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11 Juli 2024

Richard Wagner: Götterdämmerung (noch einmal)

 Meine Mutter hat mich durch die parodistische Wiedergabe einer Vorstellung von "Rheingold" gegen Wagners Operntexte relativ gut immunisiert. Das hielt durch, bis wir im Musikunterricht die "Meistersinger" durchnahmen. Hier fehlten die krampfhaft altertümelnden Alliterationen, die ziemlich erfolglos Stabreime zu imitieren suchten, statt dessen fanden sich relativ frei gehandhabte Reime. Die Musik kam für mich nicht ganz an den "Freischütz" heran, aber sie gefiel mir in Teilen durchaus, weil sie nicht so bombastisch daher kam, wie manches, was ich sonst von Wagner gehört hatte. 

Ganz hervorragend gefiel mir eine Tannhäuserparodie, die ich im Rundfunk hörte.

Im Ohr habe ich noch: "Wolfram [oder: -gang] von Dreschenbach beginne!" und die Aufforderung an Tannhäuser: "Fort zur Zukunftsmusik!"

Ich habe von damals Nestroy als Verfasser in Erinnerung. Die vermutlich ursprüngliche Parodie von Hermann Wollheim, der einzige Text, den ich im Internet gefunden habe, Tannhäuser oder die Keilerei auf der Wartburg erscheint mir im Vergleich zu meiner Jugenderinnerung mit seinem "Wolfram von Gröschelbach" dem gegenüber merkwürdig platt. 

Nach Teilen von Fernsehaufführungen von Lohengrin und einer ziemlich vollständig mitverfolgten Fernsehaufführung von Parsifal sind meine Vorurteile abgeschwächt. Und heute lässt mir ein (nach 2022) erneuter Blick in die Götterdämmerung sogar ganze Passagen daraus passabel erscheinen. Dabei mag Herfried Münklers Marx Wagner Nitzsche eine wichtige Rolle gespielt haben, da Münkler Wagner als einen politischen Autor, der sinnvoll mit Marx und Nietzsche verglichen werden kann, vorgestellt hat. 

Zwar Antisemit, aber Kunstrevolutionär mit einem ernsthaften Programm, so sehr es einem missfallen mag. 

Wenn mir wieder einfällt, welche Melodie von Wagner meine Mutter auf die Worte "Herr Graf, das Schaf ist ins Wasser gefallen" vorzustellen liebte, will ich es hier vermerken. 

Fontannes folgende briefliche Kritik an Wagner  halte ich inzwischen für etwas zu scharf:

"Er [Wagner] ist, aller glänzenden Rekapitulationen unerachtet, doch in einer totalen Konfusion steckengeblieben; deshalb steckengeblieben, weil er sich eine Aufgabe stellte, die entweder überhaupt nicht zu lösen war oder für die wenigstens seine Kräfte, so respektabel sie an sich an und für sich waren, nicht ausreichten.
Und welches war nun diese Aufgabe? Die Verschmelzung zweier Sagen oder Fundamentalsätze, von denen jeder einzelne gerade Schwierigkeiten genug bot. Erster Fundamentalsatz: An der Gier, an dem rücksichtslosen Verlangen hängt die Sünde, das Leid, der Tod. Wer den Goldring der Nibelungen hat, der hat ihn immer nur zum Unheil und Verderben. Zweiter Fundamentalsatz: Die Götter sind gebunden und regieren nur durch Vertrag. Auch dem Himmel kann gekündigt werden. Wächst der Mensch, so sinken die Götter; der eigentliche Weltenherrscher ist der freie Geist und die Liebe. [...] Satz 1 ist die alte Evageschichte, sündiges Verlangen und die bekannten Konsequenzen. Satz 2 hat durch Feuerbach einen viel prägnanteren und viel geistreicheren Ausdruck empfangen:

"Ob Gott die Menschen schuf, ist fraglich; dass sich die Menschen ihren Gott geschaffen, ist gewiss." "


24 März 2023

Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch (2021)

Vorstellung durch den Verlag

Deutschlandfunk

Drei sehr unterschiedliche Menschen, die nicht viel miteinander zu tun haben. Die "Knoten", die Münkler in ihren Lebensgeschichten feststellt, sind, was Marx betrifft, eher zufällige Berührungen. Die intensive Freundschaft und intensive Feindschaft von Nietzche und Wagner sind bekannt.

