30 April 2023

Lieblingsgedichte der Deutschen

 Piper Verlag

Die Lieblingsgedichte der Deutschen nach einer Hörerumfrage des Westdeutschen Rundfunks aus dem Jahr 2000. Natürlich sind es nur die Lieblingsgedichte der Hörer, die bei dieser Umfrage mitgemacht haben, also die von literarisch Interessierten, die Gedichte mögen.

Bob Dylan-Fans werden dabei nicht in großem Umfang teilgenommen haben.

Naheliegenderweise ist Erich Kästners Berlin in Zahlen* nicht dabei, obwohl ich es dem einen oder anderen der unten genannten vorziehen würe.

1. Hermann Hesse: Stufen 

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
 Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, 
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend 
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. 
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe 
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, 
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern 
In andre, neue Bindungen zu geben. 
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, 
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. 

 Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, 
An keinem wie an einer Heimat hängen, 
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, 
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten. 
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise 
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen; 
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, 
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

 Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde 
Uns neuen Räumen jung entgegen senden, 
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden, 
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

2. Joseph von Eichendorff: Mondnacht
3. Rainer Maria Rilke: Herbsttag
4. Theodor Fontane: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland
5. Rainer Maria Rilke: Der Panther
6. Friedrich Schiller: Die Bürgschaft
7. Erich Fried: Was es ist
8. Eduard Mörike: Er ist's
9. Conrad Ferdinand Meyer: Der römische Brunnen
10. Johann Wolfgang Goethe: Der Zauberlehrling
11. Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens
12. Rainer Maria Rilke: Herbst
13. Matthias Claudius: Abendlied
14. Johann Wolfgang Goethe: An den Mond
15. Johann Wolfgang Goethe: Erlkönig
16. Paul Celan: Todesfuge
17. Joseph von Eichendorff: Wünschelrute
18. Erich Kästner: Der Mai
19. Johann Wolfgang Goethe: Wandrers Nachtlied II
20. Eduard Mörike: Um Mitternacht
21. Johann Wolfgang Goethe: Prometheus
22. Friedrich Hebbel: Herbstbild
23. Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke
24. Otto Ernst: Nis Randers
25. Theodor Fontane: John Maynard
26. Hermann Hesse: Im Nebel
27. Ludwig Uhland: Frühlingsglaube
28. Johann Wolfgang Goethe: Gesang der Geister über den Wassern
29. Theodor Storm: Abseits
30. Hans Carossa: Der alte Brunnen
31. Rainer Maria Rilke: Ich lebe mein Leben
32. Wilhelm Lehmann: Atemholen
33. Joachim Ringelnatz: Die Ameisen
34. Erich Kästner: Sachliche Romanze
35. Anonym: Du bist mîn, ich bin dîn
36. Heinz Erhardt: Die Made
37. Jakob van Hoddis: Weltende
38. Ina Seidel: Trost
39. Gottfried Benn: Nur zwei Dinge
40. Berthold Brecht: Erinnerung an die Marie A.
41. Hilde Domin: Nicht müde werden
42. Annette von Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor
43. Joseph von Eichendorff: Sehnsucht
44. Paul Fleming: An sich
45. Johann Wolfgang Goethe: Gefunden
46. Johann Wolfgang Goethe: Mailied
47. Hugo von Hofmannsthal: Vorfrühling
48. Hugo von Hofmannsthal: Die Beiden
49. Eduard Mörike: Im Frühling
50. Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit
51. Berthold Brecht: An die Nachgeborenen
52. Wilhelm Busch: Selbstkritik
53. Annette von Droste Hülshoff: Am Turme
54. Marie von Ebner-Eschenbach: Ein kleines Lied
55. Andreas Gryphius: Betrachtung der Zeit
56. Kurt Tucholsky: Augen in der Groß-Stadt
57. Eduard Mörike: Gebet
58. August von Platen: Das Grab im Busento
59. Rainer Maria Rilke: Liebes-Lied
60. Joachim Ringelnatz: Ich hab dich so liebe
61. Ludwig Uhland: Des Sängers Fluch
62. Dietrich Bonhoeffer: Von guten Mächten wunderbar geborgen
63. Wilhelm Busch: Ein dicker Sack
64. Adelbert von Chassimo: Das Riesen-Spielzeug
65. Johann Wolfgang Goethe: Willkommen und Abschied
66. Friedrich Hebbel: Sommerbild
67. Johann Gottfried Herder: Ein Traum
68. Else Lasker-Schüler: Ein alter Tibetteppich
69. Christian Morgenstern: Das ästhetische Wiesel
70. Rainer Maria Rilke: Blaue Hortensie
71. Joachim Ringelnatz: Im Park
72. Gottfried Benn: Astern
73. Eduard Mörike: Septembermorgen
74. Anonym: Dunkel war's, der Mond schien helle
75. Gottfried Benn: Reisen
76. Berthold Brecht: Die Liebenden
77. Matthias Claudius: Die Sternseherin Lise
78. Hilde Domin: Nur eine Rose als Stütze
79. Johann Wolfgang Goethe: Mignon
80. Johann Wolfgang Goethe: Wanders Lied I
81. Heinrich Heiner: Ein Jüngling liebt ein Mädchen
82. Heinrich Heine: Das Fräulein stand am Meere
83. Heinrich Heine: Im wunderschönen Monat Mai
84. Heinrich Heine: Leise zieht durch mein Gemüt
85. Herrmann Hesse: Beim Schlafengehen
86. Mascha Kaléko: Sozusagen grundlos vergnügt
87. Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier
88. Christian Morgenstern: Der Lattenzaun
89. Börries von Münchhausen: Lederhosen-Saga
90. Rainer Maria Rilke: Advent
91. Joachim Ringelnatz: Arm Kräutchen
92. Eugen Roth: Ein Mensch
93. Gustav Schwab: Das Gewitter
94. Kurt Schwitters: An Anna Blume
95. Georg Trakl: Verklärter Herbst
96. Kurt Tucholsky: Ideal und Wirklichkeit
97. Walther von der Vogelweide: Ich saz ûf eime steine
98. Theodor Fontane: Die Brücke am Tay
99. Rose Ausländer: Nicht fertig werden
100. Joachim Ringelnatz: Überall
*Erich Kästner (1899-1974)

Berlin in Zahlen [1931]

Laßt uns Berlin statistisch erfassen!
Berlin ist eine ausführliche Stadt,
die 190 Krankenkassen
und 916 ha Friedhöfe hat.

