel gleichgültiger Alltäglichkeit. War der Eifer groß, mit dem man die Moccoli anzündete, so ist die Leidenschaft des Auslöschens und Wiederanzündens noch stärker. Aus den obern Stockwerken herab, von der Straße hinauf schlägt man mit Tüchern, die an Stangen befestigt sind, nach den Moccoli auf den Balkons. Dreiste Burschen springen auf die Wagen und suchen die Lichtchen zu erreichen, welche man, auf die Sitze steigend, vor ihrer Vertilgungswut zu retten strebt. Hie und da flammt ein Taschentuch, eine Fenstergardine in hellem Feuer auf; aber die Menschen sind Salamander geworden, sie leben nur noch im Feuer, Feuer erschreckt sie nicht, stört nicht den wahrhaft bacchantischen Taumel. Und käme ein Cato, eine Magdalene auf den Corso, sie könnten sich dem allgemeinen Jubel, der überwältigenden Lust nicht entziehen. Wäre man blind, hörte man nur den jauchzenden, immer wachsenden Lärm der unzähligen Menschenmenge, man würde mit Schaudern das furchtbarste Ereignis hereingebrochen wähnen. Kein Bild, keine Beschreibung geben eine Vorstellung dieser Stunden.
Jedes Bedenken, jede gewohnte Schicklichkeitsregel verschwindet. Mit den kostbarsten Schals schlagen vornehme Frauen nach dem Lichtchen des Straßenbuben, das ihnen erreichbar scheint. Dreist gemacht durch die allgemeine Tollheit, sicher gemacht durch den Eifer, in dem jeder nur mit sich und seinem Lichtchen beschäftigt ist, sprang Hermann die Treppen in dem Eckhause der Via Frattina hinauf, schlug mit seinem Tuche die Moccoli der Tanten, Alwyls und des Abbate zu Tode, und ehe diese noch den kecken Störenfried erkannten, zog er die überraschte Giuditta in seine Arme, und sie ruhte an seiner Brust.
Die Tanten wußten nicht gleich, was sie dazu sagen sollten. Den ganzen Nachmittag hatte Alwyl ihnen auseinandergesetzt, daß es der Wille des Erblassers gewesen sei, ein glückliches Paar zu machen; wie es jetzt aber in ihrer Macht stehe, mit denselben Mitteln vier Menschen zu beglücken, also den Willen des Gestorbenen doppelt schön zu erfüllen. Er hatte ihnen Horazios und Giudittas Dank, ein ganzes Idyll von Familienglück geschildert und nicht vergessen, hinzuzufügen, daß er, wenn er Hermann verliere, sich wieder recht einsam vorkommen werde. Die Herzen der Tanten waren erweicht. Der Abbate wurde vernachlässigt um Alwyls willen.
Nun stand das junge, liebende Paar zärtlich umschlungen vor den Tanten da. Die Keckheit Hermanns gefiel ihnen wohl. Sie konnten nicht länger widerstehen. Mitten in dem allgemeinen Jubel ward der Bund der Herzen gesegnet, und als die letzten Moccoli auf dem Corso verlöschten, zogen zwei schönere Sterne, die Augen Giudittas, für immer an dem Lebenshorizonte des glücklichen Hermann empor.

Fanny Lewald: Kurze Zitate aus dem Italienische Bilderbuch

Eine Preisverteilung! Dabei denkt man in Deutschland an einen großen, grauen Saal, an schwarzgekleidete Männer mit feierlichen Mienen, an lateinische Reden und Langeweile.
In dem fröhlichen Italien wird aber alles zum heitern Feste gemacht, Lichtglanz und Farbenpracht dürfen nirgend fehlen. Sie zeigten sich in reicher Fülle bei der Preisverteilung auf dem Kapitole, welche die Akademie der schönen Künste alle zwei Jahre veranstaltet und bei der sowohl Frauen als Männer zur Konkurrenz berechtigt sind.
[...] Spielende Kinder aus dem Volke blickten mit flüchtiger Neugier die vorübergehenden Fremden an, deren Sprache ihnen auffiel, und setzten dann ruhig den unterbrochenen Zeitvertreib fort. Was kümmert ein fröhlich spielendes Kind das Ereignis des Tages oder der ernste historische Boden, auf dem es den Tummelplatz seiner Freuden findet? Kinder sind die alleinigen Repräsentanten harmlos genießender Gegenwart. Wir andern denken und sorgen, fürchten und hoffen, aber wir genießen nicht mehr. Unsere Bestrebungen, Wünsche und Leidenschaften drängen uns aus der Vergangenheit, die uns oft nur wenig von dem Erhofften gewährte, so rasch der Zukunft entgegen, von der wir Erfüllung erwarten, daß wir nicht Zeit, nicht Kraft, nicht Mut haben, die kleine, flüchtige Minute festzuhalten, welche wir Gegenwart nennen. [...]
Die Kindheit, die Frauen und das Alter ehren heißt sich selbst einen Adelsbrief ausstellen; und vornehmlich das hinfällige Alter hat liebevolle Rücksicht zu fordern, weil nach einem tatkräftigen Leben das Bewußtsein von dem Schwinden der Kraft so schwer auf dem Menschen lastet."

Fanny Lewald: Mittag im Sommer

"Es ist etwas Bezauberndes in der Fülle von Licht und Wärme, etwas Wundervolles um die Luftstille, welche dem Mittag im Sommer zu eignen pflegt, die helle Schattenlosigkeit hat etwas Magisches. Alles ist in höchstem Genießen versenkt, ruhend und seine Schönheit still entfaltend. Die Blumen duften alle stärker und breiten die ganze Pracht ihrer Blätter, die ganze Herrlichkeit ihrer Farben aus, während die Sonne tief bis in ihre Kelche eindringt. Die Schmetterlinge wiegen sich mit leise bewegtem Flügel, die Bienen summen durch die Luft und fliegen und sinken von einer Blume zu der andern nieder, und die Ranken und Aeste und Zweige und Blätter heben und neigen sich linde, als wollten sie durch die sanfte Bewegung den Sonnenstrahlen entgegenkommen, um noch mehr von ihrer segenbringenden Kraft zu genießen. Man meint es sehen zu können, wie Alles wächst, wie der Apfel sich färbt, wie in der warmen Traube die feurige Kraft des Weines sich entwickelt, man fühlt sich selber wie in seinem eigentlichen Elemente. Von frisch glänzendem Rasen durch Baumesgrün, zum sonnendurchleuchteten Himmelsblau emporzuschauen, ist eine unvergleichliche Lust. Es liegt etwas so Herzerschließendes, etwas selig Berauschendes in dem Mittag. Wenn Gott die Erde erschaffen, so hat er sicherlich den ersten Menschen am hohen Mittag die Augen öffnen lassen, damit er es gleich mit einem Male erfahre, was die Erde ihm zu bieten habe, und wie herrlich und schön die Welt sei." (Fanny Lewald: Meine Lebensgeschichte, 25. [letztes] Kapitel)

29 April 2020

Aktuelle Literatur?

Bei Mira Mens darf man damit rechnen: "Mein geliehenes Herz".

Freilich nicht nur damit. Hier meine Rezension ihres Blogs.

