10 Dezember 2022

McEwan

 Ian McEwan (dt.Wikipedia)

06 Dezember 2022

Gogols Erzählungen

"Die ukrainischen Erzählungen Nikolai Gogols.

Er, sie, es. Er, der Glaube. Sie, die Geschichte. Es, das Gerücht. Worüber der 22-Jährige erzählte, entwickelte sich zu einer Kettenreaktion, häufig tödlich. Die Erzählungen, in denen das 1831/1832 geschah, als sie in zwei Teilen herauskamen, spielten in der Ukraine, auf dem Land, in Dörfern, in Kiew, auf trubeligen Jahrmärkten, im Hintergrund der Dnjepr. Und auch wenn sie so geschrieben waren, dass sie sich grotesk lasen, lag das daran, dass die Meisterschaft des Debütanten darin bestand, dass das schier Unglaubliche nicht etwa unglaubwürdig daherkam. [...] 

Unbedingt realistisch, dass sich unter der Knute der Herrschaften die Bauern duckten und unter der Knute des Bauern Frau und Kinder. In einem Kosmos der Ungerechtigkeit, die zum Himmel schrie, ohne ein Echo zu bekommen, verschaffte sich das Ungestüme Luft. Was die Menschen langsam angehen ließen, aufwachend wie aus tiefer Betäubung, endete nicht nur ausgelassen, sondern geradezu tobsüchtig. Gern übertrieb dieser Autor, und auch darin war er ein Meister. Das Switchen zwischen Wirklichkeit und Wahn so tollkühn wie ein Pferdewechsel im gestreckten Galopp.

Und das Doppelbödige lebt weiterhin, lebt von einem grellen Kolorit in einer trüben Welt, die von Geiz und Gier bewirtschaftet wird – herrisch tritt die Geilheit auf, übergriffig bis zum Inzest. Obsessionen beherrschen die Köpfe und die Träume, das Verdrängte vollzieht „Schreckliche Rache“, der Alltag ist für die Tochter, die dem Vater ausgeliefert ist, eine Alptraumwelt. [...]"

 https://www.fr.de/kultur/literatur/erzaehlungen-von-nikolai-gogol-wenn-mit-geschichten-geschichten-passieren-91938893.html


https://www.fr.de/kultur/literatur/erzaehlungen-von-nikolai-gogol-wenn-mit-geschichten-geschichten-passieren-91938893.html


Nikolai Wassiljewitsch Gogol (geboren als Nikolai Janowski, seit 1821 Gogol-Janowski; russisch Николай Васильевич ГогольISO 9Nikoláj Vasílʹevič Gógolʹukrainisch Микола Васильович Гоголь; ISO 9: Mykóla Vasýlʹovyč Hóholʹ; * 20. Märzjul. / 1. April 1809greg. in Bolschije SorotschinzyGouvernement PoltawaRussisches Reich; † 21. Februarjul. / 4. März 1852greg. in Moskau, Russisches Reich) war ein russischer SchriftstellerDramatiker und Publizist ukrainischer Herkunft (damals als „Kleinrussland“ bezeichnet), sowie ein Ethnograph und Sammler ukrainischer Folklore.

Leben

Herkunft und Ausbildung

Nikolai Janowski wurde am 1. April 1809 in Bolschije Sorotschinzy als Sohn von Wassili Opanasowitsch Janowski (1777–1825), Grundbesitzer des Dorfes Wasiljewka (heute Gogolewo) in der Region Poltawa[1] und seiner Frau Marija Iwanowna (1791–1868) geboren, damals Kleinrussland, ehemals (in der Frühen Neuzeit) teilautonomes Hetmanat der Saporoger Kosaken. Die ukrainische Gutsbesitzerfamilie hatte neben Nikolai elf weitere Kinder, von denen nur der älteste Sohn Nikolai und die Schwestern Maria (1811–1844), Anna (1821–1893), Elisabeth (1823–1864) und Olga (1825–1907) überlebten. Als die ersten beiden Kinder nach der Geburt starben, zogen die Eltern nach Bolschije Sorotschinzy, wo der ehemalige Militärarzt Michail Jakowlewitsch Trochimowski (1739–1813) praktizierte. Auf Trochimowskis Anwesen wurde Nikolai Janowski geboren. Sein jüngerer Bruder Ivan ist früh verstorben (1810–1819). Um die Adelsprivilegien von der Regierung zu bekommen, verwendete die Familie ab 1821 den Doppelnamen Gogol-Janowski. Gogol sollte an kosakische Vorfahren der Familie erinnern.[2] Der Familienlegende und einigen Historikern zufolge stammte er von zwei alten ukrainischen Kosaken-Adelsfamilien ab, Gogol und mütterlicherseits Lisogub[3] und war ein Nachkomme des berühmten Kosaken Ostap Gogol, der im späten 17. Jahrhundert der Hetman der Rechtsufrigen Ukraine war.[4][5]

Gogols Vater galt als Träumer und es wird angenommen, dass die Bühnenaktivitäten seines Vaters, der ein ausgezeichneter Erzähler war und Theaterstücke für das Bauerntheater auf Ukrainisch und auf Russisch schrieb, die Interessen des zukünftigen Schriftstellers bestimmt haben — Gogols frühes Interesse am Theater. Gogols Mutter, Marija Iwanowna, geborene Kosjarowskaja, Tochter der Tatiana Semenowna (1760–1826), wurde 1805 im Alter von vierzehn Jahren verheiratet. Der Bräutigam war doppelt so alt wie sie.[6]

Sein Großvater Panas Demjanowitsch Gogol-Janowski diente als Kosakenschreiber des Mirgorod-Regiments, zweiter Major, Übersetzer und Hauslehrer.[7][8]

In Neschin ging Gogol zum Studium ins Fürst-Besborodko-Lyzeum. Während seines Schulbesuchs am Lyzeum litt Gogol an Skrofulose und schaffte es, dem Spott der Mitschüler durch Überspitzungen zu entgehen.[6] Er war klein, krumm gewachsen und dünn, hatte schlechte Haut und eine übermäßig lange, spitze Nase.[9] Zeitgenossen rätselten über sein mürrisches, konzentriertes, düsteres, aber kluges Wesen mit autistischen Zügen. Der 18-jährige Gogol notierte: „Alle halten mich für ein Rätsel“.[6] Als sein Vater starb, war Gogol sechzehn.[6]

Schriftsteller

In Neschin schrieb Gogol seine ersten literarischen Werke und veröffentlichte einige davon unter Pseudonym[10] in Manuskripten und Almanachen. Hier erschienen seine Gedichte „Italien“, „Neue Heimat“, „Schlechtes Wetter“, „Zwei Fische“, „Schlacht bei Kalka“, das Gedicht „Hans Kuchelgarten“, die Satire „Der Hohn des Unfalls“, sowie „Etwas über Neschin, oder Narrengesetz ist nicht geschrieben“. Den später berühmten Jahrmarkt in Bolschije Sorotschinzy beschrieb er in seiner Erzählung Der Sorotschinsker Jahrmarkt, die Mussorgski später zu seiner Oper Der Jahrmarkt von Sorotschinzy inspirierte.

Nach ersten literarischen Versuchen ging er 19-jährig nach Sankt Petersburg und versuchte 1828, eine Anstellung an der dortigen Universität zu erhalten, was ihm nicht gelang. Daraufhin unternahm Gogol eine Reise nach Deutschland und versuchte es mit der Schauspielerei. 1829 erhielt er eine Stelle im russischen Staatsdienst. 1831 gab er seine Anstellung jedoch wieder auf und wurde Geschichtslehrer an einer Privatschule für Mädchen.