53 000 Berliner sterben im Jahr,
und nur 43 000 kommen zur Welt.
Die Differenz bringt der Stadt aber keine Gefahr,
weil sie 60 000 Berliner durch Zuzug erhält.
Hurra!

Berlin besitzt ziemlich 900 Brücken
und verbraucht an Fleisch 303 000 000 Kilogramm.
Berlin hat pro Jahr rund 40 Morde, die glücken.
Und seine breiteste Straße heißt Kurfürstendamm.

Berlin hat jährlich 27 600 Unfälle.
Und 57 600 Bewohner verlassen Kirche und Glauben.
Berlin hat 606 Konkurse, reelle und unreelle,
und 700 000 Hühner, Gänse und Tauben.


Berlin hat jährlich 27 600 Unfälle.
Und 57 600 Bewohner verlassen Kirche und Glauben.
Berlin hat 606 Konkurse, reelle und unreelle,
und 700 000 Hühner, Gänse und Tauben.
Halleluja!


Berlin hat 20 100 Schank- und Gaststätten,
6300 Ärzte und 8400 Damenschneider
und 117 000 Familien, die gern eine Wohnung hätten.
Aber sie haben keine. Leider.

Ob sich das Lesen solcher Zahlen auch lohnt?
Oder ob sie nicht aufschlußreich sind und nur scheinen?
Berlin wird von 4 500 000 Menschen bewohnt
Und nur, laut Statistik, von 32 600 Schweinen.
Wie meinen?

(zitiert nach: Berlin. 100 Gedichte aus 100 Jahren Aufbau Verlag 1987)


Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur

JAN PHILIPP Reemtsma: Biografie: Wie Wieland in Thüringen die

 moderne deutsche Literatur erfand von Ulrich Rüdenauer, MDR KULTUR

Jan Philipp Reemtsma erzählt die Geschichte von Wielands Leben chronologisch – von den Kindheitstagen in Biberach bis zum Tod 1813 in Oßmannstedt. Er folgt Wieland durch die Zeit, erzählt von prägenden Begegnungen, etwa mit seiner Cousine Sophie La Roche.

Rezensionen bei Perlentaucher

Hinweis: 

Nadi und Nadine   Adis und Dahy (Feenmärchen)

Wieland: Don Silvio Teil 1  Teil 2 (Roman)

Agathon (Roman)

Der goldene Spiegel (Roman) (Auszüge hier im Blog)

Die Abderiten (Roman)

Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (Roman) (Text)

Aristipp (Auszüge hier im Blog)


23 April 2023

Franz Werfel: Der veruntreute Himmel

 Franz Werfel: Der veruntreute Himmel 

Text bei gutenberg

Film bei Wikipedia

"[...] Die Argans waren Teta Lineks siebenter und letzter Posten. Das beweist, daß sie in ihrer fünfundfünfzigjährigen Dienstzeit nur ganz selten ihren Arbeitsort wechseln mußte und trotz der von Livia angedeuteten Untugenden sich die dauerhafteste Zufriedenheit ihrer Brotherren von Anfang an erwarb. Sie kam, wie so viele ihresgleichen, als fünfzehnjähriges Bauernmädel aus dem mährischen Lande in die Residenz der damaligen Monarchie. Ihr Geburtsdorf hieß Hustopec. Den Aufstieg vom Abwaschmädel zur »perfekten Köchin« und dann zur Diva ihrer Kunst hatte Teta außer ihrer Begabung verschiedenen Eigenschaften zu danken, die bei den strengen Hausgebieterinnen hoch in Gunst standen. Sie schmuggelte niemals Männer ins Haus, uniformierte Männer gar, auch in ihrer blühenden Jugend nicht. Sie kam niemals wie andere Dienstmädchen von ihren Ausgängen nach Mitternacht heim, in verwahrlostem Zustand, mit zerzausten Haaren, ein unordentliches Lachen auf den betrunkenen Zügen. Sie verzichtete zumeist auf diesen ihr allwöchentlich gebührenden Ausgang und verbrachte den Sonntag in ihrem Kämmerlein, immer zu Diensten stehend. Daß sie täglich um sechs Uhr zur Morgenmesse ging, störte keineswegs die Hausordnung, sondern brachte Teta schon sehr früh in den vertrauenerweckenden Ruf frommer Würdigkeit. Auch wurde sie nur ziemlich selten von Angehörigen heimgesucht. Davon gab es in der Hauptstadt eine ansehnliche Menge, die erst durch die Macht der Jahre auf zwei Frauenspersonen herabgemindert wurde, die beiden Schwestern Tetas. Sie aber besaß nur sehr wenig Familiensinn. Auch lag der Dienerin eine seltsam strenge Auffassung ihres Berufes seit Generationen im Blute. Sie empfand Familienbesuch im Hause der gnä' Herrschaft als ungehörig und der guten Sitte widersprechend.

Damals – sie hatte bereits ihr vierzigstes Jahr erreicht – war sie bei dem Herrn Sektionsrat im Unterrichtsministerium Slabatnigg in Dienst. Eines Sonntags im Juli, die Herrschaft war glücklicherweise ausgegangen, erschien ein ländlich gekleidetes Weib bei ihr, das einen zehnjährigen Jungen an der Hand führte. Sie erkannte nicht sofort die Witwe ihres jüngst verstorbenen Bruders Mojmir Linek. Kein Wunder, hatte sie doch diese Frau nur zweimal im Leben gesehen. Dem Bruder Mojmir wahrte Teta keine sehr achtungsvolle Erinnerung. Er war niemals über Hustopec hinausgekommen, hatte dort sicherem Vernehmen nach den ererbten Hof vertrunken und sich schließlich als gemiedener Ortsalkoholiker mit irgendwelcher Flickschusterei bis zum verdienten frühen Ende fortgebracht. Ohne Wohlwollen betrachtete die Tante den kleinen Neffen, der Mojmir hieß wie sein Vater und sie aus eigentümlich verschwollenen Schlitzaugen eindringlich abschätzte.