28 April 2020

Euripides: Iphigenie in Aulis (Schluss)

Der Schluss des Dramas (ohne den später verfassten Botenbericht von der Opferung) in Schillers Übersetzung (nach Wikisource)


Iphigenie
(tritt zurück.)
 Nein! Keine Thränen mehr!
(sie redet den Chor an, mit dem sie gekommen ist.)
1825
Ihr Jungfraun, stimmt der Tochter Jupiters
ein hohes Loblied an aus meinem Leiden,
zum frohen Zeichen für ganz Griechenland!
Das Opfer fange an – Wo sind die Körbe?
Die Flamme lodre um den Opferkuchen!
1830
Mein Vater fasse den Altar! Ich gehe,
Heil und Triumph zu bringen den Achivern!
Kommt! Führt mich hin! Der Phrygier und Trojer
furchtbare Ueberwinderinn! Gebt Kronen,
gebt Blumen, diese Locken zu bekränzen!
1835
Erhebt den Tanz um den besprengten Tempel,
um den Altar der Königinn Diana,
der Göttlichen! der Seligen! Denn, nun
es einmal seyn muß, will ich das Orakel
mit meinem Blut und Opfertode tilgen.
[53]
Chor.
(wendet sich gegen Clytemnestra, die in stumme Traurigkeit versenkt steht.)
1840
Bald, bald, ehrwürd’ge Mutter, weinen wir mit dir,
die heil’ge Handlung duldet keine Thränen.

Iphigenie.
Helft mir Dianen preisen, Jungfrauen,
die, Chalcis nahe Nachbarinn, in Aulis
gebiethet, wo die Flotte Griechenlands
1845
im engen Hafen meinetwegen weilet!
O Argos! Mütterliches Land! Und du,
der frühen Kindheit Pflegerinn, Mycene!

Chor.
Die Stadt des Perseus rufst du an, von den
Cyclopen für die Ewigkeit gegründet!

Iphigenie.
1850
Ein schöner Stern gieng den Achivern auf
in deinem Schooß – Doch nein. Ich will ja freudig sterben.

Chor.
Im Ruhm wirst du unsterblich bei uns leben.
[54]
Iphigenie.
O Fackel Jovis! Schöner Strahl des Tages!
Ein ander Leben thut sich mir jezt auf,
1855
zu einem andern Schicksal scheid’ ich über.
Geliebte Sonne, fahre wohl[10].

Wikipediaartikel zum Stück Link zu allen Artikeln zum Stück in diesem Blog

25 April 2020

Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch - Elle est folle!

Elle est folle!

Im Teatro Metastasio werden Schauspiele, Lustspiele und Trauerspiele abwechselnd gegeben. Das Apollotheater ist die Große Oper, in der die De Julia und Iwanow Verdische Kompositionen sangen und die Elßler und Taglioni das Publikum in Entzücken tanzten. Das Theater Valle bringt leichte Opern und Lustspiele; in Aliberti werden Volksstücke gegeben und wie im Apollotheater während des Karnevals große Bälle veranstaltet. Vortrefflich sind die Marionettentheater im Palast Fiano, wo neben den gewöhnlichen Darstellungen immer noch die Ballette karikiert wurden, in welchen Fanny Elßler oder die Taglioni aufgetreten waren. Außer diesen existieren noch ein paar andere, zum Teil verfallene Theater, in denen man aber nur ausnahmsweise Vorstellungen gibt.
Alle diese Theater sind nicht, wie die meisten Schauspielhäuser in Deutschland, als Prachtgebäude mit Säulen und Hallen auf freie Plätze gebaut, sondern liegen in Reihe und Glied mit den andern Häusern, durch keine auffallende Fassade von ihnen wesentlich unterschieden. Dafür brennen am Abende, um den Eingang zu bezeichnen, Pechpfannen vor den Türen, was doppelt notwendig ist, weil man in den schmalen, schlecht erleuchteten Straßen durch das Wagengedränge wahrhaft gefährdet wird.
Eines Abends waren wir nach dem Theater Metastasio gegangen, wo Signora Ristori, eine der vollendetsten Künstlerinnen, eine durchaus edle, schöne Erscheinung, in dem neu übersetzten Schauspiel »Elle est folle« (Sie ist wahnsinnig) auftreten sollte. Es ist jenes bekannte Stück, das auf allen deutschen und französischen Theatern soviel Beifall gefunden und überall dem Publikum eine angstvolle Teilnahme eingeflößt hat. 
Lord Harvey, dies ist der Inhalt des Schauspiels, macht mit seiner Frau und einer Nichte eine Reise nach Italien. Er hat in der glücklichsten Ehe gelebt, als er plötzlich zu bemerken anfängt, daß ein Fremder seiner Frau unablässig folgt, den er endlich in Neapel im Tête-à-tête mit derselben entdeckt, worauf er bei nächster Gelegenheit, ohne seine Frau im geringsten befragt zu haben, den unbekannten Kavalier ins Meer stößt, als sich die beiden Männer allein auf einer Höhe am Posilip befinden. Nach dieser Tat wird ihm Neapel verhaßt, er verläßt es am nächsten Morgen und reist mit den Frauen planlos in der Welt umher, bis er, gequält von Gewissensbissen, trostlos durch den Gedanken, die Liebe seiner Gattin verloren und einen Mord begangen zu haben, in Wahnsinn versinkt, in dem er sich einbildet, seine Frau sei geisteskrank geworden. [...]
Wie sich das Volk im Leben selbst die Erinnerung an den Tod fernzuhalten strebt und statt »er ist gestorben« gern die Redensart wählt: »e andato in paradiso« (er ist ins Paradies gegangen), so vermeidet es auch, sich in Gram zu versenken, den es von sich fernhalten kann.
Schweigend die Untreue seiner Gattin zu ertragen wie Lord Harvey, das scheint einem Italiener lächerlich und unwahrscheinlich. Einer jungen, schönen Frau zuzutrauen, daß sie neben ihrem tollen Manne, der sie für wahnsinnig hält, sich ruhig in einer abgeschiedenen Einsamkeit einsperren lasse, fällt ihm nicht ein. Sie müßte ihn ja, wenn sie wirklich verständig wäre, in das Irrenhaus schicken und mit einem Liebhaber in Hydepark Corso fahren. Daß sie dies nicht tut, findet man abgeschmackt, unklug und keineswegs heroisch oder erhaben; und wenn endlich der Lord wahnsinnig wird über die Untreue seiner Frau oder darüber, daß er einen Nebenbuhler umgebracht, wozu er nach italienischen Begriffen ein vollkommenes Recht hat, so sind dies Grillen und Torheiten, die man eben nur den grillenhaften Engländern zutraut und an den ewig verspotteten Söhnen Albions denn auch als unerklärliche Torheiten belacht.
Bei dieser Auffassungsweise war es kein Wunder, wenn das Schauspiel die ungemessenste Heiterkeit erregte. Man sah Menschen sich in Jammer quälen, in Tränen zerfließen, die gar keine Veranlassung dazu hatten; und die Lady, welche nach italienischen Begriffen noch allein berechtigt gewesen wäre, den Verstand zu verlieren, falls sie keinen neuen Liebhaber finden konnte, blieb auch ohne diesen Trost bei voller Vernunft neben dem rasenden Gatten.
Diese heitere Ansicht wirkte denn auch so ansteckend, daß wir in Rom über dies Melodrama ebenso herzlich lachten, als wir in Deutschland darüber geweint hatten. Ernsthaft wurden wir erst wieder bei einem darauffolgenden Lustspiel, »Der Schuhmacher«, in dem die Not der Armen durch einen Schatz geendet wird, welchen der trunkene Mann in einem alten Topfe entdeckt, den er aus Ärger zerschlägt. Das Stück war niedrig-komisch angelegt; aber die Entartung aller edleren Empfindungen durch Not und Elend hatte etwas so Trauriges, daß wir ganz davon zerdrückt nach Hause kamen.

Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch - Die Grotte der Egeria

Die Grotte der Egeria

Man spricht immer von der fortschreitenden Entwicklung der reinen Idee der Menschheit und Menschlichkeit in unseren Tagen, von gerechter Würdigung des Guten und Edlen! Mich dünkt jedoch, daß wir in vielen Beziehungen nicht sonderlich weitergekommen sind und daß die Alten in ihrem heidnischen Humanismus oft viel milder und viel gerechter waren als wir.
Wir urteilen noch viel zu sehr nach vorgeschriebenen Regeln, ohne an die Ausnahmsfälle zu denken. Wir messen abstrakte Begriffe, wie Tugend, Pflicht und Ehre, noch immer nach einem festen Maße, als ob es Dinge oder Lebensmittel wären, deren relativen Wert das wohlgeeichte Gewicht und Maß der Polizeibehörde bestimmen. Daß jeder Standpunkt im Leben, daß jedes Verhältnis besondere Pflichten, eine besondere Ehre und eine ganz persönliche Tugend bedingen, das könnte man längst zum Vorteil der Menschlichkeit begriffen haben, wenn nicht ein großer Teil der Menschen viel mehr Lust am Verdammen als am Verehren hätte.
Am ungerechtesten aber gehen in dieser Beziehung die Frauen untereinander zu Werke. Es ist, als ob keine sich hoch genug auf dem Piedestal ihrer eigenen Heiligkeit und Tugend glaubte, ohne sich auf den Nacken einiger gedemütigten Weiber zu stellen. Die Frauen sind dahin gekommen, sich aus ihrem Glück eine Tugend zu machen. Sie schmücken sich mit der Gunst des Zufalls, die ihnen ein ruhiges Gemüt, sorgliche Erziehung, brave Eltern und einen geliebten Gatten erteilte, wie mit einem wohlverdienten Heiligenschein, vor dem jene Unglücklichen, welche mit heißer, liebedurstiger Seele, mit glühendem Temperament traurigen Verhältnissen erlagen, beschämt die Augen schließen müssen. Sieht man diesen herzlosen, weiblichen Hochmut, diese gleisnerische Prüderie in unserer Zeit zum Gesetz der Sitte erhoben, so empört sich das Gefühl dagegen, und man schämt sich, wenn man wirklich ein weiches, erbarmungsvolles Frauenherz in der Brust hat, vor jenen Unglückseligen, die kalte Selbstsucht ohne Prüfung verdammt.
Das Heidentum, das überall so reich an poetischen Allegorien ist, hat uns auch für diese Verhältnisse ein anmutiges Beispiel hinterlassen. Die Alten verachteten eine Lais, eine Buhlerin; aber sie erhoben Egeria, die Geliebte des Numa Pompilius, die sich keusch den Blicken des Volkes entzog und in verborgener Stille den König zu allem Großen und Erhabenen begeisterte, zu dem göttlichen Range einer unsichtbaren Nymphe. Es gibt Gestalten der Mythe, Züge in der Geschichte, die so lieblich, so schön sind, daß das Herz daran zu glauben begehrt, wenn auch alle gelehrten Forscher gegen ihre Wahrheit streiten. Die innere, notwendige Wahrheit hat auch ein heiliges Recht; und oft meine ich, man leiste uns eigentlich einen recht schlechten Dienst, wenn man uns den Glauben an Gestalten zerstört, welche für uns die Träger erhebender Ideen geworden sind. Mich betrübte es, als ein Archäologe mir in Rom weitläufig beweisen wollte, die Grotte der Egeria könne nicht echt, nicht jene Grotte sein, in der die Nymphe wohnte, weil das netzförmige Mauerwerk aus der Kaiserzeit, nicht aus den Tagen der Könige herrühre. Solche Erläuterungen muß man bald wieder zu vergessen suchen, um sich den Zauber nicht zu zerstören, der in unserer Phantasie gewisse Gestalten und Orte umschwebt und der oft mehr Belebendes und Anregendes besitzt als die trockne, kalte Wahrheit des eigentlichen Wissens.
Die Nymphe Egeria war mir von je ein schönes Bild weiblicher, hingebender Liebe gewesen, die untergeht in dem Geliebten, keinen Ruhm, keinen Ehrgeiz kennt als den, ihn groß und gut zu sehen; und selbst Tadel und Verkennung nicht achtet, weil ihr das Glück des Geliebten der höchste Lohn ist. Es zog mich zu ihrer Grotte, zu dem stillen Asyl der Liebe, wie es den Gläubigen zieht zu einem Gnadenbilde. Liebe ist ja die höchste Gnade für den, der sie empfängt, wie für den, der gewürdigt wird, sie spenden zu können! [...]
Und der Geist einer sorglichen Frauennatur scheint noch jetzt die Grotte zu umschweben, pflanzend und jätend, schaffend und sorgend zu freundlichem Empfang des geliebten, des einzigen Gastes. Woher sonst dies grüne, lauschige Plätzchen in der sonnenverbrannten Campagna? Woher dies trauliche Asyl für süßes Beieinandersein? Die Blumen blühen so frisch an der Quelle, die Bäume flüstern so leise, und die schwanken Blätter der Canna wiegen sich so träumerisch müde im warmen Sonnenschein, als gelte es, ein liebend Paar in seligen Schlummer zu wiegen oder es zu verbergen vor dem Auge der Welt in paradiesischer Einsamkeit. Es ist der Geist Egeriens, der das Wunder wirkt.

