26 November 2019

Keller: Der grüne Heinrich: Versuche, sich Anna anzunähern und ein eigenes Urteil zu entwickeln

"Ich hatte, nach Büchern herumspürend, einen Roman des Jean Paul in die Hände bekommen. In demselben schien mir plötzlich alles tröstend und erfüllend entgegenzutreten, was ich bisher gewollt und gesucht oder unruhig und dunkel empfunden. Diese Herrlichkeit machte mich stutzen, dies schien mit das Wahre und Rechte! Und inmitten der Abendröten und Regenbogen, der Lilienwälder und Sternensaaten, der rauschenden und blitzenden Gewitter, inmitten all des Feuerwerkes der Höhe und Tiefe, in diesen saumlosen schillernden Weltmantel gehüllt der Unendliche, groß, aber voll Liebe, heilig, aber ein Gott des Lächelns und des Scherzes, furchtbar von Gewalt, doch sich schmiegend und bergend in eine Kinderbrust, hervorguckend aus einem Kindesauge, wie das Osterhäschen aus Blumen! Das war ein andrer Herr und Gönner, als der silbenstecherische Patron im Katechismus! [...]
Wenn ich nach malerischen Gegenständen umherstreifte, so suchte ich vorzüglich die Stellen auf, wo ich mit Anna geweilt hatte; so war die geheimnisvolle Felswand am Wasser, wo ich mit ihr geruht und jene Erscheinung gesehen, schon von mir gezeichnet worden, und ich konnte mich nun nicht enthalten, auf der schneeweißen Wand des Kämmerchens ein sauberes Viereck zu ziehen und das Bild mit der Heidenstube, so gut ich konnte, hineinzumalen. Dies sollte ein stiller Gruß für sie sein und ihr später bezeugen, wie beständig ich an sie gedacht. Diese fortwährende Erinnerung an sie und ihre Abwesenheit machten mich insgeheim immer kecker und vertraulicher mit ihrem Bilde; ich begann lange Liebesbriefe an sie zu schreiben, die ich zuerst verbrannte, dann aufbewahrte, und zuletzt wurde ich so verwegen, alles, was ich für Anna fühlte, auf ein offenes Blatt zu schreiben, in den heftigsten Ausdrücken, mit Vorsetzung ihres vollen Namens und Unterschrift des meinigen, und dies Blatt auf das Flüßchen zu legen, daß es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und dem Meere zu, wie ich kindischerweise dachte. Ich kämpfte lange mit diesem Vorsatze, allein ich unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende Tat für mich und ein Bekenntnis meines Geheimnisses, wobei ich freilich voraussetzte, daß es in nächster Nähe niemand finden würde. Ich sah, wie es gemächlich von Welle zu Welle schlüpfte, hier von einer überhängenden Staude aufgehalten wurde, dann lange an einer Blume hing, bis es sich nach langem Besinnen losriß; zuletzt kam es in Schuß und schwamm flott dahin, daß ich es aus den Augen verlor. Allein der Brief mußte unterwegs doch wieder irgendwo gesäumt haben, denn erst tief in der Nacht gelangte er zu der Felswand der Heidenstube, an die Brust einer badenden Frau, welche niemand anders als Judith war, die ihn auffing, las und aufbewahrte. [...]
Daß mir nur die Possen wiedervergolten worden, die ich meinem Lehrer Habersaat mit jenen schwindelhaften Naturstudien gespielt hatte, daran dachte ich nicht im Traume.
[...]
Während der Pfarrer predigte und ich Anna in Gedanken aufmerksam und still dasitzen sah, nahm ich Papier und Feder und schrieb meine Gefühle für sie in feurigen Worten nieder. Ich erinnerte sie an die zärtliche Begebenheit auf dem Grabe der Großmutter, nannte sie mit ihrem Namen und brachte so häufig als möglich das Du an, welches ehedem zwischen uns gebräuchlich gewesen. Ich ward ganz beglückt über diesem Schreiben, hielt manchmal inne und fuhr dann in um so schöneren Worten wieder fort. Das Beste, was in meiner zufälligen und zerstreuten Bildung angesammelt lag, befreite sich hier und vermischte sich mit der Empfindung meiner augenblicklichen Lage. Überdies wob sich eine schwermütige Stimmung durch das Ganze, und als das Blatt vollgeschrieben war, durchlas ich es mehrere Male, als ob ich damit jedes Wort der Anna ins Herz rufen könnte. Dann reizte es mich, das Blatt offen auf dem Tische liegen zu lassen und in den Garten zu gehen, damit es der Himmel oder sonst wer durch das offene Fenster lesen könne; aber nur die völlige Sicherheit, daß jetzt noch keine menschliche Seele in der Nähe sei, gab mir diese Verwegenheit, mit welcher ich zwischen den Beeten auf und nieder spazierte, nach dem Fenster hinauf schauend, hinter welchem meine schöne Liebeserklärung lag. Ich glaubte etwas Rechtes getan zu haben und fühlte mich zufrieden und befreit, verfügte mich aber bald wieder in die Stube, da ich dem Frieden doch nicht recht traute, und kam gerade dort an, als das Blatt, durch den Luftzug getragen, zum Fenster hinaussäuselte. Es setzte sich auf einem Apfelbaume nieder; ich lief wieder in den Garten; dort sah ich es sich erheben und mit einem gewaltigen Schusse auf das Bienenhaus zufliegen, wo es hinter einem vollen summenden Bienenkorbe sich festklemmte und verschwand. Ich näherte mich dem Korbe; allein die Bienen waren, in Betracht der kurzen Sommerzeit, polizeilich von der Sonntagsfeier dispensiert, ihre Arbeit als Notwerk erklärt; es summte und kreuzte sich vor dem Hause, daß an kein Durchkommen zu denken war. [...]
Gleich einem Stare wußte er alle Systeme von Thales bis auf heute herzusagen; allein er verstand sie immer im wörtlichsten und sinnlichsten Sinn, wobei besonders seine Auffassung der Gleichnisse und Bilder einen komischen Unfug hervorbrachte. Wenn er von Spinoza sprach, so war ihm nicht etwa die Idee aller möglichen Stühle der Welt, als ein Stück zweckmäßig gebrauchter Materie, der Modus, sondern der einzelne Stuhl, der gerade vor ihm stand, war ihm der fertige und vollständige Modus, in welchem die göttliche Substanz in wirklichster Gegenwart steckte, und der Stuhl wurde dadurch geheiligt. Bei Leibniz fiel ihm nicht etwa die Welt in einem greulichen Monadenstaub auseinander, sondern die Kaffeekanne auf dem Tisch, mit welcher er gerade exemplierte, drohte auseinander zu gehen und der Kaffee, welcher im Gleichnis nicht mitbegriffen, auf den Tisch zu fließen, so daß der Philosoph sich beeilen mußte durch die prästabilierte Harmonie die Kanne zusammenzuhalten, wenn wir den erquickenden Trank genießen wollten. Bei Kant hörte man das göttliche Postulat so leibhaftig und zierlich erklingen, wie ein Posthörnchen, aus der tiefen Ferne der innersten Brust; bei Fichte verschwand wieder alle Wirklichkeit gleich den Trauben in Auerbachs Keller, nur daß wir nicht einmal an unsere Nasen glauben durften, welche wir in den Händen hielten; wenn Feuerbach sagte: »Gott ist nichts anderes, als was der Mensch aus seinem eigenen Wesen und nach seinen Bedürfnissen abgezogen und zu Gott gemacht hat, folglich ist niemand als der Mensch dieser Gott selbst«, so versetzte sich der Philosoph sogleich in einen mystischen Nimbus und betrachtete sich selbst mit anbetender Verehrung, so daß bei ihm, indem er die religiöse Bedeutung des Wortes immer beibehielt, zu einer komischen Blasphemie wurde, was im Buche die strengste Entsagung und Selbstbeschränkung war. [...]
Der Freiheitssinn meines Vaters in religiöser Hinsicht war vorzüglich gegen die Übergriffe des Ultramontanismus und gegen die Unduldsamkeit und Verknöcherung reformierter Orthodoxen gerichtet, gegen absichtliche Verdummung und Heuchelei jeder Art, und das Wort Pfaff war bei ihm daher öfter zu hören. Würdige Geistliche ehrte er aber und freute sich, ihnen Ergebenheit zu zeigen, und wenn es womöglich ein erzkatholischer, aber ehrenwerter Priester war, welchem er Ehrerbietung beweisen konnte, so machte ihm dies um so größeres Vergnügen, gerade weil er sich im Schoße der Zwinglischen Kirche sehr geborgen fühlte. Das Bild des humanen und freien Reformators, der auf dem Schlachtfelde gefallen, war meinem Vater ein geliebter sicherer Führer und Bürge. Ich aber stand nun auf einem anderen Boden und fühlte wohl, daß ich bei aller Verehrung für den Reformator und Helden doch nicht eines Glaubens mit meinem Vater sein würde, während ich seiner vollkommenen Duldsamkeit und Achtung für die Unabhängigkeit meiner Überzeugung gewiß war. [...]
(Keller: Der grüne Heinrich ab Kapitel 5)

19 November 2019

Balzac: Die menschliche Komödie - Vetter Pons oder die beiden Musiker

Die menschliche Komödie (Konzeption des Romanzyklus - Wikipedia)
La Comédie humaine

Le Cousin Pons (Vetter Pons)

Vetter Pons mit seinem altmodischen Spencer und seinen drei Westen übereinander nötigt den blasierten Parisern von 1844 doch immer weider ein Lächeln ab. 