»Es ist ein Elend«, jammerte die Witwe, »mein Alter hat immer gewollt, daß aus dem Mojmir da was wird, ein Herr Doktor oder so, denn gescheit ist dir das Bübchen und zu gut fürs Land, und es war sein letzter Wunsch, der Arme, Gott verzeih' ihm, und du bist doch die Schwester und ledig und hast gute Stellungen und Ersparnisse ...«

»Woher weißt du, daß ich Ersparnisse hab'?« fuhr Teta auf. »Ich hab' keine Ersparnisse, mit Erlaubnis ...«

Die Mutter aber schob den Knaben vor, drückte mit der Hand sein bäurisch widerstrebendes Scheitelhaar nieder und nestelte erregt an seinem Feiergewand herum:

»Schau dir doch nur das Bübchen an, Schwägerin, den Sohn deines einzigen Bruders. – Was soll ich tun, daß der letzte Wunsch vom Seligen in Erfüllung geht? – Der Herr Lehrer sagt, so einen wie den Mojmir da gibt's in der ganzen Schul' nicht zweimal – er kann dir alles auswendig. – Steh grad, Bub, und sag dem Tantchen etwas auf.« [...]

Doch wie man's auch nimmt, das Leben war, was es ist. Vor allem war's aber gar nicht das eigentliche Leben, sondern nur eine sonderbare Unterbrechung, eine Art Ausflug oder Urlaub, in den man zu unbekanntem Zweck gesandt wurde. Das lehrten die geweihten Männer, die hoch über allen anderen Menschen standen und die es daher wissen mußten. Das eigentliche Leben begann nachher.

Für dieses wahre Leben nun galt es klug vorzusorgen, denn was bedeuteten siebzig immer kürzere Jahre gegen den dauernden und unkündbaren Posten, den der Mensch anzutreten hatte, wenn es soweit war? In die Ewigkeit nämlich konnte man vom Urlaub nicht ohne weiters heimkehren, so, als sei nichts Wichtiges vorgefallen. Gewisse Hindernisse stellten sich dieser Heimkehr in den Weg. Die drei Aufenthaltsorte drüben standen der Wahl des Heimkehrenden nicht frei. Von dem untersten, dem feuerpeinlichen, schützte in hohem Grade Beicht und Buße und Kommunion. Teta wußte genau, daß sie keine schneeweiße Seele habe und alle Tage unverbesserlich ihre Köchinnensünden begehe. Doch sie empfing fleißig die heiligen Gnadenmittel, die sie zeitweilig von den unerbittlichen Folgen lossprachen, und hoffte fest, daß sie nicht für so schlecht erkannt sei, daß der Tod ihr werde in unabsolviertem Zustand auflauern dürfen. Immerhin! Etwas ganz Bestimmtes konnte man nicht wissen und mußte sich daher vorsehen jederzeit. – Was den mittleren Ort, das Fegfeuer, betrifft, so war es klar, daß keine arme Seele dieser vermutlich sehr unbehaglichen Reinigungsstätte entgehen konnte. Teta besaß darüber traumhafte, aber doch ziemlich ausgebildete Vorstellungen. Eine ungeheure Badeanstalt mochte sich an jenem Orte befinden, wo anstatt des Wassers hellblau flüssiges Feuer wie von Weingeist in die Wannen läuft und aus den Duschen sprüht, wobei die betroffenen Seelen mächtige elektrische Bürsten ausgiebig zu spüren bekommen. Der Gedanke an diese unumgängliche Notwendigkeit war ihr durchaus nicht erwünscht, aber Wirksames ließ sich dagegen nicht unternehmen, und schließlich war die Reinigung der Seelen zeitbegrenzt und setzte deren ungehinderten Aufstieg in die dritte, einzig erstrebenswerte Wohnstätte voraus. Denn nur um den Himmel dort oben ging es. Ihn mußte man, solange es noch Zeit war, hier unten verdienen und den endgültigen Sitz gegen alle Gefahren sichern. Was aber war dieser Himmel, an dessen Blau man sich tagsüber freute und dessen Sternenmantel man nachts mit einer heimlichen Furcht betrachtete? Der Mensch besitzt, seiner düsteren Veranlagung gemäß, weit mehr Vorstellungsgabe für das Grausige als für das Wonnige. Bekanntlich ist Dantes Hölle viel plastischer geraten als sein Paradies. Auch Teta hatte von dem seligen Wohnort in der blauen Höhe, um den sie mit kluger Umsicht bemüht war, nur ein sehr unbestimmtes Bild. Am ehesten noch dachte sie an eine schwebende, licht gebaute Großstadt mit einer unermeßlichen Anzahl hübscher Pensionen mitten in weiten Gartenanlagen, wo jede Seele ein klösterliches, aber komfortables Zimmerchen besaß, in dem man sich des nunmehr unverwundbaren Daseins freuen durfte. Alle Verstorbenen ihrer Art waren somit Pensionäre Gottes, die weder an Erwerb denken noch Miete bezahlen mußten. Ob im Himmel immer nur Sonntag herrschte oder ob dort wegen des Zeitvertreibs auch eine Werkwoche eingeführt war, das blieb dahingestellt. Die Hauptsache aber, um die es ging: Das liebe Ich war dort für alle Ewigkeit gerettet. Teta, wie sie leibte und lebte, die vollzählige, die vollinhaltliche Teta ohne den geringsten Abstrich, die leiseste Änderung, Teta, wie sie an sich selbst gewöhnt war von Kind auf, sie würde drüben aufgehoben sein, ohne befürchten zu müssen, auch nur die kleinste Kleinigkeit ihres Wesens zu verlieren. So besehen, büßte der irdische Tod, der ja nur das unterbrochene eigentliche Leben wiederherstellte, all seine Schrecken ein.