24 April 2020

Eichendorff: Ahnung und Gegenwart

"[...] Leontin ging nun fort, um ein neues Pferd der Schwester im Hofe herumzutummeln und Friedrich blieb allein im Garten zurück.
Bald darauf kam die Gräfin Rosa in einem weißen Morgenkleide herab. Sie hieß den Grafen mit einer Scham willkommen, die ihr unwiderstehlich schön stand. Lange, dunkle Locken fielen zu beiden Seiten bis auf die Schultern und den blendendweißen Busen hinab. Die schönste Reihe von Zähnen sah man manchmal zwischen den vollen, roten Lippen hervorschimmern. Sie atmete noch warm von der Nacht; es war die prächtigste Schönheit, die Friedrich jemals gesehen hatte. Sie gingen nebeneinander in den Garten hinein. Der Morgen blitzte herrlich über die ganze Gegend, aus allen Zweigen jubelten unzählige Vögel. Sie setzten sich in einer dichten Laube auf eine Rasenbank. Friedrich dankte ihr für ihr hülfreiches Mitleid und sprach dann von seiner schönen Donaureise. Die Gräfin saß, während er davon erzählte, beschämt und still, hatte die langen Augenwimpern niedergeschlagen, und wagte kaum zu atmen. Als er endlich auch seiner Wunde erwähnte, schlug sie auf einmal die großen, schönen Augen auf, um die Wunde zu betrachten. Ihre Augen, Locken und Busen kamen ihm dabei so nahe, daß sich ihre Lippen fast berührten. Er küßte sie auf den roten Mund und sie gab ihm den Kuß wieder. Da nahm er sie in beide Arme und küßte sie unzähligemal und alle Freuden der Welt verwirrten sich in diesen einen Augenblick, der niemals zum zweiten Male wiederkehrt. Rosa machte sich endlich los, sprang auf und lief nach dem Schlosse zu. Leontin kam ihr eben von der andern Seite entgegen, sie rannte in der Verwirrung gerade in seine ausgebreiteten Arme hinein. Er gab ihr schnell einen Kuß und kam zu Friedrich, um mit ihm wieder nach Hause zu reiten.
Als Friedrich wieder draußen im Freien zu Pferde saß, besann er sich erst recht auf sein ganzes Glück. Mit unbeschreiblichem Entzücken betrachtete er Himmel und Erde, die im reichsten Morgenschmucke vor ihm lagen. Sie ist mein! rief er immerfort still in sich, sie ist mein! Leontin wiederholte lachend die Beschreibung von der Häßlichkeit seiner Schwester die er vorhin beim Herritt dem Grafen gemacht hatte, jagte dann weit voraus, setzte mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit und Kühnheit über Zäune und Gräben und trieb allerlei Schwänke.
Als sie bei Leontins Schlosse ankamen, hörten sie schon von ferne ein unbegreifliches, verworrenes Getös. Ein Waldhorn raste in den unbändigsten, falschesten Tönen, dazwischen hörte man eine Stimme, die unaufhörlich fortschimpfte. »Da hat gewiß wieder Faber was angestellt«, sagte Leontin. Und es fand sich wirklich so. Herr Faber hatte sich nämlich in ihrer Abwesenheit niedergesetzt, um ein Waldhornecho zu dichten. Zum Unglück fiel es zu gleicher Zeit einem von Leontins Jägern ein, nicht weit davon wirklich auf dem Waldhorne zu blasen. [...]" (Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, 1. Buch 3. Kapitel)

Weitere Ausschnitte aus Eichendorffs Texten

18 April 2020

Theodor Storm: Renate

Über die Entstehung und den Inhalt informiert der Wikipediaartikel.

Aus heutiger Sicht erscheint mir die Tragik etwas zu sehr konstruiert, das es für mich unglaubhaft wirkt, dass jemand, der so verliebt ist, dass er statt zum sterbenden Vater zu gehen, zu der Geliebten geht, kurz darauf dem Vater, nachdem der schon gestorben ist, das Versprechen gibt, diese nie zu heiraten.
Da scheint mir Storms Ablehnung jeder Religion zu stark in die Charakterzeichnung hineinzuspielen. Dennoch empfinde ich die Verwirrung der Gefühle als solche als gut gestaltet.
Damit man sich ein eigenes Bild machen kann, folgt hier ein Textausschnitt und im Anschluss daran ein Link zur vollständigen Erzählung.