Nicht so üblich der Blick auf Wagner und Marx, wo Wagner als der Revolutionär erscheint, der Handgranaten im Garten versteckt und vom Kirchturm Truppenbewegungen beobachtet, während Marx stets Kommentator von der Seitenlinie bleibt, erst in Köln, dann Paris und schließlich, dauerhaft in London. Wagner will und erreicht eine Kunstrevolution, die von ihrem ideologischen Gehalt her von heute aus gesehen reichlich verstaubtes 19. Jahrhundert ist (nicht zufällig der Rückgriff auf die Antike (Gesamtkunstwerk, die Zeit der Völkerwanderung mit den germanischen Mythen und das Mittelalter mit Parzival/Parsifal). Bei ihm geht es um Gold, bei Marx um Kapital.

Marx dagegen gewinnt mit seiner Kapitalismusanalyse immer wieder neue Aktualität, etwa bei der Finanzkrise 2007/08 oder im Zusammenhang mit dem Klimawandel (vgl. Naomi Klein: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima).

Nietzsches Umwertung aller Werte und Kritik der Moral war revolutionär in den Zeiten der viktorianischen Doppelmoral und bleibt höchst originell in Zeiten, wo die Profitlogik und die Wachstumsforderung des Kapitalismus herrschend geworden ist. Problematisch bleibt die radikale Sicht des Einzelnen, der Gerechtigkeit als Hemmnis der Selbstverwirklichung sieht.  

Während deutlich ist, dass Marx mit Wagner und Nietzsche nichts anzufangen wusste, arbeitet Münkler bei hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Religionskritik und Religionsstiftung (S.209-288)  interessante Gemeinsamkeiten und Gegensätze heraus. 

Wagner und Nietzsche gehen von einer junghegelianischen und Feuerbachschen Religionskritik aus. Wagner lehnt die kirchlichen Institutionen ab und beschäftigt sich in seiner Kunstreligion (nicht künstlichen, sondern nur im Gesamtkunstwerk verwirklichbaren) intensiv mit dem Erlösungsgedanken (Fliegender Holländer, Tannhäuser, Tristan und Isolde, Parsifal). Nietzsche lehnt die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen völlig ab. Nötig sei, dass die Starken sich über das Allzumenschliche zum Übermenschen entwickelten. Für ihre Herrschaft über die schlechten kleinen Menschen sei ihnen Religion als Mittel (Sklavvenmoral) nützlich (S.288 ff.). Marx dagegen sieht die Möglichkeit, dass alle Menschen in einer von Menschen erschaffenen neuen Gesellschaft zur Selbstverwirklichung finden. 

Süddeutsche Zeitung:

"[...] Herfried Münkler, selber gewiss kein Marxist im ideologischen Sinne, war seit 1993 mit der Fortführung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betraut. In diese Zeit, besonders nach dem Finanzcrash 2007/2008, fällt das Wieder-Ernstnehmen von Marx als Beschreiber der Krisenanfälligkeit des Kapitalismus, bei allen Fehlern seiner Prophetie. Zugleich hat Münkler zusammen mit Musikwissenschaftlern Seminare über Richard Wagner an der Humboldt-Universität veranstaltet. Aus diesem Material ergeben sich die ergiebigsten Vergleiche in diesem Buch.

Bei Wagner entdeckt Münkler "klasseninterne Auseinandersetzungen"

So ist es faszinierend zuzuschauen, wie Münkler nicht nur Wagners Schriften, sondern auch dessen Musikdramen als politischer Denker durchforstet und etwa im mythischen Kosmos der Nibelungen "klasseninterne Auseinandersetzungen" entdeckt - ein schönes Changieren zwischen Opernführer und politischer Ideengeschichte. Zum Beispiel stellt Münkler Wagners "Ring" und Marx so gegenüber: "Wagners Bourgeoisie ist zu konservativ, um unter den von ihr geschaffenen Verhältnissen politisch überleben zu können; Marx' Bourgeoisie hingegen ist zu revolutionär, um nicht der von ihr selbst angestoßenen Entwicklung zum Opfer zu fallen."