Freilich, dieses himmlische Ziel sich auf Erden zu verdienen, das konnte nur einem Schwachkopf leicht erscheinen. Eine mißtrauische und berechnende Seele war sich der unaufhörlich vom Bösen Feind entsandten Gefahren bewußt, die sie ins Verderben zu reißen suchten. Wie aber diesen Gefahren begegnen? Da gab es vor allem als bestes Hilfsmittel die pünktliche Erfüllung der religiösen Pflichten, die man womöglich noch um freiwillige Lasten vermehrte. Gut! Diese Pflichten gingen in Fleisch und Blut über mit der Zeit. Daß sie dies aber taten und im Lauf der Jahre, anstatt ein Opfer zu bedeuten, sich in eine unentbehrliche Gewohnheit, ja zu einer stetigen Freudigkeit entwickelten, das verminderte in den Augen eines skrupelhaften Gewissens den Wert ihres Verdienstes. Es standen daher noch die sogenannten »guten Werke« als Hilfsmittel des Heils zur Verfügung. Mit diesen guten Werken aber war es schlimm bestellt. Zum ersten: Die Gelegenheit, solche zu vollbringen, zeigte sich äußerst selten. Und zweitens: Bot sich einmal diese seltene Gelegenheit, so versagte zumeist das schwache Fleisch. Welchen Kraftverbrauch kostete es schon, eine Sünde nicht zu begehen, der Hausfrau zum Beispiel die frischen Erdbeeren zum richtigen Marktpreis anzurechnen, ohne ein paar Groschen aufzuschlagen? Dieses negative Exempel beweist schon, was für unerschwinglichen Aufwand eine echte, aktive, gute Tat voraussetzt. Da muß der Verstand sich verdunkeln, das Herz überlaufen und gegen den eigenen stets aufbegehrenden Vorteil handeln. Die alte Jungfrau konnte ihre guten Taten an den Fingern einer Hand abzählen. Sie genügten nicht. Nein, um sich des Himmels gegen die unaufhörliche Gefährdung zu versichern, galt es, einen radikaleren, einen praktischeren Weg einzuschlagen. Hatte nicht der Herrgott selbst einen Mittler herabgesandt, um den Menschen, die sich mit den vielen Sünden und den wenigen guten Taten abplagten, zu Hilfe zu kommen? Konnte man diesem großen Beispiel nicht folgen und sich durch einen privaten Mittler im Himmel gewissermaßen einkaufen?

Diesen Einfall hatte Teta freilich nicht den obigen Worten gemäß, doch sie hatte ihn der Sache nach, als sie das leere Bubengesicht Mojmir Lineks musterte. (War's übrigens so leer, dieses Gesicht? Hatte nicht aus den verschwollenen Schlitzaugen Verständigkeit und allerlei Wissen gefunkelt? Und die Stimme war hell und schallend und zu beschwörender Rede wohl geeignet.) Teta beschloß: Dieser Neffe soll mein Mittler werden, damit mir der Himmel nicht verlorengehe. Sie wollte all ihre Ersparnisse dreingeben und knapsen und knausern noch mehr als bislang, um ihn zu nähren und zu kleiden, um für das Studium aufzukommen bis zum Tag seiner Primiz. Das war ein frommes Werk und eine gute Tat in einem. Zu guter Letzt aber hoffte sie, in Mojmir einen ihr persönlich zugeteilten Priester zu besitzen, der in unermeßlicher Dankbarkeit und Treue bis zu seinem eigenen späten Hinscheiden für sie lesen werde zahllose hl. Seelenmessen, diese Aufrichtung und köstliche Labe der Toten, solange sie ihren endgültigen Wohnsitz noch nicht bezogen haben. Damit aber würde auch das bittere Schicksal aller alten Junggesellen und Jungfrauen für sie abgewendet sein: die heillose Vergessenheit und Verlassenheit nach dem Absterben.

Unverzüglich ging Teta mit der ihr eigenen zielbewußten Zähigkeit an die Verwirklichung des großen Lebensplanes, der ihre bescheidene Person bis über den Jüngsten Tag hinaus vor der Vernichtung bewahren und ohne Abbruch in der ihr gewohnten Form verewigen sollte. Von Stunde an kaufte sie ihre Gewänder und den dazugehörigen Stoff nicht mehr selbst, sondern kleidete sich aus den Weihnachtsgeschenken und aus der altersmürben Garderobe ihrer Gebieterinnen, denen sie dies und jenes abzubetteln verstand. Oft saß sie bis in die Nacht auf, um mit ihren eigenen Händen diese Kleidungsstücke für sich umzuschneidern. Sie verzichtete auf die kleinen Vergnügungen und Erleichterungen des Lebens, als da sind ein Bierchen oder ein Schnäpschen nach der Morgenmesse und die Benützung der Trambahn, um auf den Markt zu fahren. Kein Bettler und kein Leiermann erhielt mehr sein in Papier gewickeltes Kupferstück in den Hof hinabgeworfen wie früher, er mochte selbst ihre Lieblingsstücke singen und dudeln, solange er wollte. Teta brachte es zustande, keinen Heller auszugeben. Die nichtigsten Gegenstände bekamen einen aufgeblähten Wert für sie. Jeder Fetzen und jeder Faden wurde aufgehoben, und sie mußte mit sich kämpfen, bevor sie eine leere Schachtel oder Blechdose fortwarf. Mit der umsichtigen Findigkeit eines zünftigen Räubers ließ sie vom Tisch der Herrschaft einen erklecklichen Anteil verschwinden und verstaute ihn in ihrem Kasten oder unterm Bett. Die haltbaren Speisen sandte sie wohlverpackt nach Olmütz. Ihr künftiger Vertreter vor dem Thron des Höchsten sollte wohlgenährt sein und stark, wie es sich geziemte. (Das Porto der Post aber zählte nicht zu den Unkosten ihres hiesigen, sondern ihres jenseitigen Lebens.) Die leicht verderblichen Speisen, die sie selbst nicht bezwingen konnte, verschimmelten im Versteck. Teta kam schnell in den Ruf eines beispiellosen Geizes und einer wüsten Raffgier. Mit Unrecht. Die Verwandlung eines armen Proleten oder Bauernjungen in einen studierten Herrn kostet unglaublich viel Geld, selbst wenn der Staat den Kandidaten vom Schulgeld befreit und ihn in einem Internat notdürftig verköstigt. Am Ersten jedes Monats mußte Teta mindestens vierzig alte gute Goldkronen bereitstellen. Wenn man bedenkt, daß zu dieser Zeit ihr Lohn aus fünfzig oder höchstens sechzig solcher Kronen bestand, wird man ihren Geiz ganz anders beurteilen. Dazu kam noch, daß der Neffe Mojmir neun Jahre brauchte, um die acht Klassen des Gymnasiums zu vollenden. Die vierte mußte er wegen völligen Versagens in mehreren Fächern und wegen einer bedenklichen Sittennote wiederholen. Er war nach Vorschrift der Schulordnung in hochnotpeinlicher Gefahr, seinen Freiplatz zu verlieren, und nur der Intervention des guten Hofrates Slabatnigg gelang es, Tetas Lebensplan vor einem allzu frühen Scheitern zu bewahren. – Welche mütterliche Liebe einer Kinderlosen zu dem Sohne einer andern, dachte der Hofrat gerührt, der im Nebenamte kleine Novellen in der »Salonzeitung« und im »Fremdenblatt« zu veröffentlichen pflegte. Er konnte freilich nicht wissen, daß Teta für ihren Neffen nicht nur keine Liebe empfand, sondern überhaupt kein persönliches Interesse. So bangt im Kriege ein Befehlshaber für den Untergebenen, nicht um seiner selbst, sondern um des Auftrags willen, den dieser auszuführen hat.