Textausschnitt:
"[...] Da ich dann vor den Altar trat, brannten auf selbigem schon die Kerzen in den großen Leuchtern, und aus den Gestühlten drängten sie sich heran, Mann und Weib, Alt und Jung; doch indeß ich den Leib des Herrn austheilete und den Kelch an aller Lippen reichte, rief es unaufhörlich in meinem Herzen: ›Herr, bringe auch sie, auch sie zu deinem Tische!‹ Aber über dem Gesang der Gemeinde schwebte noch immerfort der silberne Ton ihrer Stimme. Da plötzlich, als schon die Letzten sich dem Altar naheten, verstummte er, und ich vernahm einen leichten Schritt die Stufen des Emporstuhles herabkommen. – Aber noch waren andre, so auch des Heils begehrten; ein Greis und eine Greisin, von ihren Enkeln unterstützet, kamen herangewankt und schauten mit blöden Augen zu mir auf; und da ich ihnen den Kelch bot, vermochten ihre zitternden Lippen den Rand desselben kaum zu fassen.
Sie wurden hinweggeführet; und dann stund sie, Renate, vor mir; blaß und mit gesenkten Augen, in schwarz Gewand gekleidet, ein schwarzes Käpplein auf den braunen Haaren. Nach fast zwei Jahren sahe ich sie hier zum ersten Male wieder; ich zögerte, denn mein Herz wallete mir über; und indem ich dann die Hostie aus der Patene nahm und zwischen ihre Lippen legte, betete ich: »Herr, mache meine Seele heilig!« Dann erst sprach ich: »Nimm hin! Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wurde!«
Ich wandte mich zum Altare und nahm den Kelch. Da ich aber selbigen an ihre Lippen brachte, sahe ich, wie ihr schönes Antlitz sich verzog und wie sie schauderte ob dem Trunke, der darinnen war. Da sprach ich die Einsetzungsworte: »Das ist mein Blut, das für euch vergossen wurde!« Und sie neigete ihr Antlitz in den fast geleerten Kelch; ob ihre Lippen ihn berühret, vermochte ich nicht zu sehen. Da ich aber aus weß Ursach, vermag ich nicht zu sagen – auf die Seite blickte, gewahrete ich die Hostie in dem Schmutz des Fußbodens; ihre Lippen hatten sie verschmähet, und die Spitze ihres Schuhes trat das Brot, so als den Leib des Herren sie empfangen hatte.
Mein Gebein erzitterte, und fast wäre der Kelch aus meiner Hand gestürzet. »Renate!« rief ich leise; in Todesangst brach dieser Ruf aus meinem Munde: »Renate!«
Wohl sahe ich, daß ein Zittern über die schöne Gestalt des Mädchens hinlief; dann aber, ohne aufzusehen, ihr weißes Sacktuch in die Hände pressend, wandte sie sich ab, und bei dem Schlußgesange der Gemeinde sahe ich sie langsam den langen Steig hinabschreiten.
– – Wie ich mein Meßgewand abgeleget und in meiner Eltern Haus zurückgekommen, vermöchte ich kaum zu sagen; wußte nur, als ich daheim an meinem Pulte stand, daß auch wohl ein junger Prediger, der ich war, nicht mit also ungestümen Schritten über den Kirchsteig hätte dahinstürmen sollen. An meines Vaters Krankenbette vermochte ich itzo nicht zu treten; ich stützte den Kopf in beide Hände, und mit geschlossenen Augen spähete ich nach dem Weg der Pflicht, den ich zu gehen hatte.
Aber nur eine kurze Weile; dann schritt ich den wohlbekannten Fußsteig nach dem Hof hinab. Wieder, wie vor Jahren, schrien die Elstern oben in den Bäumen; und da ich links vom Flur in das Zimmer eingetreten war, schien es mir weiter und einsamer, als ich es zuvor gesehen. Dennoch hatte ich Renaten sogleich erblickt; sie saß drüben auf ihrem Platz am Fenster, den Kopf gesenkt, die Hände vor sich hin gefaltet. Da ich dann näher trat, erhub sie sich langsam, als ob sie müde sei; und in dem langen schwarzen Gewande, das sie itzo trug, erschien sie mir größer und fast gleich einer Fremden. Als ich aber stehen blieb und sie mit ihrem Namen anredete, rief auch sie: »Josias!« und streckte beide Arme gegen mich.
War es die Liebe, so Gott zwischen Mann und Weib gesetzet, die aus ihrer Stimme klang, oder war es ein Hülferuf, ich vermochte das nicht zu erkennen; aber ich zog sie nicht an meine Brust, wozu mein Herz mich mit gewaltigen Schlägen drängte, sondern beharrete auf meinem Platz und sprach: »Du irrest, Renate; es ist nicht Josias, es ist der Priester, der hier vor dir stehet.«
Da ließ sie die Arme sinken und sagte dumpfen Tones: »So sprecht! Was habt Ihr mir zu sagen?«
Und wie sie mich itzt aus dem ernsten Antlitz mit ihren großen Augen ansah, da schrie es in mir auf: ›Du kannst sie nimmer lassen; in diesem Weibe ist all dein irdisch Glück!‹ Aber ich rief zu meinem Gott, und er half mir, bei meinem heiligen Amte die weltlichen Gedanken in die Tiefe bannen.
»Renate!« sprach ich; »wer war es, der dich zu der Todsünde versuchte, daß du den Leib des Herrn von deinen Lippen spieest? Nenne seinen Namen, daß wir mit Gottes Engeln ihn besiegen!«
Aber sie wiegete nur das Haupt. »O die armen alten Leute!« rief sie. »Ich weiß, es war eine Sünde! Aber da ich ihr Antlitz sahe, von den greisenhaften Gebresten so ganz entstellt, da schauderte mich, daß ich mit ihnen aus einem Kelche trinken sollte, und die heilige Hostie entfiel meinen Lippen in den Staub. Bete für mich, Josias, daß ich dieser Schuld entlastet werde!«
Ich glaubte ihren Worten nicht. ›So‹, dachte ich, ›will der Versucher dir entrinnen‹, und sprach laut: »Vor einem Schenkenglase mag dir ekeln; aber der Kelch des Herrn ist rein für alle, denen er geboten wird! Ein höllisch Blendwerk hat dein Aug verwirret; und es kommt von dem, mit welchem auch dein Vater sein unselig Spiel getrieben, bis Leib und Seele ihm dabei verloren worden.«
Bei diesen meinen Worten stürzete sie auf ihre Kniee und hub die Arme auf und schrie: »Mein Vater, o mein armer Vater!«
»Ja, schreie nur um ihn, Renate!« sprach ich. »Und möge unseres Gottes Allbarmherzigkeit in seinen tiefen Pfuhl hinunterleuchten!«
Sie sahe zu mir auf und sprach mit fester Stimme: »Die wird ihm leuchten, Josias, so gut wie allen andern, die ein jäher Tod ereilet!«
Ich aber rief: »Das ist des Teufels Hochmuth, der von deinen Lippen redet! Demüthige dich gegen den, bei dem alleine Rettung ist, und schütte dein Herz aus vor mir, der hier stehet an seiner Statt!« Und da sie hierauf schwieg, so sprach ich weiter: »Da du mit unserer alten Margreth nächtens auf dem Moore gingest, wen hast du angerufen, daß er dir von deinem Vater Kunde brächte, und was war es, das aus der leeren Luft herab mit schrecklichem Geheul dir Antwort gab?«
»Ich weiß von keinem Geheul«, entgegnete sie; »aber du, Priester Gottes« – und ein trotzig Feuer brannte in ihren schönen Augen –, »so ich wüßte, daß dort Kunde wär, zur Stund noch ging' ich und schriee meine Noth ins Moor hinaus und fragete nicht viel, von wannen mir die Antwort käme!«
»Renate!« rief ich. »Exi immunde spiritus!« und spreizete beide Hände ihr entgegen. »Bekenne! Bekenne! Mit welch argen Geistern hast auch du dein Spiel getrieben?«
Sie hatte sich vom Boden aufgerichtet; und da ich sie anschaute, war ein kalter Glanz in ihren Augen. Sie strich mit den Händen über ihr Gewand und sagte: »Ich verstehe nicht, was Ihr redet; aber mir ist, als sei das große Gemach hier so düster, wie es nimmer noch gewesen.« Und da in diesem Augenblicke an die Thür gepocht ward, welcher ich den Rücken wandte, und selbige sich aufthat, setzete sie hinzu: »Tretet näher, Margreth! Euer Herr ist hier!«
Ich aber wandte mich um und sahe unsre alte Margreth vor mir stehen; die schaute mich gar ernsthaft an und sprach nach einer Weile: »Kommet heim, Herr Josias; denn Euer lieber Vater will nun sterben, und ihn verlangt nach einem letzten Wort mit Euch.«
Da war mir, als bräche der Boden unter mir zusammen, und ich verließ Renaten und eilete nach meines Vaters Sterbekammer. – Da ich eintrat, saß er laut redend in seinen Kissen, aber seine Stimme däuchte mir fremd, gleich als hätt ich nimmer sie gehöret.
»Es ist dein Großvater, von dem er redet«, raunete mir meine Mutter zu.
»Er sieht mich nicht, Mutter!« entgegnete ich leise.
»Nein, Josias, er ist bei denen, die ihm zu Gottes Thron voraus gegangen.«
Und mein Vater sahe mit glänzenden Augen vor sich hin und redete weiter: »Lang, gar lange habe ich für ihn gepredigt – Josias thäte das gar gerne auch für mich –, denn er wurde sehr alt; sein leiblich Augenlicht war erloschen, und der Schall der Welt drang nur verworren noch zu seinem Ohre. Aber da er seine Stunde nahen fühlte, hieß er mich und meine Schwestern ihn in die Kirche führen, und wir geleiteten ihn auf die Kanzel. Da wandte er sein Antlitz rings umher und grüßte unmerklich mit der Hand; und sein silbern Haar hing über seine blinden Augen. Er meinete, es sei Sonntag und die Gemeinde sei versammelt. Er irrte; die Schwestern waren oben an seiner Seiten, und drunten war nur ich allein. Aber der Greis auf der Kanzel erhub seine Stimme, und sie scholl stark in der leeren Kirchen; denn er nahm Abschied und redete erschütternd zu allen, die hier nicht zugegen waren.«
Der Kranke hatte die Arme über das Deckbett hingestrecket, und sein abgezehrtes Antlitz leuchtete wie von innerem Lichte. »Ja, mein Vater«, rief er, »aus der Ewigkeit herüber höre ich deine Stimme, wie du sprachest: ›Und so wie einst herauf, so führe an deiner Hand mich jetzt hinab von dieser Stätte! Aber, mein Gott und Herr, du hellest das Dunkel vor mir; gleich meinen Vätern werden Sohn und Enkelsöhne von deinem Stuhle aus dein Wort verkünden. Laß sie dein sein, o Herr! Nimm ihren schwachen Geist in deiner Gnaden Schutz!‹«
Nach diesen Worten schwieg mein lieber Vater; und als nun meine Mutter ihre Arme um ihn schlang, da sank sein Haupt zurück auf ihre Schulter. – Aber er erhub es wieder; und da sie zu ihm redete: »Mein Christian, spare deine Kräfte und ruhe nun«, da schüttelte er leise mit dem Haupt und sagte nur: »Nachher, nachher, Maria!« Dann sahe er liebevoll, aber mit fast flehentlichen Blicken zu mir auf und sprach langsam und wie mit großer Mühe: »Du kommst vom Hof, Josias; ich weiß es. Der Bauer ist nicht mehr, und möge Gott ihm ein barmherziger Richter sein – aber seine Tochter lebt! Josias, das rechte Leben ist erst das, wozu der Tod mir schon die Pforten aufgethan!«
Die Hand des Sterbenden haschete ins Leere nach der meinen, und da ich sie ihm gegeben, hielt er sie sehr fest in seinen magern Fingern.
Noch einmal begann er: »Wir sind ein alt Geschlecht von Predigern; die ersten von den Unsern saßen zu Dr. Martini und Melanchthons Füßen. Josias!« – er rief meinen Namen, daß es gleich Schwertesschnitt durch meine Seele ging – »vergiß nicht unseres heiligen Berufes! – – Des Hofbauren Haus ist keines, daraus der Diener Gottes sich das Weib zur Ehe holen soll!«
Der Odem des Sterbenden wurde stärker; aber seine Stimme sank zu einem Flüstern, und da wir lautlos horchten, kamen wie fernhin verhallend noch die Worte: »Versprich – – das Irdische ist eitel – –«
Darauf verstummete er ganz; seine Finger löseten sich von meiner Hand, und der Friede des Herrn ging über sein erbleichend Angesicht. Ich aber neigete mich zu dem Ohr des Todten und rief: »Ich gelobe es, mein Vater! Mög die entfliehende Seele noch deines Sohnes Wort vernehmen!« [...]"
(Theodor Storm: Renate, Zeno.org, S.121-127)