"[...]  Ce vieillard, sec et maigre, portait un spencer couleur noisette sur un habit verdâtre à boutons de métal blanc ! … Un homme en spencer, en 1844, c’est, voyez-vous, comme si Napoléon eût daigné ressusciter pour deux heures.
Spencer um 1800 (Wikipedia Commons)


Le spencer fut inventé, comme son nom l’indique, par un lord sans doute vain de sa jolie taille. Avant la paix d’Amiens, cet Anglais avait résolu le problème de couvrir le buste sans assommer le corps par le poids de cet affreux carrick qui finit aujourd’hui sur le dos des vieux cochers de fiacre ; mais comme les fines tailles sont en minorité, la mode du spencer pour homme n’eut en France qu’un succès passager, quoique ce fût une invention anglaise. [...]
Sous ce chapeau, qui paraissait près de tomber, s’étendait une de ces figures falotes et drolatiques comme les Chinois seuls en savent inventer pour leurs magots. Ce vaste visage percé comme une écumoire, où les trous produisaient des ombres, et refouillé comme un masque romain, démentait toutes les lois de l’anatomie. Le regard n’y sentait point de charpente. Là où le dessin voulait des os, la chair offrait des méplats gélatineux, et là où les figures présentent ordinairement des creux, celle-là se contournait en bosses flasques. Cette face grotesque, écrasée en forme de potiron, attristée par des yeux gris surmontés de deux lignes rouges au lieu de sourcils, était commandée par un nez à la don Quichotte, comme une plaine est dominée par un bloc erratique. Ce nez exprime, ainsi que Cervantes avait dû le remarquer, une disposition native à ce dévouement aux grandes choses qui dégénère en duperie. Cette laideur, poussée tout au comique, n’excitait cependant point le rire. La mélancolie excessive qui débordait par les yeux pâles de ce pauvre homme atteignait le moqueur et lui glaçait la plaisanterie sur les lèvres. On pensait aussitôt que la nature avait interdit à ce bonhomme d’exprimer la tendresse, sous peine de faire rire une femme ou de l’affliger. Le Français se tait devant ce malheur, qui lui paraît le plus cruel de tous les malheurs : ne pouvoir plaire ! [...]

Da er wegen seiner abgrundtiefen Hässlichkeit den Frauen nicht gefallen kann, hat er zwei andere Leidenschaften entwickelt: das Sammeln von Kunst, genauer von Bric-à-Brac, und gutes Essen. Zwar kauft und ertauscht er nur Kunst, an die er sehr günstig kommen kann, doch trotzdem kann er seiner Guremet-Leidenschaft wegen seines knappen Gehalts als Kapellmeister nur bei Einladungen frönen, doch wusste er sich, seit er als Künstler weniger en vogue war, durch kleine Dienste bei den Gastgebern beliebt zu machen. In den letzten Jahren klappt aber auch das nicht mehr und er muss sich auf einige wenige Familien beschränken, bei denen er sich als zumindest weitläufiger Vetter bezeichnen kann. 

Entre Pons et monsieur Sauvageot, il se rencontrait quelques ressemblances. Monsieur Sauvageot, musicien comme Pons, sans grande fortune aussi, a procédé de la même manière, par les mêmes moyens, avec le même amour de l’art, avec la même haine contre ces illustres riches qui se font des cabinets pour faire une habile concurrence aux marchands. De même que son rival, son émule, son antagoniste pour toutes ces œuvres de la Main, pour ces prodiges du travail, Pons se sentait au cœur une avarice insatiable, l’amour de l’amant pour une belle maîtresse, et la revente, dans les salles de la rue des Jeûneurs, aux coups de marteau des commissaires-priseurs, lui semblait un crime de lèse Bric-à-Brac. Il possédait son musée pour en jouir à toute heure, car les âmes créées pour admirer les grandes œuvres, ont la faculté sublime des vrais amants ; ils éprouvent autant de plaisir aujourd’hui qu’hier, ils ne se lassent jamais, et les chefs-d’œuvre sont, heureusement, toujours jeunes. Aussi l’objet tenu si paternellement devait-il être une de ces trouvailles que l’on emporte, avec quel amour ! amateurs, vous le savez ! [...]