Als nach der mit Ach und Krach bestandenen Reifeprüfung der Neffe in das Seminar der Prämonstratenser zu Prag eintrat, brach der Weltkrieg aus, und er wurde in den ersten Wochen »einrückend gemacht«. – Tragische Unterbrechung. Sie kostete Geld und Geld, mehr denn je. Teta durfte nicht dulden, daß der mit solchen Opfern erkaufte Mittler dem wahllosen Kriegstode ausgesetzt und ihre himmlische Zukunft von einer Granate zerrissen werde. Sie diente damals – es war ihr vorletzter Posten – bei einem bekannten Mediziner, der als Universitätsprofessor den militärischen Rang eines Stabsarztes bekleidete. Die Seufzer und Tränen der Magd wirkten auf diesen Mann nicht anders, als sie auf den guten Hofrat gewirkt hatten, obwohl der Arzt keine Novellen, sondern in der Medizinischen Wochenschrift Artikel über verschiedene Wurmleiden veröffentlicht hatte. Mojmir wurde nach einigen Monaten vor eine Musterungskommission gestellt, nicht mehr für frontdiensttauglich befunden und aus der Feuerlinie in irgendeine Kanzlei der Etappe versetzt. Teta atmete auf und sandte dem Schützling weiter »Liebesgaben« und Bargeld, denn es war Krieg, und ein angehender Priester sollte auch als Soldat gesund und standesgemäß leben.

Damit waren vier Jahre verloren, und das kostspielige Studium der Theologie mußte von vorn beginnen. Nach einiger Zeit erhielt Teta einen Brief, der wie alle Briefe des Neffen in einer begeisternden Schön- und Rundschrift abgefaßt war, deren Anblick die Magd stets mit Befriedigung erfüllte, bewies sie doch als ein äußeres Zeichen die gedeihliche Anwendung ihrer Opfer. In diesem Brief bekannte Mojmir, daß er das Alumnat der Prämonstratenser verlassen habe, um seine Studien auf eigene Faust zu vollenden. Er besitze, so hieß es wörtlich, eine freie und schwärmerische Seele, die nicht zum Ordensmanne und Stiftsherrn tauge, sondern dem Herrgott, der hl. Kirche und dem teuren Tantchen weit besser als Weltpriester und praktischer Seelsorger hoffe dienen zu können. Sein Ideal sei es, in einer weltverlorenen Pfarre oder in einer Arbeitergemeinde den armen Menschen in ihren Nöten beizustehen. Als nicht-inkorporierter Weltgeistlicher sei er ferner viel weniger an den Willen seiner Oberen gebunden und könne sich daher, sollte es einmal notwendig werden, der Pflege des teuren Tantchens mit ungeteilter Innigkeit widmen. Teta erschrak zwar anfangs über diese Eröffnung, da sie einen ausgesprochenen Eigensinn und Hang zur Unordnung bekundete, der ihr schon während des Neffen Gymnasialzeit mehrfach zu Ohren gekommen war. Andrerseits aber erschienen ihr die in dem Briefe angeführten Ideale recht lobenswert, und von der verzwickten Organisation des kirchlichen Lebens verstand sie nicht viel. Arg war's nur, daß Mojmirs Entschluß eine begreifliche Erhöhung der Monatskosten verursachte. Teta tat, was sie konnte, und sandte nunmehr das Geld regelmäßig an eine private Anschrift in einer Prager Vorstadt. Wie arme Leute so oft, war der Student von Pech verfolgt. Da er sich nur unzureichend ernähren konnte, erkrankte er an einem schweren Darmleiden und mußte sich im Allgemeinen Krankenhaus zweimal einer gefährlichen Operation unterziehen, die ihn, wie er verzweifelt schrieb, um volle zwei Semester zurückwarf. Da Teta aber wochenlang um sein Leben gezittert hatte, die Briefe aus dem Spital nur unter Stoßgebeten öffnend, war sie am Ende noch heilfroh, nur mit dem Verlust eines Studienjahres davonzukommen.