17 April 2020

Paul Celan

https://www.swr.de/swr2/literatur/dichtung-als-atemwende-wie-heute-paul-celan-gelesen-wird-swr2-forum-2020-04-17-100.html

Paul Celan (1920-1970)

Mohn und Gedächtnis, 1952
Von Schwelle zu Schwelle, 1955.
Sprachgitter, 1959.
Atemwende, 1967.


Todesfuge Interpretation  Wikipediaartikel Text und Vortrag

Engführung Text und Vortrag

Corona Interpretation
(1948)  Text und Vortrag

    Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit (1953) gilt als Antwort auf Corona von Celan
                                       Text und Vortrag    Links zu Ingeborg Bachmann

Klaus Reichert im Interview: Paul Celan: Ich sehe seine Hellsichtigkeit, bei anderem denke ich einfach: er übertreibt Frankfurter Rundschau 20.4.2020

Daniel Jurjew: "Sie schreiben, wie Sie auf einer Konferenz kurz nach Celans Tod erklärten, eine kommentierte Ausgabe erscheine Ihnen zunächst wichtiger als eine kritische, „weil man bei den Freunden und Bekannten Celans nachfragen könnte, welche Hinweise zu einzelnen Gedichten – biographische, sachliche, zu seinen Lektüren – er ihnen vielleicht gegeben hätte. Der Vorschlag wurde leider nicht aufgegriffen.“ Ist dieses Versäumnis durch Ihre und andere Erinnerungen zu korrigieren?"
Klaus Reichert: "Es ist zu spät, viel zu spät."
Klaus Reichert: "Ich bin dazu gekommen im langen Leben, als Hermeneut oder Interpret, dass am Ende jede Interpretation eines bedeutenden Werkes, also auf dem Niveau von Hölderlin oder Kafka, dem Werk zu nahe tritt. Dass man es in seiner „Geheimnishaftigkeit“ stehen lassen sollte. Dass das Interpretieren bis zu einem gewissen Grad etwas erhellen kann, aber dadurch auch manches zerstört. Ich will es mal ganz andersherum sagen: Als ich 20 war und angefangen habe, „Finnegans Wake“ zu lesen, habe ich gesagt: Na ja, wenn ich 40 bin, werde ich das Buch verstanden haben. Ich habe in den 20 Jahren viele Aufsätze geschrieben, davon gibt es auch einen Band, „Vielfacher Schriftsinn – Zu ,Finnegans Wake‘“. Ich bin 40 geworden und habe nichts verstanden. Und ich habe mir gedacht, nein, ich kann mich erfreuen am Erfindungsreichtum von Joyce und wie es ihm gelingt, uns dazu zu bringen, immer wieder neu diese Nüsse zu knacken – das habe ich mit Studenten sieben Jahre lang betrieben. Am Anfang war ich der Lehrer, und später waren wir alle gleich; dieser war dafür zuständig, jener dafür, der war Entomologe, der Talmudist, usw. Aber die Bedeutung dieses Buches, wie man bei „Ulysses“ von einer Bedeutung oder einem Zusammenhang sprechen kann, die haben wir alle nicht gefunden. Das ist für mich beispielhaft für ein unglaublich anspruchsvolles Werk, das alle „Verstehensinstrumente“ aufruft, um am Ende nirgendwohin zu kommen. [...]
Ich habe das natürlich zu allgemein gesagt. Sie können eine Ballade mit 14-Jährigen lesen und erklären, worum es geht, und auch, wie das gemacht ist. Das Verstehen eines lyrischen Gedichts ist etwas anderes als das eines erzählenden Gedichts. Man kann jungen Menschen einige Herangehensweisen zeigen, über den Aufbau, den Hintergrund. Ist das eine Entwicklung, ist das ein Zustand, ist es etwas Atmosphärisches? Aber man sollte ihnen auch klarmachen: Letzten Endes lässt ein Gedicht nur bis zu einem gewissen Grade zu, dass man sich darüber Gedanken macht. Es muss ein Rest bleiben, mit dem das Gedicht sich in sein Geheimnis zurückzieht."

13 April 2020

Über die Gefahren des Lesens von Büchern

1685: Der französische Theologe Adrien Baillet warnte:
"Wir haben Grund zur Furcht, dass die Menge der Bücher, die täglich anwächst, in den kommenden Jahrhunderten zu einem Rückfall führen wird, der den barbarischen Zuständen nach dem Zerfall des römischen Reiches gleichen wird."

Baillet gilt als der erste Biograph von René Descartes.

Adrien Baillet (* 13. Juni 1649 in La Neuville-en-HezFrankreich; † 21. Januar 1706 in Paris) war ein französischer TheologeHistoriker und Bibliothekar.

Leben


Nach dem Besuch der Dorfschule konnten ihm seine Eltern keine höhere Schulbildung finanzieren. Nachdem der Bischof von Bauvais auf ihn aufmerksam geworden war, ermöglichte dieser ihm ein Studium der Theologie. Anschließend war Baillet zunächst als Lehrer in Beauvais tätig und wurde dann 1676 zum Priester geweiht. 1680 wechselte er nach Paris, wo er für den Generalanwalt des Parlements François-Chrétien de Lamoignon als Bibliothekar tätig wurde und dort einen 35-bändigen Catalogue raisonné erstellte.

