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24 August 2010

Was sollen mir diese Bekenntnisse?

Als ich sie das erste Mal gelesen habe, waren Rousseaus "Bekenntnisse" für mich ein merkwürdiger Bericht darüber, wie ein junger Mann von Frau zu Frau zieht, mehr oder minder intensive sexuelle Kontakte mit ihnen anknüpft und das alles in exaltierter Sprache. Wie nimmt der sich aber wichtig!

"Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde. Ich will der Welt einen Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selber sein."

Bei der zweiten Lektüre habe ich mich nicht verpflichtet gesehen, die Frauengeschichten des Jünglings Etappe für Etappe mitzuverfolgen. Ich habe den Anfang mit dem Romane lesenden Sechsjährigen betrachtet:

"Ich erinnere mich nicht, was ich bis zu einem Alter von fünf oder sechs Jahren that. Ich weiß nicht, wie ich lesen lernte; ich entsinne mich nur noch meiner ersten Lectüre und wie sie auf mich wirkte; von dieser Zeit an beginnt mein ununterbrochenes Selbstbewußtsein. Meine Mutter hatte Romane hinterlassen. Wir, mein Vater und ich, fingen an, sie nach dem Abendessen zu lesen. Zuerst handelte es sich nur darum, mich durch unterhaltende Bücher im Lesen zu üben; aber bald wurde das Interesse so lebhaft, daß wir abwechselnd unaufhörlich lasen und selbst die Nächte bei dieser Beschäftigung zubrachten. Wir konnten uns nicht überwinden, vor Beendigung eines Bandes aufzuhören. Mitunter sagte mein Vater, wenn er gegen Morgen die Schwalben schon zwitschern hörte, ganz beschämt: »Laß uns zu Bette gehen, ich bin noch mehr Kind als du.«

Auf diesem gefährlichen Wege eignete ich mir nicht allein in kurzer Zeit eine außerordentliche Gewandtheit im Lesen und Auffassen an, sondern auch ein für mein Alter ungewöhnliches Verständnis der Leidenschaften. Während es mir noch an jedem Begriffe von den wirklichen Verhältnissen fehlte, hatte ich bereits einen Einblick in die Welt der Gefühle gewonnen. Ich hatte nichts begriffen, aber alles gefühlt und die eingebildeten Leiden meiner Helden haben mir in meiner Jugend hundertmal mehr Thränen entlockt, als ich später über meine eigenen vergossen habe. Die unklaren Vorstellungen, die ich nach einander in mich aufnahm, konnten der Vernunft, die ich noch nicht hatte, zwar nicht schädlich sein, aber sie waren doch die Ursache, daß die meinige ganz eigenartig wurde, und brachten mir über das menschliche Leben höchst wunderliche und schwärmerische Begriffe bei, von denen mich Erfahrung und Nachdenken nie haben vollkommen heilen können."
Dann sprang ich zum Leben des erfolgreichen Autors und konnte mich nicht genug wundern, wie wenig er in seinen Erinnerungen auf den Inhalt seiner Schriften einging und auf die Revolution, die er damit in der Geisteswelt hervorrief.
Immer geht es um seine gesellschaftliche Stellung in der adeligen Gesellschaft, seine Anerkennung durch adlige Frauen, und das, obwohl er sich durchaus bewusst eine unabhängige Stellung in der Gesellschaft verschafft hatte, damit er von Karrieregesichtspunkten unabhängig publizieren könne.

Und dann die Verwunderung darüber, wie viel dieser Mann außerhalb der Felder, in denen er heute noch bekannt ist: Philosophie, Staatstheorie und Pädagogik, verstanden hat:
erfolgreicher Opernkomponist, einflussreichster Musikästhetiker seiner Zeit, Gesandtschaftssekretär, Romanautor.
Immer sich selbst bemitleidend, immer höchst originell, hochgeachtet von den größten Geistern seiner Zeit und immer im Streit.

Ob man sich die Lektüre des ganzen Werkes zumuten will?
Man kann ja mit einzelnen Stilproben beginnen.

Hier Zitate aus Rousseaus Gesamtwerk.

12 August 2010

Fußreisen beleben die Gedanken

Was ich im Hinblick auf die Einzelnheiten meines Lebens, deren ich mich nicht mehr zu erinnern vermag, am meisten bedauere, ist, daß ich keine Tagebücher über meine Reisen geführt habe. Nie habe ich so viel gedacht, nie bin ich mir meines Daseins, meines Lebens so bewußt, nie, wenn ich so sagen darf, so ganz Ich gewesen, wie auf denen, die ich allein und zu Fuß gemacht habe. In dem Wandern liegt etwas, das meine Gedanken weckt und belebt; verharre ich auf der Stelle, so bin ich fast nicht im Stande zu denken; mein Körper muß in Bewegung sein, damit mein Geist in ihn hineintritt. Der Blick über die Gegend, die Reihe freundlicher Aussichten, die frische Luft, der große Appetit, das Wohlbefinden, das ich beim Gehen bekomme, die Zwanglosigkeit im Wirthshause, die Abwesenheit von allem, was mir meine Abhängigkeit fühlbar macht, von allem, was mich an meine Lage erinnert, dies alles macht meine Seele frei, verleiht mir eine größere Gedankenkühnheit, schleudert mich gewissermaßen in die Unermeßlichkeit der Dinge, um sie zu ordnen, auszuwählen und mir nach meinem Sinne, ohne Zwang und Furcht, anzueignen. Ich verfüge als Herr über die ganze Natur; von Gegenstand zu Gegenstand schweifend, vereinigt und identificirt sich mein Herz mit denen, die es angenehm berühren, umgiebt sich mit reizenden Bildern, berauscht sich an lieblichen Empfindungen. Wenn ich, um sie festzuhalten, mich damit ergötze, innerlich eine Schilderung von ihnen zu entwerfen, welche Lebensfrische der Formen, welchen Glanz der Farben, welche Kraft des Ausdrucks gebe ich ihnen dann! Man will etwas von dem allen in meinen Werken gefunden haben, obgleich ich sie erst in höheren Lebensjahren geschrieben habe. Ach, hätte man die meiner frühsten Jugend gesehen, die, welche ich auf meinen Reisen verfaßt, die, welche ich entworfen und nie niedergeschrieben habe! ... Weshalb, wird man einwenden, sie nicht schreiben? Aber weshalb sie schreiben? werde ich antworten. Weshalb mich um den wirklichen Zauber des Genusses bringen, um anderen zu sagen, daß ich Genuß gehabt? Was kümmerten mich Leser, Publikum, ja die ganze Welt, so lange ich im Himmel schwebte. Führte ich denn übrigens Papier und Federn bei mir? Hätte ich an alles das gedacht, dann würde keine Gedankenwelt in mir aufgestiegen sein. Ich sah nicht voraus, daß ich Gedanken haben würde; sie kommen nach ihrem, nicht nach meinem Gefallen; sie überwältigen mich durch ihre Zahl und Stärke. In zehn Bänden täglich hätte ich sie nicht unterbringen können. Woher Zeit nehmen, um sie zu schreiben? Sobald ich ankam, dachte ich an ein gutes Essen, wenn ich wieder aufbrach, dachte ich nur an eine angenehme Wanderung. Ich fühlte, daß ein neues Paradies meiner am Thore wartete; ich dachte nur daran, so schnell als möglich hinein zu gehen. [...]
Beim Berichte über meine Reisen geht es mir wie beim Reisen selbst; ich weiß nicht anzukommen. Das Herz schlug mir vor Freude, als ich meiner lieben Mama näher kam, und ich ging doch nicht schneller. Ich wandere gern mit aller Gemächlichkeit und mache Halt, wenn es mir gefällt. Ein umherwanderndes Leben ist für mich Bedürfnis. Eine Fußreise bei schönem Wetter, und in einer schönen Gegend zu machen, ohne Eile zu haben und an deren Ziele meiner etwas Angenehmes wartet, ist von allen Arten zu leben am meisten nach meinem Geschmack. Uebrigens weiß man schon, was ich unter einer schönen Gegend verstehe. Nie erschien mir ein flaches Land, bei aller sonstigen Schönheit, als ein solches. Ich bedarf Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, schroffe Pfade, die eben so schwer zu erklettern wie hinabzusteigen sind, Abgründe auf beiden Seiten, die mir Angst einjagen. Diese Wonne hatte ich und empfand sie in ihrem ganzen Zauber, als ich mich Chambery näherte. Unweit einer Felsenwand, die den Namen Pas de l'Echelle führt, tief unter der in den Felsen gehauenen Landstraße, bei dem Flecken Chailles, strömt und schäumt in schrecklichen Strudeln ein kleiner Fluß, der Tausende von Jahrhunderten gebraucht zu haben scheint, um sich Bahn zu brechen. Man hat den Weg, um Unglücksfälle zu verhüten, mit einem Geländer eingefaßt; deshalb konnte ich in die Tiefe hinabblicken und mich nach Herzenslust schwindelig machen lassen; denn trotz meiner Vorliebe für schroffe Felsen werde ich wunderlicher Weise auf ihnen schwindelig, und gerade an diesem Gefühle des Schwindels habe ich große Freude, sobald ich mich dabei in Sicherheit befinde. Weit über das Geländer gelehnt, schaute ich in die Tiefe und blieb da ganze Stunden lang, indem ich von Zeit zu Zeit bald auf diesen Schaum, bald auf das blaue Wasser blickte, dessen Brausen ich durch das Geschrei der Raben und der Raubvögel vernahm, welche hundert Klafter unter mir von Fels zu Fels und von Gesträuch zu Gesträuch flogen. An den Stellen, wo der Abhang ziemlich gerade hinunter ging und das Strauchwerk weit genug auseinander stand, um Steine durchzulassen, trug ich deren so groß und schwer, wie ich sie nur haben konnte, von allen Seiten zusammen und häufte sie auf dem Geländer auf. Darauf warf ich sie einen nach dem andern hinab und ergötzte mich daran, sie rollen, aufspringen und in tausend Stücke zerschellen zu sehen, ehe sie noch den Boden des Abgrundes erreichten.
Noch näher bei Chambery hatte ich ein ähnliches Schauspiel, wenn auch in umgekehrtem Sinne. Der Weg führt am Fuße des schönsten Wasserfalles vorüber, den meine Augen je gesehen. Der Berg hängt so weit herüber, daß das Wasser plötzlich in einem Bogen herabfällt, der weit genug von der Felsenwand entfernt ist, um zwischen dieser und dem Wasserfall hindurchschreiten zu können, oft sogar ohne daß man dabei naß wird; sieht man sich jedoch dabei nicht vor, so wird man leicht angeführt, wie es bei mir der Fall war; denn wegen der außerordentlichen Höhe löst sich das Wasser in eine Art Staubregen auf, und tritt man zu nahe an diese Wolke heran, ist man mit einem Male, ohne anfangs zu merken, daß man naß wird, vollkommen wie aus dem Wasser gezogen.Rousseau: Bekenntnisse (4. Buch)

09 August 2010

Rousseaus Krankheiten

Bei meiner Geburt war ich kaum lebensfähig; man hatte wenig Hoffnung, mich zu erhalten. Ich brachte den Keim eines Leidens mit auf die Welt, welches die Jahre entwickelt haben und das mir nicht nur hin und wieder eine kurze Ruhe gönnt, um sich mir dafür auf andere Weise um so grausamer fühlbar zu machen. Eine Schwester meines Vaters, ein liebenswürdiges und kluges Mädchen, pflegte mich mit so großer Sorgfalt, daß ihr meine Rettung gelang. In dem Augenblicke, da ich dieses schreibe, ist sie noch am Leben, im Alter von achtzig Jahren einen Mann pflegend, der jünger als sie, aber durch die Trunksucht heruntergekommen und geschwächt ist. Liebe Tante, ich verzeihe dir, mich am Leben erhalten zu haben, und bedaure, dir am Ende deiner Tage nicht die zärtliche Sorge vergelten zu können, die du am Beginn der meinigen an mich verschwendet hast. (1.Buch)
Chemisches Experiment mit Gesundheitsfolgen
Auch verkehrte ich in Chambery viel mit einem Jakobiner, einem Lehrer der Physik und höchst gutmüthigen Mönche, dessen Namen ich vergessen habe. Er machte oft kleine Experimente, die mir außerordentliche Freude machten. Ich wollte sein Beispiel befolgen und nach Anleitung von Ozanams »Mathematischen Belustigungen« sympathetische Tinte machen. Nachdem ich zu diesem Zwecke eine Flasche mehr als zur Hälfte mit ungelöschtem Kalk, Schwefelarsenik und Wasser gefüllt hatte, pfropfte ich sie fest zu. Die Gährung trat fast augenblicklich mit großer Heftigkeit ein. Ich lief nach der Flasche hin, um sie zu öffnen, war aber nicht schnell genug da; wie eine Bombe sprang sie mir ins Gesicht. Ich mußte Schwefelarsenik und Kalk hinunterwürgen, und wäre daran fast gestorben. Länger als sechs Wochen blieb ich blind und lernte auf diese Weise, mich nicht mit Experimentalphysik zu befassen, ohne ihre Anfangsgründe zu kennen.
Im Hinblick auf meinen Gesundheitszustand, der seit einiger Zeit merklich schlechter wurde, stieß mir dieser Unfall sehr zur Unzeit zu. Ich weiß nicht, woher es kam, daß ich trotz meiner kräftigen Statur und Vermeidung jeglicher Ausschweifung zusehends abnahm. Ich habe eine umfangreiche breite Brust, die meiner Lunge genügenden Spielraum gewähren muß; nichtsdestoweniger hatte ich kurzen Athem, fühlte mich bedrückt, seufzte unwillkürlich, litt an Herzklopfen, spuckte Blut und bekam das schleichende Fieber, das ich nie wieder verloren habe. Wie kann man in der Blüte der Jahre, ohne einen organischen Fehler, ohne durch eigene Schuld die Gesundheit zerstört zu haben, in einen solchen Zustand verfallen? (5. Buch)

Hörsturz und Tinnitus
Eines Morgens, als ich mich nicht unwohler als gewöhnlich befand und eben eine kleine Tischplatte auf ihr Fußgestell legte, fühlte ich in meinem ganzen Körper eine plötzliche und fast unbegreifliche Veränderung. Ich kann sie nicht besser als mit einer Art Sturm vergleichen, der sich in meinem Blute erhob und sich in einem Augenblicke über alle meine Glieder verbreitete. Meine Adern begannen mit einer solchen Gewalt zu schlagen, daß ich ihr Pochen nicht allein fühlte, sondern auch hörte und namentlich das Klopfen in den Kopfarterien. Dazu gesellte sich ein starkes Ohrensausen, und in ihm ließ sich etwas Dreifaches oder Vierfaches unterscheiden, nämlich ein tiefes und dumpfes Brausen, ein Murmeln, heller wie von rieselndem Wasser, ein sehr scharfes Pfeifen und das eben erwähnte Herzklopfen, dessen Schläge ich leicht zählen konnte, ohne erst meinen Puls zu fühlen oder meinen Körper mit den Händen zu berühren. Dieser lärmende Aufruhr in meinem Innern war so gewaltig, daß er mir die frühere Feinheit des Gehörs raubte und mich zwar nicht taub, aber doch harthörig machte, wie ich es seitdem geblieben bin.

Man kann sich meine Ueberraschung und meinen Schrecken vorstellen, ich hielt mich für dem Tode nah und legte mich zu Bett; der Arzt wurde geholt, ich erzählte ihm zitternd mein Leiden, das mir unheilbar schien. Ich glaube, er theilte meine Ansicht, aber er that, was sein Beruf mit sich brachte [...] und als ich nach Verlauf einiger Wochen bemerkte, daß ich mich nicht besser und nicht schlechter befand, verließ ich das Bett und nahm meine gewöhnliche Lebensweise trotz dem Schlagen meiner Arterien und meines Ohrensausens wieder auf, das mich von da an, das heißt seit dreißig Jahren, nicht eine Minute verlassen hat.

