31 Mai 2022

Ernst Toller

 Ernst Toller (Wikipedia)

sieh auch:

Weidermann: Träumer, S.51-60

Eine Jugend in Deutschland (Autobiographie)

Autobiografie

Biographien erreichen selten die Kompliziertheit individuellen Daseins, viele Konturen des »vollständigen Menschen« bleiben unbelichtet, alle Momente müssen, nach einem Wort Karoline von Günderodes, immer den einen bestimmen und begreiflich machen, insbesondere in einem Buch, das wie dieses den öffentlich wirkenden Menschen zeichnet.

Nicht nur meine Jugend ist hier aufgezeichnet, sondern die Jugend einer Generation und ein Stück Zeitgeschichte dazu. Viele Wege ging diese Jugend, falschen Göttern folgte sie und falschen Führern, aber stets bemühte sie sich um Klärung und um die Gebote des Geistes.

Nicht Fehler und Schuld, nicht Versagen und Unzulänglichkeit sollten in diesem Buch beschönigt werden, eigene sowenig wie fremde. Um ehrlich zu sein, muß man wissen. Um tapfer zu sein, muß man verstehen. Um gerecht zu sein, darf man nicht vergessen. Wenn das Joch der Barbarei drückt, muß man kämpfen und darf nicht schweigen. Wer in solcher Zeit schweigt, verrät seine menschliche Sendung.

Am Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland

Erstes Kapitel

Kindheit

Friedrich der Große erlaubte meinem Urgroßvater mütterlicherseits als einzigem Juden in Samotschin, einer kleinen Stadt im Netzebruch, sich anzusiedeln. Mein Urgroßvater bezahlte eine Summe Geldes, dafür ward ihm der Schutzbrief eingehändigt. Auf diesen Akt war der Urenkel stolz, er sah darin Auszeichnung und adlige Erhöhung und prahlte damit vor den Schulkameraden.

Mein Urgroßvater väterlicherseits, der aus Spanien gekommen sein soll, besaß ein Gut im Westpreußischen. Von diesem Urgroßvater erzählten die Tanten, daß ihm das Essen auf goldenen Schüsseln und Tellern gereicht werden mußte und seine Pferde aus silbernen Krippen fraßen. Die Söhne verkupferten erst die Krippen, dann versilberten sie die Schüsseln und Teller. Vom sagenhaften Reichtum des Urgroßvaters träumte der Knabe: Die Pferde fraßen den alten Mann, und er sieht zu, ohne Abscheu und ohne Mitleid, eher mit einem unerklärlichen Gefühl der Befriedigung.

Auf den Dachböden des Hauses verstaubten riesige vergilbte Folianten. Sie hatte der Großvater bei Tag und oft bei Nacht studiert, während die Großmutter im Geschäft stand, die Käufer bediente, Wirtschaft und Küche versah. Dieses Geschäft übernahm mein Vater, nachdem er als Primaner und Apotheker versagt hatte.

Samotschin war eine deutsche Stadt. Darauf waren Protestanten und Juden gleich stolz. Sie sprachen mit merklicher Verachtung von jenen Städten der Provinz Posen, in denen die Polen und Katholiken, die man in einen Topf warf, den Ton angaben. Erst bei der zweiten Teilung Polens fiel die Ostmark an Preußen. Aber die Deutschen betrachteten sich als die Ureinwohner und die wahren Herren des Landes und die Polen als geduldet. Deutsche Kolonisten siedelten ringsum in den flachen Dörfern, die wie vorgeschobene Festungen sich zwischen die feindlichen polnischen Bauernhöfe und Güter keilten. Die Deutschen und Polen kämpften zäh um jeden Fußbreit Landes. Ein Deutscher, der einem Polen Land verkaufte, ward als Verräter geächtet.

Wir Kinder sprachen von den Polen als »Polacken« und glaubten, sie seien die Nachkommen Kains, der den Abel erschlug und von Gott dafür gezeichnet wurde.

Bei allen Kämpfen gegen die Polen bildeten Juden und Deutsche eine Front. Die Juden fühlten sich als Pioniere deutscher Kultur. In den kleinen Städten bildeten jüdische bürgerliche Häuser die geistigen Zentren, deutsche Literatur, Philosophie und Kunst wurden hier mit einem Stolz, der ans Lächerliche grenzte, »gehütet und gepflegt«. Den Polen, deren Kinder in der Schule nicht die Muttersprache sprechen durften, deren Vätern der Staat das Land enteignete, warf man vor, daß sie keine Patrioten seien. Die Juden saßen an Kaisers Geburtstag mit den Reserveoffizieren, dem Kriegerverein und der Schützengilde an einer Tafel, tranken Bier und Schnaps und ließen Kaiser Wilhelm hochleben.

 

Ich bin am ersten Dezember 1893 geboren.

Suche ich nach Kindheitserinnerungen, werden mir diese Episoden bewußt:

 

Ich habe ein Kleidchen an. Ich stehe auf dem Hofe unseres Hauses an einem Leiterwagen. Er ist groß, größer als Marie, so groß wie ein Haus. Marie ist das Kindermädchen, sie trägt rote Korallen um den Hals, runde, rote Korallen. Jetzt sitzt Marie auf der Deichsel und schaukelt. Durchs Hoftor kommt Ilse mit ihrem Kindermädchen. Ilse läuft auf mich zu und reicht mir die Hand. Wir stehen eine Weile so und sehen uns neugierig an. Das fremde Kindermädchen unterhält sich mit Marie. Nun ruft sie Ilse: »Bleib da nicht stehen, das ist ein Jude.«

Ilse läßt meine Hand los und läuft fort. Ich begreife den Sinn der Worte nicht, aber ich beginne zu weinen, hemmungslos. Das fremde Mädchen ist längst mit Ilse davongegangen.

Marie spricht auf mich ein, sie nimmt mich auf den Arm, sie zeigt mir die Korallen, ich mag nicht die Korallen, ich zerreiße die Kette.

 

Der Sohn des Nachtwächters ist mein Freund. Wenn die anderen »Polack« schreien, schreie ich auch »Polack«, er ist trotzdem mein Freund. Die Polacken hassen die Deutschen, ich weiß es von Stanislaus.

Auf dem Marktplatz wird das Pflaster aufgebrochen, Gräben werden geschaufelt. Es ist Feierabend, die Arbeiter haben Spaten und Hacken in einen kleinen Schuppen getan, aus rohen Brettern gezimmert. Sie sind in die Kneipe gegangen, einen heben. Stanislaus und ich sitzen im Graben. Unser Versteck ist ein schmaler Schacht, mit Pfählen verschalt.

Stanislaus zielt und spuckt.

»Heute nacht wird ein Arbeiter sterben«, sagt Stanislaus, »zur Strafe. Sie dürfen hier nicht graben, es ist polnische Erde. Die Deutschen haben sie gestohlen. Aber laß sie nur graben, hier unten, wo sie graben, hundert Meter tief, wartet der polnische König. Im Stall steht sein weißes Pferd, dagegen ist das Pferd vom Herrn Rittmeister ein Ziegenbock. Wenn es soweit ist, setzt sich der König aufs Pferd, reitet nach oben und verjagt euch. Euch alle. Dich auch.«

Ich möchte Stanislaus fragen, wann es »soweit« ist, Stanislaus weiß mehr als ich, sein Vater ist Nachtwächter, aber die Lippen von Stanislaus pressen sich, und sein Mund wird hart und abweisend.

»Spuck jetzt, einen Murmel als Einsatz!«

Ich spucke und verliere. Nachts träume ich, daß Stanislaus auf dem Markt steht und auf dem Horn seines Vaters bläst. Aus unserm Schacht springt im Galopp ein weißes Pferd, auf dem braunen Sattel, rechts und links, oben und unten, sitzen Kaiserbilder. Jetzt ist es »soweit«, denke ich.