11 April 2020

Fanny Lewald: Ein Besuch im Frauenkloster Trinità dei Monti und eine Jesuitenpredigt

Rom hat das Eigentümliche, daß in ihm noch eine Menge von Charakteren, von Zuständen, von Einrichtungen existieren, welche uns im protestantischen Norden so ferngerückt sind, daß wir kaum noch an ihr Vorhandensein glauben. [...]
Heiligenbilder, Mönche, Kardinalsequipagen, Prozessionen, das sind alles Dinge, von denen wir zwar hören, die uns aber doch ziemlich fern und unklar vorschweben. Man glaubt daran, weil es nicht der Mühe verlohnt, daran zu zweifeln; oder man denkt nicht daran, weil es so in gar keiner Beziehung zu uns steht. In Italien und namentlich in Rom tritt aber der Katholizismus in seiner ganzen riesenhaften Größe und Festigkeit auf. Er mahnt mich oft an den schönen Gigantenbau, an das Colosseum, das aus so festen Quadern nach so weisem Plane gebaut ist, daß es fast unzerstörbar scheint. Soviel die Zeit und die Menschen daran gerüttelt haben, soviel schon davon vernichtet ist, noch immer überragt es an Schönheit und Tüchtigkeit alle andern Bauten, und man fühlt, daß es doch noch innere Haltbarkeit und lange Dauer in die Zukunft haben wird. Es ist eine tiefe, weise Konsequenz in dem Bauplan, und alles, was konsequent ist, hat Dauer. [...]
Dieses momentane klösterliche Sichzurückziehen findet in Rom ebenfalls noch statt unter dem Namen der esercizii spiritoali, und zwar kurz vor Ostern als Vorbereitung auf dies größte Fest der Kirche. [...]
Durch Vermittlung einer Dame, die früher einmal ein paar Wochen zu gleichem Zwecke im Kloster gelebt hatte, ward mir der Zutritt zu einer dieser Vorübungen gestattet, und ich will versuchen, die Eindrücke, welche ich dabei empfing, für andere zugänglich zu machen, denen sie vielleicht ebenso fremdartig erscheinen dürften als mir. [...]
Es war Mittag vorüber. Eine Nonne von gutmütigem Aussehen führte fünf kleine Mädchen im Alter von acht bis zwölf Jahren in eine der Kapellen, setzte jeder einen Schemel zurecht, auf dem die Kleinen niederknieten, und ließ sie sich zur Beichte vorbereiten. Es war die Kapelle, in der die beiden Magdalenen von Veit gemalt sind. Die Mädchen trugen weltliche Kleidung, hatten aber schwarze Kreppschleier und sahen, was mir auffallend war, alle bleich und schwächlich aus. Während die Kinder beteten, standen wir vor der anstoßenden Kapelle und betrachteten die schöne Kreuzabnahme von Daniel di Volterra, welche der Hauptschmuck dieser Kirche ist. In unserer Bewunderung des schönen Bildes unterbrach uns der Eintritt eines Priesters, der sich mit jener behaglichen Sicherheit in den Beichtstuhl setzte, mit der ein Präsident sich am Sessionstisch niederläßt, und bald darauf erschien eines der kleinen Mädchen, kniete demütig nieder und fing seine Geständnisse an. Ob sich der kälteste Priester nicht beschämt an die Brust schlagen mag, wenn er hört, er, der Welt und Leben kennt, was solch ein achtjähriges Kind für Sünde hält? Ob er nie die Versuchung fühlt, die kleine Unschuld auf den Altar zu setzen und in tiefer Beschämung vor dem reinen Wesen zu knien, das von ihm Absolution verlangt? Wir gingen fort, um die kleine Andächtige nicht zu stören. [...]
Die Dame, welche früher einmal im Kloster gewesen war, küßte der Oberin die Hand und stellte uns vor mit dem Bemerken, daß wir der Andacht beizuwohnen wünschten. Die Oberin bewillkommte uns freundlich, und man führte uns nach der Kapelle, in der die Nachmittagsandacht gehalten werden sollte. Ehe ich zu dieser selbst übergehe, will ich ein paar Worte über die Weise berichten, in der die Damen während dieser Osterandacht leben. Die Bußzeit, wenn man es so nennen darf, dauert zehn Tage. Es werden zwei esercizii spiritoali abgehalten, der erste in italienischer und vierzehn Tage später ein zweiter in französischer Sprache. Die Damen leben nach der Vorschrift des heiligen Ignatius, und ein Jesuit leitet die Übungen. Jetzt war es Pater Rillo, ein Pole, der ausgezeichnetste Kanzelredner des Jesuitenordens. Man hatte mir schon früher viel von ihm und seiner unermüdlichen Tätigkeit für die Kirche, seiner rastlosen Ausdauer auf den beschwerlichsten Reisen und von seiner gänzlichen Hingebung für seine Überzeugung gesprochen. [...]
Die Büßerinnen stehen sehr früh auf, wohnen der Messe bei, haben am Tage mehrere Betübungen und hören vier Predigten, zwei am Morgen, zwei am Nachmittage. Während der Mahlzeiten, welche diese Pensionäre des Klosters gemeinsam, jedoch getrennt von den Nonnen halten, liest eine Nonne aus dem Leben der Heiligen vor. Jede Unterhaltung aus Lust am Plaudern ist ihnen verboten; sie dürfen nur das Unerläßlichste sprechen, um zu fordern, was sie bedürfen, oder um auf die Fragen der Oberin zu antworten. An dem Tage, an welchem sie das Kloster verlassen, nehmen sie das Abendmahl, die Nonnen singen die Messe, und man sagte uns, die Abschiedszeremonie sei ebenso ergreifend als schön und prächtig. – Das Kloster nimmt die Pensionäre, von denen es verlangt wird, unentgeltlich auf, verschmäht aber auch die Bezahlung nicht, die man freiwillig, so groß oder so klein sie sein mag, bietet. Das ist menschlich und verständig. Es waren augenblicklich etwa vierzig Damen zur Andacht im Kloster. Dies vorausgeschickt, kehre ich zu unserm Eintritt in die Kapelle zurück. Nach dem heitern Eindruck, welchen die Kirche auf mich gemacht, hatte ich mir ein ebenso lachendes Bild von der Kapelle entworfen. Wie erstaunte ich daher, als man den Vorhang, den alle italienischen Kirchentüren haben, aufhob, eine Glastüre öffnete und uns in einen Raum hineinwies, der so finster war, daß ich anfangs fast gar nichts unterscheiden konnte. Man führte uns zu unsern Plätzen, und erst nachdem sich das Auge an das Dunkel gewöhnt hatte, fing ich an, die Gegenstände um mich her zu erkennen. Die Kapelle, lang und schmal bei mäßiger Höhe, hat ganz den Anstrich eines Gartensaales. Sie ist wie ein gewöhnliches Zimmer in grauen Arabesken auf blaßblauem Grunde gemalt. Palmen- und Lorbeerzweige umschlingen das »In hoc signo vinces«. Ein hübscher Teppich bedeckt den Fußboden. An der einen Seite der Kapelle sind, wie ich an den Bronzeschlössern bemerken konnte, verkleidete Türen nach dem Garten; an der andern Fenster, die von außen mit Läden geschlossen waren. [...]
Ein Kruzifix steht neben dem Altar, die Ewige Lampe hing leuchtend darüber. Nur an dieser Stelle war durch ein Fenster dem Tageslichte Eingang gestattet. Es war totenstill und schwül in der Kapelle, und dies hatte etwas Beängstigendes für mich, als ich aus dem hellen, frischen Sonnenschein hineintrat in dies tiefe, plötzliche Dunkel. Etwa vierzig bis fünfzig Damen waren sitzend oder kniend in Andacht versunken. Sie befanden sich in Bänken zu beiden Seiten des Gemachs, das Gesicht gegen den Altar gewendet. In der Mitte war ein freier Gang, in dem sich ein paar Nonnen geräuschlos und anmutig hin und her bewegten, um den Neuankommenden ihre Plätze anzuweisen. Als alle versammelt waren, trat die Oberin mit vier Nonnen herein, nahm mit ihnen der Tür zunächst Platz, der Vorhang vor dem Eingang wurde heruntergelassen, die schwere Holztüre geschlossen. Die Stille und Dunkelheit waren nun vollkommen, nur am Altar konnte man deutlich unterscheiden. Nach einigen Minuten öffnete sich hinter demselben eine Türe, die ich nicht bemerkt hatte, Pater Rillo trat schnell und sicher herein und nahm auf einem Sessel vor dem Altar seinen Platz. Er sprach das gewöhnliche Gebet, die Damen hörten es kniend mit an. Währenddessen konnte ich den Pater betrachten, soweit das zitternde Lampenlicht es zuließ. Er scheint ein Mann von vierzig Jahren und von edler, apostolischer Gesichtsbildung zu sein. Das Profil, das von der Seite des nicht verhängten Fensters Licht empfing, zeichnete sich in schöner Form in der Dunkelheit ab. Es gewinnt durch reiches Haar und reichen Bart eine anziehende Würde. Nach beendigtem Gebete fing die Predigt an. Ob und inwiefern sie sich an die vorhergegangenen Reden anschließen mochte, das konnte ich nicht beurteilen, doch vermute ich, daß es der Fall gewesen ist. Sie handelte über den Beruf für das geistliche Leben in klösterlicher Zurückgezogenheit. Die Weise, in welcher der Pater sprach, gefiel mir sehr. Ich habe sie bei allen katholischen Predigern Italiens gefunden, welche ich zufällig gehört. Sie ist fern von dem hohlen, zur Manier gewordenen Pathos der protestantischen Geistlichen, die uns durch ihr Niederdonnern von der Kanzel, durch das gleichmäßig rhythmische Fallen und Steigen der Stimme von ihrer Begeisterung für die Sache überzeugen wollen. Der heutige protestantische Prediger kämpft für seine Überzeugung, weil er weiß, daß viele daran zweifeln; [...]