Bis dahin war ich sehr verschlafen gewesen. Die vollkommene Schlaflosigkeit, welche alle diese Krankheitserscheinungen begleitete und sie bis jetzt beständig begleitet hat, bestärkte mich vollends in der Ueberzeugung, daß mir nur noch wenig Zeit zu leben blieb. Diese Ueberzeugung beruhigte mich auf einige Zeit über die Sorge für meine Genesung. Da ich mein Leben nicht verlängern konnte, beschloß ich die kurze Lebenszeit, die mir noch vergönnt war, bestmöglichst auszukaufen, und das ermöglichte mir eine besondere Begünstigung der Natur, die mich in einem so traurigen Zustande mit den Schmerzen verschonte, die er dem Anscheine nach hätte hervorrufen müssen. Ich war von dem ewigen Sausen belästigt, litt aber nicht darunter; es war mit keiner andern bleibenden Unbequemlichkeit verbunden als des Nachts mit Schlaflosigkeit und mit einem stets kurzen Athem, der aber nicht bis zum Asthma ausartete und sich nur fühlbar machte, wenn ich laufen oder eine angestrengte Arbeit verrichten wollte.

Das Leiden, das meinem Körper hätte tödtlich werden müssen, tödtete nur meine Leidenschaften, und wegen der glücklichen Wirkungen, die es auf meine Seele ausübte, segne ich den Himmel jeden Tag dafür. Ich kann wohl sagen, daß ich erst zu leben anfing, als ich mich als einen todten Mann betrachtete. Indem ich den Dingen, von denen ich scheiden sollte, ihren wahren Werth zuerkannte, begann ich mich mit edleren Pflichten zu beschäftigen, mich gleichsam schon im voraus denen überlassend, die ich nun bald zu erfüllen haben würde, und die ich bis dahin arg vernachlässigt hatte. [...] (6. Buch)

Fehler der Harnblase
In dem ersten Theile dieses Werkes habe ich erwähnt, daß ich halbtodt geboren wurde. Ein organischer Fehler der Harnblase hatte in meinen ersten Jahren eine fast beständige Harnverhaltung zur Folge, und meine Tante Suzon, die meine Pflege übernahm, hatte unglaubliche Mühe, mich am Leben zu erhalten. Gleichwohl gelang es ihr; meine kräftige Natur gewann endlich die Oberhand, und meine Gesundheit erstarkte während meiner Jugend derart, daß ich, von der abzehrungsähnlichen Krankheit, deren Verlauf ich berichtet, und von dem häufigen Drange zum Uriniren abgesehen, der mich bei der geringsten Erhitzung quälte, das Alter von dreißig Jahren erreichte, fast ohne etwas von den Nachwehen meines anfänglich schwächlichen Zustandes zu empfinden. Erst bei meiner Ankunft in Venedig fühlte ich sie wieder. Die Ermüdung von der Reise und die furchtbare Hitze, die ich ausgestanden hatte, zogen mir Harnstrenge und ein Nierenleiden zu, die ich bis Eintritt des Winters behielt. Nach meinem Besuche bei der Paduana glaubte ich, ich müßte sterben, und hatte trotzdem nicht die geringsten Beschwerden; ja, nachdem ich mehr meine Einbildung als meinen Körper für meine Zulietta erschöpft hatte, fühlte ich mich wohler als je. Erst nach Diderots Verhaftung befiel mich in Folge der Erhitzung, die ich mir auf den in der damals entsetzlichen Sonnenglut nach Vincennes unternommenen Wanderungen zugezogen hatte, ein heftiges Nierenleiden, und nie habe ich seitdem meine frühere Gesundheit wiedererlangt.
In dem Zeitpunkte, von dem ich rede, wurde ich, da ich mich vielleicht bei der widerwärtigen Arbeit an dieser verwünschten Kasse ein wenig ermüdet hatte, leidender als zuvor und hütete in dem kläglichsten Zustande, den man sich vorstellen kann, fünf oder sechs Wochen das Bett. Frau Dupin schickte mir den berühmten Morand, der mir trotz seiner Geschicklichkeit und leichten Hand unglaubliche Schmerzen bereitete und es nie zu Stande brachte, mich zu sondiren. Er gab mir den Rath, mich an Daran zu wenden, dessen biegsamere Harnröhrchen sich wirklich zweckentsprechend zeigten. Als Morand indessen der Frau Dupin über meinen Zustand Bericht abstattete, erklärte er ihr, daß ich in einem halben Jahre nicht mehr am Leben sein würde. (8.Buch)

 Untersuchung von Harnröhre, Blase und Prostata
Sicherlich hatte ich damals eben so vielen Grund wie je, auf die Güte des Herrn von Luxembourg und im Nothfalle auf seinen Beistand zu rechnen, denn nie gab er mir häufigere und rührendere Freundschaftsbeweise. Als mir während seiner Anwesenheit zu Ostern mein trauriger Gesundheitszustand nicht gestattete, mich auf das Schloß zu begeben, verabsäumte er keinen Tag, mich zu besuchen, und da er mich unaufhörlich leiden sah, wußte er mich endlich dazu zu bewegen, mich an den Bruder Côme zu wenden. Er ließ ihn selbst holen, brachte ihn persönlich zu mir und hatte den bei einem großen Herrn wahrlich seltenen und anerkennenswerten Muth, während der sehr schmerzlichen und langwierigen Operation bei mir auszuharren. Trotzdem wurde diesmal nur eine Sondirung vorgenommen, die bisher niemandem, nicht einmal Morand gelungen war, der sie mehrmals und stets erfolglos versucht hatte. Der Bruder Côme, der eine beispiellos geschickte und leichte Hand hatte, brachte es endlich zu Stande, nach zweistündigen qualvollen Versuchen, während denen ich mich meine Klagen zurückzuhalten anstrengte, um das gefühlvolle Herz des guten Marschalls nicht zu zerreißen, eine sehr kleine Sonde einzuführen. Bei der ersten Untersuchung glaubte der Bruder Côme einen großen Stein zu entdecken und sagte es mir; bei der zweiten fand er ihn nicht mehr. Nachdem er sie noch ein zweites und drittes Mal vorgenommen hatte und zwar mit einer Sorgfalt und Genauigkeit, die mir die Zeit gar lang vorkommen ließen, erklärte er, daß kein Stein vorhanden, aber die Vorsteherdrüse sehr verhärtet und von unnatürlicher Dicke wäre; er fand die Blase groß und in gutem Zustande und erklärte mir schließlich, daß ich viel leiden und lange leben würde. Wenn sich die zweite Vorhersagung eben so gut wie die erste erfüllt, so werden meine Leiden nicht so bald aufhören.
Nachdem ich auf diese Weise so viele Jahre lang wegen allerlei Krankheiten behandelt worden war, die ich gar nicht hatte, erfuhr ich endlich, daß mein Leiden unheilbar, wenn auch nicht tödtlich, erst mit mir sein Ende erreichen würde. Meine durch diese Gewißheit gezügelte Einbildungskraft ließ mich nicht mehr in der Ferne einen unter den Schmerzen der Steinkrankheit erfolgenden bittren Tod erblicken. Ich hörte auf zu fürchten, daß das Ende einer Sonde, das schon vor langer Zeit in der Harnröhre abgebrochen war, den Kern zu einer Steinbildung gegeben habe. Von den eingebildeten Leiden befreit, die für mich schmerzlicher als die wirklichen waren, hielt ich diese letzteren ruhiger aus. So viel ist gewiß, daß ich seit dieser Zeit unter meiner Krankheit viel weniger als früher litt, und nie denke ich daran, daß ich diese Erleichterung Herrn von Luxembourg verdanke, ohne bei seinem Andenken von neuem von Rührung ergriffen zu werden. (11. Buch)

08 August 2010

Frau von Houdetot

Auf dem Höhepunkte meiner Träumereien erhielt ich einen Besuch von Frau von Houdetot, den ersten, welchen sie mir in meinem Leben gemacht hat, der aber, wie man später sehen wird, unglücklicherweise nicht der letzte blieb. Die Gräfin von Houdetot war die Tochter des seligen Generalpächters Herrn von Bellegarde, Schwester der Frau von Epinay und der Herren De la Lire und De la Briche, die später beide Einführer der Gesandten geworden sind. Ich habe bereits erzählt, wie ich sie noch als Mädchen kennen gelernt habe. Seit ihrer Verheirathung traf ich mit ihr nur bei den Festen auf der Chevrette bei ihrer Schwägerin, der Frau von Epinay, zusammen. Ich hatte oft mehrere Tage sowohl auf der Chevrette wie in Epinay mit ihr verlebt und fand sie nicht allein sehr liebenswürdig, sondern glaubte auch an ihr ein besonderes Wohlwollen gegen mich wahrzunehmen. Sie ging ziemlich gern mit mir spazieren; wir waren beide tüchtige Fußgänger, und unsere Unterhaltung gerieth nie ins Stocken. Trotzdem besuchte ich sie nie in Paris, obgleich sie mich darum gebeten und mehrmals sogar dringend gebeten hatte. Ihr vertrauter Umgang mit Herrn von Saint-Lambert, mit dem ich ein freundschaftliches Verhältnis zu unterhalten begann, machte sie mir noch anziehender, und gerade um mir von diesem Freunde, der sich damals, wie ich glaube, in Manon aufhielt, Nachrichten zu überbringen, besuchte sie mich auf der Eremitage.
Dieser Besuch glich einigermaßen dem Beginne eines Romanes. Sie verirrte sich auf dem Wege. Ihr Kutscher, der den Weg dort, wo er sich wendete, verließ, wollte an der Mühle von Clairvaux vorüber in gerader Richtung auf die Eremitage zufahren; im Thalgrunde blieb ihre Kutsche im Kothe stecken; nun wollte sie aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Ihre zierliche Fußbekleidung war bald durchnäßt; sie versank in den Koth; ihre Leute hatten alle Mühe von der Welt, ihr herauszuhelfen, und endlich langt sie unter lautem Gelächter, in welches ich, als ich ihren Aufzug gewahrte, einstimmte, in Stiefeln auf der Eremitage an. Sie mußte sich vollständig umkleiden. Therese versah sie mit allem Nöthigen, und ich forderte sie auf, ihren Rang zu vergessen und einen ländlichen Imbiß zu nehmen, den sie sich auch mit großem Behagen schmecken ließ. Da es schon spät war, verweilte sie nur kurze Zeit, aber die Zusammenkunft war so fröhlich, daß sie Gefallen daran fand und geneigt schien wiederzukommen. Dieses Vorhaben führte sie jedoch erst im nächsten Jahre aus; aber, ach, auch diese Verzögerung sollte mich nicht schützen! [...]
Gerade in dieser Zeit erhielt ich von Frau von Houdetot einen zweiten unvorhergesehenen Besuch. In der Abwesenheit ihres Mannes, der Kapitän in der Gensdarmerie war, und ihres Geliebten, der ebenfalls diente, war sie nach Eaubonne, mitten im Thale von Montmorency, gekommen, woselbst sie sich ein ziemlich hübsches Haus gemiethet hatte. Von dort aus machte sie einen neuen Ausflug nach der Eremitage. Auf dieser kleinen Reise ritt sie und zwar in Männertracht. Obgleich ich kein Freund derartiger Maskeraden bin, begeisterte mich doch der romantische Anstrich der ihrigen, und diesmal erglühte ich in Liebe. Da es die erste und einzige in meinem ganzen Leben war, und mir wegen der sich daran knüpfenden Folgen ihre Erinnerung ewig unauslöschlich und schrecklich geworden ist, so möge es mir gestattet sein, dieses Verhältnis ausführlich zu besprechen.

Die Frau Gräfin von Houdetot näherte sich den Dreißigen und war keineswegs schön; ihr Gesicht zeigte Blatternarben; ihrem Teint gebrach es an Reinheit; sie war kurzsichtig und ihre Augen traten etwas zu sehr hervor, aber bei dem allen hatte sie ein jugendliches Aussehen, und ihr zugleich lebhaftes und freundliches Gesichtchen etwas ungemein Anziehendes. Sie hatte einen wahren Wald von starkem, schwarzem, natürlich gekräuseltem Haar, welches bis zu den Kniekehlen hinabreichte; ihr Wuchs war zierlich, und in allen ihren Bewegungen gab sich eine gewisse Unbeholfenheit und doch auch wieder Anmuth zu erkennen. Sie war äußerst natürlich und hatte einen recht anregenden Geist; Frohsinn, Schelmerei und Naivetät vermählten sich darin auf das glücklichste. Sie sprudelte von reizenden Einfällen, die sie nicht suchte und die ihr bisweilen unwillkürlich entschlüpften. Sie besaß mehrere angenehme Talente, spielte Klavier, tanzte gut und machte leidliche Verse. Ihr Charakter war wahrhaft engelgleich; aus allen ihren Eigenschaften leuchtete die Sanftmuth ihrer Seele hervor; mit Ausnahme der Klugheit und der Kraft zierten sie alle Tugenden. Namentlich war sie von einer solchen Zuverlässigkeit im Umgange und von einer solchen Treue gegen ihren Bekanntenkreis, daß sich selbst ihre Feinde nicht vor ihr zu verbergen brauchten. Unter ihren Feinden verstehe ich die Männer oder vielmehr die Frauen, welche sie haßten, denn sie für ihre Person war unfähig zu hassen, und ich glaube, daß diese Charakterübereinstimmung viel dazu beitrug, mir Liebe zu ihr einzustoßen. Auch in ihren vertraulichsten Herzensergießungen habe ich sie nie von Abwesenden Böses reden hören, nicht einmal von ihrer Schwägerin. Wie sie außer Stande war jemandem ihre Gedanken zu verhehlen, so vermochte sie auch nicht einmal ihre Gefühle zu bezwingen, und ich bin überzeugt, daß sie über ihren Geliebten eben so gut mit ihrem Manne sprach, wie sie über ihn mit ihren Freunden, ihren Bekannten und mit aller Welt ohne Unterschied zu reden pflegte. Kurz, was die Reinheit und Aufrichtigkeit ihres vortrefflichen Charakters beweist, ist der Umstand, daß sie in ihrer außerordentlichen Zerstreutheit und bei ihren vielen lächerlichen Unbesonnenheiten sich wohl oft zu etwas hinreißen ließ, was ihr selbst höchst nachtheilig war, aber nie zu Dingen, die irgend jemand hätten kränken können.

Man hatte sie sehr jung und trotz ihres Widerspruches an den Grafen von Houdetot, einen Mann von hohem Range und militärischem Geiste, aber einen Spieler und Raufbold vermählt, der sehr wenig liebenswürdig war und den sie auch nie geliebt hat. Sie fand in Herrn von Saint-Lambert alle glänzende Seiten ihres Mannes im Vereine mit bestechenderen Eigenschaften, mit Geist, Tugenden und Talenten. Wenn an den Sitten des Jahrhunderts etwas verzeihlich erscheint, so ist es unzweifelhaft eine solche, durch ihre Dauer geläuterte und durch ihre guten Einflüsse heilsam wirkende Verbindung, die nur durch eine gegenseitige Achtung Festigkeit erhielt.