Beide, Marx und Wagner, erlebten das Scheitern der deutschen Revolution von 1848/49 als prägende Erfahrung ihrer Generation. (Für den jüngeren Nietzsche waren es die Einigungskriege und die Reichsgründung 1871, die er erst patriotisch begrüßte, aber sehr bald als Bedrohung der Kultur ablehnte.) Dieses Trauma - Wagner war selbst in Dresden gegen die Fürstenherrschaft auf die Barrikaden gegangen - verarbeiteten beide aber sehr unterschiedlich: "Wagner hat auf den Umsturz der Gesellschaft verzichtet", schreibt Münkler, "um an der Revolutionierung der Kunst festhalten zu können; Marx dagegen hat an der sozialen Revolution festgehalten, indem er den Umsturz in kleine Portionen zerlegte und in den sozioökonomischen Prozess einschrieb." "

Perlentaucher:

"Auch wenn sich die drei nie wirklich nahegekommen sind, kann der Autor anhand "zentraler Themen" und Ereignisse (Antisemitismus, Fortschritt, "Ring"-Uraufführung etc.) ein Gespräch der drei untereinander entfachen und sie in einem Spiel aus Distanz und Nähe zueinander ins Verhältnis setzen, staunt Thomä." (FAZ)

Münkler im Interview zum Buch

Münkler: Vortrag über sein Buch (Youtube) (mit Einführung 1h 40 min)

Zitate aus dem Buch:

"Volk ist für Wagner ein semantischer Container, den er braucht, um für die Einheit vor Beginn von Arbeitsteilung und sozialer Diversifikation einen Begriff zu haben." (S. 68)

"Nietzsche hat in Ecce homo [...] davon gesprochen [...] dass Zarathustra das verkörpert, was er sonst ex negativ wo – nämlich gegen den Menschen abgesetzt – beschreibt. "Hier ist in jedem Augenblick der Mensch überwunden, der Begriff 'Übermensch' ward hier höchste Realität, - in einer unendlichen Ferne liegt alles das, was bisher gross am Menschen hieß, unter ihm. In Zarathustra sei "die höchste Art alles Seienden" verkörpert, und das bezeichnet Nietzsche als den "Begriff des Dionysischen selbst". [...] Im Zarathustra hat Nietzsche einen neuen Mythos erfunden: den des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr. Dahinter verbirgt sich eine psychologisch-pädagogische Absicht: die Menschen zum vollen ihrer selbst zu erziehen. Aber nicht nur das: der Mythos ist zumindest für den frühen Nietzsche, auch die belebende und erneuernde Kraft einer jeden Kultur: "Ohne Mythos [...] geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab." Das war ganz aus dem Geiste Wagners gedacht.(S. 307)

"Wagner erfindet keine neuen Mythen, aber er übernimmt die in der Edda und in den deutschen Heldensagen aufgefundenen auch nicht einfach, sondern ordnet und erzählt sie neu. Dabei orientiert er sich zumeist am Vorbild der griechischen Tragödie, die ja ebenfalls verbreitete Mythen der griechischen Vorstellungswelt aufgegriffen und für die Bühne aufbereitet hat. [...] Die Mythen werden von Wagner als eine Forterzählung durch das Volk verstanden, das er als deren eigentlichen Schöpfer ansieht. Nicht einzelne Ereignisse sind das Thema des Mythos, sondern das Wesen der sozialpolitischen Konstellationen, auf denen die Mythen basieren [...] In Oper und Drama schreibt Wagner: "Aller Gestaltungstrieb des Volkes geht im Mythos somit dahin, den weitesten Zusammenhang der mannigfaltigsten Erscheinungen in gedrängtester Gestalt sich zu versinnlichen [...Es ] wird das Volk im Mythos daher zum Schöpfer der Kunst; denn künstlerischen Gehalt und Form müssen notwendig diese Gestalten gewinnen, wenn, wie es wiederum ihre Eigentümlichkeit ist, sie nur dem Verlangen nach faßbarer Darstellung der Erscheinungen, somit dem sehnsüchtigen Wunsche, sich und sein eigenstes Wesen [...] selbst in dem dargestellten Gegenstande wieder zu erkennen, ja überhaupt erst zu erkennen, entsprungen ist." " (S.308)