Und dann traf ihn das Glück, dass er im Alter eine Männerfreundschaft mit einem anderen Musiker begründen konnte, mit Schmucke. Schmucke spielt Klavier und "wie alle Klavierspieler" ist er Deutscher. Die lange Liste deutscher Klavierspieler, die Balzac aufzählt und von denen man heute schon viele kaum noch kennt, lässt - wie die sehr ausführliche Beschreibung von Einzelheiten - fast den Verdacht aufkommen, dass Balzac Zeilenschinderei betreibt. Doch es ist nicht zuletzt die Genauigkeit der Milieuschilderung, die Balzacs "menschliche Komödie" als Zeidokument so wertvoll macht.
En 1835, le hasard vengea Pons de l’indifférence du beau sexe, il lui donna ce qu’on appelle, en style familier, un bâton de vieillesse. Ce vieillard de naissance trouva dans l’amitié un soutien pour sa vie, il contracta le seul mariage que la société lui permît de faire, il épousa un homme, un vieillard, un musicien comme lui. Sans la divine fable de La Fontaine, cette esquisse aurait eu pour titre les Deux Amis. Mais n’eût-ce pas été comme un attentat littéraire, une profanation devant laquelle tout véritable écrivain reculera ? Le chef-d’œuvre de notre fabuliste, à la fois la confidence de son âme et l’histoire de ses rêves, doit avoir le privilège éternel de ce titre. Cette page, au fronton de laquelle le poète a gravé ces trois mots : les Deux Amis, est une de ces propriétés sacrées, un temple où chaque génération entrera respectueusement et que l’univers visitera, tant que durera la typographie.
L’ami de Pons était un professeur de piano, dont la vie et les mœurs sympathisaient si bien avec les siennes, qu’il disait l’avoir connu trop tard pour son bonheur ; car leur connaissance, ébauchée à une distribution de prix, dans un pensionnat, ne datait que de 1834. Jamais peut-être deux âmes ne se trouvèrent si pareilles dans l’océan humain qui prit sa source au paradis terrestre contre la volonté de Dieu : Ces deux musiciens devinrent en peu de temps l’un pour l’autre une nécessité. Réciproquement confidents l’un de l’autre, ils furent en huit jours comme deux frères. Enfin Schmucke ne croyait pas plus qu’il pût exister un Pons, que Pons ne se doutait qu’il existât un Schmucke. Déjà, ceci suffirait à peindre ces deux braves gens, mais toutes les intelligences ne goûtent pas les brièvetés de la synthèse. Une légère démonstration est nécessaire pour les incrédules.
Ce pianiste, comme tous les pianistes ; était un Allemand, Allemand comme le grand Listz et le grand Mendelssohn, Allemand comme Steibelt, Allemand comme Mozart et Dusseck, Allemand comme Meyer, Allemand comme Doelher, Allemand comme Thalberg, comme Dreschok, comme Hiller, comme Léopold Mayer, comme Crammer, comme Zimmerman et Kalkbrenner, comme Herz, Woëtz, Karr, Wolff, Pixis, Clara Wieck, et particulièrement tous les Allemands. Quoique grand compositeur, Schmucke ne pouvait être que démonstrateur, tant son caractère se refusait à l’audace nécessaire à l’homme de génie pour se manifester en musique. La naïveté de beaucoup d’Allemands n’est pas continue, elle a cessé ; celle qui leur est restée à un certain âge, est prise, comme on prend l’eau d’un canal, à la source de leur jeunesse, et ils s’en servent pour fertiliser leur succès en toute chose, science, art ou argent, en écartant d’eux la défiance. En France, quelques gens fins remplacent cette naïveté d’Allemagne par la bêtise de l’épicier parisien. Mais Schmucke avait gardé toute sa naïveté d’enfant, comme Pons gardait sur lui les reliques de l’Empire, sans s’en douter. Ce véritable et noble Allemand était à la fois le spectacle et les spectateurs, il se faisait de la musique à lui-même. Il habitait Paris, comme un rossignol habite sa forêt, et il y chantait seul de son espèce, depuis vingt ans, jusqu’au moment où il rencontra dans Pons un autre lui-même. (Voir Une fille d’Ève.) [...]
Au moment où Pons rencontra Schmucke, il venait d’obtenir, sans l’avoir demandé, le bâton de maréchal des compositeurs inconnus, un bâton de chef d’orchestre ! Grâce au comte Popinot, alors ministre, cette place fut stipulée pour le pauvre musicien, au moment où ce héros bourgeois de la révolution de Juillet fit donner un privilège de théâtre à l’un de ces amis dont rougit un parvenu, quand, roulant en voiture, il aperçoit dans Paris un ancien camarade de jeunesse, triste-à-patte, sans sous-pieds, vêtu d’une redingote à teintes invraisemblables, et le nez à des affaires trop élevées pour des capitaux fuyards. Ancien commis voyageur, cet ami, nommé Gaudissard, avait été jadis fort utile au succès de la grande maison Popinot. Popinot, devenu comte, devenu pair de France après avoir été deux fois ministre, ne renia point l’Illustre Gaudissard ! Bien plus, il voulut mettre le voyageur en position de renouveler sa garde-robe et de remplir sa bourse ; car la politique, les vanités de la cour citoyenne n’avaient point gâté le cœur de cet ancien droguiste. Gaudissard, toujours fou des femmes, demanda le privilège d’un théâtre alors en faillite, et le ministre, en le lui donnant, eut soin de lui envoyer quelques vieux amateurs du beau sexe, assez riches pour créer une puissante commandite amoureuse de ce que cachent les maillots. Pons, parasite de l’hôtel Popinot, fut un appoint du privilège. La compagnie Gaudissard, qui fit d’ailleurs fortune, eut en 1834 l’intention de réaliser au Boulevard cette grande idée : un opéra pour le peuple. La musique des ballets et des pièces féeries exigeait un chef d’orchestre passable et quelque peu compositeur. [...] 
— Monsieur, il y a là, dit-il à son patron, un homme qui veut parler à monsieur Schmucke…
Le notaire, sur un geste de Fraisier, haussa les épaules significativement.
— Ne nous dérangez donc jamais quand nous signons des actes. Demandez le nom de ce… Est-ce un homme ou un monsieur ? est-ce un créancier…
Le clerc revint et dit : — Il veut absolument parler à monsieur Schmucke.
— Son nom ?
— Il s’appelle Topinard.
— J’y vais. Signez tranquillement, dit Gaudissard à Schmucke. Finissez, je vais savoir ce qu’il nous veut.
Gaudissard avait compris Fraisier, et chacun d’eux flairait un danger.
— Que viens-tu faire ici ? dit le directeur au gagiste. Tu ne veux donc pas être caissier ? Le premier mérite d’un caissier… c’est la discrétion.
— Monsieur !.
— Va donc à tes affaires, tu ne seras jamais rien si tu te mêles de celles des autres.
— Monsieur, je ne mangerai pas de pain dont toutes les bouchées me resteraient dans la gorge !… — Monsieur Schmucke ! criait-il…
Schmucke, qui avait signé, qui tenait son argent à la main, vint à la voix de Topinard.
— Voici pir la bedide Allemande et pir fus
— Ah ! mon cher monsieur Schmucke, vous avez enrichi des monstres, des gens qui veulent vous ravir l’honneur. J’ai porté cela chez un brave homme, un avoué qui connaît ce Fraisier, et il dit que vous devez punir tant de scélératesse en acceptant le procès et qu’ils reculeront… Lisez.
Et cet imprudent ami donna l’assignation envoyée à Schmucke, cité Bordin. Schmucke prit le papier, le lut, et en se voyant traité comme il l’était, ne comprenant rien aux gentillesses de la procédure, il reçut un coup mortel. Ce gravier lui boucha le cœur. Topinard reçut Schmucke dans ses bras ; ils étaient alors tous deux sous la porte cochère du notaire. Une voiture vint à passer, Topinard y fit entrer le pauvre Allemand, qui subissait les douleurs d’une congestion séreuse au cerveau. La vue était troublée ; mais le musicien eut encore la force de tendre l’argent à Topinard. Schmucke ne succomba point à cette première attaque, mais il ne recouvra point la raison ; il ne faisait que des mouvements sans conscience ; il ne mangea point ; il mourut en dix jours sans se plaindre, car il ne parla plus. Il fut soigné par madame Topinard, et fut obscurément enterré côte à côte avec Pons, par les soins de Topinard, la seule personne qui suivit le convoi de ce fils de l’Allemagne.
Fraisier, nommé juge de paix, est très intime dans la maison du président, et très apprécié par la présidente, qui n’a pas voulu lui voir épouser la fille à Tabareau ; elle promet infiniment mieux que cela à l’habile homme à qui, selon elle, elle doit non seulement l’acquisition des prairies de Marville et le cottage, mais encore l’élection de monsieur le président, nommé député à la réélection générale de 1846.
Tout le monde désirera sans doute savoir ce qu’est devenue l’héroïne de cette histoire, malheureusement trop véridique dans ses détails, et qui, superposée à la précédente, dont elle est la sœur jumelle, prouve que la grande force sociale est le caractère. Vous devinez, ô amateurs, connaisseurs et marchands, qu’il s’agit de la collection de Pons ! Il suffira d’assister à une conversation tenue chez le comte Popinot, qui montrait, il y a peu de jours, sa magnifique collection à des étrangers.
— Monsieur le comte, disait un étranger de distinction, vous possédez des trésors !
— Oh ! milord, dit modestement le comte Popinot, en fait de tableaux, personne, je ne dirai pas à Paris, mais en Europe, ne peut se flatter de rivaliser avec un inconnu, un Juif nommé Élie Magus, vieillard maniaque, le chef des tableaumanes. Il a réuni cent et quelques tableaux qui sont à décourager les amateurs d’entreprendre des collections. La France devrait sacrifier sept à huit millions et acquérir cette galerie à la mort de ce richard… Quant aux curiosités, ma collection est assez belle pour qu’on en parle…
— Mais comment un homme aussi occupé que vous l’êtes, dont la fortune primitive a été si loyalement gagnée dans le commerce…
— De drogueries, dit Popinot, a pu continuer à se mêler de drogues…
— Non, reprit l’étranger, mais où trouvez-vous le temps de chercher ? Les curiosités ne viennent pas à vous…
— Mon père avait déjà, dit la vicomtesse Popinot, un noyau de collection, il aimait les arts, les belles œuvres ; mais la plus grande partie de ses richesses vient de moi !
— De vous ! madame ?… si jeune ! vous aviez ces vices-là, dit un prince russe.
Les Russes sont tellement imitateurs, que toutes les maladies de la civilisation se répercutent chez eux. La bricabracomanie fait rage à Pétersbourg, et par suite du courage naturel à ce peuple, il s’ensuit que les Russes ont causé dans l’article, dirait Rémonencq, un renchérissement de prix qui rendra les collections impossibles. Et ce prince était à Paris uniquement pour collectionner.
— Prince, dit la vicomtesse, ce trésor m’est échu par succession d’un cousin qui m’aimait beaucoup et qui avait passé quarante et quelques années, depuis 1805, à ramasser dans tous les pays, et principalement en Italie, tous ces chefs-d’œuvre…
— Et comment l’appelez-vous ? demanda le milord.
— Pons ! dit le président Camusot.
— C’était un homme charmant, reprit la présidente de sa petite voix flûtée, plein d’esprit, original, et avec cela beaucoup de cœur. Cet éventail que vous admirez, milord, et qui est celui de madame de Pompadour, il me l’a remis un matin en me disant un mot charmant que vous me permettrez de ne pas répéter…
Et elle regarda sa fille.
— Dites-nous le mot, demanda le prince russe, madame la vicomtesse.
— Le mot vaut l’éventail !… répondit la vicomtesse dont le mot était stéréotypé. Il a dit à ma mère qu’il était bien temps que ce qui avait été dans les mains du vice restât dans les mains de la vertu.
Le milord regarda madame Camusot de Marville d’un air de doute extrêmement flatteur pour une femme si sèche.
— Il dînait trois ou quatre fois par semaine chez moi, reprit-elle, il nous aimait tant ! nous savions l’apprécier, les artistes se plaisent avec ceux qui goûtent leur esprit. Mon mari était d’ailleurs son seul parent. Et quand cette succession est arrivée à monsieur de Marville, qui ne s’y attendait nullement, monsieur le comte a préféré acheter tout en bloc plutôt que de voir vendre cette collection à la criée ; et nous aussi nous avons mieux aimé la vendre ainsi, car il est si affreux de voir disperser de belles choses qui avaient tant amusé ce cher cousin. Élie Magus fut alors l’appréciateur, et c’est ainsi, milord, que j’ai pu avoir le cottage bâti par votre oncle, et où vous nous ferez l’honneur de venir nous voir.
Le caissier du théâtre, dont le privilège cédé par Gaudissard a passé depuis un an dans d’autres mains, est toujours monsieur Topinard ; mais monsieur Topinard est devenu sombre, misanthrope, et parle peu ; il passe pour avoir commis un crime, et les mauvais plaisants du théâtre prétendent que son chagrin vient d’avoir épousé Lolotte. Le nom de Fraisier cause un soubresaut à l’honnête Topinard. Peut-être trouvera-t-on singulier que la seule âme digne de Pons se soit trouvée dans le troisième dessous d’un théâtre des boulevards.
Madame Rémonencq, frappée de la prédiction de madame Fontaine, ne veut pas se retirer à la campagne, elle reste dans son magnifique magasin du boulevard de la Madeleine, encore une fois veuve. En effet, l’Auvergnat, après s’être fait donner par contrat de mariage les biens au dernier vivant, avait mis à portée de sa femme un petit verre de vitriol, comptant sur une erreur, et sa femme, dans une intention excellente, ayant mis ailleurs le petit verre, Rémonencq l’avala. Cette fin, digne de ce scélérat, prouve en faveur de la Providence que les peintres de mœurs sont accusés d’oublier, peut-être à cause des dénouements de drames qui en abusent.
Excusez les fautes du copiste !"
https://fr.wikisource.org/wiki/Le_Cousin_Pons