Im Jahr 1831 lernte Gogol den Dichter Alexander Puschkin kennen, der ihm den Weg in die russische Literatur wies. Puschkin wurde ihm Freund und Förderer. So regte Puschkin an, den Revisor und Die toten Seelen zu schreiben – beide Werke fanden später höchste Anerkennung. Puschkin verschaffte Gogol auch wiederholt Arbeit als Privatlehrer und Universitätsprofessor, wenngleich Gogol diese Tätigkeiten nie lange ausübte.[11]

Ende 1833 bewarb er sich, unterstützt von Alexander Puschkin, Sergei Semjonowitsch Uwarow und Wassili Schukowski, für den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an der St.-Wladimir-Universität in Kiew. Er wollte dort die Geschichte der Ukraine und des Südens Russlands erforschen, sowie Legenden, Überlieferungen und Lieder der Region sammeln.[12] Auch wegen des Klimas wollte er Sankt Petersburg verlassen. Jedoch wurde ihm der damals unbekannte Historiker Wladimir Franzewitsch Zich vorgezogen.[13][14] So wurde Gogol 1834 Assistenz-Professor am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an der Universität Sankt Petersburg. Diese Stellung musste er im Dezember 1835 wieder aufgeben, da er nicht die formalen Qualifikationen besaß, die ein neues Universitätsgesetz verlangte.

Abende auf einem Bauernhof bei Dikanka

Zwischen 1836 und 1848 unternahm Gogol weitere Reisen durch Deutschland, die Schweiz, Österreich, Frankreich und Italien. Er begann zu schreiben und feierte mit seinen volkstümlichen ukrainischen Erzählungen Abende auf dem Weiler bei Dikanka (Вечера на хуторе близ Диканьки, 1831/32) einen Überraschungserfolg. Es ist die einzigartige Kombination der derben Vertep-Komödiantik[15] mit dem ukrainischen Lokalkolorit und märchenhafter, bisweilen unheimlicher Phantastik, die den Erzählband zum Erfolg machte. Noch überwog die Komik in der Darstellung der Teufel und Hexen, jedoch wurde schon hier die Neigung zum alles durchdringenden Dämonischen deutlich, die sich in Gogols späteren Werken voll entwickelte. Eine weitere Sammlung von vier Erzählungen mit dem ukrainischen Thema, Mirgorod (Миргород, 1835), knüpfte an den Erfolg der Abende an und nahm bereits entscheidende Momente von Gogols reiferen Werken vorweg. Zu dieser Zeit wird Gogol einer der wichtigsten Vertreter der „ukrainischen Schule“ in der russischen Literatur.

Mit den sogenannten Petersburger Erzählungen (Петербургские повести, 1842) wandte sich Gogol der russischen Metropole und neuen Themen zu:[16] Sie zeigen das Leben von Beamten, Offizieren und Handwerkern in der Großstadt, in der Laster und Geldgier herrschen und wo sich das Dämonische überall im Alltäglichen manifestieren kann. Das Beamtentum wird auch in seiner Komödie Der Revisor (Ревизор, 1836) karikiert, deren Sujet auf einen Vorschlag Puschkins zurückgeht. [...]" (Wikipedia)




29 November 2022

von Hirschhausen: Glück kommt selten allein ...

KLAPPENTEXT

Jeder ist seines Glückes Schmied. Und so sieht es auch aus: reichlich behämmert. Beim Zimmern unseres Glücks hauen wir uns oft genug mit dem Hammer auf den Daumen. Und vergessen dann, darüber zu lachen. Glück ist nicht das Ziel, sondern ein Abfallprodukt der Evolution. Glück geht zum Glück vorbei, und eine Bronze- ist besser als eine Silbermedaille. Die positive Psychologie zeigt: Erfüllung und Zufriedenheit sind keine Frage des Schicksals, sondern die Summe der täglichen Gedanken und Handlungen. Glück ist machbar.

 Verlagsmitteilung

"Glück geht vorbei – zum Glück! Ein Lesebuch der besonderen Art.
Mit dem Glück ist es wie mit Diäten oder Erkältungskrankheiten: tausend Rezepte – aber keine überzeugenden Erfolge. Gar keine? Deutschlands lustigster Arzt findet die Trüffel der Glücksforschung, das Kuriose, Komische und Menschliche. Endlich spricht einer aus, was keiner wahrhaben will: Wir sind von Natur aus bestens geeignet, das Glück zu suchen, aber eklatant schlecht darin, zufrieden zu sein. Warum? Wer die evolutionären Webfehler in unseren Wünschen kennt, hat gut lachen. Ein erfrischend provokanter Perspektivenwechsel auf Finanzkrise, Partnerwahl und Erdbeermarmelade."


Zitate:

"100 Jahre lang hat man sich mit den Nachteilen von Erkrankungen, an der schlechten Kindheit und des Verlust eines geliebten Menschen beschäftigt. Erst seit gut zehn Jahren erforscht man den Nutzen und die Vorteile, die Menschen tatsächlich aus schlechten Erlebnissen ziehen können. Was weiß man schon über diese Widerstands- und Wieder-Aufstehens-Kraft, die Resilienz genannt wird? Wie genau funktioniert dieses wundersame posttraumatische Wachstum?

Niemand weiß, was er zu ertragen in der Lage ist, bis die Situation es erfordert. 'Was dich nicht tötet, härtet dich ab.' Wie habe ich diesen Satz meines Sportlehrers gehasst!

Aber tatsächlich habe ich mich sehr gewundert, wie viel länger ich beim Waldlauf aufgrund seiner Quälerei durchhalten konnte – länger, als ich mir jemals zugetraut hätte. [...]

Trauma und Belastungen

Sie halten uns nicht nur ab, sie machen uns stärker und trainieren uns regelrecht. Wer einmal eine Katastrophe durchgestanden hat, ist bei der nächsten gelassener und erholt sich schneller wieder davon.

In Krisenzeiten wachsen Beziehungen. Trauernde lernen Menschen intensiver kennen und schätzen und werden toleranter und verständnisvoller in Bezug auf die Nöte anderer. Und sie werden oft liebevoller mit sich selbst. Die Schönwetterfreunde ist man schnell los, aber wenn man einen Knacks hat, öffnet man sich anderen leichter. Dann wird für uns und andere sichtbar, was unter der harten Schale schlummert und was die anderen geben können." (Seite 76/77)

Bewegte Bilder erhalten unserer Aufmerksamkeit:

"Zappen heißt nichts anderes als das: Ich kann nicht ins Bett – es bewegt sich noch!

Die Beute ist noch nicht tot. Wenn das Großhirn endlich fragt: 'Brauche ich das?', sind drei Stunden locker vorbei." (S.78) 

Gibt es ein glückliches Leben?

Was ist weiß und stört beim Essen? 

Eine Lawine


[...] Es gibt viele Art Serien, die in der Notaufnahme spielen. 
Emergency Room packt jeden. 
Keine Chance auf hohe Einschaltquoten hätte dagegen eine Sendung, die heißt Aufwachraum – alles gut gegangen! Das interessiert höchstens die paar Angehörigen." (S. 89)

in: Eckart von Hirschhausen: Glück kommt selten allein,


07 November 2022

Wie habe ich Bücher kennengelernt?

 Ich greife den Blogartikel von Herrn Rau auf, aber ohne Titel zu nennen

Link zu Herrn Rau: https://www.herr-rau.de/wordpress/2022/11/buecher-die-ich-von-selbst-gefunden-habe-und-andere-eine-unvollstaendige-liste.htm

Im Bücherschrank der Eltern

Buchgeschenke (Eltern, Großeltern, Geschwister ...)