Sie kam, wie ich glaube, ein wenig aus eigenem Antriebe, hauptsächlich aber wohl Saint-Lambert zu Liebe. Er hatte sie darum ersucht und konnte mit Recht annehmen, daß die Freundschaft, die sich zwischen uns zu bilden begann, uns allen dreien diesen Umgang angenehm machen würde. Sie wußte, daß ich von ihrem Verhältnisse unterrichtet war, und da sie von ihm ohne Verlegenheit mit mir sprechen konnte, so war es natürlich, daß sie sich bei mir gefiel. Sie kam, ich sah sie; ich war liebestrunken ohne Gegenstand; diese Trunkenheit bezauberte meine Blicke, sie erkannten diesen Gegenstand in ihr. In Frau von Houdetot erblickte ich meine Julie und sah in ihr bald nichts mehr als Frau von Houdetot, aber mit allen Vollkommenheiten bekleidet, mit denen ich den Abgott meines Herzens geschmückt hatte. Um das Werk zu krönen, erzählte sie mir von Saint-Lambert mit der Glut einer zärtlich Liebenden. Ansteckende Macht der Liebe! Als ich sie anhörte, als ich mich an ihrer Seite gewahrte, überschlich mich ein eigenthümlich lieblicher Schauer, wie ich ihn noch nie an der Seite einer Frau empfunden hatte. Sie sprach und ich fühlte mich bewegt; ich glaubte nur von Theilnahme für ihre Gefühle ergriffen zu sein, als sich meiner ähnliche Gefühle bemächtigten; in langen Zügen trank ich die vergiftete Schale aus, von der ich bis jetzt nur die Süßigkeit empfand. Kurz, ohne daß ich und ohne daß sie es merkte, flößte sie mir dieselben Gefühle gegen sich ein, die sie für ihren Geliebten hegte. Ach, es war sehr spät, es war sehr grausam, für eine Frau, deren Herz einen andern liebte, in einer eben so heftigen wie unglücklichen Leidenschaft zu entbrennen!

Trotz der starken Gemüthsbewegungen, die ich an ihrer Seite empfunden, wurde ich mir anfangs nicht darüber klar, was mit mir vorgegangen war; erst als ich nach ihrer Entfernung an Julie denken wollte, fiel es mir auf, daß ich nur noch an Frau von Houdetot denken konnte. Nun gingen mir die Augen auf; ich fühlte mein Unglück, ich beseufzte es, sah aber die Folgen nicht voraus.

Lange war ich über die Art meines künftigen Benehmens ihr gegenüber unschlüssig, als ob die wahrhafte Liebe dem Menschen Vernunft genug ließe, um solchen Vorsätzen nachleben zu können. Ich war noch zu keinem Entschlusse gekommen, als sie abermals erschien und mich unversehens überraschte. Diesmal war ich vorbereitet. Die Scham, die Gefährtin des Uebels, machte mich ihr gegenüber stumm und verlegen; ich wagte weder den Mund zu öffnen noch die Augen aufzuschlagen; ich befand mich in einer unbeschreiblichen Verwirrung, welche ihr auffallen mußte. Ich entschloß mich, sie ihr einzugestehen und sie die Ursache ahnen zu lassen: das hieß, sie ihr deutlich genug angeben.

Wäre ich jung und liebenswürdig gewesen, und hätte sich Frau von Houdetot in der Folge schwach gezeigt, so würde ich hier ihre Aufführung tadeln; allein dies war nicht der Fall, ich kann dieselbe nur anerkennen und bewundern. Der Entschluß, den sie faßte, verrieth sowohl Edelmuth wie Klugheit. Sie konnte sich nicht plötzlich von mir zurückziehen, ohne Saint-Lambert, der sie selbst zu Besuchen bei mir aufgefordert hatte, den Grund mitzutheilen; das hätte geheißen zwei Freunde einem Bruche und vielleicht einem Aufsehen erregenden Streite aussetzen, was sie vermeiden wollte. Sie achtete mich und wollte mir wohl. Sie hatte Mitleid mit meiner Thorheit; ohne ihr zu schmeicheln, bedauerte sie sie und suchte mich davon zu heilen. Es freute sie, ihrem Geliebten und sich selbst einen Freund zu erhalten, den sie schätzte; von nichts redete sie zu mir mit größerem Vergnügen als von dem innigen und freundschaftlichen Umgange, den wir unter uns dreien pflegen könnten, wenn ich vernünftig geworden wäre. Sie beschränkte sich nicht immer auf diese freundschaftlichen Ermahnungen, sondern ersparte mir, wenn es Noth that, auch nicht härtere Vorwürfe, die ich gar wohl verdient hatte.

Ich selbst schenkte sie mir noch weniger; sobald ich allein war, kam ich wieder zu mir; nachdem ich geredet hatte, war ich ruhiger. Hat man der, welche uns die Liebe einflößt, sie bekannt, so läßt sie sich leichter ertragen. Der Nachdruck, mit dem ich mir die meinige vorwarf, hätte mich, wäre es überhaupt möglich gewesen, davon heilen müssen. Welche mächtige Beweggründe rief ich nicht zu Hilfe, um sie zu ersticken: meine sittlichen Grundsätze, meine Gefühle, die Scham, die Untreue, das Verbrechen, den Mißbrauch eines von der Freundschaft anvertrauten Schatzes, die Lächerlichkeit endlich, noch in meinem Alter in der heftigsten Leidenschaft für einen Gegenstand zu glühen, dessen bereits verschenktes Herz mir keine Gegenliebe verheißen noch Hoffnung lassen konnte; eine Leidenschaft noch dazu, die durch treue Ausdauer nichts gewann, sondern von Tage zu Tage weniger entschuldbar wurde.

Wer sollte meinen, daß gerade diese letzte Betrachtung, die allen übrigen noch größeres Gewicht verleihen mußte, diejenige war, die sie werthlos machte? Weshalb, dachte ich, soll ich mir aus einer Thorheit, die mir allein nachtheilig ist, ein Gewissen machen? Bin ich denn ein junger Cavalier, den Frau von Houdetot sehr zu fürchten brauchte? Würden mich meine dünkelhaften Gewissensbisse nicht der Einbildung verdächtigen, meine Galanterie, mein Aeußeres, mein zierliches Auftreten wären im Stande, sie zu verführen? Ach, armer Jean-Jacques, liebe getrost in aller Gewissensruhe und besorge nicht, daß deine Seufzer Saint-Lambert Nachtheil bereiten.

Man hat gesehen, daß ich nie, nicht einmal in meiner Jugend, unternehmend war. Diese Denkweise war die Folge meiner Geistesrichtung und war meiner Leidenschaft günstig; es war genug, mich ihr rückhaltlos zu überlassen und sogar über die alberne Bedenklichkeit zu lachen, die ich mir mehr aus Eitelkeit als aus vernünftigen Gründen gemacht zu haben glaubte. Welche gewaltige Lehre für die ehrlichen Seelen, die das Laster nie mit offenem Gesichte angreift, aber die es zu überrumpeln Mittel findet, indem es sich hinter irgend einem Sophisma und häufig auch unter irgend einer Tugend verbirgt!

Strafbar ohne Gewissensbisse, war ich es bald ohne Maß, und man wolle freundlichst bemerken, wie meine Leidenschaft dem Zuge meiner Natur folgte, um mich schließlich in den Abgrund hinabzuziehen. Anfangs nahm sie, um mir den Muth einzuflößen, eine demüthige Miene an, und trieb dann, um mich dreist zu machen, diese Demuth bis zum Mißtrauen. Ohne aufzuhören, mich an meine Pflicht zu erinnern und zur Vernunft zu mahnen, ohne je auch nur einen Augenblick meiner Thorheit zu schmeicheln, behandelte mich Frau von Houdetot im Uebrigen mit der größten Milde und nahm mir gegenüber den Ton der zärtlichsten Freundschaft an. Diese Freundschaft hätte mich, ich betheure es, befriedigt, wenn ich sie für aufrichtig gehalten hätte; allein da ich sie zu lebhaft fand, um wahr zu sein, so stieg der Wahn in mir auf, daß mich die Liebe, die sich für mein Alter und Aeußeres so wenig schickte, in Frau von Houdetots Augen erniedrigt hätte, daß sich die ausgelassene junge Frau nur über mich und meine greisenhaften Zärtlichkeiten lustig machen wollte, daß sie Saint-Lambert alles mitgetheilt und ihr Geliebter, über meine Treulosigkeit empört, auf ihre Pläne eingegangen wäre, so daß sie nun im gegenseitigen Einverständnisse mir den Kopf vollends zu verdrehen und mich zu verspotten suchten. Diese Dummheit, die mich im Alter von sechsundzwanzig Jahren bei Frau von Larnage, die ich nicht kannte, Albernheiten begehen ließ, würde mir mit fünfundvierzig Jahren bei Frau von Houdetot haben verziehen werden können, wenn ich nicht gewußt hätte, daß sie und ihr Geliebter beide zu ehrliche Leute waren, um sich ein so rohes Vergnügen zu machen.

Frau von Houdetot fuhr fort, mir Besuche abzustatten, die ich nicht zu erwidern zögerte. Sie ging eben so gern wie ich; wir machten in einer bezaubernden Gegend lange Spaziergänge. Zufrieden, zu lieben und es bekennen zu dürfen, hätte ich glücklich sein können, wenn meine Albernheit diesem angenehmen Verhältnisse nicht selbst allen Reiz genommen hätte. Anfangs begriff sie nichts von der thörichten Verstimmung, mit der ich ihre Aufmerksamkeiten aufnahm; aber mein Herz, unfähig, je eine der Empfindungen, die es bewegten, zu verhehlen, ließ sie nicht lange über meinen Argwohn in Unkenntnis. Sie wollte darüber lachen; dieses Mittel hatte keinen Erfolg, Wuthausbrüche wären die Folge gewesen. Sie änderte deshalb den Ton. Ihre mitleidige Sanftmuth war unüberwindlich; sie machte mir Vorwürfe, die mir zu Herzen gingen; sie zeigte mir über meine ungerechten Befürchtungen eine Unruhe, die ich mißbrauchte. Ich verlangte Beweise, daß sie sich nicht über mich lustig machte. Sie sah, daß es zu meiner Beruhigung kein anderes Mittel gab. Ich wurde dringend; der geforderte Beweis war zarter Natur. Es ist wunderbar, es ist vielleicht einzig dastehend, daß sich eine Frau, die schon bis zum Feilschen hat kommen können, so leichten Kaufs aus der Sache gezogen hat. Sie verweigerte mir nichts, was die zärtlichste Freundschaft gewähren konnte; sie gewährte mir nichts, was sie hätte untreu machen können, und ich hatte die Demüthigung zu sehen, daß der Brand, zu dem ihre leichten Gunstbezeigungen meine Sinnlichkeit entzündeten, nicht den geringsten Funken in der ihrigen anfachte.

Ich habe irgendwo gesagt, daß man der Sinnlichkeit nichts einräumen dürfe, wenn man ihr etwas zu verweigern beabsichtigt. Um zu zeigen, wie falsch dieser Grundsatz bei Frau von Houdetot war, und wie recht sie hatte, sich auf sich selbst zu verlassen, müßte ich in die Einzelheiten unsrer langen und häufigen Zusammenkünfte unter vier Augen eingehen und sie während der vier Monate, die wir zusammen zubrachten, in ihrer ganzen Lebhaftigkeit, in einer bei Freunden verschiedenen Geschlechtes, die die selbstgezogenen Grenzen wie wir nie überschritten, fast beispiellosen Innigkeit schildern. Ach, wenn ich so lange gesäumt hatte, die wahre Liebe zu fühlen, wie viel mußte dann mein Herz und meine Sinnlichkeit entbehrt haben! Und welche Wonne muß man dann bei einem geliebten Gegenstande, der uns wieder liebt, empfinden, wenn schon eine ungetheilte Liebe, so große zu bereiten vermag!

Aber ich habe Unrecht, von einer ungeteilten Liebe zu reden; die meinige wurde in gewisser Weise getheilt; sie war auf beiden Seiten gleich, wenn sie auch nicht gegenseitig war. Wir waren beide von Liebe trunken, sie für ihren Geliebten, ich für sie; unsere Seufzer, unsere Wonnethränen vermischten sich. Gegenseitig zärtliche Vertraute harmonirten unsere Gefühle so vielfach mit einander, daß sie sich nothwendig in etwas vermischen mußten, und mitten in dieser gefahrvollen Trunkenheit hat sie sich gleichwohl nie einen Augenblick vergessen; und ich betheure, ich beschwöre, daß ich sie in Wahrheit nie begehrt habe, wenn ich auch zuweilen, von meiner Sinnlichkeit verleitet, sie untreu zu machen versucht habe. Die Heftigkeit meiner Leidenschaft war sie selbst im Stande in Schranken zu halten. Die Pflicht der Enthaltsamkeit hatte meine Seele erhitzt. Der Glanz aller Tugenden zierte in meinen Augen den Abgott meines Herzens; die Beschmutzung des göttlichen Bildes wäre seine Vernichtung gewesen. Ich würde das Verbrechen haben begehen können, es ist in meinem Herzen hundertmal begangen worden; aber meine Sophie herabwürdigen! O, wäre das je möglich gewesen? Nein, nein, ich habe es ihr selbst hundertmal gesagt: wäre mir Gelegenheit zu meiner Befriedigung gegeben worden, hätte sie sich mir aus eigenem Willen ergeben, so würde ich mich, einige kurze Augenblicke des Wahnsinns abgerechnet, geweigert haben, um diesen Preis glücklich zu sein. Ich liebte sie zu sehr, um sie besitzen zu wollen.

Die Eremitage ist von Eaubonne fast eine Meile entfernt; auf meinen vielen Besuchsreisen trug es sich bisweilen zu, daß ich dort übernachten mußte. Als wir eines Abends allein mit einander zu Nacht gespeist hatten, gingen wir bei sehr schönem Mondscheine im Garten spazieren. Hinten im Garten war ein ziemlich großes Gehölz, welches wir durchschritten, um einen reizenden mit einer Cascade geschmückten Hain aufzusuchen. Zu letzterer hatte ich die Idee angegeben und auch den Bau geleitet. Ewige Erinnerung an Unschuld und Seligkeit! In diesem Hain war es, wo ich unter einer mit Blüten bedeckten Akazie neben ihr auf einer Rasenbank sitzend eine der Gefühle meines Herzens, die ich aussprechen wollte, wahrhaft würdige Sprache fand. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben; aber ich war erhaben, wenn man das, was die zärtlichste und inbrünstigste Liebe Liebenswürdiges und Verführerisches in ein Männerherz legen kann, so nennen darf. Was für berauschende Thränen vergoß ich auf ihre Kniee! Wie viele entlockte ich ihr wider Willen! Endlich rief sie in einem unwillkürlichen Ausbruche von Seligkeit aus: »Nein, nie war ein Mann so liebenswürdig, und nie liebte ein Liebhaber wie Sie! Aber Ihr Freund Saint-Lambert hört uns, und mein Herz vermag nicht zweimal zu lieben!« Ich schwieg seufzend: ich umarmte sie ... welch eine Umarmung! Aber das war alles. Seit sechs Monaten lebte sie bereits allein, das heißt fern von ihrem Geliebten und Gatten, seit drei Monaten sah ich sie fast täglich, und stets bildete die Liebe die dritte in unserem Bunde. Wir hatten allein zusammen zu Nacht gespeist, wir hatten allein in einem Haine im Mondenscheine bei einander geweilt, und nach zwei Stunden der lebhaftesten und zärtlichsten Unterhaltung ging sie mitten in der Nacht aus diesem Haine und aus den Armen ihres Freundes eben so unberührt, eben so rein an Leib und an Seele hervor, als sie hineingetreten war. Leser, erwäge alle die Umstände, ich will nichts weiter hinzufügen.