"Diese Herausstellung des Bürgers als Citoyen, nicht zu verwechseln mit dem Bourgeois, findet sich auch, wenn Max im Rückblick auf Abraham Lincoln zu sprechen kommt. Und, ganz im Hegelschen Tonfall, dessen geschichtliche Rolle zusammenfasst: "Die Vernunft siegt dennoch in der Weltgeschichte." Lincoln werde "in der Geschichte der Vereinigten Staaten und der Menschheit unmittelbar Platz nehmen nach Washington." Max beschreibt den amerikanischen Präsidenten als genaues Gegenteil von Louis Bonaparte, als einen der ganz ohne historische Draperie Paris auskommt. "Zögernd, widerstrebend, unwillig singt er die Bravour- Arie seiner Rolle, als ob er um Verzeihung bäte, dass / die Umstände ihn nötigen, 'Löwe zu sein'. Die furchtbarsten geschichtlich ewig merkwürdigen Dekrete, die er dem Feind entgegenschleudert sehen alle aus und bestreben sich auszusehen wie alltägliche Ladungen, die ein Anwalt dem Anwalt der Gegenpartei zustellt, Rechtsschikanen, engherzig verklausulierte actiones juris [Rechtsakte]. Denselben Charakter trägt seine jüngste Proklamation, das bedeutendste Aktenstück der amerikanischen Geschichte seit der Gründung der Union, die Zerreißung der alten amerikanischen Verfassung, sein Manifest für die Abschaffung der Sklaverei." Fast sieht es so aus, als würde Max hier von seinem Geschichtsmodell der sozialen Klassen als Träger des revolutionären Fortschritts Abstand nehmen, Um an deren Stelle den zielstrebig handelnden Einzelnen zu setzen [...] der weder Uniform noch historisches Kostüm trägt, sondern bescheiden und unscheinbar daherkommt." (S. 417/418)

Nietzsche sieht in seiner Basler Zeit als Voraussetzung für Kultur eine besondere Art von Gesellschaftsaufbau (das Nietzschezitat in heutiger Rechtschreibung):

"Nietzsche hingegen war bereits zu seiner Basler Zeit zu der Auffassung gelangt, eine Ethik des Mitleids könne politisch nicht folgenlos bleiben. Deswegen forderte er dazu auf, sich vom Elend nicht erweichen zu lassen, sondern es eher noch zu verstärken, um die Möglichkeit von Kultur offen zu halten. Eine Politik der Macht wie eine Ethik des Mitleids saugten die Aufmerksamkeit und die Energie der Menschen auf, die der Kultur dann fehlten. Deren Höherentwicklung erfordere Grausamkeit und Härte: 'Deshalb dürfen wir auch die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen', erklärte er seinem Basler Publikum, 'der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt: als welchen eine wohltätige Macht die Augen verblendet hat, so dass sie, von den Rädern des Wagens fast zermalmt, doch noch rufen: 'Würde der Arbeit!' 'Würde des Menschen' [...] Aus der Verzärtelung des neueren Menschen sind die ungeheuren soziale Notstände der Gegenwart geboren, nicht aus dem wahren und tiefen Erbarmen mit jenem Elende' - welches für Nietzsche offenbar nur dann 'wahr und tief' war, wenn es politisch folgenlos blieb. Deswegen fährt er fort: 'Wenn es wahr sein sollte, dass die Griechen an ihrem Sklaventurm zu Grunde gegangen sind, so ist das andere viel gewisser, dass wir an dem Mangel des Sklaventums zu Grunde gehen werden.' " (S.422)

Zum Gesellschaftsaufbau:

Zunächst zu denen ganz oben, an der Spitze der Gesellschaft. Bei Nietzsche sind das nicht die Mächtigen und Reichen, sondern 'die Geistigsten', die um der Vergeblichkeit großer Mühen und Anstrengungen wissen und diese dennoch auf sich nehmen, die das Leben bejahen, obwohl ihnen klar ist, wie es verläuft, Die somit soziologisch dem am nächsten kommen, was in philosophische Hinsicht von Nietzsche 'Übermensch' genannt wird. Was er hier vorträgt, ist keine wie auch immer empirisch rückgebundene Betrachtung der tatsächlichen gesellschaftlichen Ordnung, sondern eine an Platons Politeia und deren ständischen Vorstellungen angelegte Projektion, mit der er die Tiefenstrukturen der zeitgenössischen Gesellschaft sichtbar machen will." (S.424)