Merkwürdig genug ist's, daß Teta den mit der Wahrung ihrer himmlischen Zukunft Beauftragten nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte, damals nämlich, als er, ein sommersprossig-rotznäsiger Bauernjunge, sie an Mutters Hand in der Küche des Hofrates Slabatnigg heimgesucht hatte. Dafür aber gab's Gründe die Menge. Eine Magd, die nie auch nur einen Tag Urlaub nahm, konnte sich weite Reisen nicht leisten. Das sauer Erworbene und noch saurer Abgegeizte durfte wahrhaftig nicht überflüssig vertan werden. Wo hätte sie ferner den Jungen, wär' er zu ihr in die Stadt gekommen, unterbringen sollen? Es war ganz in der Ordnung, daß Mojmir seine Schulferien bei der Mutter in Hustopec verbrachte, in guter Luft also und zu bäurischer Arbeit angehalten, die Körper und Charakter festigt. Über all diese vernünftigen Gründe hinaus hegte Teta jedoch nicht den geringsten Wunsch, den Gegenstand ihrer Entbehrungen vor der Zeit zu begrüßen. Mojmir Linek war gewissermaßen nichts als eine Idee, die sich in ihm zu personifizieren hatte. Er sollte gehämmert und geschliffen werden in langen Jahren, damit er eines Tages durch die Weihe berufen sei, ihr im Sinne des Lebensplanes das Genossene abzugelten. Für weiche Empfindungen blieb in solch ernster Sache kein Raum, und daß der von ihr Berufene ein ganz bestimmter Mojmir und ihr eigener Neffe war, das ließ sie ziemlich kalt.

Nur in einem einzigen Punkte konnte sie einen heftigen Wunsch nicht unterdrücken. Wenn auch das Studium durch die bedauernswerte Anfälligkeit Mojmirs sich schon ins fünfte Jahr hinzog, einmal mußte doch die große Stunde der Ordination, der Priesterweihe, kommen, in der sich ein gleichgültiger junger Mann durch das Handauflegen des Oberhirten wundersam in ein fast überirdisches Wesen verwandelt, um daraufhin aus erschütterter Seele sein erstes heiliges Meßopfer darbringen zu dürfen. War's nicht eine verführerische Vorstellung, bei dieser ersten Messe sich gegenwärtig zu träumen und süßklopfenden Herzens sich des Werkes zu freuen, das man mit zäher Unnachgiebigkeit zustande gebracht hatte? Dann wird der dankbewegte Primiziant sein reinstes Gebet für die Wohltäterin einflechten, womit der eigentliche Teil des großen Lebensplanes ins Stadium der Erfüllung tritt. Sollte man sich das Geschenk einer solchen Feierstunde, die einzig im Leben ist, entgehen lassen, zumal nachher mit der Amtserhebung des jungen Priesters die Zeit der Opfer beendet sein und man sich wiederum ein bißchen wird rühren dürfen? Im Hinblick auf diese Stunde kämpfte in Tetas Seele die eingefleischte Sparsamkeit einen harten Strauß mit dem Wunsche, der Erstmesse eines Priesters beizuwohnen, der dieses nicht minder von ihren als von Gottes Gnaden war.

Der Neffe selbst bewies die Rücksicht, diesen Kampf aus eigenem zu entscheiden. Und er entschied ihn im Sinne der Sparsamkeit. Gegen Ende seines zwölften Semesters kündigte er seine nahe Ausweihung an, ließ aber Zeit und Ort im unklaren. Eines Tages in Grafenegg – Teta hatte längst schon ihren Posten bei den Argans angetreten – empfing sie in eingeschriebener Sendung das Bild des jungen Geistlichen im Chorrock, einen Rosenkranz, mehrere kleinere Heiligenbildchen und ein auf dem Papier des erzbischöflichen Ordinariats verfaßtes Zeugnis, worin dem Mojmir Linek von einer unleserlichen Unterschrift das Allerbeste nachgerühmt wurde. Ein prächtiger Brief lag bei, der für den Zartsinn des Geweihten kein schlechteres Zeugnis ablegte, als es das amtliche war. Das Tantchen sei nicht mehr jung, hieß es in dem schönen Brief, und abgeplagt und befinde sich mit der Herrschaft zur Zeit auf dem Lande, wohl mehr als zwanzig Schnellzugstunden von dem trauererfüllten Neffen entfernt. Er habe unter bitteren Tränen eine schlaflose Nacht verbracht, ehe er sich dazu entschloß, seinen großen Ehrentag zu begehen, ohne Tantchen vorher zu verständigen. [...]"

(Werfel: Der veruntreute Himmel, 2. Kapitel)

13 April 2023

Andreas Winkelmann

 Andreas Winkelmann "Schriftsteller und Thrillerautor. Er schreibt auch unter den Pseudonymen Frank Kodiak und Hendrik Winter." (Wikipedia

ZEIT-Story zu Andreas Winkelmann

Ich mag keine Kriminalromane und Thriller schon gar nicht, aber als Person ist Winkelmann, so wie er in der ZEIT-Story vorgestellt wird, sympathisch, nicht zuletzt weil er uns so genau über seinen Arbeitsalltag informieren lässt. 

Und warum sollten nicht in diesem Blog auch Autoren vorkommen, deren Bücher ich nicht so schätze. 


Weil Winkelmann sich von Stephen King hat anregen lassen, führe ich hier auch einige Werke von dem an:


Wie schlecht ich 
Stephen King kenne, zeigt sich daran, dass ich, weil mir sein Name nicht einfiel, zunächst unter Das Schweigen der Lämmer gesucht habe. Dessen Autor Thomas Harris war mir völlig unbekannt.  Vorläufig muss ich also offen lassen, ob ich schon einmal etwas von Stephen King gelesen habe.  Einige Titel von ihm kommen mir bekannt vor. 

10 April 2023

Rudolf Pörtner: Die Wikinger Saga

 Rudolf Pörtner: Die Wikinger Saga, 1971

Wikinger (populäre Darstellung, schwungvoll, aber nicht fehlerfrei, manches von Pörtner übernommen, aber ungenau)

Wikinger (Wikipedia)

Wikingerzeit (Wikipedia)

vorstaatliche Organisation:

Leiter der Hundertschaft war der Herse, mehrere Hundertschaften bildeten einen Distrikt und unterstanden einem Jarl. "Aus der Schicht dieser Regionalpotentaten stammten die meisten jener wikingischen Heerkönige, die mit ihren Piratenflotten [...] heimsuchten (S.140)

Einigung des Landes:

Norwegen um 872 Harald Schönhaar

Dänemark  um 950 durch Gorm den Alten

Schweden im Laufe des 10. Jahrhunderts durch die Ynglinger


Wichtige Personen:

Aud, die Tiefsinnige


Aus dem Inhalt:

Haithabu S.296-327

Sklavenhandel S.328-345

Quellen S.359-387  u.a. Adam von Bremen; Alfred der GroßeKonstantin Porphyrogenetos; Ibn Fadlan; Teppich von Bayeux


Zitate:

Einleitung: 

"Die Wikinger waren nüchterne Bauern und lebten nach Väterart von den kargen Erträgen ihrer unwirtlichen Erde, aber sie entwerfen das fantasievollste mythologische Szenarium der nachantiken Zeit und ihre Dichtung gab sich verborgenen Anspielungen, unglaublich komplizierten Wendungen und äußerster Regelstrenge hin. Sie waren in ständiger Fehde miteinander und legten sich mit Gott und der Welt an, aber sie gehorchten widerspruchslos ihrem urtümliche Moralkodex, dessen letzte Instanz die Sippe war.