Und wähne man nur nicht, daß mich hier meine Sinne ruhig ließen wie bei Therese und Mama. Diesmal war es, wie ich schon gesagt habe, Liebe und zwar Liebe mit, ihrer ganzen Gewalt und in ihrer ganzen Wuth. Ich will weder die Aufregungen, noch die Schauder, noch das Herzklopfen, noch die krampfhaften Bewegungen, noch die Ohnmacht des Herzens schildern, die ich beständig empfand; nach der Wirkung, die ihr bloses Bild auf mich ausübte, kann man sich ein Urtheil darüber bilden. Wie gesagt, war der Weg von der Eremitage nach Eaubonne weit; er führte durch die mit Wein bebauten Hügel von Andilly, die reizend sind. Im Wandern träumte ich von der, welcher mein Besuch galt, von der liebevollen Aufnahme, die sie mir bereiten würde, von dem Kusse, der meiner bei der Ankunft wartete. Dieser Kuß allein, dieser verhängnisvolle Kuß entflammte mein Blut bis zu dem Grade, daß mir der Kopf schwindelte, es mir vor den Augen schwarz wurde und meine zitternden Kniee mir fast den Dienst versagten. Ich war gezwungen Halt zu machen und mich zu setzen. Mein ganzer Körper war in einem unbegreiflichen Aufruhr; es fehlte nicht viel, so wäre ich ohnmächtig geworden. Von der Gefahr, die ich dadurch lief, unterrichtet, suchte ich mich beim Weiterschreiten zu zerstreuen und an anderes zu denken. Doch schon nach zwanzig Schritten bestürmten mich von neuem die nämlichen Gedanken und alle aus ihnen hervorgehenden Zustände, ohne daß es mir möglich gewesen wäre, mich von ihnen zu befreien, und wie ich es auch immer anstellen mochte, ich glaube nicht, daß ich, wenn ich allein war, je diesen Weg ungestraft habe machen können. Ich kam in Eaubonne an, schwach, erschöpft, abgemattet, mich kaum aufrecht erhaltend. Bei ihrem ersten Anblicke war alles wieder gut; an ihrer Seite fühlte ich nur die Belästigung einer unerschöpflichen und doch immer nutzlosen männlichen Kraft. Auf meinem Wege lag an einer Stelle, von der aus man Eaubonne schon erblickte, eine freundliche Terrasse der Berg Olymp genannt, an der wir bisweilen zusammentrafen. Ich langte zuerst an; ich war zum Warten wie geschaffen, und doch, wie schwer fiel mir dieses Warten! Um mich zu zerstreuen, versuchte ich mit Bleistift Billete zu schreiben, die ich am liebsten mit meinem Herzblute niedergeschrieben hätte. Ich habe nie ein lesbares zu Stande bringen können. Wenn sie eines derselben in dem dazu verabredeten Verstecke fand, konnte sie daraus nichts anderes als den wahrhaft beklagenswerthen Zustand ersehen, in dem ich mich beim Schreiben befand. Dieser Zustand und namentlich seine Dauer, da ich während dreier Monate in unausgesetzter Aufregung und Enthaltung lebte, versetzte mich in eine Erschöpfung, von der ich mich Jahre lang nicht erholen konnte, und die endlich eine Abnahme der Kräfte herbeiführte, die ich ins Grab oder die vielmehr mich ins Grab mitnehmen wird. Dieses ist der einzige Liebesgenuß des Mannes gewesen, der zwar das leicht entzündlichste aber zugleich auch das schüchternste Temperament hatte, das die Natur vielleicht je hervorgebracht hat. Das sind die letzten schönen Tage gewesen, die mir hienieden beschieden waren. Hier beginnt das lange Gewebe der Leiden meines Lebens, in dem man wenige Unterbrechungen wahrnehmen wird.

In dem ganzen Verlaufe meines Lebens hat man gesehen, daß mein Herz, durchsichtig wie Krystall, nie, auch nicht eine einzige Minute lang, ein etwas lebhafteres Gefühl, das sich in ihm regte, zu verhehlen verstanden hat. Sage man sich selbst, ob es mir möglich war, meine Liebe zu Frau von Houdetot lange zu verbergen. Unsere Vertraulichkeit fiel auf, wir suchten sie nicht zu verheimlichen. Bei ihrem Charakter hatte sie ein Geheimnis nicht nöthig, und da Frau von Houdetot die zärtlichste Freundschaft für mich hatte, die sie sich nicht zum Vorwurfe anrechnete, und da ich vor ihr eine wahre Hochachtung besaß, deren gerechten Grund niemand so gut als ich kannte, so gaben wir, sie offen, zerstreut, unbesonnen, ich aufrichtig, tölpelhaft, hochmüthig, ungeduldig, leidenschaftlich, uns in unserer trügerischen Sicherheit noch weit mehr Blößen, als wir, hätten wir uns schuldig gefühlt, gethan hätten. Wir gingen mit einander nach der Chevrette; wir trafen uns dort häufig und hatten daselbst mitunter sogar verabredete Zusammenkünfte. Wir führten dort unser gewohntes Leben, indem wir täglich allein mit einander spazieren gingen und dabei von der Liebe eines jeden von uns, von unseren Pflichten, von unserem Freunde und von unsern unschuldigen Plänen sprachen, und das thaten wir ganz offen im Park, nach dem die Fenster des Zimmers der Frau von Epinay hinausführten, aus denen sie nicht unterließ uns unaufhörlich zu beobachten; und in dem Wahne, daß wir es ihr nur zum Trotze thaten, erfüllte das, was ihre Augen erblickten, ihr Herz nur mit immer größerer Wuth und Entrüstung. [...]
Ich war von meiner Leidenschaft so in Anspruch genommen, daß ich nur Sophie sah, (dies war einer der Namen der Frau von Houdetot) und deshalb nicht einmal merkte, daß ich das Gespött des ganzen Hauses und seiner Besucher geworden war. Zur Zahl der letzteren gehörte der Baron von Holbach, der, so viel ich weiß, vorher nie nach der Chevrette gekommen war. Wäre ich damals so mißtrauisch gewesen, wie ich es später geworden bin, so würde der Verdacht in mir aufgestiegen sein, daß Frau von Epinay diese Reise veranstaltet hätte, um ihm das ergötzliche Schauspiel des verliebten Bürgers vorzuführen. Allein ich war damals so dumm, daß ich nicht einmal sah, was aller Welt offen vor Augen lag. Gleichwohl hielt mich alle meine Dummheit nicht von der Wahrnehmung zurück, daß des Barons Miene zufriedener und heiterer war als sonst. Statt mich nach seiner Gewohnheit düster anzublicken, überflutete er mich mit mir völlig unverständlichen spöttischen Redensarten. Ich riß die Augen weit auf, ohne etwas zu erwidern; Frau von Epinay hielt sich die Seiten vor Lachen; ich begriff nicht, was mit ihnen vorgegangen war. Da noch nichts die Grenzen des Scherzes überschritt, so hätte ich mich ruhig zur Zielscheibe hergeben sollen. Aber allerdings sah man durch die spöttische Heiterkeit des Barons eine boshafte Freude hindurchleuchten, die mich vielleicht beunruhigt haben würde, hätte ich sie schon damals eben so gut bemerkt, wie ich mich ihrer in der Folge erinnerte.
Als ich eines Tages Frau von Houdetot, die wieder einmal von Paris zurückgekehrt war, in Eaubonne besuchte, fand ich sie traurig und bemerkte, daß sie geweint hatte. Ich mußte mich beherrschen, weil Frau von Blainville, die Schwester ihres Gatten, zugegen war, sobald sich jedoch ein günstiger Augenblick darbot, sprach ich ihr meine Unruhe aus. »Ach,« sagte sie seufzend zu mir, »ich befürchte sehr, daß mich Ihre Thorheiten die Ruhe meines Lebens kosten. Saint-Lambert ist unterrichtet und übel berichtet. Er läßt mir Gerechtigkeit widerfahren, ist aber in höchst verdrießlicher Stimmung und sagt mir, was noch schlimmer ist, nicht alles was sie hervorgerufen hat. Zum Glück habe ich ihm von unserm Verhältnisse, das auf seinen eigenen Antrieb angeknüpft ist, nichts verschwiegen. Meine Briefe waren eben so voll von Ihnen wie mein Herz: nur Ihre unsinnige Liebe, von der ich Sie zu heilen hoffte und die er mir, ohne mit mir davon zu reden, dennoch, wie ich recht gut merke, als Verbrechen anrechnet, habe ich ihm verheimlicht. Man hat ihn gegen uns aufgehetzt, man hat mir Unrecht gethan, aber es hat nichts zu sagen. Lassen Sie uns entweder völlig mit einander brechen, oder benehmen Sie sich, wie man von Ihnen verlangen kann. Ich will meinem Geliebten nichts mehr zu verbergen haben.«
Dies war der erste Augenblick, wo mich die Scham überkam, mich durch das Bewußtsein meines Vergehens vor einer jungen Frau, deren Vorwürfe ich mit Recht verdiente und deren Mentor ich hätte sein sollen, gedemüthigt zu sehen. Der Unwille, den ich gegen mich selbst empfand, hätte vielleicht zur Ueberwindung meiner Schwäche genügt, wenn nicht wieder das zärtliche Mitleid, welches mir das Opfer derselben einflößte, mein Herz erweicht hätte. Ach, war das der Augenblick, es verhärten zu können, während es die Thränen von allen Seiten bis in seine Tiefe durchdrangen? Diese Rührung verwandelte sich bald in Zorn wider die feilen Angeber, die nur das Böse eines verbrecherischen, wenn auch unwillkürlichen, Gefühls bemerkt hatten, ohne sich auch nur die aufrichtige Ehrlichkeit des Herzens, die das Böse vernichtete, denken und vorstellen zu können. Wir blieben über die Hand, von welcher der Schlag ausging, nicht lange in Zweifel.
Wir wußten beide, daß Frau von Epinay mit Saint-Lambert in brieflichem Verkehre stand. Es war nicht der erste Sturm, den sie gegen Frau von Houdetot erregt hatte. Tausendmal hatte sie sich schon bemüht, ihn von ihr loszureißen, und die Erfolge einiger dieser Anstrengungen erfüllten Frau von Houdetot mit Furcht vor den weiteren. [...]
Mein Verdacht gegen Frau von Epinay ging in Gewißheit über, als ich erfuhr, was bei mir zu Hause vorgefallen war. Wenn ich auf der Chevrette war, kam Therese häufig dahin, sei es um mir meine Briefe zu bringen oder mir bei meiner schlechten Gesundheit die nöthige Pflege angedeihen zu lassen. Frau von Epinay hatte sie gefragt, ob wir uns nicht schrieben, Frau von Houdetot und ich. Auf ihr Eingeständnis drang Frau von Epinay in sie, ihr Frau von Houdetots Briefe zu übergeben, indem sie sie so gut wieder zu versiegeln versprach, daß es niemand gewahren könnte. Ohne zu zeigen, wie sehr dieses Ansinnen sie verletzte, und sogar ohne mir davon Mittheilung zu machen, begnügte sich Therese damit, die Briefe, welche sie mir brachte, noch sorgfältiger zu verbergen, eine sehr glückliche Vorsicht, denn Frau von Epinay ließ sie bei ihrer Ankunft überwachen, erwartete sie sogar persönlich einige Male am Wege und trieb die Kühnheit so weit, ihr Busentuch zu durchsuchen. Sie that noch mehr; als sie sich eines Tages mit Herrn von Margency zum Mittagessen auf die Eremitage eingeladen hatte, zum ersten Male, seitdem ich daselbst wohnte, benutzte sie die Zeit, in der ich mit Margency spazieren ging, um mit Mutter und Tochter in mein Arbeitszimmer zu gehen und sie zu bestürmen, ihr die Briefe der Frau von Houdetot zu zeigen. Hätte die Mutter gewußt, wo sie sich befanden, so wären die Briefe übergeben worden; aber zum Glück wußte es die Tochter allein und leugnete, daß ich einen derselben aufbewahrt hätte. Obgleich dies eine Lüge war, so war es doch fürwahr eine Lüge voller Ehrlichkeit, Treue und Edelmuth, während die Wahrheit nur Treulosigkeit gewesen wäre. Als Frau von Epinay einsah, daß sie sie nicht verführen konnte, suchte sie sie durch Eifersucht aufzureizen, indem sie ihr ihre Schwäche und Blindheit vorwarf. »Wie können Sie,« sagte sie zu ihr, »nicht sehen, daß sie ein verbrecherisches Verhältnis unter einander haben? Wenn Sie trotz allem, was Sie vor Augen haben, noch anderer Beweise bedürfen, so helfen Sie doch zu ihrer Erlangung mit. Sie sagen, er zerreiße die Briefe der Frau von Houdetot, sobald er sie gelesen habe. Nun wohl, sammeln Sie sorgfältig die Stücke und geben Sie sie mir; ich übernehme es, sie zusammenzusetzen.« Das waren die Rathschläge, die meine Freundin meiner Lebensgefährtin ertheilte.
Therese hatte die Rücksicht, mir alle diese Versuche lange zu verschweigen; als sie jedoch meine Rathlosigkeit gewahrte, hielt sie sich für verbunden, mir alles zu sagen, damit ich nach Erkennung der Sachlage meine Maßregeln ergreifen könnte, um mich vor den gegen mich geplanten Verräthereien zu schützen. Meine Entrüstung, meine Wuth läßt sich nicht beschreiben. Statt mich gegen Frau von Epinay nach ihrem eigenen Beispiele zu verstellen und List mit List zu bekämpfen, überließ ich mich ohne Maßen der Heftigkeit meiner Natur und rief mit meiner gewöhnlichen Unbesonnenheit einen offenen Ausbruch hervor. [...] Frau von Houdetot hatte mir nichts so sehr ans Herz gelegt als ruhig zu bleiben, ihr die Sorge zu überlassen, sich allein aus der Sache herauszuziehen und besonders für den Augenblick jeden Bruch und jedes Aufsehen zu vermeiden, und ich war auf dem besten Wege, das Herz einer Frau, die schon zum Jähzorn neigte, vollends mit Wuth zu erfüllen. [...] Ich mußte von der Rache einer unversöhnlichen und ränkevollen Frau alles für die befürchten, welche das Ziel derselben werden würde. Um diesem Unglücke vorzubeugen, hatte ich in meinen Briefen nur von einem Verdachte geredet, um der Angabe meiner Beweise überhoben zu sein. Allerdings machte dies meine Heftigkeit noch unverzeihlicher, da einfache Verdachtsgründe mir nicht das Recht verliehen, eine Frau und noch dazu eine Freundin so zu behandeln, wie ich Frau von Epinay behandelt hatte. Aber hier beginnt die große und edle Aufgabe, die ich würdig erfüllt habe, meine heimlichen Fehler und Schwachheiten zu sühnen, indem ich für schwerere Fehler, zu denen ich unfähig war und die ich nie beging, eintrat. [...]
Rousseau ging zu Frau Epinay:
Sie gab nicht die geringste Neugier zu erkennen, genau zu erfahren, was für einen Verdacht ich eigentlich hegte und wie er in mir entstanden wäre, und sowohl von ihrer wie von meiner Seite bestand unsere ganze Versöhnung in der Umarmung bei unserer ersten Begegnung. Da sie, wenigstens der Form nach, die allein Beleidigte war, so schien es mir, daß es nicht mir zukäme, eine Aufklärung herbeizuführen, nach der sie selber nicht trachtete, und ich ging von dannen, wie ich gekommen war. Da ich übrigens fortfuhr, mit ihr wie vorher zu leben, vergaß ich diesen Streit bald völlig und bildete mir thörichterweise ein, auch sie hätte ihn vergessen, weil sie sich seiner nicht mehr zu erinnern schien. [...]
Während ich in Paris war, langte Saint-Lambert, der Urlaub genommen hatte, daselbst an. Da ich nichts davon erfuhr, sah ich ihn erst nach meiner Rückkehr auf das Land, zuerst auf der Chevrette und dann auf der Eremitage, wohin er mit Frau von Houdetot kam, um mich zum Mittagsessen einzuladen. Man kann sich denken, mit wie großer Freude ich sie empfing; aber noch größere empfand ich darüber, ihr gutes Einverständnis zu sehen. Zufrieden, ihr Glück nicht gestört zu haben, war ich selbst glücklich darüber, und ich kann schwören, daß ich ihm Frau von Houdetot während meiner ganzen thörichten Leidenschaft und namentlich in diesem Augenblicke, selbst wenn es in meiner Macht gestanden, nicht hätte nehmen mögen, ja nicht einmal die Versuchung dazu gefühlt hätte. Ich fand sie in ihrer Liebe zu Saint-Lambert so liebenswürdig, wie ich sie mir in ihrer Liebe zu mir selbst kaum hätte vorstellen können, und ohne ihre Verbindung stören zu wollen, war alles, was ich in meiner Schwärmerei in Wahrheit von ihr begehrt habe, daß sie sich lieben ließe. Kurz, von einer wie heftigen Leidenschaft ich auch für sie entbrannt gewesen, war es mir doch ein eben so großer Genuß, der Vertraute ihrer Liebe wie der Gegenstand derselben zu sein, und ich habe nie einen Augenblick ihren Geliebten als meinen Nebenbuhler, sondern stets als meinen Freund betrachtet. Man wird sagen, dies wäre noch nicht Liebe gewesen; mag es sein, aber dann war es noch mehr.
Saint-Lambert selbst betrug sich wie ein ehrlicher und verständiger Mann; da ich der einzige Strafbare war, wurde ich auch allein bestraft und noch dazu mit Milde. Er behandelte mich nicht sehr rücksichtsvoll, aber doch freundschaftlich; ich merkte, daß ich bei ihm etwas an Achtung, aber nichts an Freundschaft verloren hatte. Ich tröstete mich darüber, da ich wußte, daß es mir weit leichter sein würde, die erstere wiederzugewinnen als die letztere, und daß er zu verständig wäre, um eine unwillkürliche und flüchtige Schwäche mit einem Charakterfehler zu verwechseln. Lag in dem Vorgefallenen ein Fehler meinerseits, so war er doch sehr gering. Hatte ich etwa seine Geliebte aufgesucht? Hatte er sie mir nicht selbst zugesandt? Hatte sie mich nicht aufgesucht? War ich im Stande, ihren Besuch abzulehnen? Was konnte ich thun? Sie allein hatten das Unheil angerichtet, und ich hatte darunter gelitten. An meiner Stelle würde er wie ich, und vielleicht noch schlimmer gehandelt haben, denn wie treu, wie achtungswerth Frau von Houdetot auch war, so war sie doch schließlich immer ein Weib. Er war abwesend, an Gelegenheit fehlte es nicht, die Versuchung war stark, und es würde ihr sehr schwer gewesen sein, sich gegen einen unternehmenderen Mann stets mit demselben Erfolge zu vertheidigen. Es war sicherlich für sie wie für mich viel, daß wir uns in einer solchen Lage Schranken zu setzen vermochten, die wir uns nie zu überschreiten gestatteten.
Obgleich ich mir in der Tiefe meines Herzens ein ziemlich ehrenvolles Zeugnis ausstellte, so war doch der Schein so sehr wider mich, daß mir die unüberwindliche Scham, die mich stets beherrschte, in seiner Gegenwart vollkommen die Miene eines Schuldigen gab, was er häufig mißbrauchte, um mich zu demüthigen. Ein einziger Zug wird auf unsere gegenseitige Stellung hinreichendes Licht werfen. Nach der Mahlzeit las ich ihm den Brief vor, den ich im vergangenen Jahre an Voltaire geschrieben und von dem er, Saint-Lambert, gehört hatte. Während des Vorlesens schlief er ein, und ich, einst so hochmüthig, jetzt so eingeschüchtert, wagte nicht einmal, die Lectüre zu unterbrechen und las immer weiter, während er immer weiter schnarchte. So begegnete er mir, so rächte er sich an mir, aber in seinem Edelmuthe übte er seine Rache nur, wenn wir drei allein waren, an mir aus.
Nach seiner Abreise fand ich Frau von Houdetot sehr verändert gegen mich. Ich war darüber erstaunt, als ob ich es nicht hätte erwarten müssen. Ich war davon mehr ergriffen, als ich hätte sein sollen, und dies bereitete mir großes Leid. Mir schien alles, wovon ich Heilung erwartete, den Pfeil nur noch tiefer in mein Herz zu drücken. Ich habe ihn endlich mehr zerbrochen als herausgerissen.
Ich war entschlossen, mich vollkommen zu beherrschen und nichts zu unterlassen, um meine thörichte Leidenschaft in eine reine und dauernde Freundschaft zu verwandeln. Ich hatte zu dem Zwecke die schönsten Vorsätze von der Welt gefaßt, zu deren Verwirklichung ich der Beihilfe der Frau von Houdetot bedurfte. Als ich mit ihr darüber reden wollte, fand ich sie zerstreut, verlegen; ich merkte, daß sie an meinem Umgange nicht mehr Gefallen fand, und erkannte deutlich, daß etwas vorgefallen war, was sie mir nicht sagen wollte und was ich nie erfahren habe. Diese Aenderung, über die es mir unmöglich war Aufklärung zu erhalten, kränkte mich. Sie verlangte ihre Briefe von mir zurück; ich gab sie ihr alle mit einer Treue, die sie beleidigenderweise einen Augenblick in Zweifel zog. Dieser unerwartete Zweifel war mir ein neuer Stich in das Herz, das sie so gut kennen mußte. Sie ließ mir Gerechtigkeit widerfahren, aber nicht auf der Stelle; ich begriff, daß ihr die Durchsicht des Packetes, welches ich ihr zurückgegeben, ihr Unrecht fühlbar gemacht hatte; ich sah sogar, daß sie es sich vorwarf, was mir wieder zum Vortheil gereichte. Sie konnte ihre Briefe nicht zurücknehmen, ohne mir die meinigen zurückzugeben. Sie behauptete gegen mich, daß sie sie verbrannt hätte; ich wagte es meinerseits zu bezweifeln und gestehe, daß ich es auch jetzt noch bezweifle. Nein, man wirft solche Briefe nicht ins Feuer. Man hat denen in der »Julie« nachgesagt, daß sie glühend wären; beim Himmel, wie würde man dann diese erst genannt haben! Nein, nein, nie wird die, welche eine solche Leidenschaft einzuflößen vermag, den Muth haben, die Beweise derselben zu verbrennen. Allein ich befürchte auch nicht, daß sie Mißbrauch mit ihnen getrieben hat; dessen halte ich sie für unfähig, und zum Ueberfluß hatte ich dagegen Vorkehrungen getroffen. Die dumme, aber lebhafte Besorgnis mich dem Spotte ausgesetzt zu sehen, hatte mich diesen Briefwechsel in einem Tone beginnen lassen, der meine Briefe dagegen schützte, anderen mitgetheilt zu werden. Ich trieb die Vertraulichkeit, in die ich in meinem Liebesrausche verfiel, bis zum Dutzen; aber welch ein Dutzen! Sie konnte sich dadurch gewiß nicht gekränkt fühlen. Sie beklagte sich allerdings wiederholentlich darüber, aber ohne Erfolg: ihre Klagen fachten meine Besorgnis nur von neuem an, und ich konnte mich überdies nicht zum Zurückweichen entschließen. Sind diese Briefe noch vorhanden und kommen sie eines Tages zum Vorschein, so wird man erkennen, wie ich geliebt habe.
Der Schmerz, den mir die Erkaltung der Frau von Houdetot und das Bewußtsein, sie nicht verdient zu haben, bereitete, gab mir den sonderbaren Entschluß ein, mich bei Saint-Lambert selbst zu beklagen. Während ich den Erfolg des Briefes, den ich ihm darüber schrieb, abwartete, stürzte ich mich in Zerstreuungen aller Art, die ich eher hätte aufsuchen sollen. Festlichkeiten, für welche ich die Musik componirte, fanden auf der Chevrette statt. Die Freude, bei Frau von Houdetot mit einem Talente, welches sie liebte, Ehre einzulegen, erhöhte meinen Eifer, und noch etwas gab ihm neuen Anreiz, nämlich das Verlangen, den Beweis zu liefern, daß der Dichter und Componist des Dorfwahrsagers Musik verstände, denn schon seit langer Zeit bemerkte ich, daß sich jemand im Geheimen Mühe gab, dies, wenigstens hinsichtlich der Composition, zweifelhaft zu machen. [...]
(9.Buch)