 

Ich sammle Kaiserbilder. Im Geschäft meiner Eltern gibt es viele verlockende Dinge, Bindfaden und Bonbons, Limonaden und Rosinen, große und kleine Nägel, aber am schönsten sind die Kaiserbilder. Wenn auch am schwersten zu stehlen. In jeder Tafel Schokolade liegt eins. Der Schokoladenschrank ist verschlossen, der Schlüssel hängt an einem Bund, den Mutter an ihrer blaugewürfelten Umhängeschürze trägt. Früh, wenn ich aufwache, arbeitet Mutter. Sie arbeitet im Laden, sie arbeitet im Getreidespeicher, sie arbeitet in der Wirtschaft, sie schickt den Armen Essen und lädt die Bettler zum Mittag, und wenn der Knecht aufs Feld geht, den Acker zu pflügen und das Korn zu säen, mißt sie ihm das Korn zu. Abends liest sie bis tief in die Nacht, oft schläft sie ein über einem Buch, und wenn ich sie wecke, bittet sie:

»Laß mich lesen, Kind, es ist meine einzige Freude.«

»Warum arbeitest du immer, Mutter?«

»Weil du essen willst, Kind.«

Wenn Mutter nicht achtgibt, stehle ich erst die Schlüssel, dann aus den Schokoladentafeln die Bilder, Schokolade nur nebenbei. Schön sind die Bilder der alten Germanen, sie tragen Felle und Keulen, auf die sie sich stützen, ihre Weiber kauern auf der Erde und müssen die Schilde scheuern. Stanislaus meint, sie gebrauchten dazu ihre blonden Haare, die aussehen wie um den Kopf gelegte Bettvorhänge aus Stroh. In den meisten Tafeln liegen Bilder von unserem Kaiser, er hat sich einen Mantel von rotem Samt auf seine Schultern gelegt, in der einen Hand hält er eine Kugel, in der anderen einen goldenen Feuerhaken.

Wenn ich morgens in meinem Bett liege und die vielen Kaiserbilder ansehe, frage ich mich: Geht ein Kaiser auch aufs Klo? Die Frage beschäftigt mich sehr, und ich laufe zur Mutter. »Du wirst noch ins Gefängnis kommen«, sagt Mutter. Also geht er nicht aufs Klo.

 

Vom Marktplatz zu den Kirchhöfen führt die Totenstraße. Die Menschen, die dort wohnen, finden nichts dabei, daß ihre Straße »Totenstraße« heißt, sie stehen vor den Türen und schwatzen, sie schimpfen auf den Bürgermeister, weil das Trottoir, auf das alle Leute in der Stadt stolz sind, mitten in der Straße aufhört. »Wie abrasiert«, sagt Kaufmann Fischer. Ich möchte nicht in der Totenstraße wohnen. Ich habe noch nie einen Toten gesehen, nur Schädel und Knochen, die haben Arbeiter gefunden, als sie neben der Mühle einen Brunnen gruben. Stanislaus und ich spielen Ball mit Schädeln, die Knochen dienen als Abschlaghölzer, Stanislaus gibt den Schädeln Fußtritte.

»Warum tust du das?«

»Großmutter hat gesagt, es sind böse Menschen gewesen, Gute bleiben nicht im Grab, Engel holen sie und fliegen mit ihnen in den Himmel zum lieben Gott.«

»Was tun sie da?«

»Pellkartoffeln fressen sie nicht.«

Ich esse Pellkartoffeln sehr gerne, zu Hause nicht, ich esse sie lieber bei Stanislaus. Seine Großmutter, seine Mutter, sein Vater, drei Schwestern und vier Brüder wohnen in der Dorfstraße, in einem kleinen Haus aus Lehm, oben deckt es ein Strohdach, alle schlafen in einer Stube, und gekocht wird darin auch. In der Dorfstraße fehlt das Trottoir, aber niemand schimpft auf den Bürgermeister. Immer, wenn ich um die Mittagszeit Stanislaus besuche, essen sie Pellkartoffeln und Grützsuppe oder Pellkartoffeln und Hering, ich stehe in einer Ecke, und das Wasser läuft mir im Mund zusammen.

»Lang zu«, sagt endlich Stanislaus' Mutter, »essen elf sich satt, wird es auch für zwölf reichen.«

Stanislaus pufft mich in die Seite:

»Braten und Gebackenes kannst du dir malen.«

»Wir essen auch nicht jeden Tag Braten und Gebackenes,« »Ihr könntet so fressen, wenn ihr wolltet.«

Ich nehme meine Mütze und renne nach Haus.

»Was mußt du dort zu Mittag bleiben«, schilt mich Mutter, »du ißt den armen Leuten ihr bißchen Brot weg.«

»Warum haben sie so wenig?«

»Weil der liebe Gott es so will.«

 

Die Totenstraße ist sehr lang, ich denke mir, wegen der Toten, sie wollen noch ein bißchen spazierenfahren, ehe sie ins Grab gelegt werden und es sich entscheidet, ob sie darin bleiben oder in den Himmel fliegen.

Neulich ist Onkel M. gestorben. Ob er ein guter Mensch war? Ich stehe an der Friedhofsmauer. Von einer Weide breche ich mir eine Gerte und spitze sie an, ich klettere über die Mauer, laufe zum Grab und bohre, der Friedhofswärter überrascht mich, ich mache mich aus dem Staub.

Auf dem Nachhauseweg denke ich: ›Was ist ein guter Mensch?‹

 

Draußen krachen Türen. Im Zimmer ist es dunkel. Dort schläft Vater, dort Mutter. Es ist gar nicht dunkel. Und die Betten von Vater und Mutter sind leer. Haben Räuber sie überfallen? Von draußen blinkt es rötlich. Ein Horn bläst, immer den gleichen heulenden Ton. Ich springe aus dem Bett, reiße die Tür auf, renne auf die Straße, drüben, auf der anderen Seite des Marktes, brennt ein Haus, rot und grün und schwarz, Feuerwehrleute mit glänzenden Helmen auf dem Kopf rennen wild umher, und die Menschen stellen sich auf die Zehenspitzen. Jule, unsere Köchin, sieht mich und jagt mich ins Bett zurück.

»Warum brennt es, Jule?«

»Weil Gott strafen will.«

»Warum will Gott strafen?«

»Weil kleine Kinder zuviel fragen.«

Ich fürchte mich, ich kann nicht mehr einschlafen, es riecht nach Rauch, es riecht nach Versengtem, es riecht nach dem lieben Gott. Am andern Morgen stehe ich vor verkohlten Balken und Steinen, sie sind noch heiß.

»Nicht einen Knochen hat man gefunden, die arme Frau ist in ihrem Bett verbrannt.«

Ich drehe mich jäh um, der Mann, der es sagte, ist weitergegangen.

Ich laufe nach Haus, setze mich in eine Ecke, der Stock, mit dem ich in der Asche gestochert habe, klebt in meiner Hand.

Herr Levi kommt. Er lacht.

»Schöne Sachen machst du.«

Ich rühre mich nicht.

»Alle in der Stadt wissen es, du hast Eichstädts Haus angesteckt.«

Herr Levi steckt sich eine Zigarre an und geht davon. Erst meinte Jule, ich sei schuld, nun sagt es Herr Levi.

Ich verkrieche mich auf dem Boden und bleibe dort bis zum Abend.

War es anders gestern? Ich hatte mich ausgezogen, mich gewaschen, ins Bett gelegt und geschlafen, gewaschen habe ich mich nicht, nur Mutter vorgeredet, ich hätte es getan, also gelogen. Darum das Feuer? Darum diese schreckliche Strafe? Ist Gott so streng? Ich denke an die Pellkartoffeln, an die verbrannte Frau Eichstädt.

Im Zimmer ist es dunkel. Ich liege und horche. Rechts von der Tür hängt ein rundes längliches Glasröhrchen, an das zu rühren mir verboten ist, das Stubenmädchen Anna bekreuzigt sich, bevor sie es abstaubt.

»Da wohnt der Juden ihr Gott drin«, brummt sie.

Mein Herz klopft. Noch wage ich es nicht. Wenn »Er« nun aus der Rolle herausspringt und schreit: »Ich bin der liebe Gott! Zur Strafe, daß du gelogen hast...« Ich lasse mir nicht länger Angst einjagen, und vor Pellkartoffeln fürchte ich mich auch nicht, mit einem Satz bin ich an der Tür, klettere auf die Kommode, reiße den »lieben Gott« herunter. Ich zerschlage das Glasröhrchen. »Er« rührt sich nicht. Ich werfe das Röhrchen auf den Boden. »Er« rührt sich nicht. Ich spucke es an, ich nehme meine Schuhe und schlage drauf los. »Er« rührt sich nicht. Vielleicht ist »Er« schon tot. Mir ist leicht zumute. Ich packe Glas- und Papierfetzen, stopfe sie in die Sofafalte zwischen Lehne und Polster, morgen werde ich den »lieben Gott« begraben.