Leseempfehlungen eines Lehrers im Gymnasium in der 9. Klasse

Leseempfehlungen meines 9 Jahre älteren Bruders

Bücher, die meine 4 Geschwister gelesen haben

Bücher aus öffentlichen Büchereien, darunter auch eine des CVJM, wo ich Aufsicht geführt habe und Thomas Manns: Joseph und seine Brüder recht langweilig gefunden, aber ausdauernd gelesen habe.

Hier ein Titel: Die Caine war ihr Schicksal (lange Gespräch am Mittagstisch, bevor ich als Jüngster auch dazu kam, es zu lesen; vor kurzem in einem öffentlichen Bücherregal wieder in die Hand bekommen und festgestellt, dass es sofort spannend war, dann in der Wikipedia erfahren, dass der Autor unseren "Unsympath" offenbar als zu Unrecht beschuldigt verstanden wissen wollte. 

Bücher aus Antiquariaten

ausgeschiedenen Bücher der Schulbibliothek, als die neue eingerichtet wurde, u.a. Gregorovius - die meisten davon fanden danach den Weg in öffentliche Bücherregale

ausgeschiedenen Bücher von Kollegen

Empfehlungen meines wichtigsten Freundes

Bücher aus Präsenzbibliotheken von Universitätsseminaren, darunter etwas ausgefallener eine germanistische Seminarbibliothek in Oxford 

Empfehlungen in Zeitungen u.ä.

Einzelne Titel mit besonderen Schicksalen 

Meine Lieblingsbücher habe ich in dem verlinkten Blogbeitrag sowie in einigen weiteren in einem anderen Blog 2018 genannt. Die Fundorte waren der häusliche Bücherschrank meiner Herkunftsfamilie, Lektüren meiner Frau u.a. (Dafür müsste ich bei den Büchern, die von diesen Kategorien nicht erfasst sind, einzeln nachdenken.)



Thomas Mann: Deutsche Hörer

Deutsche Hörer! ist der Titel einer Reihe von 55 Radioansprachen Thomas Manns, die das deutsche Programm der BBC zwischen Oktober 1940 und Mai 1945 meist regelmäßig einmal monatlich ausstrahlte. Hinzu kamen einzelne Sondersendungen sowie eine letzte Ansprache zu Neujahr 1946.

Es handelte sich um fünf- bis achtminütige, pointiert formulierte Reden, in denen der Autor sich mit der politischen Lage Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus befasste, das Kriegsgeschehen kommentierte und mahnende Worte an seine Landsleute richtete. Eine erste Sammlung mit 25 Sendungen wurde 1942 als Buch veröffentlicht, ein zweites Buch umfasste 1955 55 Texte. [...]" (Wikipedia)

 25. Mai 1943

Deutsche Hörer!
Als ich mich im Sommer 1932 an der Ostsee aufhielt, bekam ich ein Paket zugeschickt, aus dem mir, als ich es öffnete, schwarze Asche, verkohltes Papier entgegenfiel. Der Inhalt bestand aus einem verbrannten, nur gerade noch erkennbaren Exemplar eines Buches von mir, des Buches 'Buddenbrooks', – mir übersandt vom Besitzer zur Strafe dafür, dass ich meinem Grauen vor dem heraufkommenden Nazi-Verhängnis öffentlich Ausdruck gegeben hatte.
Das war das individuelle Vorspiel zu der ein Jahr später, am 10. Mai 1933, vom Naziregime überall in Deutschland in großem Stil veranstalteten symbolischen Handlung: der zeremoniellen Massenverbrennung von Büchern freiheitlicher Schriftsteller, – nicht  deutscher nur oder nur jüdischer, sondern amerikanischer, tschechischer, österreichischer, französischer und vor allem russischer; kurzum auf dem Scheiterhaufen qualmte die Weltliteratur, – ein wüster, trauriger und ungeheuer ominöser Jux, den übrigens viele daran Beteiligte jungen Leuten sich guter Dinge zu Nutze machen, um von den Büchern, die sie heranschleppten, möglichst viele zu mausen und so auf billige Art zu förderlicher Lektüre zu kommen.
Es ist merkwürdig genug, daß unter allen Schandtaten des Nationalsozialismus, die sich in so langer, blutiger Kette daranreihten, diese blödsinnige Feierlichkeit der Welt am meisten Eindruck gemacht hat und wahrscheinlich am allerlängsten im Gedächtnis der Menschen fortLeben wird. Das Hitler-Regime ist das Regime der Bücherverbrennungen und wird es bleiben. Der Choc für das europäische Kulturgewissen war heftig und wird unaufhörlich nach, – während in Deutschland dieser Akt nationalistischer Betrunkenheit wohl schon so gut wie aus der Erinnerung verdrängt ist. [...]
Das amerikanische Propaganda-Amt hatte künstlerische Plakate herstellen und verbreiten lassen, die Symbol mit Symbol beantworten: Man sieht darauf, wie Rauch und Flammen aus dem Bücher-Scheiterhaufen den Kulturschänder Hitler ersticken. Ein 'Komitee für die Wiederherstellung verbrannter und verbannter Bücher in Europa', zu dessen Sponsoren erste Namen des Landes gehören, gab eine Liste der Werke in Auftrag, die als erste wieder in die Bibliotheken eines befreiten Europas eingereiht oder neu aufgelegt werden sollen. [...]"


Büchnerpreis für Emine Sevgi Özdamar und Thomas Manns "Bruder Hitler"

 Frage: Weihnachten, alles war gefroren – das war gar nicht so? 

Özdamar: Nein, natürlich nicht. Dass es kalt war, dass es in der WG sehr kalt war, dass die Heizungen ausgestellt waren, ja das ist wahr. Da musst du aber die Kälte inszenieren. Weil, dein Leben ist ja für dich interessant, aber nicht für die anderen, die musst du inszenieren, die musst du herstellen, dass jede gerne liest, dass es Spaß macht den Menschen.

Zitat aus:

Mit geteilter Zunge – Zum Werk der Georg-BüchnerPreisträgerin Emine Sevgi Özdamar

In diesem Blog kommt Özdamar erstmalig im Artikel Mutterzunge vor. 

An diesem Text ist mir wieder einmal deutlich geworden, dass mich an Literatur nicht so sehr die Sprache interessiert, sondern das andere Leben. So ist mir Özdamar erst wieder über die Berichte über ihren Büchnerpreis nahe gekommen. 

"Mein Bruder Büchner" ("Georg Büchner war mein Bruder, der mir auf meinem Weg leuchtete.") - Wusste sie, als sie das schrieb, dass Thomas Mann einen Text "Bruder Hitler" geschrieben hat?

Der beginnt mit den Worten:

"Ohne die entsetzlichen Opfer, welche unausgesetzt dem fatalen Seelenleben dieses Menschen fallen, ohne die umfassenden moralischen Verwüstungen, die davon ausgehen, fiele es leichter, zugestehen, daß man sein Lebensphänomen fesselnd findet. Man kann nicht umhin, das zu tun; niemand ist der Beschäftigung mit seiner trüben Figur überhoben – das liegt in der grob effektvollen und verstärkenden (amplifizierenden) Natur der Politik, des Handwerks also, das er nun einmal gewählt hat, – man weiß, wie sehr nur eben in Ermangelung der Fähigkeit zu irgendeinem anderen. Desto schlimmer für uns, desto beschämender für das hilflose Europa von heute, das er fasziniert, worin er den Mann des Schicksals, den Allesbezwinger spielen darf, und dank einer Verkettung fantastisch glücklicher – das heißt unglückseliger  Umstände, da zufällig kein Wasser fließt, das nicht seine Mühlen triebe, von einem Siege über das Nichts, über die vollendete Widerstandslosigkeit zum anderen getragen wird."