Ich habe mich daran gewöhnt, Nietzsche gegen die auf den Willen zur Macht von seiner Schwester zugespitzten Überlieferung in Schutz zu nehmen. In der Tat hat sich seine Vorstellung von Gesellschaft noch gewandelt (Münkler, S.425). Diese frühen Zitate lassen sich durchaus als Vorbereitung der Terrorherschaftt im Nationalsozialismus verstehen. 

Kap. 8

Die europäischen Juden bei Marx, Wagner und Nietzsche (S 435ff.)

Im Allgemeinen geht man davon aus, dass es in Deutschland einen Antisemitismus im strikt rassistischen Sinn er ist seit 1879, dem Gründungsjahr der Antisemiten-Liga durch Wilhelm Marr, gegeben habe, doch steht das Jahr 1879 vor allem für die politische vor Formierung des Antisemitismus. Antisemitisches Denken., also eine Judenfeindschaft, die sich nicht auf das religiöse Bekenntnis und die zeremonielle Praxis konzentriert, sondern eine selbst durch die christliche Taufe nicht ablösbare Identität der Juden behauptet, hat es schon lange davor gegeben. 1879 wird freilich auch deswegen als die entscheidende Zäsur angesehen, weil im Jahr darauf der Berliner Antisemitismusstreit stattfand, eine im wesentlichen unter Universitätsprofessoren ausgetragene Kontroverse, die für erhebliches Aufsehen sorgte und auf die dann eine breite Welle antisemitischer Schriften auch und gerade aus dem akademischen Milieu folgte." (S. 437)

In Marxens Schrift 'Zur Judenfrage' von 1843, so kritisch er sich dort über die Juden äußert, ist aber nach Münkler kein rassistischer Antisemitismus zu finden, vielmehr kritisiert er an den Juden, dass sie die ihnen aufgedrängte Rolle als Kapitalisten akzeptiert hätten und dass es ihnen nur um 'Schacher' gehe, also um Profit und kapitalistische Akkumulation. Privat konnte Marx freilich, wenn er ein Ressentiment gegen jemanden hatte freilich sehr scharfe Formeln des Alltagsantisemitismus verwenden. Insbesondere gegen den 'jüdischen Nigger Lasalle' (S.648), mit dem er wegen dessen Rednergabe aber zusammenarbeiten musste. Aber den Juden Moses Heß (S.450) akzeptierte er ohne weiteres.

Bei Wagner aber findet sich 'manifester Antisemitismus' (S.453) 

Wenn die im Sinne der Wagnerschen Definition als Juden Bezeichneten ihre Fähigkeiten in die Kultur des Landes einbringen, dann verderben sie, so Wagners Vorwurf, diese Kultur nur. Sie seien dabei, wie Wagner am Beispiel von Mendelssohn Bartholdy und Meyerbeer meint zeigen zu können, die gewachsene Kultur Europas zu 'zersetzen' " (S.460)

"In den knapp zwei Jahrzehnten seit Wagners ersten öffentlichen Angriff hatte sich seine Judenfeindschaft zu einer Verschwörungsobsession gesteigert, die sich durch gegenläufige Beispiele aus der realen Welt, an denen es kaum gefehlt hätte, nicht mehr erschüttern ließ. Es war ein durchweg antisemitisches Weltbild, aus dem heraus Wagner im letzten Lebensjahrzehnt seine 'Regenerationsschriften' verfasste. (S. 461) (ausführlich auf S.462-471)

Die Frage, ob sich in Wagners Werk Judenkarikaturen finden, wie Adorno es angedeutet hat, hält Münkler nicht für relevant. "Wie man sie beantwortet, ändert aber nichts an dem Eingeständnis, dass Wagner zu den bösartigsten Antisemiten in Deutschland zu rechnen ist." (S476)