Fröhlich lege ich mich ins Bett, mögen alle wissen, daß ich den »lieben Gott« totgeschlagen habe.

 

Ich habe geglaubt, alle Jungen und Mädchen gehen zusammen in eine Schule. Ilse und Paul gehen in die »evangelische«, Stanislaus in die »katholische«, ich in die »jüdische«. Dabei lernen sie lesen und schreiben wie ich, und die Schulhäuser sehen eins aus wie das andere.

Der Lehrer heißt Herr Senger. Wenn er morgens die Türe aufreißt, rufen wir: »Guten Morgen, Herr Senger.« Er setzt sich aufs Katheder und legt den Rohrstock neben sich. Wer seine Aufgabe nicht gelernt hat, muß seine Hände vorstrecken, dann schlägt Herr Senger mit dem Rohrstock darauf, »zur Strafe«, sagt er. Wer seine Aufgaben gelernt hat, den nimmt Herr Senger auf die Knie, er muß seine Backe an die Backe von Herrn Senger legen, die ist stachlig, und Herr Senger reibt sich daran, »zur Belohnung«, sagt er.

In der Pause zeigen wir uns die Frühstücksstullen.

»Ich habe Fleisch.«

»Ich habe Käse.«

»Was hast du drauf?«

»Er hat gar nichts drauf.«

Kurt will seine leere Stulle verstecken, wir lassen es nicht zu, wir lachen ihn aus, Kurt ruft: »Ich werde es meiner Mutter erzählen«, wir rufen: »Petzer«, Kurt wirft sein Brot in den Sand und weint.

Wie wir von der Schule nach Haus gehen, sagt Max: »Meine Eltern erlauben nicht, daß ich mit Kurt spiele, seine Mutter wäscht bei uns jede Woche, alle armen Leute sind schmutzig und haben Flöhe.«

Ich spiele mit Stanislaus. Ich habe eine Eisenbahn geschenkt bekommen. Ich bin der Lokomotivführer. Stanislaus ist Weichensteller. Mitten in der Fahrt bremse ich.

»Weiterfahren«, ruft Stanislaus, er steckt zwei Finger in den Mund und pfeift schrill.

»Hast du Flöhe?«

»Fahr weiter.«

»Bist du schmutzig?«

Stanislaus tritt mit seinem Fuß auf die Eisenbahn und zerbiegt das schöne Spielzeug zu einem Haufen Blech.

»Wenn Max doch sagt, daß alle armen Leute schmutzig sind und Flöhe haben. Jetzt hast du meine Eisenbahn kaputt gemacht, und du willst mein Freund sein?«

»Ich bin nicht dein Freund. Ich hasse euch.«

 

Auf der Straße schreien die Kinder: »Jude, hep, hep!« Ich habe es früher nie gehört. Nur Stanislaus schreit nicht, ich frage Stanislaus, warum die anderen so schreien.

»Die Juden haben in Konitz einen Christenjungen geschlachtet und das Blut in die Mazzen gebacken.«

»Das ist nicht wahr!«

»Daß wir schmutzig sind und Flöhe haben, das ist wohl wahr, wie?«

 

Lehrer Senger geht über den Marktplatz. Ein Junge läuft hinter ihm her und singt:

»Jiddchen, Jiddchen, schillemachei,
reißt dem Juden sein Rock entzwei,
der Rock ist zerrissen,
der Jud hat geschissen.«

Lehrer Senger geht, ohne sich umzudrehen, weiter. Der Junge ruft: »Konitz, hep, hep! Konitz, hep, hep!«

 

»Glaubst du wirklich«, fragte ich Stanislaus, »daß die Juden in Konitz einen Christenjungen geschlachtet haben? Ich werde nie mehr Mazzen essen.«

»Quatsch! Gib sie mir.«

»Warum rufen die Jungen Jude, hep, hep?«

»Rufst du nicht auch Polack?«

»Das ist etwas anderes.«

»Ein Dreck! Wenn du's wissen willst, Großmutter sagt, die Juden haben unsern Heiland ans Kreuz geschlagen.«

Ich laufe in die Scheune, verkrieche mich im Stroh und leide bitterlich. Ich kenne den Heiland, er hängt bei Stanislaus in der Stube, aus den Augen rinnen rote Tränen, das Herz trägt er offen auf der Brust, und es blutet. »Lasset die Kindlein zu mir kommen«, steht darunter. Wenn ich bei Stanislaus bin und niemand aufpaßt, gehe ich zum Heiland und bete.

»Bitte, lieber Heiland, verzeih mir, daß die Juden dich totgeschlagen haben.«

 

Abends im Bett frage ich Mutter:

»Warum sind wir Juden?«

»Schlaf, Kind, und frag nicht so töricht.«

Ich schlafe nicht. Ich möchte kein Jude sein. Ich möchte nicht, daß die Kinder hinter mir herlaufen und »Jude« rufen.

 

Auf dem Hof des Tischlers Schmidt steht ein Schuppen. Dort versammeln sich die »Wahren Christen«. Sie blasen Posaune und singen Haleluja, sie knien sich hin und schreien: »Dein Reich ist nahe, o Zion!« Sie umarmen sich und küssen sich und blasen wieder Posaune. Ich will auch ein wahrer Christ werden, darum gehe ich in den Schuppen. Der Herr Vorleser streichelt mich, schenkt mir Zucker und sagt, ich sei »auf dem rechten Wege«.

»Wir werden alle in Liebe und Eintracht das heilige Weihnachtsfest feiern«, sagt er.

»Ja«, sage ich.

»Und du, mein Kind, wirst dieses Weihnachtsgedicht aufsagen.«

Ich bin selig, ich bin kein Jude mehr, ich werde ein Weihnachtsgedicht aufsagen, keiner darf mir mehr »Jude, hep, hep!« nachrufen. Ich nehme meine Trompete und blase wie er die Posaune, dann spreche ich mit lauter, feierlicher Stimme das Weihnachtsgedicht. Am andern Tag sagt mir der Herr Vorleser, es täte ihm leid, aber dem Herrn Heiland sei es angenehmer, wenn Franz das Gedicht aufsage.

 

Alle Erwachsenen sind schlecht, alle. Sie sind stärker als wir, aber man kann sie überlisten, wenn man schlau ist. Unsere Räuberbande ist schlau. Ich bin der Hauptmann. Jeder Räuber trägt einen kurzen Holzsäbel, nur ich trage einen langen, der alte Hordig hat ihn geschnitzt. »Wie ein Offizier siehst du aus«, sagt er und versteckt die Zigarren, die ich für ihn gestohlen habe.

Wir brechen den Schrank auf, in dem Mutter die eingemachten Früchte verwahrt, wir kosten von jedem Topf, und wenn die Früchte zu sauer sind, gießen wir Essig hinein. Wir schleichen uns abends an die Häuser heran, reißen die Türen auf, die Klingeln schrillen, wir stürzen davon und freuen uns über die schimpfenden Ladenbesitzer. Wir spannen Bindfaden über die Straße und johlen, wenn jemand hinfällt. Wir stehlen Geld, kaufen Zigaretten und rauchen sie, und keiner wird sagen, daß ihm übel ist. Wir haben allen Erwachsenen den Krieg erklärt. Der Streit unter uns ist vergessen, wir haben den großen Indianerschwur getan, daß dieser Krieg nicht enden soll.

 

Vater schenkt mir einen jungen Hund, er ist kaum zwei Monate alt, braune Tupfen klecksen auf seinem weißen Fell, ein kleines, weiches Pelzbündel, das ich auf den Schoß nehmen, auf der Erde rollen, in die Luft werfen kann. Ich bin Lehrer Senger und nenne den Hund Puck, ich befehle ihm, daß er »schönmacht«, daß er die Pfote gibt und gehorcht, er gehorcht nicht, ich bade ihn in kaltem Wasser, »zur Strafe«, sage ich.