Ich leugne nicht, dass mich auch bei den Buddenbrooks, die ich meiner Erinnerung nach, angeregt durch den Film gelesen habe, nicht nur die Menschen, sondern auch die Sprache interessiert hat. (In meiner Charakterisierung des ersten Teils des Films vom 16.1.1960 heißt es "Da das Buch gut war, wurde der Film nicht schlecht.")

So fasziniert mich am Anfang dieses Textes die Sprache, obwohl mir der Text nur aufgrund seines ungewöhnlichen Titels in Erinnerung geblieben ist. Zu dem Thomas Mann, der die Rundfunkansprachen "Deutsche Hörer" geschrieben hat, will dieser Titel des Textes vom März 1939 nicht recht passen.

Doch weiter in Manns Text:

"Die politische Willenlosigkeit des deutschen Kulturbegriffs, sein Mangel an Demokratie hat sich fürchterlich gerächt: er hat den deutschen Geist zum Opfer einer Staatstotalität gemacht, die ihn der sittlichen Freiheit zugleich mit der bürgerlichen beraubt. [...]

Er konnte sich anti-demokratisch gebärden, weil er nicht wußte, daß Demokratie identisch ist mit jenen Gründen und Stützen, daß sie nichts ist als die politische Ausprägung abendländischer Christlichkeit, und Politik selbst nichts anderes als die Moralität des Geistes, ohne die er verdirbt. Wir wollen feststellen: während im äußeren Völkerleben eine Epoche des zivilisatorischen Rückschlages, der Vertrauensunwürdigkeit, Gesetzlosigkeit und des Dahinfallens von Treu und Glauben angebrochen zu sein scheint, ist der Geist in ein moralisches Zeitalter eingetreten, will sagen: in ein Zeitalter der Vereinfachung und der hochmutlosen Unterscheidung von Gut und Böse. Das ist seine Art, sich zu rebarbarisieren und zu verjüngen. Ja, wir wissen wieder, was Gut und Böse ist. Das Böse hat sich uns in seiner Nacktheit und Gemeinheit offenbart, daß uns die Augen aufgegangen sind für die wilde und schlichte Schönheit des Guten, daß wir uns ein Herz dazu gefaßt haben und es für keinen Raub an unserer Finesse erachten, es zu bekennen. Wir wagen es wieder, Worte wie Freiheit, Wahrheit und Recht in den Mund zu nehmen; ein Übermaß von Niedertracht hat uns der skeptischen Schüchternheit davor entwöhnt. Wir halten sie dem Feinde der Menschheit entgegen, wie einst der Mönch dem leidigen Satan das Kruzifix; und alles, was die Zeit uns erdulden lässt, wird überwogen von dem jungen Glück des Geistes, sich in der ihm ewig zugedachten Rolle wiederzufinden, in der Rolle Davids gegen Goliath, im Bilde Sankt Georgs gegen den Lindwurm der Lüge und der Gewalt."

Das ist geschrieben zwar nach der Reichpogromnacht vom 9.11.1938, aber noch vor dem Holocaust.
Hannah Arendt hat beim Eichmannprozess ihrerseits dieses Pathos der Unterscheidung von Gut und Böse zurückgenommen und als Holocaustüberlebende ihr Erstaunen über die "Banalität des Bösen" ausgesprochen*. Golo Mann hat das im Gedanken an Hitler mit Schärfe zurückgewiesen. Das ist ein weiteres Kapitel im Umgang mit "Bruder Hitler" und mit Sprache im Allgemeinen.
*Ihr ging es darum, deutlich zu machen, dass nicht einmal ungeheure kriminelle Energie vorhanden sein muss, damit ein Menschheitsverbrechen zustande kommt. - Dass im Falle Eichmanns wohl doch ein "Werkstolz" vorlag, da er die Judenvernichtung noch weiter durchführen ließ, obwohl sie von Hitler bereits abgesagt worden war, ist vermutlich während des Prozesses nicht deutlich geworden.

03 November 2022

Mag mein Näschen nicht in alles stecken

 

Vierter Aufzug

Lessing: Nathan 4. Aufzug

Erster Auftritt

(Szene: in den Kreuzgängen des Klosters.)

Der Klosterbruder und bald darauf der Tempelherr.

Klosterbruder.
Ja, ja! er hat schon recht, der Patriarch!
Es hat mir freilich noch von alledem
Nicht viel gelingen wollen, was er mir
So aufgetragen.-Warum trägt er mir
Auch lauter solche Sachen auf?-Ich mag
Nicht fein seinmag nicht überreden; mag
Mein Näschen nicht in alles stecken;
 mag
Mein Händchen nicht in allem haben.-Bin
Ich darum aus der Welt geschieden, ich
Für mich; um mich für andre mit der Welt
Noch erst recht zu verwickeln?

16 Oktober 2022

Michel Bergmann: Die Teilacher

 Michel Bergmann: Die Teilacher, 2010

Rezensionen bei Perlentaucher

Wikipedia: "2010 brachte er seinen ersten Teil einer Roman-Trilogie unter dem Titel Die Teilacher heraus, der auf humorvolle Art die Nachkriegsgeschichte der Frankfurter Juden thematisiert. Der Roman war ein großer Erfolg und wurde ab 2016 von Sam Garbarski (Irina Palm) als Deutsch-Luxemburgisch-Belgische-Coproduktion verfilmt. 2017 wurde der Film unter dem Titel Es war einmal in Deutschland… auf der Berlinale uraufgeführt."

Zitate:

David Bermann erzählt:

"Naja, und weil es immer wieder zu Beschwerden von Kunden gekommen war, die rumnörgelten, die Preise sind zu hoch, die Bedienung ist schlecht, die Ware ist mies, da  habe ich das Handtuch geworfen, wie man so schön sagt.
Ich habe mich einfach selbst an die Spitze der Vertreterkolonne gesetzt, die für die Firma reiste. Ich wollte nur noch Teilacher sein. Das hat mir gefallen.
Mein Bruder Emanuel hat nur den Kopf geschüttelt, und Isy hat sich aufgeführt: man muss meschugge sein, um Teilacher zu werden!, hat er geschrien.
Na ja, habe ich gesagt, man muss nicht meschugge sein, aber es kann nicht schaden!
Dann sprang er auf: Ich werd dir geben, Teilacher! Er ist hin und her gerannt im Zimmer. Teilacher willst du sein? Den dicken potz spielen, in der Gegend rumkutschieren und mit schickses rummachen! Das willst du!
Ich habe nur gestanden und ruhig an meiner Zigarette gezogen.
Warum nicht? Das ist schlecht?
Du bist doch eine Schande für die Familie, bist du!
Da habe ich gesagt: und du bist a nudnik! Du weißt, was das ist, ein nudnik? Ein nudnik ist einer, den du fragst, na, wie geht’s… und er erzählt es dir! [...]
Glaub mir, es war meine glücklichste Zeit, sagte David und schaute in die Ferne. Ich war jung, verdiente gutes Geld, und jeder Tag war wie ein Fest. Ich konnte mir meine Zeit einteilen, das habe ich gebraucht. Ich glaube, das war immer das Wichtigste in meinem Leben: über meine Zeit verfügen zu können, keiner, der mir Vorschriften macht. Das ist der größte Luxus, den man haben kann im Leben. Eines Tages wirst du dich erinnern, und du wirst sagen, der Onkel David hat viel Quatsch erzählt, aber wo er recht hat, hat er recht. Und was die Zeit betrifft, da hatte er recht.
Und was hast du gemacht in deiner Freizeit?
Was habe ich gemacht? Ja, ich bin oft in den Taunus gefahren und hatte Maria dabei, Maria Nickel, meine heimliche Verlobte.
Was heißt Verlobte? Doch, es war schon ernst damals, wenn ich so zurückdenke wir waren ziemlich verliebt. [...]" (S. 43/44)