Sait-Lamberts fehlende Reaktion erklärt sich daraus, dass er erkrankt ist. Sein Verhalten gegenüber Rousseau bleibt so achtungsvoll, dass dieser ihn in seinen Bekenntnissen als einen der zwei letzten ihm damals verbliebenen Freunde nennt.

Ich erkannte dabei nicht allein, daß mir Grimms und der Holbachianer Ränke meine alten Bekannten [Anmerkung Rousseaus: In der Einfalt meines Herzens glaubte ich es damals noch, als ich meine Bekenntnisse schrieb.] keineswegs abwendig gemacht hatten, sondern auch, was mir noch schmeichelhafter war, daß die Gefühle der Frau von Houdetot und Saint-Lamberts weniger verändert waren, als ich geglaubt hatte; und ich begriff endlich, daß die Entfernung, in der er sie von mir hielt, mehr die Folge von Eifersucht als von Geringschätzung war. Dies tröstete und beruhigte mich. Ueberzeugt, denen, die ich achtete, kein Gegenstand der Verachtung zu sein, arbeitete ich an meinem Herzen mit größerem Muth und Erfolg. Wenn ich auch nicht dahin gelangte, eine strafbare und unglückliche Leidenschaft ganz zu besiegen, so hielt ich wenigstens ihre letzten Spuren so gut in Ordnung, daß sie mich keinen einzigen Fehler seit jener Zeit begehen ließen. Die Abschriften für Frau von Houdetot, um deren Wiederaufnahme sie mich ersuchte, meine Werke, die ich ihr nach ihrem Erscheinen nach wie vor zusandte, hatten zur Folge, daß ich von ihr noch von Zeit zu Zeit einige zwar gleichgültige, aber höfliche Botschaften und Billets erhielt. Wie man in der Folge sehen wird, that sie sogar mehr, und unser gegenseitiges Benehmen nach Aufhören eines näheren Umganges kann als Muster der Art dienen, in der sich redliche Leute trennen, wenn sie es nicht mehr für passend halten, sich zu sehen. 10. Buch


Fußnoten in der Ausgabe von Gutenberg.de:
1. zu: diesmal erglühte ich in Liebe. Da es die erste und einzige in meinem ganzen Leben war ...
Eine so bestimmte Versicherung, welche auch die von ihm ausgesprochenen Klagen bestätigen, auch nicht ein einziges Mal für einen bestimmten Gegenstand in Liebe erglüht zu sein, vereinigt sich nicht mit dem, was er uns im 7. Buche von der Liebe erzählt, in der er in Lyon für Fräulein Serre entbrannt war und die ihm jenen leidenschaftlichen Brief eingab, den man in seinem Briefwechsel aus dem Jahre 1741 finden wird. Es ergiebt sich daraus, daß in der Zeit, in der Rousseau dies schrieb, diese bald überwundene Liebe in seinem Herzen wie in seiner Erinnerung keine Spur zurückgelassen hatte.
2. zu ihrem Aussehen:
»Sie war nicht nur kurzsichtig und hatte etwas hervortretende Augen,« wie Rousseau sagt, »sondern sie schielte im höchsten Grade. Sie hatte eine sehr niedrige Stirn und dicke Nase. In Folge der Blattern waren ihre Grübchen gelblich geworden, während ihre Poren bräunlich gezeichnet waren. Dies ließ ihren Teint unrein erscheinen. Wie Rousseau gesagt hat, gab sich in allen ihren Bewegungen eine gewisse Unbeholfenheit und auch Anmuth zu erkennen. Ihr Busen war schön, ihre Hände und Arme hübsch, ihre Füßchen niedlich.« So lautet das Zeugnis einer Person, die mit Frau von Houdetot in inniger Freundschaft gelebt hat. Daraus erhellt, daß Rousseau auch ihr Aeußeres unter dem Eindrucke seiner Einbildungskraft betrachtet hatte. Diese Person ist die Vicomtesse von Alard. Man vergleiche les Anecdotes pour servir de suite aux Mémoires de madame d'Epinay, Paris 1818, 8°,
3. zu dem Anlass der Erkaltung von Frau Houdetot
Es ist ein anonymer Brief an Saint-Lambert, dessen Eifersucht man gegen Frau von Houdetot erregte, die man ihm als geneigt darstellte, Jean-Jacques ihre Gunst zu schenken. Diesen Brief hatte Grimm geschrieben und in ihm alle Gefälligkeiten angeführt, die sie Rousseau ohne zu große Unwahrscheinlichkeit erwiesen haben konnte.
4. Zum Verbleib von Rousseaus Briefen
»Da Frau Broutain, die in der Nachbarschaft von Gaubonne wohnte, sich Gewißheit über das Schicksal dieser Briefe verschaffen wollte, erkundigte sie sich darüber eines Tages bei Frau von Houdetot selbst, welche ihr antwortete, daß sie dieselben wirklich verbrannt hätte, mit Ausnahme eines einzigen, den sie nicht den Muth gehabt, zu vernichten, weil er ein Meisterwerk der Beredsamkeit und Leidenschaft gewesen wäre, und den sie Saint-Lambert zugesandt hätte. Frau Broutain ergriff die erste Gelegenheit, um den Dichter nach dem Schicksale dieses Briefes zu befragen. Seine Antwort lautete, er wäre bei einem Umzuge verloren gegangen; er wüßte nicht, was aus ihm geworden wäre.« Das ist alles, was uns nach dem Zeugnisse der Frau Vicomtesse von Allard, die mit Frau von Houdetot dreizehn Jahre lang in vertrauter Freundschaft gelebt hat, Herr von Musset darüber in seiner Broschüre mittheilt, die unter dem Titel Anecdotes pour faire suite aux Mémoires de madame d'Épinay 1818 in Paris in Octav erschien.