Am andern Morgen ist der Hund tot. Ich lade die anderen Jungen ein, schaufle neben der Eismiete ein Grab für den Hund, feierlich tragen wir den Sarg zu Grabe, ich bin der Pastor, ich rede wie Lehrer Senger, ich sage: »Der Hund brauchte nicht zu sterben, er hat nicht gehorcht, jetzt hat er seine Strafe.«

Vater ruft mich in sein Zimmer.

»Ein Brief kam von der Polizei, du hast ein Tier zu Tode gequält, dafür kommst du ins Kittchen.«

Kittchen nennen wir das Polizeigefängnis, eine kleine Hütte auf dem Hof vom Bürgermeister. Die Hütte hat kein Fenster, nur eine Tür mit zwei Riegeln und zwei Schlössern, darin werden die Landstreicher eingesperrt. Gendarm Manthey führt sie am Schlafittchen hinein, schließt die Tür zu und sagt: »So.«

Ich weiß nicht zu antworten. Ich sehe hinter mir den Gendarmen, er packt mich, er führt mich durch die Stadt, an allen Freunden vorbei, auch am Lehrer Senger, auch an Gott, der wieder lebt, die Tür vom Kittchen schließt er zu und sagt: »So.«

Ich bin allein, ich bin im Dunkel.

Ich habe Angst. Ich verstecke mich. Ich schreie:

»Ich laufe in den Wald und komme nicht mehr wieder.«

 

»Warum spielst du nicht mehr mit uns?« sagt Frieda.

»Weil ich nicht will.«

»Komm, spiel mit mir.«

Frieda nimmt mich bei der Hand. Es ist Sommer. Wir haben Ferien. Wir gehen vor die Stadt und stehlen in Mannheims Garten Äpfel, wir laufen ins Feld, der Roggen riecht wie frisches Brot, wir verstecken uns im Roggen. Frieda kuschelt sich an mich, ich nehme sie in den Arm, wie die Großen es tun, ich küsse sie auf den Mund.

»O weh, du hast mich auf den Mund geküßt, jetzt bekomm' ich ein Kind«, sagt Frieda.

Am nächsten Tag besucht mich Frieda.

»Du, ich hab' ein Kind«, sagt sie.

»Ist es schon gekommen?« frage ich.

»Du bist aber dumm. Ich hab's im Bauch, wie kann ich es da sehen, es ist schon so groß«, und sie umkreist die Masse des Kindes mit den Händen in der Luft.

»Es ist ja größer als du«, sage ich erschreckt.

Frieda läuft davon. Am nächsten Tag gehe ich zu Frieda.

»Ist es da?«

»Nein, ich denke, es kommt morgen.«

»Weiß dein Vater es schon?«

»Meinem Vater sag' ich es nicht. Er hat Anna 'rausgeschmissen, die hat auch ein Kind bekommen.«

In der Früh warte ich vor Friedas Haus und pfeife. Frieda kommt zum Fenster, sieht mich, streckt mir die Zunge hin und geht weg. Ich warte. Frieda geht aus dem Haus, geht an mir vorbei, das Kind ist vergessen.

 

Ich bin neun Jahre alt, als ich die Volksschule verlasse und zu Herrn Pfarrer Kusch in die Knabenschule geschickt werde. Stanislaus besucht mich nicht mehr.

»Du bist was Besseres«, sagt er, »außerdem ist dein Vater Stadtverordneter geworden, das kommt gleich hinter dem Kaiser, adiö.«

Bisher haben wir mit allen Jungen gespielt, jetzt sehen wir hochmütig auf die Kinder der armen Leute, die in die Volksschule gehen und nicht lateinisch lernen.

Pfarrer Kusch unterbricht alle zehn Minuten den Unterricht.

»Ich habe es auf dem Herzen«, sagt er, greift nach der Medizinflasche und trinkt einen kräftigen Schluck.

In der Medizinflasche ist gar keine Medizin, wir haben es bald heraus, in der Medizinflasche ist Schnaps. Einmal vergißt Pfarrer Kusch die Flasche, wir gießen den Schnaps aus und füllen die Flasche mit Wasser. Pfarrer Kusch sagt: »Ich habe es auf dem Herzen«, aber wie er trinkt, verzieht sich sein Gesicht, er springt auf, greift nach dem Rohrstock, er hat es gar nicht mehr auf dem Herzen, wir müssen unsere Hände hinhalten, jeden schlägt er darauf, nur Helmut nicht, der hat ihm ein Huhn mitgebracht, zu Helmut sagt er:

»Du hast gewiß damit nichts zu tun.«

 

Hinter der Schule liegt ein Tümpel, die Pratsche. Im Winter friert die Pratsche zu. Vor Schulbeginn laufen wir Schlittschuh. Auf dem Eis warnt ein Stock, mit Stroh umbunden, dort ist das Eis dünn.

»Lauf da nicht hin«, rufe ich Max zu.

Aber schon ist Max eingebrochen bis zur Brust, ich springe hin, er zieht mich ins Wasser, mit letzter Anstrengung ziehe ich ihn heraus. Pfarrer Kusch befiehlt, daß ich mir trockene Kleider zu Haus anziehe und dann zu Herrn Sel, dem Vater von Max, gehe.

»Wo ist die Rute?« schreit Herr Sel. Max muß am nächsten Tag, an Kaisers Geburtstag, im Bett bleiben, wir haben frei. Ich besuche Max. Seine Tante hat eine Schachtel Schokoladenfedern dagelassen, darauf steht »Für den Lebensretter«. Max sieht böse auf die Schokolade, dann auf mich.

»Ich wär' auch ohne dich herausgekommen«, sagt er, »mehr als die Hälfte der Schokolade kriegst du nicht.«

Nachmittags schickt mich Mutter in den Saal, wo der Bürgermeister und die Stadtverordneten und der Kriegerverein Kaisers Geburtstag feiern. Vater ist sehr stolz, ich werde dem Bürgermeister vorgestellt, der Bürgermeister sagt:

»Du bist ein kleiner Held.«

Ich sage: »Max sagt, er wäre auch allein herausgekommen«, und wie ich den Saal verlassen habe, werfe ich die Schokolade fort.

 

Die Großen sind unsere Feinde, nur Jule, unsere alte Köchin, versteht mich. Ihr sage ich meine ersten Verse, die ich im Frühling bei einer Spazierfahrt durch die blühende Kirschenallee dichte. Ich sitze neben dem Kutscher, im Wagen die anderen Kinder singen und sind fröhlich, ich singe nicht mit, ich bin nicht fröhlich, ich will nicht wie sonst die Zügel der Pferde führen, nicht die Sonne freut mich noch der Frühling, mich ergreift eine schmerzlich-süße Traurigkeit, und während der Himmel blau und strahlend uns überglockt, denke ich an Krähen, an Nebel, an den Tod.

Das Gedicht lese ich Jule vor.

Jule ist gerührt und weint.

»Willst du einen Eierkuchen essen oder ein Kotelett?«

»Ich werde ein Märchen schreiben, Jule, man wird es in Berlin spielen, und du wirst in der Kaiserloge sitzen.« Jule erzählt niemandem, wie alt sie ist. Fragt man sie, gibt sie zur Antwort: »Über mein Alter ist noch keiner nicht gefallen« und bekreuzigt sich. Jule hat einen Bräutigam, von Beruf Schneidermeister in Margonin, ach, er lebt nur in ihrer Phantasie, Freunde meines Vaters haben ihn erdichtet. Aber das menschliche Herz ist größer als die Lüge. Jule liebt den Bräutigam, trotzdem sie ihn nur einmal gesehen hat. Der fremde Mann, ahnungslos für diese Rolle bestimmt, weiß nichts von der erwachten Liebe, aber Jule glaubt an sie. Die Großen vergessen den Scherz einer Stunde, ich gebe ihm Dauer und besessenes Leben, ich schreibe die schönsten Liebesbriefe, ich bringe sie Jule, ich lese sie ihr vor, ich preise mit ihr die Treue des Bräutigams, ich weine mit ihr über das Schicksal, das ihn fernhält, ich hasse mit ihr die Menschen, die neidisch sich ihrem Glücke sperren. Jule ist selig, und ich bin es mit ihr, wir haben ein Geheimnis, wir hüten es mit großer Würde. Die Menschen lachen, ich lache längst nicht mehr, ich werde böse, wenn die Menschen Jule verspotten.