Sie bauten die besten und schnellsten Schiffe ihrer Zeit, ozeansichere Clipper, die dennoch auf einem flachen Sandstrand parken konnten, und sie zogen mit ihnen kreuz und quer über Meere und Seen, wie Reiter über Wüsten und Steppen. Sie enterten die Küsten Europas, erleichterten die Völker des Kontinents um gewaltige Summen Geldes und drangen tief/ in ihre Länder ein. Sie überfielen Städte und Klöster, Burgen und Bauernhöfe, steckten sie an, raubten sie aus und nahmen alles mit, was ihnen brauchbar und nützlich erschien: Gold und Schmuck, Altardecken und Schwerter, liturgische Geräte und schöne Mädchen. Aber sie waren auch tüchtige Kolonisatoren. Sie erschlossen die atlantischen Inseln, besiedelten Island und Grönland und setzten fünfhundert Jahre vor Kolumbus ihre Füße auf amerikanische Erde.

Sie führten lang dauernde Kriege gegen das Frankenreich und die angelsächsischen Königtümer, sie gründeten Filialstaaten im Mittelmeer, schufen das Kiewer Reich in Russland, stellten die Leibgarde der oströmischen Caesaren und waren allgegenwärtig zwischen Wolga und Neufundland, zwischen Island und Sizilien, zwischen Birka und Byzanz. Aber sie waren auch wagemutige Kauffahrer und auf allen Märkten Europas zu Hause, nüchterne business people, die mühelos in arabischer, fränkischer und angelsächsischer Währung handelten und schacherten. Ihre Handwerker lieferten Geräte und Werkzeuge, deren unbestechlicher Funktionalismus unübertroffen ist. Und in den Werkstätten der Kunstschmiede und Holzschnitzer arbeiteten Künstler, von deren Formen die nordischen Designer heute noch leben.
Kurzum: Sie besaßen einen ungeheuren Aktionsradius. Ihre unverbrauchte Natur setze viele Kräfte frei. Das 'Heldische' war nicht das Kernelement ihres Lebens.
Sie waren von allem etwas: Bauern, Entdecker und Kolonisatoren. Die verwegensten Seefahrer und gefürchtetsten Krieger ihrer Epoche. Piraten und Kaufleute. Helden, Händler und Halunken. Fleißige Handwerker und intelligente Organisatoren. Totschläger und geniale Künstler. Berserker und kühle Rechner. Krasse Individualisten und Staatverächter, aber gehorsame Söhne ihrer Sippe. (S.8/9)

"Die kleinste Einheit der nahezu perfekten Interessengemeinschaft von Grundbesitzenden Bauernaristokraten, Rechtsauslegern und Priestern war ein Godorp genannter 'Verband von Personen, der sich um einen Godendas heißt: einen Tempelbesitzer, scharte'. Gode zu werden war theoretisch jedem freien Isländer möglich. In der Praxis war die Zahl der Tempelinhaber jedoch durch die 965 geschaffene Bezirksordnung auf 39 begrenzt und damit – da die Godenschaft erblich und beim Aussterben einer Sippe nur durch Kauf oder Schenkung zu erwerben war – auf den ständig gleichen Kreis beschränkt, das heißt:: auf die 39 ältesten und angesehensten Familien der Insel. (Seite 137)

Die Goden sprachen die Urteile in den zur Verhandlung stehenden Gerichtsfällen und waren sich einig, dass es keinen schlimmeren Frevel gab, als einen Goden zu töten. Der Täter hatte zumindest mit der dreifachen Mannbuße zu rechnen:
Kurzum: die großen Familien Islands hatten ihre Macht fest verankert; ihrer Selbstherrlichkeit waren kaum Schranken gesetzt. Hinter dem 'demokratischen' Apparat verbarg sich eine mit allen wichtigen Befugnissen ausgestattete Aristokratie, die über Recht und Unrecht ausschließlich nach ihren Interessen befand. Island war weder ein Freistaat noch ein Volksstaat, sondern eine Cliquenrepublik: eine Oligarchie nach aristotelischem Muster." (S.138)

"Die Normandie gilt in der Geschichtsschreibung von heute als das straffeste europäische Staatswesen seiner Zeit, in dem sich 'Rohheit, Verschlagenheit und Untreue… zu schöpferischer politischer Begabung' mauserten." (S.141)

"Pferde wurden vor allem als Reittiere gehalten. Durch gingen sie auch vor Pflug und Wagen, wie der illustrierte Teppich von Bayeux und gotländische Bildsteine zur Genüge beweisen. Besonders die leichteren Böden wurden mit Pferden gepflügt; die schweren Lehm- und Lößäcker blieben Ochsengespannen vorbehalten.