Nur einer ist da, der, unberührt von irdischen Absichten, gesondert von der Welt und ihren Beziehungen, kein anderes Ziel, keinen andern Zweck haben kann als Ihr Seelenheil: es ist der Seelsorger! – il direttore!« Gewöhnlich sind die Jesuiten die Seelsorger der vornehmen Damen. Nun waren wir am Ziele. Er sagte, daß alles darauf ankäme, einen zuverlässigen Seelsorger zu haben und ihm die innersten Falten des Herzens zu enthüllen, damit er urteilen könne, was seiner Pflegebefohlenen heilsam sei, was nicht. Er sprach mit großer Wärme, seine weiche Stimme hatte etwas ungemein Beruhigendes, Einschmeichelndes, Zutrauen Erweckendes. Es lag die ganze sorgliche Teilnahme eines liebevollen Freundes darin, und sein Gesicht war voll schöner, ruhiger Heiterkeit. In der Kapelle war es drückend schwül. Das Sacré-Coeur leuchtete hell in dem Dunkel, weil die Strahlen der einzigen Lampe sich darauf konzentrierten. Pater Rillo schloß seine Betrachtung mit leisem Gebet, die kleine, verborgene Türe öffnete sich, und er verschwand geräuschlos, wie er gekommen war. Die tiefste Stille lag über der Versammlung, die nach dem Gebet kniend sich ihren Betrachtungen überließ. Nur zuweilen hörte man das tiefe Seufzen oder das leise Schluchzen einer Dame. Die Szene hatte etwas sehr Beklemmendes. Ich sehnte mich nach Licht und Luft und war herzlich froh, als die Oberin die Türe öffnete, den Vorhang aufhob und ich hinauskam in die freie, schöne Gotteswelt. So tief war das Dunkel der Kapelle gewesen, daß ich mehrere Minuten lang die Augen schließen mußte, weil ich das Licht nicht ertragen konnte. Im Gespräch mit der sehr liebenswürdigen weltgewandten Nonne, welche uns geführt hatte, durchwanderten wir den Garten. Er hat eine schöne Aussicht über Rom, bis hinüber zum Monte Mario, von dem Villa Madama in koketter Schönheit herabschaut. Umhergehend betrachtete ich die büßenden Damen, welche um diese Zeit schweigend wie immer die einzige Erholungsstunde des Tages im Garten genießen. Der größere Teil schienen mir Fremde, nur wenige Italienerinnen zu sein. Ich erkannte ein paar junge, unverheiratete Engländerinnen, denen ich sonst in der Gesellschaft begegnet war. Sie grüßten mich schweigend. Was mögen die blonden Kinder mit den frischen, etwas einfältigen Gesichtern in dieser Zurückgezogenheit denken? Welche Entschlüsse mögen sie fassen? Welche Wirkung mag es auf sie machen, wenn der Seelsorger ihnen sagt, daß er ihnen ein sichererer Freund, ein unfehlbarerer Ratgeber sei als die treue, zärtliche Mutter, unter deren schützendem Auge sie ihre harmlose Kindheit verlebten? Und ob die Mutter ihre Töchter dem Kloster anvertraute, auch nur für die kurze Zeit von zehn Tagen, wenn sie es wüßte und bedächte, wie eine fremde Gewalt sich zwischen sie und die Lieblinge ihres Herzens stellt?
Ich mußte immer wieder die guten, blonden Kinder ansehen, und eine ganze Kontroverspredigt drang mir aus dem Herzen fast bis an den Rand der Lippen, während ich zu unserer Führerin sagte: »Sie sind um diesen Aufenthalt zu beneiden. Ihr Kloster und Ihr Garten sind so schön gelegen, daß ich mit Freude hier einen längern Besuch machen würde.« Und in der Tat, wäre man nicht im Kloster, man könnte sich keinen anmutigeren Aufenthalt wünschen. Die Nonne hatte kaum meine Bemerkung vernommen, als sie im gewähltesten Französisch und mit dem feinen Lächeln einer vornehmen Frau mir entgegnete: »Wir werden nach vierzehn Tagen einen zweiten Kursus in französischer Sprache haben. Der Pater Rillo verläßt uns, aber es kommt ein anderer Jesuit, ein Franzose und vortrefflicher Prediger. Sie haben nur zu bestimmen, damit man Ihnen eine Zelle einrichten und Sie von dem Beginn des neuen Kursus benachrichtigen kann. Dürfen wir auf Sie zählen?« Bei diesen Worten zog sie ein kleines Etui und Bleistift hervor für den Fall, daß ich meinen Namen einzuschreiben wünschte.
Ich fand die Nonne so liebenswürdig, Luft und Aussicht waren auf der Höhe so schön, daß ich mir nach dem Geräusch des Karnevals, nach der Ermüdung in den heißen Gesellschaftssälen zehn Tage in Ruhe und Stille bei diesen freundlichen Klosterfrauen recht sehnsüchtig wünschen und sehr erquicklich denken konnte.
Die Nonne begleitete uns höflich und gastlich bis an die Ausgangstüre. Als wir das Kloster verließen, war grade die Promenadenstunde auf dem Monte Pincio. Das ganze bunte Gewühl der Fremden von allen Nationen wogte an uns vorüber, und unter ihnen bewegten sich unscheinbar und ruhig paarweise die Schüler des Loyola. In schwarzer, schlichter Tracht wandeln sie neben den jungen Dandys, den schönen Frauen auf und nieder; und die wenigsten von diesen denken daran, daß jene schwarzen Gestalten Glieder sind einer geheimnisvollen Macht, deren Einfluß noch unberechenbar groß ist und deren Geschosse das Ziel grade so sicher treffen als die unsichtbaren Pfeile Apollos die Herzen der unbeschützten Niobiden.