»Antworte gar nicht, wenn sie dich fragen«, sage ich zu Jule, »oder binde ihnen einen Bären auf, sag, dein Bräutigam ist fort, nach Amerika.«

Ich bekomme noch mehr Eierkuchen als früher, doch nicht um der Eierkuchen willen bleibe ich der Liebesbote. Bald genügt es mir nicht, daß dieser Bräutigam als gewöhnlicher Schneider den Handwerkern und Kaufleuten Anzüge anmißt. Ich lasse den Schneidermeister ins Heer eintreten, binnen wenigen Wochen avanciert er zum Leutnant, zum Major, zum General. Jule, der kein Fleischermeister ein Bruststück für ein Lendenstück verkaufen kann, die mit Feldherrnblick die Hühnerscharen übersieht, jene im Stall läßt, die Eier legen werden, und die Faulen herausjagt, glaubt alles. Der General wird geadelt, der Baron ein Herzog, am Ende wählt ein fernes Land, das ich Mariko nenne, den Herzog zum Kaiser. Ich ernenne Jule zur Kaiserin von Mariko, mich zum Minister des exotischen Landes. Eine unterirdische Bahn, zu der mich eine unsichtbare und allen geheime Treppe führt, verbindet unser Haus mit der Hauptstadt von Mariko. Der Kaiser ist ein frommer Mann, er bekriegt die Heiden und tauft sie, der Krieg währt niemals lange, seine Dauer richtet sich nach meinem Appetit auf Sandtorten. Ich komme zu Jule in die Küche und verschließe die Tür.

»Majestät«, rufe ich, »ein Telegramm ist da.«

»Lies es vor«, sagt Jule und wischt sich die nassen Hände an der Küchenschürze.

»Geliebte Juliana«, lese ich, »in blutiger Schlacht habe ich die Heiden geschlagen, müde vom heißen Kampf sehne ich mich nach einem Kuchen von Deiner Hand, back sofort eine gute Sandtorte und übergib sie meinem Minister Ernst.«

Schweigend entnimmt Jule dem Speiseschrank Eier, Zucker und Mehl, schweigend rührt sie den Teig. Kein scheltender Einspruch meiner Mutter kann sie hindern. Mit hinkendem Schritt geht sie an den Herd, das großflächige Gesicht mit der fleischigen Nase und den wasserblauen Augen rötet sich, die blonden Haare, die in dünnen Strähnen fest um den Kopf sich legen, glänzen von duftendem Öl. Ich nehme die Sandtorte in Empfang, ich verbeuge mich tief, in der Kinderstube warten meine Freunde, die Marikaner, wir verzehren den Kuchen an Kaisers Statt.

Eine Kaiserin muß Orden tragen. Ich stehle meiner Schwester papierne Kotillon-Orden, mit Nadeln hefte ich sie auf ein Sofakissen, um den Spazierstock meines Vaters winde ich ein Taschentuch und ernenne den geschmückten Stock zum Degen, ich führe Jule unter den Weihnachtsbaum, in feierlichen Worten begrüße ich sie, ich heiße sie niederknien, ich schlage sie mit dem Degen auf die Schulter, schlage sie zum Ritter und verleihe ihr die vom Papst und vom Kaiser gesandten Orden. Jule, vom Vater befragt, ob ich sie wirklich zum Ritter geschlagen habe, antwortet: »Und wie hat er mich geschlagen!«, und sie lehnt stolz und höhnisch die tausend Mark ab, die Herr Müller ihr zahlen will, wenn sie ihm einen Orden verkauft.

Eines Tages wird Jule krank, die in ihrem Leben nie krank war, nur Kranke pflegte, die Mutter, den Vater, uns Kinder, die nie vor Ansteckung Furcht empfand, die an unseren Betten wachte, Nacht um Nacht. Der Arzt kann sie nicht retten, Jule, im Fieber, weiß nicht, daß der Tod naht. Sie arbeitet, wie sie ihr Leben lang gearbeitet hat. »Was wollen Sie in der Küche, Frau Toller«, ruft sie, »das mache ich alles alleine«, sie kocht und brät, sie schilt die nachlässigen Hausmädchen, sie rennt zum Wagen, dem Vater eine Pelzdecke um die Füße wickeln, daß er sich nicht erkälte – so stirbt sie.

Nach ihrem Tod finden wir in Kisten und Kästen ihre Habe, Geld hat sie nie gespart, aber Dutzende von Strümpfen, Dutzende von Kattunhemden und Flanellunterhosen, Dutzende von Röcken und Blusen zur Aussteuer gekauft. Sie hatte sich gewünscht, als Jungfrau begraben zu werden, im bräutlichen Gewände, den Myrtenkranz auf dem Kopf, der Pfarrer sollte ihrem Sarg vorangehen, auf ihrem Grabstein die Inschrift künden: »Hier ruht die Jungfrau Juliane Jungermann.«

Es blieb Jule nichts erspart. Mutter allein wußte, daß sie keine Jungfrau war und einen Sohn hatte. Sie benachrichtigt den Sohn, groß und stattlich geht er hinter dem Sarge her, in dem Jule ohne Myrtenkranz ruht, er zählt die Strümpfe, die Hosen, die Hemden, die Röcke, die Blusen, er tut alles in eine große Kiste, dann fährt er ab. Aber der Pfarrer, der die treue Seele kannte, läßt sich erweichen und schreitet ihrem Sarge voran, er segnet die Tote und preist ihre Tugend.

 

Die Knabenschule löst sich auf, zuletzt bin ich der einzige Schüler. Pfarrer Kusch unterrichtet mich in seiner Wohnung, er hat es immer noch auf dem Herzen, die kleine Medizinflasche ist verschwunden, er trinkt den Schnaps aus Literflaschen.

Ich besuche das Realgymnasium in Bromberg, der Hauptstadt des Regierungsbezirkes. Anfangs wohne ich bei Lehrer Freundlich, später bei Frau Dr. Ley. Sie ist von ihrem Mann geschieden, als der zum Sanitätsrat ernannt wird, überlegt sie lange, ob sie das Namensschild nicht ändern und an der Erhöhung teilnehmen soll. Es gehört zum guten Ton, Klavier zu spielen, ich nehme Stunden beim Pianisten Spielmann. Spielmann ist zufrieden, doch ich darf nur zwischen fünf und sechs üben, mich empört diese Beschränkung, ich gebe das Klavierspielen auf.

Ich schreibe weiter Gedichte. Sie haben einen rebellischen Ton, eins beginnt:

Auf, erwacht!
Nennt ihr das ein freies Leben,
wenn ihr stets den Rücken beugt,
ob sie einen Blick euch geben,
seid ihr dazu denn gezeugt?
Wehret euch, ergreift die Peitsche,
duldet nicht die harte Fron,
tretet sie zu Boden nieder,
Freiheit ist dann euer Lohn!

Ich bekomme als Taschengeld fünfzig Pfennige die Woche, ein Apfelkuchen mit Schlagsahne kostet zwanzig Pfennig, ich will jeden Tag Apfelkuchen mit Schlagsahne essen. Ich schicke der »Ostdeutschen Rundschau« in Bromberg Berichte über meine Heimat. Für jede Zeile bezahlt mir die Redaktion zwei Pfennige. Es ist nicht schwer, Berichte zu dehnen, den Urtext finde ich in der Samotschiner Zeitung, ich schmücke ihn mit Beiworten und verändere die Zahlen. Wenn der Blitz beim Bauern Nowak einschlug und einen Ochsen tötete, schildere ich den schrecklichen Tod von einem halben Dutzend Ochsen. Das Schreiben gefällt mir, es ist schön, Worte zu reihen, ich feile die Phrasen, ich wechsle Verben und Adjektive, nicht mehr Zahlen, ich bastle stundenlang an holprigen Sätzen.

Klempnermeister Grun hat sein Grundstück einem Polen verkauft, ich bin darüber tief empört, ich stelle Gruns mangelnden Patriotismus bloß, ich fordere das Einschreiten der preußischen Behörde, welche Zeiten, schreibe ich, Moral und Sitte verfallen, die Deutschen sind nicht mehr auf der Wacht, was soll aus dem Vaterland werden.

 

Die Schulferien verbringe ich zu Hause. In Weißenhöhe verlasse ich den Zug, unser Wagen holt mich ab, am Eingang von Samotschin erwartet mich Julius.