Vetter Pons ist eine "Durchleuchtung der menschlichen Leidenschaften, wie die französische Literatur sie nie mehr übertroffen hat." (Stefan Zweig)

18 November 2019

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (erste Fassung): Heinrich Lee

"[...] Unter einer offenen Halle dieses Waldes ging am frühsten Ostermorgen ein junger Mensch; er trug ein grünes Röcklein mit übergeschlagenem schneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine schwarze Samtmütze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhäher steckte. Diese Dinge, nebst Ort und Tageszeit, kündigten den zwanzigjährigen Gefühlsmenschen an. Es war Heinrich Lee, der heute von der bisher nie verlassenen Heimat scheiden und in die Fremde nach Deutschland ziehen wollte; hier heraufgekommen, um den letzten Blick über sein schönes Heimatland zu werfen, beging er zugleich den Akt eines Naturkultus, wie es häufig bei hoffnungsreichen und enthusiastischen Jünglingen geschieht.
Sowenig, außer dem tiefen ruhigen Strömen des Flusses, ein Ton in dieser Frühe hörbar wurde, ebensowenig war an der weiten tiefen himmlischen Kristallglocke der leiseste Hauch eines Wölkleins zu sehen. Der weite See verschmolz mit den Füßen des Hochgebirges in eine blaugraue Dämmerung; die Schneekuppen und Hörner standen milchblaß in der Frühe. Als Heinrich an den Rand des Waldes trat, überflog der erste Rosenschimmer[13] der nahenden Sonne die geisterhaften Gebilde; über dem letzten einsamen Eisaltar glimmte noch der Morgenstern. [...]"

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich - Judith und Anna

Judith
"[...]So war ich eines Abends, vom Berge kommend, bei ihr eingekehrt: sie saß hinter dem Hause am Brunnen und hatte soeben einen Korb grünen Salat gereinigt; ich hielt ihre Hände unter den klaren Wasserstrahl, wusch und rieb dieselben wie einem Kinde, ließ ihr kalte Wassertropfen in den Nacken träufeln und spritzte ihr solche endlich mit unbeholfenem Scherze ins Gesicht, bis sie mich beim Kopfe nahm und ihn auf ihren Schoß preßte, wo sie ihn ziemlich derb zerarbeitete und walkte, daß mir die Ohren sausten. Obgleich ich diese Strafe halb und halb bezweckt hatte, wurde sie mir doch zu arg; ich riß mich los und faßte meine Feindin, nach Rache dürstend, nun meinerseits beim Kopfe. Doch leistete sie, indem sie immer sitzen blieb, so kräftigen Widerstand, daß wir beide zuletzt heftig atmend und erhitzt den Kampf aufgaben und ich, beide Arme um ihren weißen Hals geschlungen, ausruhend an ihr hangen blieb; ihre Brust wogte auf und nieder, indessen sie, die Hände erschöpft auf ihre Knie gelegt, vor sich hin sah. Meine Augen gingen den ihrigen nach in den roten Abend hinaus, dessen Stille uns umfächelte; Judith saß in tiefen Gedanken versunken und verschloß, die Wallung ihres aufgejagten Blutes bändigend, in ihrer Brust innere Wünsche und Regungen fest vor meiner Jugend, während ich, unbewußt des brennenden Abgrundes, an dem ich ruhte, mich arglos der stillen Seligkeit hingab und in der durchsichtigen Rosenglut des Himmels das feine, schlanke Bild Annas auftauchen sah. Denn nur an sie dachte ich in diesem Augenblicke; ich ahnte das Leben und Weben der Liebe, und es war mir, als müßte ich nun das gute Mädchen alsogleich sehen. Plötzlich riß ich mich los und eilte nach Hause, von wo mir der schrille Ton einer Dorfgeige entgegenklang. [...]
Anna
Ich, der kurz vorher unbefangen und mutwillig die Wangen der großen und schönen Judith zwischen meine Hände gepreßt, hatte jetzt gezittert, die schmale, fast wesenlose Gestalt des Kindes zu umfangen, und dieselbe fahren lassen, wie ein glühendes Eisen. Sie verbarg sich ihrerseits wieder hinter die fröhlichen Mädchen und ließ sich so wenig mehr in die Reihen bringen als ich; hingegen bestrebte ich mich, meine Worte an die Gesamtheit zu richten und so zu stellen, daß sie von Anna auch hingenommen werden mußten, und bildete mir ein, sie meine es mit den wenigen Wörtchen, die sie hören ließ, ebenfalls so.
Anna hatte eine mächtige Wanne voll grüner Bohnen der Schwänzchen zu entledigen und an lange Fäden zu reihen, um sie zum Dörren vorzubereiten. [...]
Der Schulmeister spielte und Anna und ich sangen dazu einige Abendlieder, und der Magd zu gefallen, welche gern mitsang, einen Psalm, den sie mit heller Stimme beherrschte. Dann ging der Alte zu Bette. Doch jetzt begann erst die Herrschaft der alten Katherine, welche unten in der Stube einen ungeheuren Vorrat von Bohnen aufgetürmt hatte, welche heute nacht noch sämtlich bearbeitet werden sollten. Denn da sie nachts nicht viel schlafen konnte, beharrte sie hartnäckig auf der ländlichen Sitte, dergleichen Dinge bis tief in die Nacht hinein vorzunehmen. So saßen wir bis um ein Uhr um den grünen Bohnenberg herum und trugen ihn allmählich ab, indem jedes einen tiefen Schacht vor sich hineingrub und die Alte den ganzen Vorrat ihrer Sagen und Schwänke heraufbeschwor und uns beide in wacher Munterkeit erhielt. Anna, welche mir gegenüber saß, baute ihren Hohlweg in die Bohnen hinein mit vieler Kunst, eine Bohne nach der andern herausnehmend, und grub unvermerkt einen unterirdischen Stollen, so daß plötzlich ihr kleines Händchen in meiner Höhle zutage trat, als ein Bergmännchen, und von meinen Bohnen wegschleppte in die grauliche Finsternis hinein. Katherine belehrte mich, daß Anna der Sitte gemäß verpflichtet sei, mich zu küssen, wenn ich ihre Finger erwischen könne, jedoch dürfe der Berg darüber nicht zusammenfallen, und ich legte mich deshalb auf die Lauer. Nun grub sie sich noch verschiedene Wege und begann mich auf die listigste Weise zu necken; die Hand in der Tiefe des Bohnengebirges versteckt, sah sie mich über dasselbe her mit ihren blauen Augen neckisch an, indessen sie hier eine Fingerspitze hervorgucken ließ, dort die Bohnen bewegte, wie ein unsichtbarer Maulwurf, dann plötzlich mit der ganzen Hand hervorschoß und wieder zurückschlüpfte wie ein Mäuschen ins Loch ohne daß es mir je gelang, sie zu haschen. Sie trieb es so weit, mir immer auf die Augen sehend, daß sie plötzlich eine Bohne, die ich eben ergreifen wollte, meinen Fingern entzog, ohne daß ich wußte, wo dieselbe hingekommen. Katherine bog sich zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Laßt sie nur machen, wenn ihr der Bau endlich zusammenbricht über den vielen Löchern, so muß sie Euch auf jeden Fall küssen!« Anna wußte jedoch sogleich, was die Alte zu mir sagte; sie sprang auf, tanzte dreimal um sich selbst herum, klatschte in die Hände und rief: »Er bricht nicht, er bricht nicht, er bricht nicht!« Beim dritten Male gab Katherine mit ihrem Fuße dem Tische schnell einen Stoß und der unterhöhlte Berg stürzte jammervoll zusammen. »Gilt nicht, gilt nicht!« rief Anna so laut und sprang so ausgelassen im Zimmer umher, wie man es gar nicht hinter ihr vermutet hätte. »Ihr habt an den Tisch gestoßen, ich hab es wohl gesehen!« »Es ist nicht wahr«, behauptete Katherine, »Heinrich bekommt einen Kuß von dir, du Hexe!«
»Ei, schäme dich doch, so zu lügen, Katherine«, sagte das verlegene Kind, und die unerbittliche Magd erwiderte: »Sei dem, wie ihm wolle, der Berg ist gefallen, ehe du dich dreimal gedreht hast, und du bist dem Herrn Heinrich einen Kuß schuldig!«
»Den will ich auch schuldig bleiben«, rief sie lachend, und ich, selbst froh, der feierlichen Zeremonie entflohen zu sein und doch die Sache zu meinem Vorteile lenkend, sagte: »Gut, so versprich mir, daß du mir immer und jederzeit einen Kuß schuldig sein willst!«
»Ja, das will ich!« rief sie und schlug leichtsinnig und mutwillig auf meine dargebotene Hand, daß es schallte. Sie war jetzt überhaupt so lebendig, laut und beweglich wie Quecksilber und schien ein ganz anderes Wesen zu sein als am Tage. Die Mitternacht schien sie zu verwandeln, ihr Gesichtchen war ganz gerötet, und ihre Augen glänzten vor Freude. Sie tanzte um die unbehilfliche Katherine herum, neckte sie und wurde von ihr verfolgt, es entstand eine Jagd in der Stube umher, in welche ich auch verwickelt wurde. Die alte Katherine verlor einen Schuh und zog sich keuchend zurück, aber Anna ward immer wilder und behender. Endlich haschte ich sie und hielt sie fest, sie legte ohne weiteres ihre Arme um meinen Hals, näherte ihren Mund dem meinigen und sagte leise, vom hastigen Atmen unterbrochen:


»Es wohnt ein weißes Mäuschen
Im grünen Bergeshaus;
Der Berg, der will zerfallen,
Das Mäuslein flieht daraus«;


worauf ich in gleicher Weise fortfuhr:


»Man hat es noch gefangen,
Am Füßchen angebunden
Und um die Vordertätzchen
Ein rotes Band gewunden«;


dann sagten wir beide im gleichen Rhythmus und indem wir uns geruhig hin und her wiegten:


»Es zappelte und schrie
Was hab ich denn verbrochen?
Da hat man ihm ins Herzlein
Ein' goldnen Pfeil gestochen.«

Und als das Liedchen zu Ende war, lagen unsere Lippen dicht aufeinander, aber ohne sich zu regen; wir küßten uns nicht und dachten gar nicht daran, nur unser Hauch vermischte sich auf der neuen, noch ungebrauchten Brücke, und das Herz blieb froh und ruhig.[...]"
(Keller: Der grüne Heinrich 2. Band, 3. Kapitel)

16 November 2019

Fontanes Briefe

über Keller und Storm
Karlsbad, 17.8.1898
"Mit Gottfr.[ied] Keller hätte ich gern Freundschaft geschlossen, denn er ist in meinen Augen der bedeutendste deutsche Erzähler, wie Storm der bedeutendste Liebeslyriker seit Goethe. Dennoch wäre, trotz besten Willens auf meiner Seite, wohl nie was daraus geworden; ich befürchte, dass ich ihm gründlich missfallen hätte."

über das Ende der britischen Weltherrschaft
an James Morris Berlin, 13.5.1898

"[...] Der Moment ist nah, wo die Weltherrschaft an den weißen Zaren abgetreten werden muß. Eigentlich ist der Moment schon da. Nichts komischer als Harcourts Reden, der den armen Salibury für all das verantwortlich machen will. Niemand ist dafür verantwortlich als die Weltgeschichte. Nichts dauert. Was ist aus dem Spanien Karls des Fünften geworden! [...]"

13 November 2019

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich

Nach meiner Erstlektüre vor über 50 Jahren habe ich Kellers Hauptwerk zwar nie aus den Augen verloren, dafür spielt es im Briefwechsel zwischen Storm und Keller, den ich sehr schätze, eine zu große Rolle, noch mehr natürlich in Adolf Muschgs Biographie "Gottfried Keller" von 1977. Dennoch war ich, als ich mir den Roman kürzlich wieder vornahm, über die ausgeprägte Charakterdarstellung des Vaters des Grünen Heinrichs und der Bildungsanstrengungen die der Vater mit gleichgesinnten Bürgern unternimmt, erstaunt. Davon hatte ich nichts in Erinnerung.

Hier folgen nun einige Passagen, die ich mir länger im Gedächtnis halten will. 


"[...] Denn eines Tages geschah es, daß das ganze Dorf in große Bewegung gesetzt wurde durch die Ankunft eines schönen, schlanken Mannes, der einen feinen grünen Frack trug nach dem neuesten Schnitte, enganliegende weiße Beinkleider und glänzende Suwarowstiefeln mit gelben Stulpen. Wenn es regnerisch aussah, so führte er einen rotseidenen Schirm mit sich, und eine große goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den Augen der Bauern einen ungemein vornehmen Anstrich. Dieser Mann bewegte sich mit einem edlen Anstande in den Gassen des Dorfes umher und trat freundlich und leutselig in die niederen Türen, verschiedene alte Mütterchen und Gevattern aufsuchend, und war niemand anders als der weitgereiste Steinmetzgeselle Lee, welcher seine lange Wanderschaft ruhmvoll beendigt hatte. Man kann wohl sagen ruhmvoll, wenn man bedenkt, daß er vor zwölf Jahren, als ein vierzehnjähriger Knabe, arm und bloß aus dem Dorfe gewandert war, hierauf bei seinem Meister die Lehrzeit durch lange Arbeit abverdienen mußte, mit einem dürftigen Felleisen und wenig Geld in die Fremde zog und nun solchergestalt als ein förmlicher Herr, wie ihn die Landleute nannten, zurückkehrte. Denn unter dem niedern Dache seiner Verwandten standen zwei mächtige Kisten, von denen die eine ganz mit Kleidern und feiner Wäsche, die andere mit Modellen, Zeichnungen und Büchern angefüllt war. Es gab etwas Schwungvolles in dem ganzen Wesen des etwa sechsundzwanzig Jahre alten Mannes; seine Augen glühten wie von einem anhaltenden Glanze innerer Wärme und Begeisterung, er sprach immer hochdeutsch und suchte das Unbedeutendste von seiner schönsten und besten Seite zu fassen. Er hatte ganz Deutschland vom Süden bis zum Norden durchreist und in allen großen Städten gearbeitet; die Zeit der Befreiungskriege in ihrem ganzen Umfange fiel mit seinen Wanderjahren zusammen, und er hatte die Bildung und den Ton jener Tage in sich aufgenommen, insofern sie ihm verständlich und zugänglich waren; vorzüglich teilte er das offene und treuherzige Hoffen der guten Mittelklassen auf eine bessere, schönere Zeit der Wirklichkeit, ohne von den geistigen Überfeinerungen und Wunderseligkeiten etwas zu wissen, die in manchen Elementen dazumal durch die höhere Gesellschaft wucherten.