"Das jüdische Substantiv "Teilacher" ist der Cousin des jiddischen Berliner Verbs "teilachen" und das heißt. im vulgären Sprachgebrauch so viel wie "abhauen". Seinen Ursprung hat dies wiederum in dem Wort für Hausierer und müsste eigentlich "Teillaacher" geschrieben werden. Es ist ein Pleonasmus und setzt sich zusammen aus dem Begriff "Teil" und dem Wort "Laachod", Einzelhandel. Der Teilacher als Vertreter des Einzelhandels, ist das kleinste spaltbare Teilchen, das / Atom der Kaufmannswelt. Was den Teilacher vom herkömmlichen Handlungsreisenden unterscheidet: der Teilacher ist Jude. Oder er gibt sich als solcher aus. Denn es gab eine Zeit, da konnte das, unglaublich, aber wahr, Vorteile haben. Aber auch Nachteile.

Wer allerdings glaubt, Teilacher wären gern Teilacher, der irrt. Sie mögen ihren Beruf nicht. Mal ehrlich, ist das ein Leben für einen ausgewachsenen, intelligenten Menschen? Nein, die Teilacher der Nachkriegsjahre waren Gestrandete. Sie alle hatten die Idee gehabt, Warenhausbesitzer, Wundergeiger, Architekt, Anwalt oder Arzt zu werden, aber der Führer wusste dieses zu verhindern. So sahen sie ihren Beruf als eine Art von vorübergehendem, schicksalhaftem Ereignis auf dem steinigen Weg zu etwas ganz anderem, etwas Besserem." (S. 105/106)

Die Widersprüche zwischen David Bermanns Aussage (S.33/44) und der seines Neffen Alfred Kleefeld, des Erzählers (S.105/106), brauchen einen nicht zu wundern, denn die Zeiten, wo jüdische Warenhausbesitzer so viel finanzielle Sicherheit ausstrahlten, dass einer ihrer Verwandten es sich leisten konnte, sich seine Arbeit danach auszusuchen, wo er mehr Freizeit hatte, waren seit der Judenverfolgung durch die Nazis vorbei. 

"Bis 1941 sind etwa zwanzigtausend Juden aus Europa nach Shanghai geflohen. Die Stadt war das "Exil der kleinen Leute", und es begann sich rasch eine Infrastruktur zu entwickeln. Es gab die deutschen Viertel "Klein-Berlin" und "Klein-Wien" und viele wohltätige Menschen. Einer davon war Herr Eisen, Emigrant aus Berlin, der das Café Luise in der Bubbling – Well – Road betrieb, das zum Mittelpunkt der Immigrantenszene wurde. Hier arbeitete Emil Verständig in den ersten Monaten nach seiner Ankunft als Kellner.

Mithilfe eines chinesischen Strohmanns übernahm Verständig im Jahre 1940 eine kleine Bar im Stadtteil Hong-kew. Hier war er in seinem Element, hier konnte er seine sarkastischen Witze loswerden, hier hielt er Hof. Die Bar war keine Goldgrube, aber ernährte ihren Mann. Und für Agenten, Spione und Journalisten war der Ort ein idealer Tummelplatz. [...]
Noch war alles ruhig.
Das änderte sich schlagartig, als die Japaner 1941 Shanghai besetzten und es mit den mit ihnen verbündeten Nazis gleichtun wollten. Die Japaner, die zwar keine Antisemiten waren, / aber von Hause aus nicht zimperlich und mit einem hohen Maß an Herrenmenschenideologie behaftet, erließen sogleich strenge "Judengesetze" und erfassten im Lauf der nächsten Monate fast fünfzehntausend illegale Ausländer auf Listen.
Verständig wurde ernst und meinte:
Mit einer Liste fängt es an.
Er sollte Recht behalten.
In Emil Verständigs Bar ging es zu wie in einem Bienenstock: jeder ahnte, wusste, mutmaßte, hörte, vermutete, beschwor, klagte, jammerte, fluchte und rebellierte.
Als sich die Nachricht verbreitete, die Japaner beabsichtigten, ein Getto für die Juden einzurichten, hielten das die meisten für einen miesen Witz.
Verständig aber, hinter seiner Bar, glaubte daran und schaute auf den aufgeregten Hühnerhaufen, der vor ihm stand, und sagte:
Freunde, zuerst Ghetto – am Ende KZ!
Auch hier sollte er sich nicht irren.
Der lange Arm der Gestapo reichte bis nach China. Es gab plötzlich eine Ortsgruppe der NSDAP, es wehte die Hakenkreuzfahne [...] Ende 1942 Gestapo-Offizier Josef Meisinger nach Shanghai, nachdem er erfolgreich das Warschauer Getto liquidiert hatte. Er wollte mit seinen japanischen Verbündeten über Pläne zur Ermordung der Juden sprechen. Angeblich wollte die Gestapo die Schanghaier Juden auf Flöße treiben und auf dem offenen Meer verhungern lassen. Auch über ein KZ mit Verbrennungsöfen bei Shanghai wurde diskutiert. [...]/ Aber Verständlig hatte nicht sein Auge verloren, um blind und hilflos zu werden, und er organisierte eine Art Untergrund. [...] 
Wie von ihm vorausgesagt, bemühten sich die Japaner noch in den letzten Kriegsmonaten auf Anweisung der deutschen Regierung ein Internierungslager außerhalb von Shanghai fertigzustellen, das aber von den chinesischen Partisanen gemeinsam mit jüdischen Saboteuren zerstört werden konnte.
Kurz nach dem Endes des Pazifikkriegs im August 1945 heiratete Verständig seine rumänische Kellnerin Sofia, und das Ehepaar reiste ein Jahr später nach Deutschland, in die Stadt, aus der Verständig verjagt worden war: Frankfurt am Main!

Verständig und seine Frau hausten in einem sogenannten "Verschlepptenlager" im Vorort Rödelheim. Hier hatten die Sieger viele Überlebende untergebracht, aber die Umstände waren nur unwesentlich besser als in einem KZ. Die Verständigs mussten sich einen Raum mit zwei älteren orthodoxen Juden und deren Frauen teilen, die auf eine Ausreise nach Palästina warteten. [...]" (S.140-43)