Rousseaus Verhältnis zu Frauen

Zwei Arten von Liebe
Ich kenne zwei Arten von sehr verschiedener und doch sehr wahrhafter Liebe, die fast nichts gemein haben, obgleich die eine wie die andere sehr heiß ist, und alle beide sich von der zärtlichen Freundschaft unterscheiden. Mein ganzes Leben lang bin ich zwischen diesen beiden so verschiedenartigen Liebesarten getheilt und sogar von beiden gleichzeitig erfüllt gewesen; denn zum Beispiel in der Zeit, von welcher ich rede, hatte ich, während ich Fräulein von Vulson so öffentlich und so tyrannisch in Beschlag nahm, daß ich die Annäherung keines Mannes an sie duldete, zwar ziemlich kurze, aber ziemlich vertrauliche Zusammenkünfte mit einem kleinen Fräulein Goton, bei welchen sie die Gewogenheit hatte, die Schulmeisterin zu spielen, und dies war alles. [...]
Jeder dieser beiden Personen gehörte ich gleichsam ganz und so vollkommen an, daß ich bei der einen nie an die andere dachte. Uebrigens hatten die Gefühle, mit denen sie mich erfüllten, keine Aehnlichkeit mit einander. Ich würde mein ganzes Leben an Fräulein von Vulsons Seite zugebracht haben, ohne je an eine Trennung von ihr zu denken; aber wenn ich zu ihr kam, war meine Freude ruhig und blieb stets von aller Erregung frei. Ich liebte sie besonders in großer Gesellschaft; die Scherze, die Neckereien, die Eifersüchteleien sogar hatten etwas Anziehendes, etwas Fesselndes für mich. Stolzer Triumph beseelte mich, wenn sie mich vor erwachsenen Nebenbuhlern, die sie zu quälen schien, bevorzugte. Ich empfand wohl Qualen, aber sie waren mir lieb. Die Beifallserweisungen, die Ermuthigungen, das Gelächter entflammten mich und feuerten mich an. Ich wurde erregt, ich wurde witzig; in einer Gesellschaft kannte meine Liebe keine Schranken; mit ihr allein würde ich gezwungen, kalt, vielleicht gelangweilt gewesen sein. Gleichwohl hatte ich eine zärtliche Zuneigung zu ihr, ich litt, wenn sie krank war, ich würde meine Gesundheit dahingegeben haben, um die ihrige wiederherzustellen, und das will viel sagen, wenn man bedenkt, daß ich aus Erfahrung sehr wohl wußte, was Krankheit, und was Gesundheit zu bedeuten hat. Fern von ihr, dachte ich an sie, sie fehlte mir; war ich bei ihr, thaten ihre Liebkosungen meinem Herzen wohl, erregten aber nicht meine Sinnlichkeit. Ich war ohne Nachtheil vertraulich mit ihr. Meine Einbildungskraft ging über das, was sie mir gewährte, nicht hinaus; allein ich hätte nicht ertragen können, sie anderen eben so viel erweisen zu sehen. Ich liebte sie wie ein Bruder, war aber eifersüchtig auf sie wie ein Liebhaber.
Auf Fräulein Goton würde ich es ebenfalls gewesen sein und zwar wie ein Türke, wie ein Rasender, wie ein Tiger, wenn ich mir nur hätte vorstellen können, sie wäre im Stande einem Andern die gleiche Behandlung angedeihen zu lassen, die sie mir gewährte; denn selbst dies war eine Gnade, die man auf den Knien erbitten mußte. Dem Fräulein von Vulson näherte ich mich mit aufrichtiger Freude, aber ohne Verlegenheit, während ich, sobald ich Fräulein Goton nur erblickte, nichts mehr sah; alle meine Sinne waren verwirrt. Zu der ersten war ich zutraulich ohne Vertraulichkeit; der anderen gegenüber war ich dagegen selbst inmitten der größten Freiheiten eben so schüchtern wie aufgeregt. Ich glaube, bei einem allzu langen Zusammensein mit ihr wäre ich gestorben; mein Herzklopfen würde mich erstickt haben. Ich fürchtete in gleicher Weise ihnen zu mißfallen, aber gegen die eine war ich zuvorkommender und gegen die andern folgsamer. Um nichts in der Welt hätte ich Fräulein von Vulson wehe thun mögen; aber hätte Fräulein Goton mir befohlen, mich in die Flammen zu stürzen, so bin ich überzeugt, daß ich ihr augenblicklich gehorcht hätte. [...] (1. Buch)

Rousseaus  Frauengeschmack
Ueberdies hatten Nähterinnen, Kammermädchen, Krämerinnen nichts Verführerisches für mich, nach hochgestellten jungen Damen stand mein Sinn. Jeder hat sein Gefallen, und das genannte ist stets das meinige gewesen; ich theile den Geschmack des Horaz  in diesem Punkte nicht. Was mich anzieht, ist jedoch keineswegs der nichtige Stand und Rang, sondern die besser gepflegte Gesichtsfarbe, die schöneren Hände, der geschmackvollere Putz, die über die ganze Person ausgebreitete Zierlichkeit und Sauberkeit, die anmuthigere Weise sich zu kleiden und auszudrücken; das feinere und besser sitzende Kleid, die niedlichere Fußbekleidung, die Bänder, die Spitzen, die besser geordneten Haare. Ich würde der weniger Hübschen, die von dem allen etwas mehr hätte, stets den Vorzug geben. Ich finde diese Vorliebe selbst höchst lächerlich, aber ich fühle mich einmal wider meinen Willen dazu getrieben. (4. Buch)

Julie ou la Nouvelle Héloïse

Die Wiederkehr des Lenzes hatte meine zärtliche Schwärmerei verdoppelt, und in meiner erotischen Leidenschaftlichkeit hatte ich für die letzten Abtheilungen der »Julie« mehrere Briefe verfaßt, welche die Begeisterung, in der ich sie schrieb, verrathen. Unter andern kann ich die über das Elysium und die Gondelfahrt auf dem See anführen, die, wenn ich mich recht erinnere, ihre Stelle am Ende der vierten Abtheilung gefunden haben. Wer sein Herz beim Lesen dieser beiden Briefe nicht von derselben Rührung, die sie mir eingab, ergriffen fühlt, möge getrost das Buch zumachen; er ist zur Beurtheilung von Gefühlssachen nicht geschaffen. 9. Buch

Diderot nahm mich gut auf. Viel, viel Kränkungen kann die Umarmung eines Freundes vergessen machen! [...] Vor fast sechs Monaten hatte ich ihm die beiden ersten Abtheilungen der »Julie« zugesandt, um mir sein Urtheil darüber mitzutheilen. Er hatte sie noch nicht gelesen. Wir lasen ein Heft derselben zusammen. Er fand alles feuillet, dies war seine Bezeichnung, nämlich mit Worten überladen und phrasenreich. Ich hatte es schon selbst sehr wohl gefühlt; aber es war das Geplauder des Fiebers; ich habe es nie verbessern können. Die letzten Abtheilungen sind nicht so. Namentlich die vierte und sechste sind stilistische Meisterwerke. (9. Buch)

Obgleich die »Julie«, die sich längst unter der Presse befand, auch am Ende des Jahres 1760 noch nicht erschien, so begann sie doch schon Aufsehen zu erregen. Am Hofe hatte von ihr Frau von Luxembourg, in Paris Frau von Houdetot geredet. Letztere hatte von mir sogar für Saint-Lambert die Erlaubnis erhalten, sie im Manuscript den König von Polen lesen zu lassen, der von ihr begeistert war. Duclos, den ich sie ebenfalls hatte lesen lassen, hatte von ihr in der Akademie geredet. Ganz Paris war voller Ungeduld, diesen Roman zu lesen; die Buchhändler in der Straße Saint-Jacques und im Palais-Royal wurden von Leuten, die sich nach ihm erkundigten, belagert. Endlich erschien er, und gegen die gewöhnliche Erfahrung entsprach sein Erfolg der Begierde, mit der er erwartet worden war. Die Frau Dauphine, die ihn mit zuerst gelesen hatte, redete mit Herrn von Luxembourg von ihm wie von einem entzückenden Werke. Unter den Schriftstellern waren die Ansichten getheilt, aber in allen andern Kreisen herrschte nur eine Meinung. Namentlich die Frauen waren von dem Buche wie von dem Verfasser bis zu dem Grade berauscht, daß es selbst in den hohen Kreisen nur wenige gab, deren Eroberung ich nicht gemacht hätte, wenn ich sie mir hätte angelegen sein lassen. Ich habe Beweise dafür, die ich nicht anführen will, und die, ohne daß ich sie erst hätte zu erproben brauchen, meine Behauptung rechtfertigen. Merkwürdig ist, daß dieses Buch in Frankreich größeren Erfolg gehabt hat als in dem übrigen Europa, obgleich die Franzosen, Männer wie Frauen, nicht sehr gut darin behandelt werden. Völlig gegen meine Erwartung war sein geringster Erfolg in der Schweiz, sein bedeutendster in Paris. Herrschen denn Freundschaft, Liebe, Tugend in Paris in größerem Umfange als anderswo? Nein, keineswegs; aber es herrscht daselbst noch jenes feine Urtheil, welches unser Herz an unsren Vorstellungen Theil nehmen läßt und uns an andern die reinen, zärtlichen und tugendhaften Gefühle lieben läßt, die wir nicht mehr besitzen. Die Sittenverderbnis ist nunmehr überall gleich groß; in Europa giebt es weder Sitten noch Tugend mehr, aber wenn es noch irgendwo Liebe zu ihnen giebt, muß man sie in Paris suchen. [Fußnote]Ich schrieb dies im Jahre 1769.

Mitten durch so viele Vorurtheile und erkünstelte Leidenschaften hindurch muß man das menschliche Herz genau zu analysiren verstehen, um darin die wahren Gefühle der Natur zu erkennen. Es gehört ein Zartgefühl dazu, das man sich nur im Verkehre mit der großen Welt aneignet, um, wenn ich so sagen darf, die Herzensfeinheiten zu fühlen, von denen dieses Werk voll ist. Den vierten Theil desselben stelle ich ohne Scheu der »Prinzessin von Cleve« zur Seite, und behaupte, wären beide Arbeiten nur in der Provinz gelesen worden, so würde man ihren vollen Werth nie erkannt haben. Deshalb nimmt es nicht Wunder, daß der Erfolg dieses Buches bei Hofe am größten war. Es enthält eine Fülle von spannenden, wenn auch verschleierten Anspielungen, die dort gefallen müssen, weil man geübter ist, den eigentlichen Sinn zu erfassen. Doch auch hier noch muß man unterscheiden. Diese Lectüre ist wahrlich nicht für jene Klasse geistreicher Leute geeignet, die nur die Schlauheit und Spitzfindigkeit besitzen, das Schlechte zu durchschauen, und die da, wo nur Gutes zu sehen ist, nichts sehen. Wäre die »Julie« zum Beispiel in einem gewissen Lande, an das ich gerade denke, veröffentlicht worden, so bin ich sicher, daß niemand die Lectüre zu Ende gebracht hätte und sie schon am Anfange eingeschlafen wäre.

Die meisten Briefe, die mir über dieses Werk geschrieben wurden, habe ich in einem Hefte gesammelt, welches sich in den Händen der Frau von Nadaillac befindet. Wenn diese Sammlung je erscheint, wird man höchst eigentümliche Dinge und einen Widerspruch in der Beurtheilung wahrnehmen, der anschaulich zeigt, was der Verkehr mit dem Publikum zu bedeuten hat. Was man in der »Julie« am wenigsten gefunden hat und was aus ihr immer ein einziges Werk machen wird, ist die Einfachheit des Gegenstandes und das ununterbrochene Interesse, das, auf drei Personen beschränkt, sich sechs Bände hindurch ohne Episoden, ohne romantische Abenteuer, ohne Schlechtigkeiten irgend einer Art weder in den Charakteren noch in den Handlungen erhält. Diderot hat Richardson über die wunderbare Abwechselung in seinen Schilderungen und über die Menge der vorgeführten Persönlichkeiten große Lobeserhebungen gemacht. Richardson hat in der That das Verdienst, sie alle vorzüglich charakterisirt zu haben; allein was ihre Zahl anlangt, so hat er dies mit den geschmacklosesten Romanschreibern gemein, welche ihren Mangel an Gedanken durch den Reichthum an Personen und Abenteuern ersetzen. Es ist leicht, die Aufmerksamkeit zu erregen, wenn man unaufhörlich unerhörte Begebenheiten und neue Gesichter vorführt, die wie die Bilder der Zauberlaterne vorüberziehen; aber diese Aufmerksamkeit stets auf die gleichen Gegenstände zu richten und zwar ohne wunderbare Abenteuer, das ist meiner Treu schwieriger; und wenn bei aller sonstigen Gleichheit die Einfachheit des Stoffes die Schönheit des Werkes hebt, so können Richardsons [Fußnote]Var. ... so können sich Richardsons Romane, was Diderot auch sagen möge, doch in dieser Hinsicht etc. in vielen andren Dingen vorzüglichere Romane sich doch in dieser Hinsicht mit dem meinigen nicht vergleichen. Trotzdem ist dieses so gut wie todt; ich weiß es und weiß auch den Grund; aber es wird wieder auferstehen.

Meine ganze Furcht war, daß in Folge der Einfachheit das langsame Fortschreiten langweilig werden würde und daß ich das Interesse nicht genug anzufachen verstanden hätte, um es bis zum Ende zu erhalten. Hierüber wurde ich durch eine Thatsache beruhigt, die allein mir mehr geschmeichelt hat als alle Höflichkeiten und Glückwünsche, die mir über dieses Werk zu Theil geworden sind.

Es erschien zu Anfang des Carnevals. Ein Colporteur brachte es der Frau Prinzessin von Talmont, [Fußnote]Nicht sie, sondern eine andere Dame, deren Namen ich nicht kenne, war es, aber die Thatsache ist mir versichert worden. als an demselben Tage grade Ball in der Oper war. Nach dem Abendessen ließ sie sich ankleiden, um dorthin zu gehen, und bis zur Abfahrtsstunde begann sie den neuen Roman zu lesen. Um Mitternacht befahl sie anzuspannen und fuhr zu lesen fort. Man meldete ihr, daß vorgefahren wäre; sie antwortete nicht. Als ihre Leute sahen, daß sie die Abfahrt vergessen hatte, machten sie sie darauf aufmerksam, daß es zwei Uhr wäre. »Es eilt nicht,« erwiderte sie, immer weiter lesend. Etwas später schellte sie, um sich, da ihre Uhr stehen geblieben war, nach der Zeit zu erkundigen. Man sagte ihr, es wäre vier Uhr. »Dann ist es zu spät, noch auf den Ball zu fahren,« entgegnete sie, »man spanne wieder aus.« Sie ließ sich auskleiden und las die ganze Nacht hindurch.

Seitdem man mir diese Anekdote erzählt hatte, sehnte ich mich immer danach, Frau von Talmont zu sehen, nicht allein um von ihr selbst zu erfahren, ob sie wirklich wahr ist, sondern auch weil ich stets überzeugt gewesen bin, daß man für die »Heloise« nicht ein so lebendiges Interesse fassen könnte, ohne jenen sechsten Sinn, den moralischen Sinn zu besitzen, mit dem so wenige Herzen ausgestattet und ohne den niemand das meinige zu verstehen vermag.