Es waren nur wenige gleichgesinnte Arbeitsgenossen, welche die ersten, seltenen und verborgenen Keime bildeten zu der Selbstveredlung und Aufklärung, so den wandernden Handwerkerstand zwanzig Jahre später durchdrangen, und welche einen Stolz darauf setzten, die besten und gesuchtesten Arbeiter zu sein, und dadurch, verbunden mit Fleiß und Mäßigkeit, die Mittel erlangten, auch ihren Geist zu bilden und äußerlich wie innerlich schon in ihren Wanderjahren als achtungswerte, tüchtige Männer dazustehen. Überdies war dem Steinhauer in den großen Werken altdeutscher Baukunst ein Licht aufgegangen, welches seinen Pfad noch mehr erleuchtete, indem es ihn mit heitern Künstlerahnungen erfüllte und den dunklen Trieb jetzt erst zu rechtfertigen schien, welcher ihm von der grünen Weide hinweg dem gestaltenden Leben der Städte zugeführt hatte. Er lernte zeichnen mit eisernem Fleiße, brachte ganze Nächte und Feiertage damit zu, Werke und Muster aller Art durchzupausen, und nachdem er den Meißel zu den kunstreichsten Gebilden und Verzierungen führen gelernt und ein vollkommener Handarbeiter geworden war, ruhte er nicht, sondern studierte den Steinschnitt und sogar solche Wissenschaften, welche andern Zweigen des Bauwesens angehören. Er suchte überall an großen öffentlichen Bauten unterzukommen, wo es viel zu sehen und zu lernen gab, und brachte es durch seine Aufmerksamkeit bald dahin, daß ihn die Baumeister ebensoviel auf ihren Arbeitszimmern am Zeichnen- oder Schreibtische verwendeten als auf dem Bauplatze. Daß er dort nicht feierte, sondern manche Mittagsstunde damit zubrachte, alles mögliche durchzuzeichnen und alle Berechnungen zu kopieren, welche er erhaschen konnte, versteht sich von selbst. So wurde er zwar kein akademischer Künstler mit einer allseitigen Durchbildung, aber doch ein Mann, welcher wohl den kühnen Vorsatz fassen durfte, in der Hauptstadt seiner Heimat ein wackerer Bau- und Maurermeister zu werden. Mit dieser ausgesprochenen Absicht trat er nun auch im Dorfe zur großen Bewunderung seiner Sippschaft auf, und das Erstaunen wurde noch größer, als er, mit einem zierlichen Manschettenhemde bekleidet und sein reinstes Hochdeutsch sprechend, sich mitten unter die französisch-griechischen Gestalten des Pfarrhauses mischte und um die Pfarrerstochter warb. Der ländlich gesinnte Bruder mochte hiezu eine Vermittlung, wenigstens ein aufmunterndes Beispiel darbieten; die Jungfrau schenkte dem blühenden Freier bald ihr Herz, und die Verwirrung, welche dadurch zu entstehen drohte, löste sich schnell, als die Eltern der Braut kurz hintereinander starben. [...]
In der Stadt fing jener junge Baumeister damit an, daß er einige Arbeiter anstellte und, selbst arbeitend vom Morgen bis zum Abend, kleinere Aufträge aller Art annahm und darin so viel Geschick und Zuverlässigkeit zeigte, daß noch vor Ablauf eines Jahres sein Geschäft sich erweiterte und sein Kredit sich begründete. Er war so erfinderisch und einsichtsvoll, gewandt und schnell beraten, daß bald viele Bürger seinen Rat und seine Arbeit suchten, wenn sie im Zweifel waren, wie sie etwas verändern oder neu bauen lassen sollten. Dabei war er immer bestrebt, das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden, und war froh, wenn ihn seine Kunden nur gewähren ließen, so daß sie manche Zierde, manches Fenster und Gesims von reineren Verhältnissen erhielten, ohne daß sie deswegen den Geschmack ihres Baumeisters teurer bezahlen mußten. Seine Frau aber führte mit wahrem Fanatismus das Hauswesen, welches durch verschiedene Arbeiter und Dienstboten schnell erweitert wurde. Sie beherrschte mit Kraft und Meisterschaft das Füllen und Leeren einer Anzahl großer Speisekörbe und war der Schrecken der Marktweiber und die Verzweiflung der Schlächter, welche alle Gewalt ihrer alten Rechte aufbieten mußten, einen Knochensplitter mit auf die Waage zu bringen, wenn das Fleisch für die Frau Lee gewogen wurde. 
Obgleich Meister Lee fast keine persönlichen Bedürfnisse hatte und unter seinen zahlreichen Grundsätzen derjenige der Sparsamkeit in der ersten Reihe stand, so war er doch so gemeinnützig und großherzig, daß das Geld für ihn nur Wert hatte, wenn etwas damit ausgerichtet oder geholfen wurde, sei es durch ihn oder durch andere; daher verdankte er es nur seiner Frau, welche keinen Pfennig unnütz ausgab und den größten Ruhm darein setzte, jedermann weder um ein Haar zuwenig noch zuviel zukommen zu lassen, daß er nach Verfluß von zwei oder drei Jahren schon Ersparnisse vorfand, welche seinem unternehmenden Geiste nebst dem Kredite, den er bereits genoß, eine reichlichere Nahrung darboten. Er kaufte alte Häuser an für eigene Rechnung, riß sie nieder und baute an der Stelle stattliche Bürgerhäuser, in welchen er eine Menge Einrichtungen fremder oder eigener Erfindung anbrachte. Diese verkaufte er mehr oder weniger vorteilhaft, sogleich zu neuen Unternehmungen schreitend, und alle seine Gebäude trugen das Gepräge eines beständigen Strebens nach Formen- und Gedankenreichtum. Wein ein gelehrter Architekt auch oft nicht wußte, wohin er alle angebrachten Ideen zählen sollte und vieles der Unklarheit oder Unharmonie zeihen mußte, so gestand er doch immer, daß es Gedanken seien, und belobte, wenn er unbefangen war, den schönen Eifer dieses Mannes mitten in der geistesarmen und nüchternen Zeit des Bauwesens, wie sie wenigstens in den abgelegenen Provinzen des Kunstgebietes bestand.
Dies tätige Leben versetzte den unermüdlichen Mann in den Mittelpunkt eines weiten Kreises von Bürgern, welche alle zu ihm in Wechselwirkung traten, und unter diesen bildete sich ein engerer Ausschuß gleichgesinnter und empfänglicher Männer, denen er sein rastloses Suchen nach dem Guten und Schönen mitteilte. Es war nun um die Mitte der zwanziger Jahre, wo in der Schweiz eine große Anzahl gebildeter Männer aus dem Schoße der herrschenden Klassen selbst, die abgeklärten Ideen der großen Revolution wiederaufnehmend, einen frucht- und dankbaren Boden für die Julitage vorbereiteten und die edlen Güter der Bildung und Menschenwürde sorgsam pflegten. Zu diesen bildete Lee mit seinen Genossen, an seinem Orte, eine tüchtige Fortsetzung im arbeitenden Mittelstande, welcher von jeher aus der Tiefe des Volkes auf den Landschaften umher seine Wurzeln trieb und sich erneuerte. Während jene Vornehmen und Gelehrten die künftige Form des Staates, philosophische und Rechtswahrheiten besprachen und im allgemeinen die Fragen schönerer Menschlichkeit zu ihrem Gebiete machten, wirkten die rührigen Handwerker mehr unter sich und nach unten hin, indem sie einstweilen ganz praktisch so gut als möglich sich einzurichten suchten. Eine Menge Vereine, öfter die ersten in ihrer Art, wurden gestiftet, welche meistens irgendeine Versicherung zum Wohle der Mitglieder und ihrer Angehörigen zum Zwecke hatten. Schulen wurden gesellschaftsweise gegründet, um den Kindern des gemeinen Mannes eine bessere Erziehung zu sichern; kurz, eine Menge Unternehmungen dieser Art, zu jener Zeit noch neu und verdienstlich, gab den braven Leuten zu schaffen und Gelegenheit, sich daran emporzubilden. Denn in zahlreichen Zusammenkünften mußten Statuten aller Art entworfen, beraten, durchgesehen und angenommen, Vorsteher gewählt und nach außen wie nach innen Rechte und Formen erklärt und gewahrt werden.
Zu diesen verschiedenen Elementen kam und berührte sie gemeinschaftlich der griechische Freiheitskampf, welcher auch hier, wie überall, zum erstenmal in der allgemeinen Ermattung die Geister wieder erweckte und erinnerte, daß die Sache der Freiheit diejenige der ganzen Menschheit sei. [...] 
Wenn sie auch Schiller auf die Höhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten, so erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichtlichen Werken, und von diesem Standpunkte aus ergriffen sie auch seine Dichtungen, welche sie auf diese Weise ganz praktisch nachfühlten und genossen, ohne auf die künstlerische Rechenschaft, die jener Große sich selber gab, weiter eingehen zu können. Sie hatten die größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Ähnliches aufzufinden, das sie so befriedigt hätte.
 [...]
Unser eigenes Höfchen enthielt zwischen hohen Mauern ein ganz kleines Stückchen Rasen mit zwei Vogelbeerbäumchen; ein nimmermüdes Brünnchen ergoß sich in ein ganz grün gewordenes Sandsteinbecken, und der enge Winkel ist kühl und fast schauerlich, ausgenommen im Sommer, wo die Sonne täglich einige Stunden lang darin ruht. Alsdann schimmert das verborgene Grün durch den dunklen Hausflur so kokett auf die Gasse, wenn die Haustür aufgeht, daß den Vorübergehenden immer eine Art Gartenheimweh befällt.  [...] 
Ich betete mein Unser Vater, dessen Einteilung und Abrundung mir das Einprägen leicht und das Wiederholen zu einer angenehmen Übung gemacht hatte, mit großer Meisterschaft und vielen Variationen, indem ich diesen oder jenen Teil doppelt und dreifach aussprach oder nach raschem und leisem Hersagen eines Satzes den folgenden langsam und laut betonte und dann rückwärts betete und mit den Anfangsworten »Vater unser« schloß. Aus diesem Gebete hatte sich eine Ahnung in mir niedergeschlagen, daß Gott ein Wesen sein müsse, mit welchem sich allenfalls ein vernünftiges Wort sprechen ließe, eher als mit jenen Tiergestalten.  [...] 
Er sagte auch sehr bedeutsam beim Abschiede, daß stille Wasser gewöhnlich tief wären. Dieses Wort habe ich seither in meinem Leben öfters hören müssen, und es hat mich immer gekränkt, weil es keinen größeren Plauderer gibt, als mich, wenn ich zutraulich bin. Ich habe aber bemerkt, daß viele Menschen, welche immer das große Wort führen, aus denen nie klug werden, welche ihretwegen nie zu Worte kommen; sie fassen dann ein ungünstiges Vorurteil, sobald sie mit Schwatzen fertig sind und es still geworden ist. Sprechen jene aber einmal unerwarteterweise, so kommt es ihnen noch verdächtiger vor. Im Umgange mit stillen Kindern aber kann es ein wahres Unglück werden, wenn die großen Schwätzer sich nicht anders zu helfen wissen als mit dem Gemeinplatze: Stille Wasser sind tief!  [...] 
Wohlwollen und Liebe können nicht gehegt werden, ohne den Träger selbst zu veredeln, und sie tun dies am glänzendsten, wenn sie dem gelten, was man einen Feind oder Widersacher nennt. [...] 
So ist das Schonen und Aufrichten des gebeugten Gegners mehr Sache der allgemeinen Weltweisheit; das eigentliche Lieben aber des Feindes in voller Blüte und solange er uns Schaden zufügt, habe ich nirgends gesehen. [...] 
So bestand der Stoff meiner Anrufungen aus der wunderlichsten Mischung; das eine Mal bat ich um die gelungene Probe eines schwierigen Rechenexempels, oder daß der Vorgesetzte für einen Tintenklecks in meinem Hefte mit Blindheit geschlagen werde; das andere Mal, ein zweiter Josua, um Stillstand der Sonne, wenn ich mich zu verspäten drohte, oder auch um Erlangung eines fremden leckeren Backwerkes. [...]