»Schramms Kuh hat gekalbt«, schreit er. In den Wagen zu steigen, lehnt er ab, er läuft neben dem Wagen her und kündet allen Menschen, die uns begegnen:

»Tollers Ernst ist da.«

Wie oft habe ich Julius geärgert, wie oft habe ich mit den Kindern hinter ihm hergeschrien: »Tellerlecker Rawitsch!«

Julius ist ein närrischer Armenhäusler, dem jeden Tag eine andere Familie zu essen schenkt, und Rawitsch ist die Stadt, die das Zuchthaus beherbergt. Kein härterer Schimpf konnte Julius treffen, er blieb trotzdem mein Freund, er blieb aller Leute Freund, trotzdem alle ihn mit rohen Späßen demütigten. Seit Samotschin Bahnstation ward, geht er zu jedem Zug auf den Bahnhof. Steigt ein katholischer Priester aus dem Zug, will Julius ihm etwas Freundliches antun, er verbeugt sich und weist auf die Stadt: »Alles katholisch.«

Eines Abends laden ihn Bauern zum Schnaps ein. Es vergnügt sie zu sehen, wie er sich betrinkt. Als er, von epileptischen Krämpfen geschüttelt, Schaum vor dem Mund, auf die Erde sinkt, lassen sie ihn allein. Julius stirbt. Die Kunde seines armseligen Todes verbreitet sich nachts in der Stadt. Ich kann nicht schlafen, ich bin zum ersten Mal der Grausamkeit der Welt begegnet, ich fasse das Tun der Menschen nicht, sie könnten gut sein, ohne Mühe, und sie freuen sich am Bösen, am anderen Morgen schreibe ich diesen Aufsatz für die Samotschiner Zeitung:

»In voriger Woche starb der Arbeiter Julius.

Er lag von drei bis halb zehn in Krämpfen am Bahnhof, ohne daß man ihm Hilfe brachte oder einen Arzt herbeirief. Durfte es so weit kommen, daß ein sterbender Mensch von Gassenjungen mit Steinen beworfen und mit Wasser begossen wurde? Als die Polizei davon Kenntnis erhielt, wurde gesagt, daß sie das nichts anginge, da Julius auf dem Gebiete der Königlich Preußischen Eisenbahn liege. Konnte sie sich hier, wo es sich um das Leben eines Menschen handelte, an den Buchstaben des Gesetzes klammern? Hier war es doch gleichgültig, ob ein Mensch auf städtischem oder anderem Gebiet lag. Man sagt, so viel Aufhebens verdiene Julius gar nicht. Würde einem Tiere etwas zugestoßen sein, so wäre sofort Hilfe zur Stelle gewesen.«

Herr Knaute, der Redakteur, ist zufrieden.

Der Bürgermeister glaubt, seine Feinde in der Stadt steckten hinter diesem Angriff, er fühlt sich bedroht und beleidigt, in der nächsten Nummer der Zeitung inseriert er auf Stadtkosten:

»Warnung. Wenn der anonyme Schreiber des ›Eingesandt‹ sich nicht binnen drei Tagen meldet, werde ich einen Prozeß gegen Unbekannt anstrengen.«

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, anonym wirkt immer. Sie melden sich nicht«, sagt Herr Knaute.

Nach drei Tagen erstattet der Bürgermeister Strafanzeige, ein Verfahren gegen Unbekannt wird eingeleitet, Herr Knaute wird als Zeuge vernommen.

»Ich bin ein Journalist«, sagt er, »und werde niemals meine Mitarbeiter preisgeben, nur so viel darf ich verraten, es ist ein Jude gewesen.«

Herr Knaute wird wegen Zeugnisverweigerung zu dreißig Mark Geldstrafe verurteilt.

»Ich habe Sie nicht verraten«, sagt er, »ich bin ein Ehrenmann, auf mich können Sie bauen, die dreißig Mark zahlen Sie mir, bis morgen muß ich das Geld haben.«

Dreißig Mark! Von wo sollte ich dreißig Mark nehmen? Wenn ich sie nicht beschaffe, wird Herr Knaute meinen Namen nennen, ich werde mit Schimpf und Schande aus der Schule gejagt. Die Gemüter der kleinen Stadt sind erregt, man verfolgt mit Spannung den Prozeß. Der furchtsame Bürgermeister, wenn er über die Straße geht, läßt sich stets vom Polizisten begleiten. Durch einen Zufall erfährt mein Vater, daß ich der Verfasser des Aufsatzes bin, ich hätte es ihm nie gesagt. Er spricht nicht mit mir darüber, aber er geht zum Bürgermeister, er ist Stadtverordneter, der Bürgermeister zieht noch am selben Tage die Klage zurück.

Die Einstellung der Klage freut und empört mich; weil der Sohn eines Stadtverordneten ihn angegriffen hat, kneift der Bürgermeister, denke ich. Ich begreife, auch der Mut der Behörden hat Grenzen.

 

Wenige geleiten Julius zu Grabe, meist Kinder und Narren. Einer von ihnen heißt Louis. In jener Stunde necken ihn die Kinder nicht wie sonst. Louis ist unser Straßenkehrer. Immer war es sein Schmerz, daß er den Schmutz auf eine zweirädrige Karre laden mußte, darum hatte er in vielen Eingaben die Stadt gebeten, ihm einen Wagen zu bewilligen. Den Wagen bekam Louis nicht, wohl aber eine Karre mit drei Rädern, die liebte er zärtlich, und er nannte sie einen Wagen. Die Kinder rufen trotzdem: »Louis mit der Karre!«

Hört Louis diesen Ruf, hält er in der Arbeit inne und schimpft, und während er schimpft, steigert sich sein Schmerz, mit trauriger Stimme und mit tiefem Ernst versucht er den Kindern zu bedeuten, daß sein Leben eine Wendung erfahren habe, er schiebe nicht mehr eine zweirädrige Karre, sondern einen dreirädrigen Wagen, auch an ihm sei Gott nicht vorübergegangen, und die Zeit sei gekommen, da die Menschen das einsehen müßten.

 

Ein Freund meines Vaters, Besitzer eines Gutes, lädt mich ein, ich gehe mit ihm auf die Jagd, ich schieße Rebhühner und Bekassinen und Hasen. Herr Schauer fragt mich:

»Haben Sie gestern ein Reh angeschossen?«

Ich erschrecke. Ich war einem Reh begegnet, hatte angelegt, einen Moment bedacht, daß kein Rehposten, nur Hasenschrot in der Flinte stecke, dann in hitziger Leidenschaft geschossen. Das Tier war davongelaufen.

»Haben Sie gestern ein Reh angeschossen?« fragt mich wieder Herr Schauer.

»Ja«, sage ich leise.

»Hatten Sie Rehposten?«

»Nein, Schrot.«

»Sehen Sie sich das Tier an, es liegt an der Waldwiese, Sie werden nie mehr mit Schrot auf ein Reh schießen.«

Ich gehe auf die Waldwiese. Wie ich mich dem Reh nähere, steht es auf, schleppt sich ein paar Schritte und fällt zusammen. Ich sehe die großen feuchten braunen Augen, es ergreift mich die stumme Klage des hilflosen Tiers, ich weiß, ich werde nie mehr ein Gewehr in die Hand nehmen.

 

Die Lehrer des Gymnasiums grüßen die Lehrer des Realgymnasiums niemals zuerst, selbst die Mädchen flirten lieber mit den Gymnasiasten. Die Gymnasiasten lernen von alten Sprachen griechisch und lateinisch, die Realgymnasiasten nur lateinisch. Das Gymnasium gilt als die unverfälschte Pflanzstätte des klassischen Idealismus, vom Realgymnasium sagt man, daß es die jungen Menschen für das praktische Leben vorbereite.

Die Vorbereitung fürs praktische Leben heißt Mathematik. Wir lernen Formeln, die wir nicht verstehen und bald vergessen. Die Geschichte ist um der Zahlen willen da, unwichtig, daß wir Ereignisse in ihren Zusammenhängen erfassen, wichtig, daß wir die Daten von Schlachten und Regierungsantritten der Fürsten beherrschen. Napoleon war ein Dieb, der deutsche Schätze gestohlen hat, sogar die Ziegel der Kirchendächer. Wer in solchem Geist die Fragen des Lehrers nicht beantwortet, ist ein Gezeichneter, der unweigerlich im Zuchthaus enden wird. Vergrämte Lehrer stellen uns die gleichen Aufsatzthemen, die ihnen als Schüler gestellt wurden, ehrwürdige Phrasen, die Rost ansetzten. »Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld.« Wehe, wenn ein Schüler zu solchem Wort eigene Gedanken bringt, es stempelt ihn zum Verdächtigen, zum Anarchisten. Gottesfurcht und Untertanensinn, Gehorsam soll er lernen.