Was die Frauen mir so günstig stimmte, war ihre Ueberzeugung, ich hätte meine eigene Geschichte geschrieben und wäre selbst der Held dieses Romans. Diese Meinung hatte sich so fest gesetzt, daß Frau von Polignac brieflich Frau von Verdelin ersuchte, mich dazu zu bewegen, sie Juliens Porträt sehen zu lassen. Alle Welt war darin einig, daß man Gefühle, die man nicht empfunden, nicht so lebhaft wiederzugeben noch die Glut der Liebe anders als nach den Erfahrungen des eigenen Herzens zu schildern vermöchte. Hierin hatte man Recht und gewiß schrieb ich diesen Roman in den begeistertsten Verzückungen; indessen man täuschte sich, wenn man wähnte, daß ich, um in sie zu gerathen, wirkliche Gegenstände nöthig gehabt hätte; man war weit davon entfernt zu begreifen, wie sehr ich für eingebildete Wesen zu erglühen im Stande bin. Ohne einige Erinnerungen an meine Jugend und Frau von Houdetot hätte die Liebe, die ich empfunden und geschildert, es nur mit Sylphiden zu thun gehabt. Ich wollte einen Irrthum, der mir günstig war, weder bestärken noch zerstören. Aus der in Dialogsform durchgeführten Vorrede, die ich besonders drucken ließ, kann man ersehen, wie ich das Publikum darüber in Ungewißheit erhielt. Die Rigoristen sagen, ich hätte die Wahrheit rund heraus erklären sollen. Ich für meine Person sehe nicht ein, was mich dazu hätte verpflichten können, und ich glaube daß ich bei einer solchen ohne Notwendigkeit gemachten Erklärung eher Dummheit als Freimüthigkeit verrathen hätte. (11. Buch)

Frau von Epinay

Frau von Epinay besaß, wie bereits erwähnt, sehr liebenswürdige Eigenschaften; sie war ihren Freunden sehr zugethan, diente ihnen mit großem Eifer und war, da sie es für sie weder an Zeit noch Freundlichkeiten fehlen ließ, sicherlich werth, daß sie ihr Gegendienste leisteten. Bisher hatte ich diese Pflicht erfüllt, ohne mir bewußt zu werden, daß es eine wäre; aber schließlich begriff ich, daß ich mich mit einer Kette belastet, deren Gewicht mich die Freundschaft allein zu fühlen verhindert hatte; und durch meinen Widerwillen gegen zahlreiche Gesellschaften hatte ich dieses Gewicht noch vermehrt. Frau von Epinay benutzte dies, um mir einen Vorschlag zu machen, der mir zu gefallen schien, ihr aber noch mehr gefiel. Er bestand darin, daß sie mich jedesmal davon in Kenntnis setzen wollte, wenn sie allein oder fast allein wäre. Ich ging darauf ein, ohne zu erkennen, wozu ich mich verpflichtete. Es folgte daraus, daß ich sie nicht mehr nach meinem, sondern nach ihrem Belieben besuchte, und daß ich nie sicher war, auch nur einen einzigen Tag über mich verfügen zu können. Dieser Zwang trübte die Freude, die mir bisher die Besuche bei ihr bereitet hatten, gar sehr. Ich fand, daß die Freiheit, die sie mir so zuversichtlich versprochen, mir nur unter der Bedingung gewährt war, mich ihrer nie zu bedienen, und als ich sie ein- oder zweimal benutzen wollte, gab es so viel Botschaften, so viel Billets, so viel Unruhe um mein Befinden, daß ich wohl einsah, nur wirkliche Bettlägerigkeit würde mir als Entschuldigung angerechnet werden, wenn ich nicht auf ihr erstes Wort zu ihr eilte. Ich mußte mich diesem Joche unterwerfen; ich that es und für einen so großen Feind aller Abhängigkeit sogar ziemlich gern, da mich die aufrichtige Zuneigung, die ich zu ihr empfand, davor bewahrte, die Last, die unvermeidlich damit verbunden war, in zu hohem Maße zu fühlen. Sie füllte auf diese Weise wohl oder übel die Lücken aus, welche die Abwesenheit ihres gewöhnlichen Hofes in ihren Vergnügungen ließ. Gewährte es ihr auch nur einen sehr unbedeutenden Ersatz, so war er doch immer noch besser als völlige Einsamkeit, die sie nicht auszuhalten vermochte. Indessen fehlte es ihr auch nicht an einem noch bessern Gegenmittel, seitdem sie sich durchaus hatte in der Literatur versuchen wollen und es nicht lassen konnte, Romane, Briefe, Lustspiele, Erzählungen und andere ähnliche Fadheiten, so gut es gehen wollte, zu schreiben. Aber ihre Hauptlust bestand nicht sowohl darin, diese Geistesproducte zu schreiben, als vielmehr sie vorzulesen, und hatte sie es zu Wege gebracht, zwei oder drei Seiten hinter einander zusammen zu klecksen, so bedurfte sie am Schlüsse dieser entsetzlich schwierigen Arbeit mindestens zweier oder dreier wohlwollender Zuhörer. Nur durch die Gunst irgend eines andern gelangte ich bisweilen zu der Ehre, zu der Zahl dieser Auserwählten zu gehören. Allein galt ich fast immer in jeder Angelegenheit für nichts, und zwar nicht allein in dem Gesellschaftskreise der Frau von Epinay, sondern auch in dem des Herrn von Holbach, und überall, wo Herr Grimm den Ton angab. War mir diese Nullität auch überall anderswo ganz angenehm, so doch nicht in dem Zusammensein mit ihr unter vier Augen, wo ich nicht wußte, welche Haltung ich annehmen sollte, indem ich weder von Literatur, über die mir kein Urtheil zustand, noch von Galanterie zu reden wagte, weil ich zu blöde war und die Lächerlichkeit eines alten Anbeters mehr als den Tod fürchtete. Dazu kam, daß Frau von Epinay gegenüber dieser Gedanke nie in mir aufstieg und vielleicht nicht ein einziges Mal mein ganzes Leben lang aufgestiegen wäre, wenn ich es auch immerdar an ihrer Seite zugebracht hätte. Nicht, daß ich gegen ihre Person Abneigung gefühlt hätte; im Gegentheile, ich liebte sie vielleicht zu sehr als Freund, um sie als Anbeter lieben zu können. Es machte mir Freude, sie zu sehen, mit ihr zu plaudern. Ihre in größerer Gesellschaft zwar ziemlich angenehme Unterhaltung war bei Privatunterredungen wenig anregend und wirkte erkältend; die meinige, die nicht witziger und lebhafter war, kam ihr dabei nicht sehr zu Hilfe. Ueber ein zu langes Stillschweigen in Verlegenheit gerathend, bot ich alle Kräfte auf, die Unterhaltung zu beleben, und obgleich es mich oft angriff, empfand ich dabei nie Langeweile. Es that mir wohl, ihr kleine Dienste zu erweisen, ihr ganz brüderliche Küßchen zu geben, die mir ihre Sinnlichkeit eben so wenig wie die meinige zu erregen schienen: das war alles. Sie war zu mager, zu blaß, ihr Busen flach wie meine Hand. Dieser Fehler würde allein genügt haben, um mich in Eis zu verwandeln; weder mein Herz noch meine Sinne sind je fähig gewesen, in einer Person, der der Busen fehlte, ein Weib zu sehen. Noch andere Gründe, die der Erwähnung nicht werth sind, haben mich bei ihr immer ihr Geschlecht vergessen lassen.
Als ich mich auf diese Weise einer nicht abzuschüttelnden Dienstbarkeit gegenüber sah, gab ich mich ihr widerstandslos hin und fand sie, wenigstens im ersten Jahre, weniger beschwerlich, als ich erwartet hätte. (9. Buch)