Das Meretlein 
»Heute habe ich von der hochgeborenen und gottesfürchtigen Frau von M. das schuldende Kostgeld für das erste Quartal richtig erhalten, alsogleich quittiret und Bericht erstattet. Ferner der kleinen Meret (Emerentia) ihre wöchentlich zukommende Correction ertheilt und verscherpft, indeme sie auf die Bank legte und mit einer neuen Ruthen züchtigte, nicht ohne Lamentiren und Seufzen zum Herren, daß Er das traurige Werk zu einem guten Ende führen möge. Hat die Kleine zwaren jämmerlich geschrieen und de- und wehmüthig um Pardon gebeten, aber nichts desto weniger nachher in ihrer Verstocktheit verharret und das Liederbuch verschmähet, so ich ihr zum Lernen vorgehalten. Habe sie derowegen kürzlich verschnauffen lassen und dann in Arrest gebracht in die dunkle Speckkammer, allwo sie gewimmert und geklaget, dann aber still geworden ist, bis sie urplötzlich zu singen und jubiliren angefangen, nicht anders wie die drey seligen Männer im Feuerofen, und habe ich zugehöret und erkennt, daß sie die nämliche versificirten Psalmen gesungen, so sie sonsten zu lernen refusirete, aber in so unnützlicher und weltlicher Weise, wie die thörichten und einfältigen Ammen- und Kindslieder haben; so daß ich solches Gebahren für eine neue Schalkheit und Mißbrauch des Teufels zu nemen gezwungen ward.«  [...]

Frau Margret
[...] Aber auch der Frau fiel es niemals ein, daß ihre Leidenschaften mit dem religiösen Gebaren im Widerspruche sein könnten, und sie zeichnete sich vor ihren schmausenden Adeptinnen darin aus, daß sie niemals dem Ausdrucke dessen, was sie bewegte, einen Zügel anlegte. Sie liebte und haßte, segnete und verwünschte und gab sich unverhüllt und ungehemmt allen Regungen ihres Gemütes hin, ohne je an eine eigene mögliche Schuld zu denken, und sich unbefangenerweise stets auf Gott und seinen mächtigen Einfluß berufend.  [...] 
Die Kleidung, welche ich damals erhielt, war grün, da meine Mutter aus den Uniformstücken des Vaters eine Tracht für mich schneiden ließ, für den Sonntag einen Anzug und für die Werktage einen. Auch fast alle nachgelassenen bürgerlichen Gewänder waren von grüner Farbe; bis zu meinem zwölften Jahre aber reichte der Nachlaß zur Herstellung von grünen Jacken und Röcklein aus bei der großen Strenge und Aufmerksamkeit der Mutter für Schonung und Reinhaltung der Kleider, so daß ich von der unveränderlichen Farbe schon früh den Namen »grüner Heinrich« erhielt und in unserer Stadt trug. [...] 
Das Leben, die sinnliche Natur waren merkwürdigerweise mein Märchen, in dem ich meine Freude suchte, während Gott für mich zu der notwendigen, aber nüchternen und schulmeisterlichen Wirklichkeit wurde, [...] 
Die Verse des Faust, welche jeden Deutschen, sobald er einen davon hört, elektrisieren, diese wunderbar gelungene und gesättigte Sprache klang fortwährend wie eine edle Musik, machte mich froh und setzte mich mit in Erstaunen, obgleich ich nicht viel mehr davon verstand als eine wirkliche Meerkatze. [...] 
Aber obgleich ich die körperlichen Erscheinungen gefaßt und empfunden hatte, so waren doch nun die geschriebenen Worte, als die Zeichensprache eines gereiften und großen männlichen Geistes, dem unwissenden Kinde vollkommen unverständlich; der kleine Eindringling fand sich bescheidentlich wieder vor die verschlossene Türe einer höheren Welt gestellt, und ich schlief über meinen Forschungen schnell und fest ein. [...] 
Hierauf sagte sie: »Es ist nun am besten, du bleibest bei mir, bis es Tag ist; denn Mitternacht ist längst vorüber!« und sie nahm mich bei der Hand und führte mich durch einige Türen in ihr Zimmer, wo sie vorher schon geschlafen hatte und durch mein nächtliches Spuken geweckt worden war. Dort ordnete sie am Fußende ihres Bettes eine Stelle zurecht, und als ich darauf lag, hüllte sie sich dicht in einen sammetnen Königsmantel, legte sich der Länge nach auf das Bett und stützte ihre leichten Füße gegen meine Brust, daß mein Herz ganz vergnüglich unter denselben klopfte. Somit entschliefen wir und glichen in unserer Lage nicht übel jenen alten Grabmälern, auf welchen ein steinerner Ritter ausgestreckt liegt mit einem treuen Hunde zu Füßen. [...] 
Die Regierung dieses Kantons stand ein wenig im Geruche, in ihrem aufgeweckten Sinne für alles Gute und Schöne manchmal mehr Aufwand zu machen, als sich mit haushälterischen Bedächtigkeit vertrüge, und hatte demgemäß für ihre Schuljugend solche neue Waffen beschafft zu einer Zeit, wo dergleichen erst bei größeren Militärstaaten in der Einführung begriffen waren. So hörten wir denn, während unsere Freunde uns wohlgefällig erklärten, wie bei ihnen während der Ladung die Bewegung von »Pulver auf Pfann'« nun wegfiele, unsere erwachsenen Begleiter heimlich einen bedächtigen Tadel über solchen Aufwand aussprechen. Doch waren wir endlich ermüdet und gaben uns willig den Einladungen der Familien hin, welche sich so eifrig um unsere Beherbergung stritten, daß unsere ganze Schar in ihren offenen Armen so schnell verschwand wie ein flüchtiger Regenschauer im heißen durstigen Erdreiche. Wir sahen uns nun vereinzelt in die Mitte häuslicher Wirtlichkeit versetzt als Gegenstand festlichen Wohlwollens und belohnten diese Gastfreundschaft dadurch, daß wir, als ob wir in Feindesland wären, beim Schlafengehen unsere Flintchen mitnahmen und neben die großen Gastbetten stellten, welche zu ersteigen wir alle unsere Turnerkünste aufbieten mußten. [...] 
Eines Tages, als ich des Hauses bereits ansichtig war, führte mich mein milder Stern durch eine Seitenstraße einen andern Weg; als ich einige Minuten später wieder in die Hauptstraße einbog, sah ich viele erschreckte Leute aus der Gegend jenes Hauses herkommen, welche eifrig sprachen und lamentierten. Um die Wegnahme einer alten Windfahne auf dem Turme zu bewerkstelligen, hatten die Bauleute erklärt, ein erhebliches Gerüste anbringen zu müssen. Der Unglückliche, der sich alles zutraute, wollte die Kosten sparen und während der Mittagsstunde die Fahne in aller Stille abnehmen, hatte sich auf das steile hohe Dach hinausbegeben, stürzte herab und lag in diesem Augenblicke zerschmettert und tot auf dem Pflaster. Es durchfuhr mich, als ich die Kunde vernommen und schnell meines Weges weiterging, wohl ein Grauen, verursacht durch den Fall, wie er war; aber ich mag mich durchwühlen, wie ich will, ich kann mich auf keine Spur von Erbarmen oder Reue entsinnen, die mich durchzuckt hätte. Meine Gedanken waren und blieben ernst und dunkel; aber das innerste Herz, das sich nicht gebieten läßt, lachte auf und war froh. Wenn ich ihn leiden gesehen oder seinen Leichnam geschaut, so glaube ich zuversichtlich, daß mich Mitleid und Reue ergriffen hätten; doch das unsichtbare Wort, mein Feind sei mit einem Schlage nicht mehr, gab mir nur Versöhnung, aber die Versöhnung der Befriedigung und nicht des Schmerzes, der Rache und nicht der Liebe. Ich konstruierte zwar, als ich mich besonnen, rasch ein künstliches und verworrenes Gebet, worin ich Gott um Verzeihung, um Mitleid, um Vergessenheit bat; mein Inneres lächelte dazu, und noch heute, nachdem wieder Jahre vorübergegangen, fürchte ich, daß meine nachträgliche Teilnahme an jenem Unglücke mehr eine Blüte des Verstandes als des Herzens sei, so tief hatte der Haß gewurzelt! [...]
Heinrich wird zu Unrecht für den Anführer einer Schülerhorde gehalten, die in das Haus eines kranken Lehrers eingedrungen ist, und deshalb der Schule verwiesen.
Wenn über die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe ein tiefer und anhaltender Streit obwaltet, so kann man füglich die Frage, ob der Staat das Recht hat, ein Kind oder einen jungen Menschen, die gerade nicht tobsüchtig sind, von seinem Erziehungssysteme auszuschließen, zugleich mit in den Kauf nehmen. Gemäß jenem Vorgange wird man mir, wenn ich im späteren Leben in eine ähnliche ernstere Verwicklung gerate, bei gleichen Verhältnissen und Richtern wahrscheinlich den Kopf abschneiden; denn ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen, heißt nichts anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen. In der Tat haben auch häufig die öffentlichen Bewegungen der Erwachsenen, von welchen solche Kinderaufläufe ein Abbild genannt werden können, mit Enthauptungen geendet. [...]
Heinrich ist zwar über die ungerechte Strafe empört, doch fühl er sich auch von der Schule befreit und macht sich keine großen Sorgen um seine Zukunft.
Meine Mutter hingegen befand sich in großer Bedrängnis; sie konnte bestimmt annehmen, daß der Vater meine Schulbildung jetzt noch nicht abgeschlossen haben würde, wenn er noch lebte, und doch sah sie bei ihren beschränkten Mitteln keine Möglichkeit, mir Privatlehrer zu halten oder mich auf eine auswärtige Schule zu schicken, noch konnte sie sich den Beruf denken, welchen ich nun am besten ergriffe, da gerade für eine einsichtvollere Selbstbestimmung der erweiterte Gesichtskreis der nun verschlossenen höheren Klassen hätte Gelegenheit bieten sollen. Meine häusliche Beschäftigung hatte in letzter Zeit beinahe ausschließlich in Zeichnen und Malen bestanden, und auch in dieser Hinsicht befand ich mich in einem sonderbaren Verhältnis zur Schule. Dort galt ich für nichts weniger als für einen talentvollen Zeichner. Monatelang klebte der gleiche Bogen auf meinem Reißbrette; ich quälte mich verdrossen ab, einen kolossalen Kopf oder ein Ornament mit dem magern Bleistifte zu kopieren; Dutzende von Linien wurden ausgelöscht, bis die richtige stehenblieb, das Papier wurde beschmutzt und durchgerieben und verkündete einen faulen und verdrießlichen Zeichner. Sobald ich aber nach Hause kam, warf ich diese Schulkunst beiseite und machte mich mit eifrigem Fleiße hinter meine Hauskunst. Nach jenem ersten Versuche, eine gemalte Landschaft zu kopieren, hatte ich fortgefahren, dergleichen Gebilde in Wasserfarben hervorzubringen; da ich nun aber weiter keine Vorbilder besaß, mußte ich sie auf eigene Faust ins Leben rufen und tat dieses mit anhaltendem Fleiße. [...]
Das Machwerk an der beträchtlichen Sammlung solcher Bilder, welche sich bereits angehäuft hatte, blieb immer auf dem nämlichen Standpunkte gänzlicher Erfahrungs- und Unterrichtslosigkeit; nur eine gewisse Keckheit und Fertigkeit im Auftragen der grellen Farben, welche ich durch die unablässige Übung erwarb, verbunden mit der kühnen Absicht meiner Unternehmungen überhaupt, unterschied mein Treiben einigermaßen von sonstigen knabenhaften Spielen mit Bleistift und Farbe und mochte meinen vorläufigen Ausspruch, daß ich ein Maler werden wolle, veranlassen. Doch wurde jetzt nicht näher darauf eingegangen, sondern bestimmt, daß ich einige Zeit in dem ländlichen Pfarrhause bei dem Bruder der Mutter zubringen sollte, um über die nächsten Monate meines Ungemaches auf gute Weise hinwegzukommen, indessen eine taugliche Zukunft für mich ermittelt würde.[...]
Heinrich wird zum Bruder seiner Mutter geschickt, bei dem er nach einer Wanderung von knapp einem Tag eintrifft und wo er freundlich empfangen wird. Dort besucht er seine Großmutter und zwei Tanten. Über die zweite - und ihre Tochter Judith - heißt es:
Sie wohnte allein mit einer Tochter, welche früher, einer häufigen Sitte gemäß, zwei Jahre in der Stadt gedient, dann einen vermöglichen Bauern geheiratet hatte und nach dessen baldigem Tode nun als Witwe lebte. Kaum zweiundzwanzig Jahre alt, war sie von hohem und festem Wuchse, ihr Gesicht hatte den ausgeprägten Typus unseres Geschlechtes, aber durch eine ungewöhnliche Schönheit verklärt; besonders die großen braunen Augen und der Mund mit dem vollen runden Kinn machten augenblicklichen Eindruck. Dazu schmückte sie ein schweres dunkles, fast nicht zu bewältigendes Haar. Sie galt für eine Art Lorelei, obschon sie Judith hieß, auch niemand etwas Bestimmtes oder Nachteiliges von ihr wußte. [...]
Heinrich hat - während die Familie bei der Feldarbeit ist, die Gelegenheit, sich im Hause seines Onkels umzusehen:
Unter dem Dache fand ich eine kleine Mansarde, deren Wände mit alten Hirschfängern und Galanteriedegen sowie mit unbrauchbarem Schießgewehr bedeckt waren; eine lange spanische Klinge mit trefflich gearbeitetem stählernen Griffe war ein Prachtstück und mochte schon seltsame Tage gesehen haben. Ein paar Folianten lagen bestäubt in der Ecke; in der Mitte des Zimmers stand ein mit Leder bezogener zerfetzter Lehnstuhl, so daß nur der Don Quichotte fehlte, um das Ganze zu einem Bilde zu machen. Übrigens setzte ich mich behaglich hinein und dachte an den guten Herrn, dessen Geschichte ich einst aus dem Französischen des Mr. Florian übersetzt hatte. Ich hörte ein seltsames Geräusch, Gurren und Krabbeln an der Wand, schlug einen hölzernen Schieber zurück und steckte den Kopf hindurch in den heißen Taubenschlag, welcher alsobald in solchen Alarm geriet, daß ich mich zurückziehen mußte. Ferner entdeckte ich die Schlafzimmer der Töchter, stille Gelasse mit grünen Fenstergärtchen und überdies von treuen Baumwipfeln bewacht, mit geretteten Stücken blumiger Tapeten bekleidet, wo die Rokokospiegel des ehemaligen Herrensitzes eine ehrenvolle Zuflucht im Alter gefunden hatten; so auch die große Kammer der Söhne, welche mit den Spuren einiger nicht zu tiefen Studien und den Werkzeugen des ländlichen Müßigganges, mit Angelzeug und Vogelgarnen, verziert war. [...] 
Das Ganze war eine Verschmelzung von Pfarrei, Bauernhof, Villa und Jägerhaus, und mein Herz jubelte, als ich alles entdeckte und übersah, umgaukelt von der geflügelten und vierfüßigen Tierwelt. [...]"

(Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 2. Fassung)
Aufsätze zur Interpretation des Romans

12 November 2019

Eva-Maria Hagen: Eva und der Wolf

Briefe und Dokumente von und zu Eva-Maria Hagen und Wolf Biermann

Ausführliche Inhaltsvorstellung mit Kommentar:
http://www.eva-maria-hagen.de/Autorin/Leserstimmen_Eva_Wolf.shtml

Der Schluss des Buches und eines Briefs an Biermann vom 21.3.1977 kurz vor ihrer Ausreise aus der DDR:
"Nun schlafe ich noch eine Runde; das Leben geht weiter in dieser wunderbaren und grausamen Welt. - Eva."

Homepage von Eva-Maria Hagen

Wikipedia

05 November 2019

Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs

Die Akten des Vogelsangs ist ein Roman von Wilhelm Raabe.


Velten Andres berichtet darüber, wie er sich verhielt, als er seine Jugendliebe Helene Trotzendorff als Frau eines reichen Amerikaners wieder traf:
»Es war um das Jahr siebenzehnhundertsiebenundsechzig und der größte Egoist der Literaturgeschichte also achtzehn Jahre alt, da er seinem Freunde Behrisch den Rat zusang:
Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde;
und er hat selber sein Leben in Poesie und Prosa danach eingerichtet, und es ist ihm wohl gelungen. Es war im Salon der Mrs. Trotzendorff, als mir beim zufälligen Blättern in allen möglichen Bilderbüchern jenes Wort des frühreifen Lebenshelden in Puder, Kniehose, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen in dem rechten Augenblick wieder vor die Augen kam. Unser Dämonium bedient sich viel öfter, als man merkt, solcher Mittelchen, um uns unter die Arme zu greifen, sowie auch um uns davor zu behüten, uns lächerlicher zu machen, als unbedingt zum Fortbestehen der Welt durch den Verkehr von Hans und Grete notwendig ist. Man kann auch von einem achtzehnjährigen Jungen was lernen, zumal wenn der Genius dem Bengel die Stirn berührt hat. Es war der Gesellschaftsabend, an welchem mir unsere Kleine aus dem Vogelsang zum erstenmal ganz deutlich machte, was alles zu einem elenden Gut auf der wankenden Erde werden kann. Verse habe ich nie gemacht; aber die Fähigkeit habe ich doch, im Komischen wie im Tragischen das momentan Gegenständliche, wenn du willst, das Malerische, das Theatralische jedesmal mit vollem Genuß und in voller Geistesklarheit objektiv aufzufassen: ich habe an jenem, der alte Goethe würde sagen: bedeutenden Abend dem Papa Trotzendorff das Blatt aus seinem Renommiertischexemplar gerissen, es fein zusammengefaltet und in die Brusttasche geschoben. Manchen Leck in meinem Lebensschiff habe ich bis zum heutigen Tage damit zugestopft, und – jetzt, meine ich, haben wir die schöne Natur von diesem Aussichtspunkt aus, auf dem wir voreinst unsere Wünsche an die fallenden Sterne knüpften, genug bei hellem Tage besehen, und wir können gehen.« 
(Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs)
mehr dazu:

Die Akten des Vogelsangs (Textauszüge in: ZUM-Wiki)

01 November 2019

Wolf Biermann: Briefe

Biermann an Eva-Maria Hagen 24.7. (19)70
"[...] Und kann nicht schreiben und bitte Dich, diesen Brief selber voll auszuschreiben, er ist eine Art liebevoller Blanko-Scheck, den Du Dir in beliebiger Höhe selbst ausfüllen kannst und sobald wir uns sehen, wirst Du ihn bei mir einlösen können ..."
(Eva-Maria Hagen: Eva und der Wolf , 1998,  S.356)

sieh auch:
Zu Wolf Biermanns Autobiographie