Ich bin heute ein schlechter, morgen ein guter Schüler, habe ich den Lehrer gern, bin ich fleißig, habe ich ihn nicht gern, bin ich faul.

Immer noch kämpfe ich um Gott, der Knabe hat ihn erschlagen, aber der Jüngling versucht ihn mit den erwachenden Kräften seiner Vernunft. Den Lehrer verwirre ich durch Fragen, er soll die Wunder biblischer Legenden mir erklären. »Wenn es am Anfang der Welt«, frage ich, »nur zwei Menschen gab, Adam und Eva, müssen die Kinder, Schwestern und Brüder, einander geheiratet haben.« Da er nicht antworten will, bestraft er mich und beschwert sich über den störrischen, unmoralischen Schüler. Über die Aufsatzthemen zu schreiben ist mir langweilig, ich wende mich an ein Institut in Leipzig, für solche Fälle geschaffen, und lasse mir den Aufsatz schicken, für jede Seite zahlt man zwanzig Pfennig.

Ich liebe die Bücher, die die Schule verbietet: Hauptmann und Ibsen, Strindberg und Wedekind.

Clio heißt unser literarischer Schülerverein. Professor Thieme, der Schuldirektor, erfährt, daß ich dort eine Szene aus »Rose Bernd« vorgelesen habe. Er zitiert mich in sein Zimmer. »Gerhart Hauptmann«, sagt er, »ist ein übermoderner, demokratischer Flachkopf, ich verbiete Ihnen solche Lektüre, lernen Sie Mathematik, das ist wichtiger fürs Leben.« Ich habe andere Vorstellungen vom Leben, ich schreibe Gedichte, Märchenspiele und Dramen. Die Dramen schicke ich dem Bromberger Stadttheater, ich bekomme nie eine Antwort, darum halte ich mich für verkannt. Ich will Schauspieler werden, bei Schüleraufführungen darf ich die großen Rollen spielen, in Geibels »Tod des Tiberius« bin ich Tiberius, ich sterbe mit dröhnender Pathetik.

In den Schulferien werde ich in einen kleinen Ferienort auf Rügen geschickt, ich bleibe nicht lange, ich fahre mit dem Dampfer nach Dänemark, ich durchwandere das Land, ich stehe an Hamlets falschem Grab, ich schwanke wie er zwischen Taten- und Todessehnsucht, und wenn ich wieder in der Schulklasse sitze, fühle ich mich gefesselt und gefangen.

 

Ich will Landwirt werden, ich träume das natürliche Leben im Wechsel der Jahreszeiten. Ich vergesse den Traum, ich nehme mir vor, es noch ein Jahr mit der Schule zu versuchen. Es quält mich, daß ich nicht weiß, was ich werden will, alle wissen es, nur ich nicht.

 

Mein Vater stirbt. In der Sterbestunde bin ich bei ihm, allein. Seine Hände tasten suchend über die Bettdecke, die Augen brennen blicklos, schwer stößt der Atem, er will aufstehen, ich drücke ihn ins Bett zurück.

»Ihr seid schuld«, stöhnt er, »du bist schuld.«

»Vater!« schreie ich entsetzt.

Mutter läuft ins Zimmer.

»Hol den Arzt!« ruft sie.

Vater beginnt zu röcheln, ich jage hinaus. Wie ich wiederkomme, ringt Mutter fassungslos die Hände und schluchzt ohne Tränen.

»Kinder, der Vater«, sagt sie und ist still.

Sie nimmt ein Tuch, bindet es dem Toten um Kinn und Haupt, drückt ihm die Augen zu, setzt sich neben sein Bett, und wie sie ihn ansieht, unverwandt, beginnt sie endlich zu weinen.

Ich liege in meinem Bett und friere, Frost kriecht die Beine herauf. Ich kann die Worte nicht vergessen, die Vater zuletzt gerufen hat, ich werde sie nicht vergessen, obwohl ich weiß, daß das Fieber sprach. Ich möchte, daß Vater noch einmal mich hört, möchte ihm sagen, daß ich wirklich keine Schuld trage, der Krebs ist schuld, Vater wird nie mehr antworten, er wird kalt, die Nase spitz, bald werde ich ihn nie mehr sehen, das ist der Tod.

 

Ein deutsches Kriegsschiff ist vor Agadir erschienen. Alle reden vom Krieg zwischen Frankreich und Deutschland. Die Professoren der Schule warnen uns vertraulich vor dem französischen Lektor, der als Austauschlehrer Sprachunterricht erteilt, alle Franzosen seien Spione, die harmlosen seien am gerissensten, wir sollten uns nicht ausfragen lassen, Monsieur melde jeden Furz nach Paris.

Wir Jungen wünschen den Krieg herbei, der Friede ist eine faule und der Krieg eine große Zeit, sagen die Professoren, wir sehnen uns nach Abenteuern, vielleicht werden uns die letzten Schuljahre erlassen, und wir sind morgen in Uniform, das wird ein Leben. Aber der Friede bleibt erhalten, die Lehrer auf dem Katheder vergessen die kriegerische Haltung, uns wird nicht eine Schulstunde geschenkt.

 

Die Haustür fällt ins Schloß. Ich höre das blecherne Knarren des Schlüssels. Aus dem Toreingang, der mich verbirgt, gehe ich quer über den Fahrdamm auf die andere Seite der Danziger Straße, bleibe dort stehen und starre auf das vertraute Fenster im zweiten Stock. Jetzt muß sie im ersten Stockwerk innehalten, ihre Hand wird im Dunkel des Flurs nach den Bogen des gewellten Geländers tasten, ihr Fuß die schiefe, ausgetretene Stufe der Treppe suchen, die zum zweiten Stockwerk führt.

Auf der schwarzen Hauswand leuchtet gelb ein Lichtfleck. Am Fenster schattet eine schmale graue Silhouette, helle Vorhänge schieben sich vor. Ich warte. Der Lichtfleck verschwindet, schwarz und traurig vermischt sich die Fläche mit der Finsternis.

Der Achtzehnjährige geht heim.

Seit einem Monat spielt sie am Bromberger Stadttheater, das erstemal sehe ich sie in »Jedermann«. Wie sie im weißen, faltigen Kleid auf die Bühne tritt, beuge ich mich weit über die Brüstung der Galerie und sehe nur noch sie, höre nur noch ihre Worte, spüre nur noch ihre Nähe. Jeden Tag sitze ich in der kleinen Konditorei gegenüber dem Theater und warte auf sie. Schweigend folge ich ihr bis zu dem vertrauten Haus in der Danziger Straße.

Zwei Monate später sagt Frau Möller, bei der ich wohne: »Maria Groß war eben hier, sie wird das Zimmer neben Ihnen mieten.«

Sie hat das Zimmer nicht gemietet, ich weiß nicht warum, aber wenn ich sie wiedersehe, grüße ich sie. Eines Mittags spricht sie mich an.

Sie ist die uneheliche Tochter einer Schauspielerin, sie sagt, das sei eine Schande. Ich sage, das sei keine Schande, im Gegenteil, manches Kind aus einer richtigen Ehe ist eine Schande. Sie sagt: »Sie wollen mich trösten.« Ich sage: »Ich schwöre, es ist die Wahrheit.«

Wir treffen uns jeden Tag. Ich erzähle Maria, daß ich Gedichte schreibe, ich sträube mich nicht, ihr einige vorzulesen.

»Herrlich sind sie«, sagt sie, »der Tonfall erinnert mich an Schiller, ich werde eines beim Wohltätigkeitsfest der Grenadiere zu Pferde vorlesen, obwohl mein Vater nicht bei der Kavallerie gedient hat.«

Ich sitze in ihrem Zimmer, ich bringe kein Wort hervor, sie sagt auch nichts, sie scheint auf etwas zu warten, ich weiß nicht, worauf sie wartet.