Während das Pferd hohe kultische Verehrung genoss, galt die Kuh mehr als Wohlstandssymbol: Kein Zufall, dass sie noch in der frühen Wikinger Zeit so etwas wie eine gängige Währungseinheit war." (S.206)

"Nur in guten Jahren reichten die Vorräte aus. Meist wurde das Heu mit trockenem Laub gestreckt, auch Fische und Fischreste wurden verfüttert. Trotzdem waren Notschlachtungen im Winter an der Tagesordnung, und oft genug kam es vor, dass die überlebenden Tiere im Frühsommer des nächsten Jahres so matt waren, dass sie auf die Weiden hinausgetragen werden mussten – ein Vorgang, der etwas von der Härte ahnen lässt, der das Leben der wikingischen Bauern zumindest in den polaren Regionen ausgesetzt war." (S.208)

06 April 2023

Friedrich Sieburg: Napoleon. Die hundert Tage

 Napoleon. Die hundert Tage. Deutsche Verlagsanstalt DVA, Stuttgart 1956

Sieburg beschränkt sich bei seiner Darstellung nicht allein auf die Handlungen und die Motivation der Hauptperson, sondern versucht, möglichst umfassend auch seine Wirkung auf seine Umgebung und seine Zeitgenossen darzustellen. Dabei schildert er von wichtigeren Personen aus Napoleons Umfeld auch ihre Motivation und wie sie auf die Außenwelt wirken, ohne sich strikt an Belegbares zu halten. So schildert es z.B. Neys inneren Zwiespalt zwischen der Treue zu seinem Eid auf den König und dem Gefühl, dass Napoleon so stark sei, dass Widerstand gegen ihn zum Bürgerkrieg führen müsse, und ausdrücklich die direkte Wirkung von Napoleons Gegenwart auf Ney (auch ohne dass diese belegt werden könnte).

Bemerkenswert auch, wie er den ständigen Frontenwechsel Fouchés nicht so sehr in seiner Bereitschaft, sich dem Mächtigsten zu unterwerfen sieht, sondern darin, dass alle Mächtigen meinen, nicht ohne den starken Polizeiapparat, den er aufgebaut hat, auskommen zu können. 

04 April 2023

Zitate aus Nooteboom: Allerseelen

"Was willst du bloß in Deutschland?", fragten niederländische Freunde ihn regelmäßig. Meist klang das dann, als habe er sich eine schwere Krankheit zugezogen. Er hatte sich eine stereotype Antwort zurechtgelegt, die in der Regel ihre Wirkung tat.

"Ich bin gern da, es ist ein ernsthaftes Volk." (Seite 11)

" 'Schau mal, siehst du die Einschusslöcher da...' So begann oft ein Berlin-Spaziergang mit Victor. In solchen Augenblicken schien es, als sei er selbst der Bürgersteig geworden und erinnere sich an etwas, einen politischen Mord, eine Razzia, eine Bücherverbrennung, die Stelle am Landwehrkanal, an der Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden war, den Punkt, bis zu dem die Russen 1945 vorgedrungen waren. Er las die Stadt wie ein Buch, eine Geschichte über unsichtbare, in der Historie verschwundene Gebäude, Folterkammern der Gestapo, die Stelle an der Hitler das Flugzeug noch hatte landen können, alles erzählt in einem kontinuierlichen, fast skandierten Rezitativ." (S.21)

" 'Schau mal', sagt der Victor in diesem Augenblick vor sechs Jahren, 'siehst du die Figuren da oben am Dachrand? [...] Sie haben keine Gesichter, siehst du das nicht?'

'Hat man Ihnen die abgeschlagen? Waren das die Russen?' fragte die Interviewerin.

'Die Russen waren nicht hier, Schätzchen, die Figuren waren von Anfang an so. Kegel ohne Augen. Wie bei Chirico. Wer etwas darstellt, braucht kein Gesicht, da sieht man’s mal wieder. ' "(S. 43)

"Aufbewahren, das auf jeden Fall." (S.65)

"Hegels Schuld", dass wir uns zwar vielleicht bewusst sind, dass wir über Vergangenem laufen. Archäologie. Aber dass wir uns immer irgendwie als das Ende, das worauf es hinausläuft, verstehen, statt daran zu denken, wer später über uns laufen wird. (S.92)


"Es war unwichtig, ob irgendwann jemand noch je die Nebenlinie des aragonischen Adels im zehnten Jahrhundert erforschen wollte ..., es ging viel mehr darum, daß sich die Vergangenheit als Vergangenheit irgendwo befand und damit weiter existierte, bis die Beschreibung der Welt, gemeinsam mit der Welt, aufgehört hatte." (S.157)

"Heidegger war die Angst, und wir [die Mönche von Beuron] waren die Hoffnung. Vielleicht besucht die heldenhafte Angst ja von Zeit zu Zeit gern mal die ängstliche Hoffnung, vor allem, wenn dabei noch gesungen wird." (S.175)

(NooteboemAllerseelen)

 Einen "Vorschuß auf die Vergangenheit der Zukunft nehmen" nennt Noteboom das Bauen von Ruinen, wie es in der Romantik so gern geübt wurde, oder die Großbauten Speers im Auftrag Hitlers, von denen geplant war, dass sie so gigantisch würden, dass sie "nach tausend Jahren selbst als Ruine noch" schön wären.

Vergangenheit der Zukunft hat bei Google über 9000 Nennungen.

 Zukunft ohne Vergangenheit ist auch sonst im Gespräch.

"... Womit sie und alle diese Leute sich beschäftigen, ist, ein Loch in der Zeit zu füllen, das da ist und nicht da ist.«
»Da ist und nicht da ist? Mein Gott! «
»Nein, hör doch mal zu. So schwer ist es nicht. Die Welt, so wie sie ist, ist das Resultat bestimmter Ereignisse. Von denen kann man folglich nichts mehr ausklammern, selbst wenn man sie nicht kennt. Sie haben stattgefunden.«"

"Die Welt, mit der wir zu tun haben, ist, wie auch immer, die Summe all dessen, was sich ereignet hat, obgleich wir häufig nicht wissen, was das ist, oder sich herausstellt, daß etwas, von dem wir glaubten, es habe sich so und so abgespielt, sich in Wirklichkeit ganz anders zugetragen hat ... und das, dieses Finden von etwas, was wir noch nicht wußten, oder dieses Korrigieren von etwas, was wir falsch wußten, ist die Arbeit von Historikern, jedenfalls von einigen: so komischen Pusselfritzen, die sich ihr ganzes sterbliches Leben lang mit einer einzigen Person oder einem Spezialgebiet befassen. Ich finde das unglaublich."

Manchmal öffnet sich mitten in der heutigen Stadt Berlin ein Loch in die Vergangenheit.