Emile und der darauf erfolgende Haftbefehl

Außerdem dachte ich seit einiger Zeit über ein Erziehungssystem nach, mit dem Frau von Chenonceaux, der das von ihrem Manne gegen ihren Sohn angewandte Entsetzen einflößte, mich gebeten hatte, mich zu beschäftigen. Die Macht der Freundschaft hatte zur Folge, daß mir dieser Gegenstand, obgleich er mir an sich weniger angenehm war, doch mehr am Herzen lag als alle andere. Auch ist dieses das einzige von allen so eben erwähnten Themata, das ich wirklich ausgeführt habe. Der Zweck, den ich mir bei Bearbeitung dieses Stoffes vorgenommen, hätte dem Verfasser, wie nur scheint, ein anderes Loos zu bereiten verdient. Greifen wir jedoch diesem traurigen Gegenstande nicht vor. Ich werde im Verlaufe dieser Schrift nur allzu sehr gezwungen sein, davon zu reden. [...] (9. Buch)
Nachdem ich von dem Emil, seitdem ich ihn der Frau von Luxembourg übergeben, lange nichts vernommen hatte, hörte ich endlich, daß der Kaufvertrag darüber zu Paris mit dem Buchhändler Duchesne und durch ihn mit dem Amsterdamer Buchhändler Réaulme abgeschlossen war. Frau von Luxembourg sandte mir die beiden Abschriften meines Vertrages mit Duchesne zur Unterzeichnung. Ich erkannte, daß die Schrift von derselben Hand herrührte, von der diejenigen Briefe des Herrn von Malesherbes waren, die er nicht eigenhändig schrieb. Diese Gewißheit, daß mein Vertrag mit der Zustimmung und unter den Augen der Behörde zu Stande gekommen war, ließ mich ihn mit Vertrauen unterzeichnen. [...]
Der »Contrat social« wurde ziemlich rasch gedruckt. Mit Emil, auf dessen Erscheinen ich wartete, um mich meinem Plane gemäß zurückzuziehen, war es nicht der Fall. Duchesne schickte mir von Zeit zu Zeit Druckproben zur Auswahl; hatte ich sie getroffen, so begann er doch nicht, sondern schickte mir noch wieder andere. Als wir endlich über Format und Buchstaben einig waren, und er schon einige Bogen gedruckt hatte, begann er in Folge einer unbedeutenden Veränderung, die ich bei der Correctur vorgenommen hatte, alles von neuem, und nach sechs Monaten waren wir noch nicht so weit gelangt wie am ersten Tage. Während dieses versuchsweisen Vorgehens bemerkte ich deutlich, daß das Werk in Frankreich wie in Holland gedruckt wurde, und man gleichzeitig zwei Ausgaben veranstaltete. Was konnte ich thun? Ich war nicht mehr Herr meines Manuscripts. An der Ausgabe in Frankreich hatte ich nicht nur keinen Antheil gehabt, sondern mich ihr auch stets widersetzt; aber da sie wohl oder übel nun doch einmal gemacht wurde und der andern als Vorbild diente, so durfte ich sie auch nicht aus den Augen lassen und mußte die Correcturbogen durchsehen, um mein Buch nicht verstümmeln und entstellen zu lassen. Uebrigens geschah der Druck des Werkes so vollkommen mit der Genehmigung des Censors, daß er die Unternehmung gewissermaßen leitete, sehr häufig an mich schrieb und mich sogar in Bezug darauf besuchte, bei einer Gelegenheit, von der ich gleich reden werde.
Während Duchesne mit Schildkrötenschritten vorwärts ging, machte Néaulme, den er zurückhielt, noch langsamere Fortschritte. Man schickte ihm die Bogen nicht so regelmäßig zu, wie sie gedruckt wurden. Er glaubte in der Handlungsweise Duchesnes, das heißt Guys, der die Geschäftsführung besorgte, Unredlichkeit zu bemerken, und sobald er sich überzeugte, daß man den Vertrag nicht inne hielt, schrieb er mir Briefe über Briefe voller Klagen und Beschwerden, für die ich noch weniger Abhilfe herbeiführen konnte als für meine eigenen. Sein Freund Guérin, der mich damals sehr oft besuchte, redete mit mir unaufhörlich von diesem Buche, aber stets mit größter Zurückhaltung. [...] Damals war meine Sicherheit so vollständig, daß ich über den bedächtigen und geheimnisvollen Ton, den er bei dieser Angelegenheit anschlug, wie über eine bei Ministern und Beamten, in deren Amtsstuben er häufig zu finden war, vorkommende lächerliche Angewöhnung lachte. Sicher, hinsichtlich dieses Werkes in Ordnung zu sein, vollkommen überzeugt, daß es nicht nur die Billigung und den Schutz des Censors besäße, sondern auch verdiente und sogar von dem Ministerium mit günstigen Augen betrachtet würde, beglückwünschte ich mich wegen meines Muthes, recht zu handeln, und lachte meine kleinmüthigen Freunde aus, die sich um meinetwillen zu beunruhigen schienen. Duclos war einer von ihnen, und ich gestehe, daß mir mein Vertrauen zu seiner Geradheit und Einsicht gleiche Besorgnis wie ihm hätte einflößen müssen, wenn ich ein geringeres auf die Brauchbarkeit des Werkes und auf die Redlichkeit seiner Beschützer gesetzt hätte. Während der »Emil« unter der Presse war, kam er von Herrn Baille zu mir, und redete mit mir von dem Buche. Ich las ihm das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars vor; er hörte es in tiefster Ruhe und, wie es mir schien, mit großem Vergnügen an. Als ich geendet hatte, sagte er zu mir: »Wie, Bürger, das ist ein Abschnitt aus einem Buche, das man in Paris druckt?« – »Ja,« erwiderte ich, »und man sollte es im Louvre auf Befehl des Königs drucken.« – »Ich gebe es zu,« versetzte er, »thun Sie mir indessen den Gefallen, niemandem zu erzählen, daß Sie mir diesen Abschnitt vorgelesen haben.« Diese auffallende Art, sich auszudrücken, überraschte mich, ohne mich zu erschrecken. Ich wußte, daß Duclos oft Herrn von Malesherbes sah.
Es war mir schwer begreiflich, wie er über denselben Gegenstand so abweichender Meinung sein konnte. [...] Seit einiger Zeit quälten mich unbestimmte und düstere Ahnungen, ohne daß ich wußte worüber. Ich erhielt ziemlich sonderbare anonyme Briefe und sogar unterschriebene Briefe, die es kaum weniger waren. [...] Diese Voraussicht machte mich sogar selbst mehrmals schwankend, ob nicht auch ich ein Asyl außerhalb des Landes suchen sollte, ehe die dem Anscheine nach es bedrohenden Unruhen hereinbrachen. Allein im Hinblick auf meine Unbedeutendheit und mein friedfertiges Wesen beruhigt, glaubte ich, daß in der Einsamkeit, in der ich zu leben gedachte, kein Sturm bis zu mir dringen könnte. Nur das betrübte mich, daß sich Herr von Luxembourg bei diesem Stande der Dinge zu Diensten hergab, die ihn in seiner Statthalterschaft von manchem Guten zurückhalten mußten. Ich hätte gewünscht, daß er sich dort für jeden Fall eine Zuflucht sicherte, wenn die große Maschine wirklich zusammenbrach, wie es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge zu befürchten stand, und noch jetzt scheint es mir zweifellos, daß, wären nicht endlich alle Zügel der Regierung in eine einzige Hand gefallen, die französische Regierung jetzt in den letzten Zügen läge.
Während sich mein Zustand verschlimmerte, wurde der Druck des »Emil« immer langsamer und endlich ganz unterbrochen, ohne daß ich den Grund erfahren konnte, ohne daß mich Guy einer Anzeige oder einer Antwort gewürdigt, ohne daß mich jemand benachrichtigt oder darüber aufgeklärt hätte, was eigentlich vorginge, da sich Herr von Malesherbes gerade auf dem Lande aufhielt. Nie wird mich ein Unglück, welches es auch sein möge, verwirren oder niederschlagen, falls ich weiß, worin es besteht; aber ich habe eine natürliche Angst vor dem Dunkeln; das Schaudrige in demselben fürchte und hasse ich. Das Geheimnisvolle beunruhigt mich stets, es steht in zu grellem Gegensatze zu meiner bis zur Unbesonnenheit offenen Natur. Der Anblick des gräßlichsten Ungeheuers würde mir, wie ich glaube, wenig Angst einjagen; aber würde ich nachts undeutlich eine Gestalt in einem weißen Laken erblicken, so würde mich Furcht befallen. So malte mir denn meine durch das lange Schweigen erhitzte Einbildungskraft lauter Schreckbilder vor. [...] Unglücklicher Weise vernahm ich um dieselbe Zeit, daß der Pater Griffet, ein Jesuit, vom »Emil« geredet und daraus sogar Stellen angeführt hatte. Augenblicklich fährt es mir wie ein Blitzstrahl durch den Kopf, und das ganze Geheimnis der Nichtswürdigkeit steht enthüllt vor mir da: ich sah ihr allmähliches Fortschreiten so klar, so unwiderleglich, als wäre es mir offenbart worden. Ich bildete mir ein, die Jesuiten hätten sich, wüthend über den verächtlichen Ton, in dem ich über ihre Schulen gesprochen, meines Werkes bemächtigt; sie wären es, die die Herausgabe hinderten; sie wollten, von ihrem Freunde Guérin über meinen gegenwärtigen Zustand unterrichtet und meinen nahen Tod, an dem ich nicht zweifelte, voraussehend, den Druck bis dahin verzögern in der Absicht, mein Werk zu verstümmeln und abzuändern und mir, um ihre Zwecke zu erreichen, fremde Ansichten unterzuschieben. [...] Ueberall sah ich nur Jesuiten, ohne zu bedenken, daß sie am Vorabende ihrer Vernichtung und von ihrer eigenen Verteidigung vollständig in Anspruch genommen, anderes zu thun hatten, als sich wegen des Druckes eines Buches, in dem es sich gar nicht um sie handelte, etwas zu schaffen zu machen. Ich habe Unrecht zu sagen, ohne daran zu denken, denn ich dachte sehr wohl daran, und Herr von Malesherbes hat sich sogar, als er von meinem Wahne hörte, die Mühe gegeben, mir den Einwurf zu machen; aber in Folge eines andren Unverstandes bei einem Manne, der aus der Tiefe seiner Zurückgezogenheit über in Geheimnis gehüllte wichtige Staatsangelegenheiten, von denen er nichts versteht, urtheilen will, war es mir unmöglich zu glauben, daß die Jesuiten wirklich in Gefahr waren, und ich betrachtete das Gerücht, das sich darüber verbreitete, als eine von ihrer Seite angewandte List, um ihre Widersacher einzuschläfern. [...]
Ich fühlte mich todtkrank; es ist mir schwer faßlich, wie diese Thorheit mir nicht vollends den Rest gab, so furchtbar war mir der Gedanke, daß nach meinem Tode mein Andenken gerade durch mein würdigstes und bestes Buch entehrt werden sollte. Nie habe ich mich so sehr zu sterben gefürchtet, und ich glaube, wäre ich unter diesen Verhältnissen gestorben, hätte ich in Verzweiflung meine Augen zugedrückt. Selbst heute, wo ich die schwärzeste, schändlichste Verschwörung, die je gegen das Gedächtnis eines Mannes angezettelt worden ist, widerstandslos auf ihr Ziel losgehen sehe, werde ich viel ruhiger sterben, sicher, in meinen Schriften ein Zeugnis über mich zu hinterlassen, welches früher oder später über die Verschwörungen der Menschen triumphiren wird.(11. Buch)
Endlich erschien der »Emil«, ohne daß ich von Auswechselblättern oder einer andern Schwierigkeit noch reden gehört hätte. [...]
Die Veröffentlichung dieses Buches erregte nicht den Beifallssturm, mit dem alle meine übrigen Schriften begrüßt waren. Nie erhielt ein Werk so großes Lob von Einzelnen und einen so geringen öffentlichen Beifall. Was mir die urtheilsfähigsten Leute darüber sagten und schrieben, bestätigte mir, daß es nicht nur die beste, sondern auch die bedeutendste meiner Schriften wäre. Dies alles wurde aber mit der seltsamsten Vorsicht gesagt, als ob das Gute, welches man darüber dachte, die Bewahrung des größten Geheimnisses erforderte. Frau von Boufflers, die versicherte, der Verfasser dieses Werkes verdiente Bildsäulen und die Huldigungen aller Sterblichen, bat mich am Ende ihres Billets ohne Umstände, es ihr zurückzuschicken. D'Alembert, der mir schrieb, dieses Werk entschiede meine Ueberlegenheit und müßte mich an die Spitze aller Gelehrten stellen, unterzeichnete seinen Brief nicht, obgleich er doch alle, die er bisher an mich gerichtet, unterschrieben hatte. Duclos, ein zuverlässiger Freund, ein wahrer, aber vorsichtiger Mann, der diesem Buche einen hohen Werth beilegte, vermied, mir seine Ansicht darüber schriftlich mitzutheilen; La Condamine wies auf das »Glaubensbekenntnis« hin und machte allerlei Umschweife; Clairaut beschränkte sich in seinem Briefe auf den nämlichen Abschnitt, scheute sich aber nicht, die tiefe Bewegung zu schildern, in die er bei der Lectüre versetzt worden wäre; er gestand, um seine eigenen Worte zu wiederholen, diese Lectüre hätte seine alte Seele wieder erwärmt. Von allen, denen ich mein Buch geschickt hatte, war er der Einzige, der alles Gute, was er davon dachte, jedermann laut und offen sagte. [...] Herr von Blaire besaß in Saint-Gratien ein Landhaus, und Mathas, sein alter Bekannter, besuchte ihn dort bisweilen, wenn er gehen konnte. Er ließ ihn den »Emil« vor seinem Erscheinen lesen. Als ihm Herr von Blaire denselben zurückgab, sagte er zu ihm folgende Worte, die mir noch an demselben Tage mitgetheilt wurden: »Herr Mathas, dies ist ein sehr schönes Buch, von dem aber binnen kurzem mehr geredet werden wird, als es dem Verfasser zu wünschen ist.« Als er mir diese Aeußerung anvertraute, lachte ich nur darüber und erblickte darin nichts Anderes als die Wichtigthuerei eines richterlichen Beamten, der bei allem etwas Geheimes wittert. [...]
Ich blieb ruhig. Das Gerücht nahm zu und änderte bald den Ton. Das Publikum und namentlich das Parlament schienen durch meine Ruhe gereizt zu werden. Nach Verlauf einiger Tage wurde die Aufregung furchtbar; die Drohungen wechselten jetzt den Gegenstand und richteten sich unmittelbar gegen mich. Man hörte Mitglieder des Parlaments ganz offen sagen, mit dem Verbrennen der Bücher käme man nicht weiter, man müßte ihre Verfasser verbrennen. Gegen die Buchhändler ließ man sich nichts verlauten. Als mir diese Aeußerungen, die eines Inquisitors von Goa würdiger waren als eines Senators, zum ersten Male zu Ohren kamen, zweifelte ich nicht daran, daß es eine Erfindung der Holbachianer wäre, die darauf ausgingen, mich in Schrecken zu setzen und zur Flucht zu bewegen. [...] Eines Morgens jedoch, als ich mit Herrn von Luxembourg allein war, sagte er zu mir: »Haben Sie in dem »Contrat social« von Herrn von Choiseul etwas Nachtheiliges gesagt?« – »Ich?« erwiderte ich, vor Ueberraschung zurückfahrend, »nein, das kann ich beschwören; ich habe ihm im Gegentheile und noch dazu mit einer Feder, der alle Lobhudelei fremd ist, das glänzendste Lob gespendet, das je einem Minister zu Theil geworden ist,« und sofort sagte ich ihm die Stelle her. »Und im Emil?« fuhr er fort. »Nicht ein Wort,« versetzte ich; »er enthält nicht ein einziges Wort, das sich auf ihn bezieht.« – »Ach,« sagte er mit größerer Lebhaftigkeit als sonst, »Sie hätten es im andern Buche eben so machen sollen oder deutlicher sein müssen.« – »Ich glaubte es zu sein,« entgegnete ich, »meine Achtung vor ihm war dazu hoch genug.« Er wollte weiter reden; ich sah ihn im Begriff, sich ganz gegen mich auszusprechen, als er sich plötzlich bezwang und schwieg. Unglückselige Höflingspolitik, die in den besten Herzen selbst über die Freundschaft die Oberhand gewinnt.
Diese, wenn auch kurze, Unterredung klärte mich doch, wenigstens in gewisser Beziehung, über meine Lage auf und ließ mich erkennen, daß man doch an mich wollte. Ich beklagte dieses unerhörte Verhängnis, das alles, was ich gutes sagte und that, zu meinem Nachtheil ausschlagen ließ. Da ich aber hierbei in Frau von Luxembourg und Herrn von Malesherbes einen Schild zu haben glaubte, sah ich nicht ein, wie man es anfangen wollte, sie bei Seite zu schieben und mir zu Leibe zu gehen, denn im Uebrigen begriff ich jetzt recht gut, daß man sich nicht mehr um Billigkeit und Gerechtigkeit kümmern und es sich nicht groß anfechten lassen würde, erst zu prüfen, ob ich denn wirklich Unrecht hätte oder nicht. [...] Frau von Boufflers schien weniger ruhig. Sie kam und ging mit erregter Miene, machte sich viel zu schaffen und betheuerte mir, der Prinz Conti gäbe sich ebenfalls viel Mühe, den Schlag abzuwenden, der gegen mich im Schilde geführt würde, und den sie immer nur den gegenwärtigen Verhältnissen zuschrieb, unter denen es dem Parlamente darauf ankäme, sich von den Jesuiten nicht religiöser Gleichgültigkeit zeihen zu lassen. Sie schien indessen wenig auf den Erfolg der Schritte des Prinzen wie ihrer eigenen zu rechnen. Ihre mehr beunruhigenden als beruhigenden Mittheilungen hatten sämmtlich den Zweck, mich zur Flucht zu bewegen. Sie rieth mir beständig, mich in England niederzulassen, wo sie mir viele Freunde in Aussicht stellte, unter andern den berühmten Hume, der seit langer Zeit der ihrige war. Als sie wahrnahm, daß ich immer in meiner Ruhe verblieb, wandte sie einen Kunstgriff an, der geeigneter war, mich zu erschüttern. Sie gab mir zu verstehen, wenn ich verhaftet und verhört würde, käme ich in die Nothwendigkeit, Frau von Luxemburg zu nennen, und ihre Freundschaft für mich verdiente doch wohl, daß ich mich nicht der Gefahr aussetzte, sie bloßzustellen. Ich erwiderte, daß sie in einem solchen Falle völlig ruhig sein könnte, da ich sie gewiß nicht in die Angelegenheit verwickeln würde. Sie erwiderte, daß dieser Entschluß leichter zu fassen als auszuführen wäre, und darin hatte sie ja Recht, namentlich bei mir, der entschlossen ist, vor dem Richterstuhle nie falsch zu schwören oder zu lügen, welche Gefahr es auch immer nach sich ziehen könnte, die Wahrheit zu sagen.[...]
Weit davon entfernt, mich zu fürchten und verborgen zu halten, ging ich jeden Morgen nach dem Schlosse und machte Nachmittags meinen gewöhnlichen Spaziergang. Am 8. Juni, dem Vorabende des Haftbefehls, machte ich ihn mit zwei Professoren von den Oratorianern, dem Pater Alamanni und dem Pater Mandard. [...] Da ich an diesem Abende wacher als sonst war, setzte ich meine Lectüre länger fort und las das ganze Buch aus, das am Ende von dem Leviten von Ephraim erzählt. Es ist, wenn ich mich nicht irre, das Buch der Richter, denn seit jener Zeit habe ich es nicht wiedergesehen. Diese Geschichte regte mich sehr auf, und ich beschäftigte mich gerade in einem traumartigen Zustande mit ihr, als ich mit einem Mal durch Geräusch und Licht aus ihm gerissen wurde. Therese, die es trug, leuchtete Herrn La Roche, der, als er sah, wie ich mich rasch in die Höhe richtete, zu mir sagte: »Erschrecken Sie nicht; ich komme von der Frau Marschall, die Ihnen schreibt und einen Brief des Prinzen Conti sendet.« In der That fand ich in dem Briefe der Frau von Luxembourg den inneliegend, den ihr so eben ein besonderer Bote von dem Prinzen gebracht hatte; er theilte ihr darin mit, daß man trotz aller seiner Anstrengungen entschlossen wäre, mit aller Strenge gegen mich vorzugehen. »[...] morgen früh sieben Uhr wird der Haftbefehl gegen ihn erlassen werden, und man wird seine Verhaftung sofort vollstrecken lassen. Ich habe durchgesetzt, daß man ihn nicht verfolgen wird, wenn er sich entfernt; will er sich jedoch durchaus verhaften lassen, so wird er gefänglich eingezogen werden.« La Roche beschwor mich im Namen der Frau Marschall aufzustehen und mich zu einer Berathung zu ihr zu begeben. Es war zwei Uhr; sie hatte sich bereits niedergelegt. »Sie erwartet Sie,« fügte er hinzu, »und will nicht einschlafen, ehe sie Sie nicht gesehen hat.« Ich kleidete mich schnell an und eilte zu ihr.
Sie kam mir aufgeregt vor. Es war das erste Mal. Ihre Unruhe rührte mich. In diesem Augenblicke der Ueberraschung, mitten in der Nacht, war ich selbst von Aufregung nicht frei. Als ich sie aber sah, vergaß ich mich selbst, um nur an sie und die traurige Rolle zu denken, die sie spielen würde, wenn ich mich verhaften ließ; denn fühlte ich auch genug Muth in mir, um nichts als die Wahrheit zu sagen, sollte sie mir auch schaden und mich verderben, so fühlte ich doch nicht genug Geistesgegenwart, noch genug Gewandtheit und vielleicht nicht einmal genug Festigkeit in mir, um sicher zu sein, daß ich die Frau Marschall nicht bloßstellen würde, wenn man mich einem scharfen Verhöre unterzog. Dies bestimmte mich, meinen Ruhm ihrer Ruhe zu opfern, bestimmte mich, bei dieser Gelegenheit für sie das zu thun, was nichts in der Welt von mir erzwungen hätte, für mich selbst zu thun. [...] Herr von Luxembourg schlug mir vor, einige Tage incognito bei ihm zu bleiben, um zu überlegen und meine Maßregeln in größerer Muße zu treffen. Ich ging nicht darauf ein, auch nicht auf den Vorschlag, mich im Geheimen nach dem Temple zu begeben. Ich bestand darauf, noch an demselben Tage abreisen zu wollen, viel lieber als hier noch länger irgendwo versteckt zu bleiben.
Ueberzeugt, daß ich im Königreiche geheime und mächtige Feinde hatte, war ich der Ansicht, daß ich trotz meiner Vorliebe für Frankreich es doch verlassen müßte, wollte ich in Frieden leben. [...] Entschlossen, noch den nämlichen Tag abzureisen, war ich von früh an für jeden abgereist, und La Roche, durch den ich mir meine Papiere holen ließ, wollte nicht einmal Therese sagen, ob ich es wäre oder nicht. [...] Der Herr Marschall sagte nicht eine Silbe; er war leichenblaß. [...]
Als ich das Berner Gebiet betrat, ließ ich anhalten; ich stieg aus, warf mich nieder, breitete die Arme aus, küßte die Erde und rief in meinem Freudentaumel: »Himmel, Beschützer der Tugend, ich preise dich; ein freies Land betritt mein Fuß!« So habe ich mich, voll Blindheit und Zuversicht auf meine Hoffnungen, beständig für das begeistert, was mein Unglück hervorrufen sollte. [...] (11. Buch)
[...] Deshalb war ich völlig überzeugt, mit rother Tinte in die Listen des Königs von Preußen eingetragen zu sein; und da ich überdies annahm, daß er die Grundsätze, die ich ihm zuzuschreiben gewagt hatte, wirklich besäße, konnten ihm meine Schriften und ihr Verfasser schon lediglich um deswillen nur mißfallen, denn man weiß, daß mich die Bösen und die Tyrannen, auch ohne mich zu kennen, auf die bloße Lectüre meiner Schriften hin stets gehaßt haben.
Gleichwohl wagte ich mich in seine Gewalt zu begeben und war überzeugt, wenig Gefahr zu laufen. Ich wußte, daß die niedrigen Leidenschaften nur über schwache Menschen Herr werden und über Seelen von hartem Schlage, und für eine solche hatte ich die seinige erkannt, nichts vermögen. Ich glaubte fest, daß seine Regierungskunst es von ihm verlangte, sich bei einer solchen Gelegenheit hochherzig zu zeigen, und daß sein Charakter groß genug wäre, es wirklich zu sein. Ich war überzeugt, daß eine niedrige und leicht auszuübende Rache nicht einen Augenblick die Ruhmliebe in ihm überwiegen könnte, und wenn ich mich an seine Stelle dachte, hielt ich es nicht für unmöglich, daß er die Gelegenheit benutzen würde, um den Mann, der es gewagt hatte, von ihm schlecht zu denken, durch das ganze Gewicht seines Edelmuths niederzubeugen. So übersiedelte ich denn nach Motiers mit einer Zuversicht, deren Werth ich ihn einzusehen für befähigt hielt, und sagte zu mir: »Wird sich Friedrich, wenn sich Jean-Jacques neben Coriolan erhebt, niedriger zeigen als der Feldherr der Volsker?« (12. Buch)