»Ich habe einen Bräutigam«, sagt sie endlich.

»Lieben Sie ihn?«

»Er nützt mich aus«, sagt sie, »er ist auch Schauspieler.«

»Er ist ein Schuft«, sage ich, »ich werde ihn töten.«

Maria steht auf, setzt sich neben mich aufs Sofa, lehnt ihren Kopf an meine Brust.

Ich möchte sie küssen, aber sie ist eine Heilige, Heilige darf man nicht küssen, wenn ich sie jetzt küsse, wird sie denken, ich nütze sie auch aus, wie der Schuft, der Bräutigam, ich schwöre mir, sie nie mehr zu küssen, ich werde sie retten.

Ich schreibe an Marias Mutter diesen Brief:

»Verehrte Frau«, schreibe ich, »vertrauen Sie mir, Ihre Tochter ist einem Schuft in die Hände gefallen. Ich liebe Ihre Tochter. Aber trotzdem dürfen Sie nichts Schlimmes von mir denken. Ich bin noch jung. In einigen Wochen mache ich mein Abiturientenexamen. Dann werde ich Ihre Tochter aus den Händen des Verführers befreien.«

Marias Mutter hat mir geantwortet.

»Junger Mann«, schreibt sie, »es ist schön, daß Sie meine Tochter lieben. Aber meine Tochter wird für sich selber sorgen. Bestehen Sie Ihr Examen mit Auszeichnung und vergessen Sie meine Tochter. Dieses wünscht Ihnen Marias unglückliche Mutter.«

Ich langweile Maria. Wenn ich in ihre Pension komme, sagt mir die Wirtin, Maria lerne und wünsche nicht gestört zu werden.

Am zweiten Examenstag liegt neben meinem Frühstück ein Brief vom Gericht. Ich öffne ihn und lese:

Ich hätte den Schauspieler X beleidigt, indem ich ihn einen Schuft nannte, Zeugin hierfür sei die Schauspielerin Maria Groß, und der Termin sei in zwei Wochen, ich solle vor Gericht erscheinen.

Ich gehe zurück in mein Zimmer, ich packe das Messer, mit dem ich den Schauspieler töten wollte, sie soll sehen, wie ich sie geliebt habe. Wenn ich vors Gericht komme, ist es sowieso mit dem Examen vorbei.

Mein Onkel, der Rechtsanwalt, lacht.

»Dem Schauspieler werde ich fünfzig Mark bieten, und er wird sich nicht mehr beleidigt fühlen.«

Das Examen habe ich bestanden, trotz der ungenügenden Arbeit des zweiten Prüfungstages.

Die Ehre des Schauspielers kostete fünfundzwanzig Mark mehr, als mein Onkel meinte.

 

An den Mauern des Gymnasiums locken die Reklameplakate der Universität Grenoble. Fort aus Deutschland, in Frankreich werde ich studieren und Maria verachten.

--> 2. Kapitel Student in FRANKREICH

[...]

4. Kapitel:

Die Front

Wir fahren über Metz der Front entgegen. Erst werden die Gespräche krampfhaft laut, wir kreischen uns Worte zu, alberne, zotige, törichte Worte, wir recken unsere Körper, wir ziehen die Knie an und sehen mit harten Augen in die Nacht. Wir fühlen uns als Frontsoldaten, wir spielen Frontsoldaten, wir öffnen die Patronentaschen, wir zählen die scharfe Munition, wir hantieren an den Schlössern unserer Karabiner. Die Worte werden leiser, sie tropfen in die dicke, stehende Luft. Die Lichter in den Abteilen verlöschen. Mit geblendeten Scheinwerfern fährt der Zug weiter. Nun spricht keiner mehr, wir atmen stiller, die verkrampfte Haltung löst sich, wir spielen nicht mehr Frontsoldaten, da wir die Front hören. Bald nach Metz hämmert sie an unsere Ohren. Der Zug hält auf offener Strecke, wir steigen aus. Leute stehen da, die uns erwarten. Wir marschieren durch die Nacht, Regen weicht unsere Kleider, die Tornister drücken, wir erreichen ein Dorf. Wir stolpern durch Straßen, der Führer klopft an Fensterläden, eine Tür wird geöffnet, wir treten in die Küche des Geschützzuges, dem wir zugeteilt worden sind. Ein dicker Soldat gibt uns heißen Kaffee.

»Alle drei Kriegsmutwillige!« schreit unser Führer.

»Drei Idioten mehr«, sagt der Koch. [...]

Ich stehe im Graben, mit dem Pickel schürfe ich die Erde. Die stählerne Spitze bleibt hängen, ich zerre und ziehe sie mit einem Ruck heraus. An ihr hängt ein schleimiger Knoten, und wie ich mich beuge, sehe ich, es ist menschliches Gedärm. Ein toter Mensch ist hier begraben. Ein – toter – Mensch.

Warum halte ich inne? Warum zwingen diese Worte zum Verweilen, warum pressen sie mein Hirn mit der Gewalt eines Schraubstocks, warum schnüren sie mir die Kehle zu und das Herz ab? Drei Worte wie irgendwelche drei andern.

Ein toter Mensch – ich will endlich diese drei Worte vergessen, was ist nur an diesen Worten, warum übermächtigen und überwältigen sie mich?

Ein – toter – Mensch –

Und plötzlich, als teile sich die Finsternis vom Licht, das Wort vom Sinn, erfasse ich die einfache Wahrheit Mensch, die ich vergessen hatte, die vergraben und verschüttet lag, die Gemeinsamkeit, das Eine und Einende.

Ein toter Mensch.

Nicht: ein toter Franzose.

Nicht: ein toter Deutscher.

Ein toter Mensch.

Alle diese Toten sind Menschen, alle diese Toten haben geatmet wie ich, alle diese Toten hatten einen Vater, eine Mutter, Frauen, die sie liebten, ein Stück Land, in dem sie wurzelten, Gesichter, die von ihren Freuden und ihren Leiden sagten, Augen, die das Licht sahen und den Himmel. In dieser Stunde weiß ich, daß ich blind war, weil ich mich geblendet hatte, in dieser Stunde weiß ich endlich, daß alle diese Toten, Franzosen und Deutsche, Brüder waren und daß ich ihr Bruder bin. – Nun kann ich an keinem Toten mehr vorbeigehen, ohne innezuhalten, sein Antlitz zu betrachten, dessen erdige Patina, eine undurchdringliche Mauer, ihn der vertrauten Zeit entrückt; wer warst du, frage ich, von wo kommst du, wer trauert um dich? Niemals frage ich: Warum mußtest du sterben? Niemals: wer ist schuld? Alle verteidigen ihr Land, der Deutsche Deutschland, der Franzose Frankreich, alle erfüllen ihre Pflicht. [...]

5. Kapitel [...]

Thomas Mann lädt mich in sein Haus, meine Rocktasche ist mit Dutzenden von Gedichtmanuskripten vollgestopft, unruhig rücke ich beim Tee hin und her, wann wird es schicklich sein, ihm einige Verse vorzulesen, endlich wag' ich's. »Hm«, sagt er und nochmals »Hm«, bedeutet es Lob, bedeutet es Tadel? Er läßt sich die Manuskripte geben, er liest mit mir jede Zeile, lobt diese und sagt, warum die andere unzulänglich, bewundernswert ist seine Geduld, gemessen und väterlich sein Rat. Er behält sich einige Papiere, zwei Tage später schreibt er mir einen langen Brief, er hat sie nochmals geprüft und belehrt den jungen Menschen, der diese schöne Haltung nie vergißt.

 

In einem Buchladen begegne ich Rainer Maria Rilke. »Ich habe seit Jahren keine Verse mehr geschrieben«, sagt Rilke leise, »der Krieg hat mich stumm gemacht.«

Der Krieg? Das Wort verschattet meine Augen, seit Wochen habe ich keine Zeitungen mehr gelesen, ich will nichts wissen vom Krieg, nichts hören.

Ich gehe in die Gemäldegalerien, ich fahre mit der Frau, die ich liebe, an die bayerischen Seen, wir hören Konzerte, Bach, Beethoven, Schubert. Im Sturz der Musik vergesse ich die Klage des Menschen, der hilflos zwischen den Gräben verging. [...]