Verständig und Krautberg beim Verkauf von Wäschepaketen:
"Er suchte mit zusammengekniffenem Auge die Grabsteine ab, las die Namen. Wischte Schnee von Grabplatten, bis er schließlich fand, was er suchte. Es war ein Familiengrab, und unter den Namen Wilhelm Schütz, Dorothea Schütz, geb. Langer, Herbert Schütz, Minna Schütz geb. Schmittchen, stand der entscheidende, frisch eingravierte Satz: In Erinnerung an unseren geliebten Sohn, unter Offizier Heinrich Schütz, geboren 4. März 1921, gefallen am 12. Oktober bei Smolensk
Fabelhaft! Verständig klatschte in die Hände.
"Schütz" stand deutlich auf dem Messingschild an der Tür des schmucken Zweifamilienhauses. Verständig beugte sich zu dem Klingelknopf und drückte einmal kurz. Ein Gong ertönte, und nach ein paar Sekunden öffnete ein älterer, grauhaariger Herr mit Hornbrille die verglaste Haustür mit Spanngardine.
Ja bitte?
Ist das zufällig hier das Haus von  Familie Schütz?, fragte Verständig naiv.
Ja. Ich bin der Herr Schütz, antwortete der Mann misstrauisch.
Prima! Dann bin ich richtig, rief Verständig fröhlich. Ist denn der Heini zu Hause?
Der Mann wurde ernst.
Wenn Sie unseren jüngsten Sohn, also den Heinrich, meinen, der ist tot, der ist in Russland geblieben.
Was? Verständig begann zu straucheln und musste sich am Türrahmen festhalten. Das ist nicht wahr! Der Heinrich? Ich kann es nicht glauben.
Doch. Leider. Es ist wahr. Kannten Sie denn meinen Sohn?
Was heißt kannten? Gut sogar. Ein Kamerad! Wir waren zusammen in… Warten Sie, bei Smolensk war das, glaube ich. Wir haben noch unsere Adressen ausgetauscht.
Ja. Smolensk, Da ist es passiert. Ein Hinterhalt. Partisanen.
Partisanen? Banditen!
Das können sie laut sagen, aber kommen Sie doch rein. Ein Kamerad von Heinrich ist uns immer willkommen.
Gerda! Hier ist ein Herr… Wie war der Name?
Wehrmann! Wie Wehrmacht, mit einem richtigen Mann hinten, ha, ha.
Krautberg saß bereits über dreißig Minuten in dem kalten Wagen. Die Scheiben waren beschlagen. Er musste an das Lager denken, an die endlosen dunklen Winter. Hopp, hopp, raus, raus! Er wischte sich einen Sehschlitz frei und starte auf das erleuchtete Parterrefenster." (S.156-58)

12 Oktober 2022

Wolf von Niebelschütz: Der Blaue Kammerherr

Wolf von Niebelschütz

Am aufschlussreichsten für den potenziellen Leser ist vermutlich das sehr ausführliche Inhaltsverzeichnis, das weiter unten durch 7 Fotos wiedergegeben wird. Es informiert auch über den Stil sowie die Erzählhaltung und die Annäherung an musikalische Kompositionsprinzipien, die die Rezensionen meist ansprechen.

Ich plane, dem auch Stilproben hinzuzufügen.

Nach 20 Jahren wieder entdeckt. Offenbar ein 2. Leseversuch in der Zeit nach meiner Krankheit. Ein Lesezeichen bei S.130.

Ich wunderte mich, dass ich das Taschenbuch (779 S.) damals gelesen habe (noch dazu mit kleiner, für mich jetzt relativ schwer im Bett lesbarer Schrift), als ich weniger Lesezeit hatte als heute. Erinnerte mich daran als an ein Buch aus einer interessanten Welt. 

Jetzt wieder hineingesehen, verwirrend, bei Danae wieder das Gefühl einer sympathischen Person, über die ich mehr lesen will. Aber auch das Bedürfnis, die Erinnerung an das Buch festzuhalten. 

1. Lektüre 2002 (Lektüretagebuch): Bis Seite 274 gelesen, etwas mehr als der erste Band und den Schluss. Auf der Rückfahrt aus Lübeck. Zu wortreich. Das, was mir als Nachahmung von Thomas Mann erscheint, vielleicht aber noch mehr von Hofmannsthal [Danae oder die Vernunftheirat - im Inhaltsverzeichnis vom Autor ausdrücklich als Inspiration genannt] beeinflusst ist, die ausführliche ridikulisierende Schilderung, mir zu penetrant, maniriert. Es erinnert mich in mancher Hinsicht an Hauffs 'Mann im Mond'. Doch für eine Parodie zu ausführlich. Da war der 'Mann im Mond' weit ergötzlicher zu lesen. Auch ist es wohl kaum als Parodie gedacht, da es (entsprechend den stark gedanklichen Passagen am Schluss) die Formalitäten des 18. Jahrhunderts zu ernst nimmt. Offenbar als Entfliehen aus der Wirklichkeit des Dritten Reiches geschrieben. Als Kritik an totalitärer Herrschaft aufgrund der Verspieltheit aber kaum zu lesen. Im wesentlichen wohl mehr nach 1945 entstanden. Dann wohl Ausweichen vor Naturalismus Borcherts, Bölls und der anderen Kahlschlag-Literatur, ohne die moralische Utopie des Glasperlenspiels übernehmen zu wollen. Realitätsflucht aus ästhetischen Gründen?

Zeus Verfolgung. Danaes mit Horrorwelt für das normale Volk als Parodie auf die Anforderung an die Künstler, unbedingt auf die Realität des Dritten Reiches und des Weltkrieges Bezug zu nehmen? Fin du Siecle-Stimmung wie bei Hofmannsthal?

Jedenfalls für mich nicht die Entdeckung, die mir Anfang der siebziger Jahre von der stellvertretenden Schulleiterin Frau Frank und anderen versprochen wurde. 
Ich bin aber ganz zufrieden mit mir, dass ich diese Kenntnis- (nicht Bildungs-) Lücke jetzt geschlossen habe. Ich hatte das Buch für 5 Euro in Lübeck als Lektüre für die Heimfahrt erstanden.

Stilproben:

1. Band 20. Kapitel: 
Zeus setzt die Naturgewalten ein, um Danae dazu zu bringen, seinem Liebeswerben nachzugeben.
Zu diesem Kapitel heißt es in der Inhaltsangabe: "Des Gottes Antwort entbehrt jeder Courtoisie, der Stallmeister verliert die Neven" [...]
"Er sah Menschen dort vorne, ach was! er hörte sie – wie sie schrien! Schreie, dass einem das Blut gefror – Menschen, lebende Fackeln, hingen über den Fensterbrüstungen – verkohlte Leichen, ganz zusammengeschnurrt, lagen vornüber im Schmutz und in der Gosse – auf den Treppen lagen sie, vor ihren Türen lagen sie, aus Dachstühlen wirbelten sie empor, Balken und Latten drehten sich, mit ihnen, brennend durch die Luft, die Luft sauste, heute und der Brandsturm, pfeifend, langte nach weiteren Opfern, Menschen, die hilfreich bemüht waren, zwei Kinder zu retten, ja, er langte nach ihnen, wie sie auch immer sich wehrten, sog sie in seine Lungen, am Boden hin, und sie wehten davon ..
Da wurde dem Stallmeister klar, was sie wollte, die schöne Dame, Endlich begriff er: sie wollte umkommen, hier gab es nicht zu rätseln. Welche Vermessenheit! Und ihn angehend, so änderte das keinen Deut an der Aussicht, dass er Amt und Brot verlor, wenn er sie nicht zurückbrachte." (S. 174)

Was - im Jahre 1949 gelesen - noch wie eine Beschreibung des Hamburger Feuersturms verstanden werden könnte, verwandelt sich in eine groteske Beschreibung: Der Brandsturm "sog sie in seine Lungen, am Boden hin, und sie wehten davon .." Man muss bedenken, hier treten Götter auf. Im 6. Kapitel war Zeus als goldener Regen aufgetreten. Der darüber Berichtende sagt: "ihr näherte sich der alte Galan als Wolke, ich bitte Sie." (S.53) Das Verhalten des Gottes wird als Fauxpas angesehen. Hier ist der Ort für realistische Schilderung längst verlassen. Was der Leser als ein von Zeus herbeigerufenes Naturschauspiel zu erkennen gelernt hat, ist freilich für das einfache Volk noch bitterer Ernst. 
Das Kapitel schließt: 
"Ein ausgehöhlter, von Kummer, Zorn und Hass flackernder Mann, offenbar aus der niedrigsten Ständen, sprang auf das Trittbrett und schrie ihr, verzerrt vom Geiste des Aufruhrs, mitten in die Augen hinein: "Opfere dich, schöne Hure, das Sterben tut dir nicht weher als uns!" Die Heiducken rissen ihn herab, er wurde von den Rädern zermalmt und war tot.
Die Prinzessin ließ nicht anhalten." (S.176)


Inhalt (Tabula operis)

Stilprobe: 24. Kapitel: 
"Wir, Danae", trompetete der Ceremoniar, ungerührt in steinerner Beamtenseele, "Wir, Danae, Francesca, Albertine [...] haben die Gnade gehabt, Uns, um eines allgemeinen Wohles  willen zu einer Antwort zu entschließen, in welcher wir zu bekunden belieben, dass einer nicht näher zu qualificierenden, auf das Formloseste  vorgebrachten Forderung in aller Form Genüge geschehen mag. Gegeben in seiner Majestät Residenz zu Myrrha, gesiegelt und gezeichnet Danae, Prinzessin zu Myrrha, urkundlich contresigniert Alphanios Rex, [...] aber der Ceremoniar war noch nicht am Ende.
"Der Minister des Kgl. Hauses. Ihre Kgl. Majestäten geben unter heutigem Datum die Verlobung ihrer einzigen Tochter, der Prinzessin Danae, Kgl. Hoheit, mit Sr. Kaiserl. Majestät Jupiter Tonans, Chef des ehemals souveränen Hauses der Chroniden, ihren Staaten und Untertanen zu wissen. [...] 
Und nun blieb sie einfach stehen, mitten vor der Statue des Gottes. Sie verweigerte ihm sogar die Reverenz, nickte nur kurz nach der Seite hin, wo der Ceremoniar auf das Zeichen wartete und blickte für eine Sekunde in den Text, den er ihr reichte.
"Angesichts all des Unrechtes", sagte sie und betonte es nicht einmal sehr, aber man verstand es unten bis in das kleinste Wort, [...] "angesichts all des Unrechtes, das sie, mein Herr, über die Welt gebracht haben angesichts Ihrer Macht, die Sie missbrauchen und angesichts des Elendes, der Gewalt, der Unterdrückung und der Finsternis, im Namen meines Volkes: verfügen Sie über das, was an mir sterblich ist."
"Es wird mir ein Vergnügen sein", erklärte die Statue, nur Danae hörte es, und sie zuckte so wenig wie der Marmor, auf dem sich, weil Marmor, kein Muskel gerührt hatte. [...]
Der geneigte Leser wird nun auch an dem Punkt gekommen sein, wo es sich empfiehlt, den Atem anzuhalten. Gesetzt es sei dem Chronisten gelungen trotz hier hin und wieder ein wenig weit getriebenen Skepsis, ihm die mindeste Vorstellung von dem zu vermitteln, was dem Barroco heilig und was ihm wundervoll dünkte, wird er sich noch einmal all die düsteren Umstände vor die Seele rufen: das Erdbeben, die vielen und unterschiedlichen Todesfälle, die in seinem Gefolge leider statthaben mussten; Zerstörung allerorten, Grauen, wohin man blickte; die ausgebrannten Ruinen, dass Verfaulte auf den Feldern; die Bäume von Ruß bedeckt, die Waldstücke voll von Briganten; Mord und Frevel durch die Gehölze schleichend [...] 
Ja, es jubelt sich leicht, wenn der Solist seinen Part geendet hat. Fragt man nach Lust und Necessität? Er tat doch nur, was seines Amtes war. Man zollt ihm Beifall, findet ihn großartig, und es gehört sich so, dass man ihm dankt.
Er aber möchte allein sein
.
Ende des ersten Bandes" (S. 200 - 205)


2. Band 17. Kapitel: "[...] Der Staatssekretär erhob ungeduldig die Schultern. 
Eine Brise fuhr über See, weiße Schaumkronen wurden auf das Blau der Wellen getuscht, die einen Augenblick aussahen, als frören sie, denn eine Wolke glitt über den Himmel, und das goldene Linienschiff rauschte mit mächtigerem Wind an der Insel Theodosia vorüber in den Sund, wo nun Escarpe  und Contraescarpedie Batterien sprechen ließen. Und wieder feuerte die Flotte eine Breitseite in den Aether hinauf, das Volk aber, militärfromm und königstreu, jauchzte dazu, und es war ein herrlicher Tumult.
"Man wird mir nicht zumuten wollen", sagte der König, "dass ich schiefe Situationen eingehe. Schließlich bin ich der Brautvater und habe die Priorität vor dem Bräutigam – von der Anciennität meiner Krone ganz zu schweigen."
"Majestät werden, erwiderte der Staatssekretär mit der furchtbaren Beharrlichkeit der Beamten, "die Majestät des Herrn Bräutigams doch auf die eine oder andere Weise begrüßen wollen?"
"Auf jede andere Weise gern, nicht auf diese, entgegnete der Monarch gereizt. [...]" (S. 350)

4. Band Die Bürgerin Valente, 
Kapitel 63-66
Danae versucht ihrer Rolle als Kronprinzessin zu entgehen, indem sie ins Kloster Gelmion geht. Dort aber trifft sie auf eine Orgie der Gewalt. Eine Meuterei ist ausgeartet. 
Das schildert von Nebelschütz weniger in Handlung als in Bildern, die den Kriegsgräueln des 30-jährigen Krieges und Märtyrerlegenden entlehnt sind. Der Stil schlägt dabei vom Rokokohaften ins Barocke um. Der Erzähler entschuldigt In moderner Weise und eher rokokohaft im Stil.
Danae wird beim Versuch einer Revolution zur "Bürgerin Valente". 
Kapitel 70-73 (S.624-660)
Im Traum erlebt Danae die Herrschaftsbereiche von Jupiter (jovial), Neptun (poseidonisch) und Pluto (plutonisch). Opulente Bilder, die ohnehin phantastische Welt des Buches verwandelt sich in eine Traumwelt, die kaum Beziehung auf die übrige Handlung hat.
Kapitel 74-77 (S.661-688)
Danae wird Gefangene eines Finanzhais, der sie wieder als Königin einsetzen will, weil er sich mit den Revolutionären, denen er sich angedient hat, nicht mehr recht versteht. Es sei ihm egal, durch wen er mit seinem Geld regiert. Danae weigert sich, besteht auf absoluter Herrschaft. Befreit wird sie durch den roten Dominik, dem Staatssekretär Merziphon, der sich durch zügellose Gewalt als Revolutionsgeneral hervorgetan hat, aber in Wirklichkeit Danae dafür gewinnen will, mit Hilfe von Brieftauben Befehle an die königliche Armee zu senden, in der er auf dem Schlachtfeld kämpft. Dafür hat er ihr zuvor seinen Schlachtenplan erläutert.
Danae reitet, nachdem Merziphon gefallen ist, mit Bauern des Grafen Auffenbühl und Merziphons Sohn Deodat selbst in die Schlacht. Als Deodat den Revolutionsgeneral Bandra gefangen genommen hat, sagt sie zu ihm: "Nur ruhig, Deodat, ruhig, ruhih, wir wollen Menschen bleiben, .. Nicht wahr." (S.698)

Wikipedia: 

Der Blaue Kammerherr ist ein historischer Roman von Wolf von Niebelschütz, erschienen 1949.

Handlung

Der Roman spielt zu großen Teilen auf der Mittelmeerinsel Myrrha im Jahr 1732. König Alphanios ist das Opfer intriganter Minister und Finanzleute und sein Reich geht langsam, aber sicher dem Bankrott entgegen. Die Regierungsgeschäfte sind unentwirrbar verfahren, und die Großreiche Venedig und Konstantinopel beziehungsweise die ägäischen Nachbarstaaten bemühen sich eifrig, das Königtum zu annektieren. Dazu umwerben sie die Thronfolgerin, die kluge und selbständige Prinzessin Danae, den Liebling des Volkes. Die entzieht sich jedoch dem höfischen Zeremoniell und versucht allen Intrigen zu begegnen, um ihrem Land zu helfen. Schließlich weist sie sogar Göttervater Zeus zurück, der ihr als angeblicher „Kammerherr“ seine Avancen macht. Dies hat für Myrrha verheerende Folgen.

Mit unvergleichlicher Gewandtheit verbindet Niebelschütz die Mythologie der Antike mit der Galanterie des christlichen Rokokos und spannt mit einem bunten Figurenreigen aus Sagenwelt, Religion, Literatur- und Menschheitsgeschichte spielerisch den Bogen durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart. Niebelschütz' gewaltige Mittelmeersaga ist zugleich ein Lehrstück der Staatskunst und Gesellschaftskunde, eine Schelmengroteske von hintergründigem Humor und stilistischer Opulenz sowie ein psychologisch eindringliches Zeitgemälde, das von menschlicher Größe, Selbstbeherrschung und Leidenschaften erzählt.

Ausgaben

  • Der Blaue Kammerherr. Galanter Roman in vier Bänden. Frankfurt a. M. 1949 (4 Bücher in 2 Bänden) Neuausgaben 1972 und 1980.

Weblinks

Literatur



Perlentaucher

KLAPPENTEXT

Das Inselreich Myrrha im Jahr 1732. König Alphanios ist das Opfer intriganter Minister und Finanzleute. Die Regierungsgeschäfte sind unentwirrbar verfahren, und die Großreiche Venedig und Konstantinopel bemühen sich eifrig, das Königtum zu annektieren. Dazu umwerben sie die Thronfolgerin, die kluge und selbständige Prinzessin Danae, den Liebling des Volkes. Die entzieht sich jedoch dem höfischen Zeremoniell und versucht allen Intrigen zu begegnen, um ihrem Land zu helfen. Niebelschütz greift mit diesem Roman auf die Gattung der galanten Dichtung des Rokoko zurück. Er bedient sich des Stils der Epoche und legt sein Epos ganz nebenbei noch nach den traditionellen Kompositionsprinzipien der klassischen Musik an.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 12.12.2011

So problematisch er die Entstehungskonstellation dieses Romans des früh Verstorbenen Wolf von Niebelschütz auch findet - das Buch entstand, für den Rezensenten Inbild des Eskapismus, während in Deutschland und Frankreich die Nazis wüteten -, so gut kann sich Jens Malte Fischer den Text als utopisches Stück Literatur vorstellen, als Versuch des Autors, den eigenen, für Fischer im besten Sinn retrospektiven Geist ins Überzeitliche zu heben. So gesehen fängt der über ein Fragment von Hugo von Hofmannsthal mit Lust zum barocken Spiel aufgetürmte Roman für Fischer dann an zu leuchten. Otello, Zeus, ein gewisser Don Giovanni, Venedig, der Zutaten sind zu viele, als dass er sie alle aufzählen könnte. Aber außer einer mythisierenden, humorvollen Märchenoper entdeckt Fischer bei Niebelschütz auch die Verarbeitung der Gräuel des Dritten Reichs. Etwas muss sein an diesem Buch, davon ist er überzeugt.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 17.07.2010

Das gab es also auch, meint Rezensent Tobias Schwartz leicht ratlos nach Lektüre zweier Romane von Wolf von Niebelschütz: "Der blaue Kammerherr" und "Die Kinder der Finsternis". Niebelschütz gehört zur Altersgruppe von Stefan Heym, Max Frisch, Arno Schmidt und Alfred Andersch, so Schwartz, aber geschrieben hat er ganz anders. So ist "Der blaue Kammerherr" ein "galanter Roman", der im Stil des Rokoko verfasst ist. Ziemlich maniriert findet das unser Rezensent. Auch findet er, wenngleich in eleganter Sprache verfasst, "reaktionäre staatstheoretische Abwägungen". Alles in allem ist ihm nicht ganz klar, warum diese Romane noch einmal aufgelegt wurden.

Die Zeit, 07.12.2000

Ralf Vollmann macht auf einen Schriftsteller aufmerksam, dessen Bücher jetzt wiederzuentdecken sind. Bücher? Wälzer. Fast tausend Seiten lang ist der "Der blaue Kammerherr", so Vollmann, den der Autor im Jahr 1949 herausgebracht hat und damals recht erfolgreich war. Ein "politisch-utopischer Roman", behauptet Vollmann, und zugleich eine "Apotheose des Barock", in der die Vorzüge der Jugend, der Schönheit, der politischen Vernunft gepriesen würden. Der Roman strotze zwar anfangs vor Manierismen - Vollmann fallen dabei Thomas Manns Joseph-Romane als Vorlage ein -, dennoch habe das Buch ganz großartige Passagen, sobald sich der Autor freigeschrieben habe.
Noch begeisterter zeigt sich Vollmann von dem zehn Jahre später erschienenen Roman "Die Kinder der Finsternis", ebenfalls einen geschichtlichen Stoff abhandelnd, diesmal im 12. Jahrhundert in der Provence angesiedelt, einem wilden und frei imaginierten Land, in dem alles und alle Phantasienamen tragen. Besonders angetan hat es Vollmann eine Stelle, die Niebelschütz` Witwe Ilse in ihrem Nachwort weiterspinnt: wie der Schriftsteller dort unten einmal eine geheimnisvolle Teilung des Wassers gesehen haben will. Diesem Geheimnis möchte Vollmann auf den Grund gehen.

Spoiler - Deutung
Der Anfang des 1. Kapitel des 2. Buches, S.209, kann als Parodie auf die Duschszene von Goethe in Th. Manns "Lotte in Weimar" gelesen werden. 
Das 11. Kapitel des 2. Buches als Parodie auf das Gespräch zwischen Teufel und Adrian in "Doktor Faustus" gelesen werden, natürlich als sehr spielerische, verharmlosende. Der war 1947 auf Deutsch in Europa erschienen. Dass der blaue Kammerherr, Reichsgraf zu Weißenstein, für den Olympier steht, habe ich sicher bei der Erstlektüre verstanden. Damals habe ich aber mit großer Wahrscheinlichkeit das 11. Kapitel noch nicht gelesen. 

Sieh auch:

Die Kinder der Finsternis1959 bei Diederichs? in Düsseldorf erschienen, ist Wolf von Niebelschütz' zweiter Roman. Er ist zwölften Jahrhundert angesiedelt und gilt als das dunkle Gegenstück des ersten. Wieder spielt das Buch in einem erfundenen Reich, das einer realen Region nachgebildet ist: in der mauretanischen Mark Kelgurien, die provenzalische Züge trägt.

Protagonist ist der Schäferjunge Barral, der als Einziger das Massaker eines moslemischen Heeres in seinem Heimatdorf überlebt. Von da an beginnt er um Macht und Einfluss zu kämpfen, steigt zum Grafen, zum Herzog und sogar zum Freund des Kaisers auf. Sogar die Liebe der schönen Markgrafentochter Judith gewinnt er. Doch je größer sein Erfolg, desto schwieriger fällt es ihm, sich selbst und seinen Idealen treu zu bleiben ...

Kriege und Seuchen, Inquisitionsprozesse, Turniere, Hungersnöte und eine mitunter jähzornige Lebensfreude - das sind die Zutaten, die Wolf von Niebelschütz in diesem Werk verarbeitet. Es gilt längst als Klassiker. Geradezu trunken, so jubelten die Kritiker, erlebe man als Leser diese wilde Zeit.

(Bücher-Wiki)