Nietzsches Anti-Antisemitismus (S.476)
"Während seiner engen persönlichen Verbindung mit Wagner hat Nietzsche dessen antijüdische Grundeinstellung weitgehend geteilt. [...]  Er sei, schrieb er später, 'bei einem Aufenthalt auf völlig infizirtem Gebiete nicht von der Krankheit verschont' geblieben. Der Bruch mit Wagner hat er für ihn zur Folge, dass er alles, was ihn mit Wagner verbunden hatte, einer eingehenden Prüfung unterzogen und in fast allem eine Gegenposition zur vormaligen Sichtweise entwickelte." (S. 476) Dann aber setzt er sich scharf vom Antisemitismus Wagners und Bernhard Försters, dem Mann seiner Schwester ab und formuliert sogar: Diese verfluchten Antisemiten-Fratzen sollen nicht an mein Ideal greifen.!!" (S477)
Er stellt "die Juden nunmehr als da eigentliche Bindeglied zwischen Antike und neuzeitlichem Europa heraus."

Die europäische Führungsrolle der Juden (S.480)
"Entgegen dem, was ist das Nietzsche-Archiv unter der Leitung seiner Schwester aus ihm gemacht hat, nämlich eine nationalistischen Denker mit stark rassistischer Prägung, war Nietzsche zutiefst davon überzeugt, dass Europa nur jenseits des Nationalismus eine Zukunft habe – und diese Zukunft können nur eine gemeinsame mit den Juden/ sein." (S. 480/481)

Die Juden als Urheber der "Sklavenaufstandes der Moral"(S.486)
Verfolgt man Nietzsches weiteren Denkweg, hat es den Anschein, als habe die Phase seiner Hoffnung auf die Juden als Retter Europas mit Wagners Tod geendet. Dessen Antisemitismus hatte ihn offenbar provoziert, eine Eloge nach der anderen auf die Juden zu schreiben und überall dort, wo Wagner die Juden verachtete, das genaue Gegenteil zu vertreten". (S,486)
"Die Juden [...] haben jenes Wunderstück von Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, dank welchem das Leben auf der Erde für ein paar Jahrtausende einen neuen und gefährlichen Reiz erhalten hat: – ihre Propheten haben 'reich', 'gottlos', 'böse', 'gewaltthätig', 'sinnlich' in Eins geschmolzen und zum ersten Mal das Wort 'Welt' zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe [...] liegt die Bedeutung des jüdischen Volkes: mit ihm beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral.'
Dieser Aufstand, so Nietzsche, sei einer der wenigen, wenn nicht der einzige, der 'siegreich gewesen ist'. Die jüdisch-christliche Moral, so Nietzsche im Antichrist, sei das ressentimentgesteuerte Wein zur vornehmen Moral, zur aufsteigenden Bewegung des Lebens, von der er annimmt, dass sie' die Wohlgerathenheit, die Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung auf Erden darstellt'. Der 'Genie gewordene Instinkt des ressentiment habe darin eine andere Welt erfunden, von wo aus jene Lebens-Bejahung als das Böse, als das Verwerfliche an sich erschien.' " (S. 486)

Marx, Wagner, Nietzsche sind alle drei antibürgerliche Denker und lehnen die Bürer, die sie als Philister bezeichnen, ab. (S.493/94) Marx unterscheidet sich freilich von den beiden anderen. 
Von den dreien hat er am stärksten einer bürgerlichen Lebensführung angehangen, auch wenn ihm das aufgrund seiner finanziellen Lage nicht immer möglich war.

Bei Wagner war das in vieler Hinsicht genau umgekehrt: er hat sich im Frühjahr 1849 mit einer Intensität am revolutionären Kampf beteiligt, wie das bei Max nie der Fall war. Marx hat immer die Distanz des kommentierenden Beobachters zum gewaltsamen Geschehen gewahrt. [...im Gegensatz zu Wagner:] Während der Dresdner Mai-Revolution 1849 spielte Wagner bei der Bereithaltung von Waffen und der Koordinierung von Maßnahmen zur Verteidigung der Revolution eine zentrale Rolle." (S.495)

Unterschiedlich reagierten Wagner und Marx auf die Einsicht, dass die Revolution nicht so zustande kam, wie angenommen:

"Mit der Konsolidierung der Herrschaft Louis Bonapartes wurde Wagner skeptisch und konzentrierte seinen revolutionären Impuls zunehmend aufs Ästhetische, wo er das Musiktheater zu einem Ort für das machte, was in der sozialpolitischen Welt nicht mehr zu erwarten war. Marx dagegen ließ sich auf den mühsamen Weg der Umarbeitung seiner revolutionären Naherwartung in eine enttäuschungsresistente Theorie lange währender revolutionäre Prozesse ein. In ihr wurde die Revolution als ein Vorgang beschrieben, der sich fortwährend in den sozioökonomischen Konstellationen und nur gelegentlich an der politischen Oberfläche vollzog." (S.501)

"Für die Absicherung seiner Theorie hatte Max also einen hohen Preis zu entrichten. Insofern kommt es nicht von ungefähr, dass die 'Wiederentdeckungen' der Marxschen Theorie und die 'Revitalisierungen' des Marxismus im Verlauf des 20. Jahrhunderts unter Rückgriff auf den jungen Marx erfolgten." (S.503)

"Im Unterschied zu Wagner und Marx war Nietzsche ein dezidierter Gegner politischer wie sozialer Revolutionen. Er hat sich von der Revolution nichts versprochen und sie sogar als Unglück und Verhängnis beschrieben, weil sie dem, was er als das eigentliche Problem seiner Zeit ansah – der Entstehung von Massengesellschaft –, nicht entgegenwirkte, sondern es im Gegenteil noch beförderte." (S.505)

Er glaubte nicht an die Revolutionäre als an eine Avantgarde, "die als Erste einen Weg beschritt, auf dem ihm die anderen dann folgen würden. Nietzsches neue Aristokratie pflegte vielmehr das 'Pathos der Distanz', hielt Abstand zu den Massen und ließ sich weder durch soziale Forderungen noch moralische Erwartungen beeindrucken. Aus dem Umsturz der Gesellschaft wurde bei Nietzsche das Projekt einer 'Umwertung aller Werte', bei der die überkommenden Vorstellungen von Gut und Böse geprüft und an ihren Folgen gemessen werden sollten. Was bei Marx die Expropiation der Expropiateure durch die Expropiierten war, war  für Nietzsche die Evaluation des Evaluierten nach Austausch der Evaluateure. Seinen provokantesten Ausdruck fand das in seiner Feier des Papstsohns Cesare Borgia, der weder vor Lüge noch Betrug, weder vor Gewalt noch Verbrechen zurückgeschreckt war, wenn es um das Ausleben seiner Wünsche ging. Nicht die Gesellschaft sollte überwunden werden, sondern der auf Glücks- und Sinnsuche befindliche Mensch." (S.505/506)

Zur Situation der Konkurrenz von englischen und irischen Arbeitern: Die irischen Arbeiter, die zu weit niedrigeren Löhnen zu arbeiten bereit sind, drücken die Löhne für die englischen Arbeiter.

Marx: "Schließlich wiederholt sich im England unserer Tage das, was uns das Alte Rom in ungeheurem Maßstab zeigte. Das Volk, dass ein anderes Volk unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten." (S.562)

Sassulitsch-Brief  (S.567-572) Nach Marx könnte "eine quasi sozialistische Revolution im ökonomisch rückständigeren Russland [...] die Voraussetzungen für einen historischen Sprung aus einer vor- in eine nachkapitalistische Gesellschaftsformation schaffen. Das ist eine weitere Variante der Revolutionsvorstellungen, über die Marx nach der Verabschiedung des französischen Models nachgedacht hat. Er scheint es jedoch für unwahrscheinlich gehalten zu haben, dass die von ihm aufgeführten Bedingungen erfüllt werden, so dass auch Russland den Gang werde gehen müssen, den die westlichen Gesellschaftsgeschichte gegangen ist. (S.572)

Landlordismus (S.581f.)

Zusammenfassung /  Engführung (S.550-621)

Münkler hat bis hierher Marx, Wagner und Nietzsche zwar immer wieder verglichen und dabei wesentliche Unterschiede herausgestellt. In seiner Engführung betont er aber das Gemeinsame der drei antibürgerlichen und revolutionären Denker und unterstellt ihnen, dass sie auf ihrem jeweiligen Feld Ähnliches angestrebt hätten, was aber aufgrund des Arbeitsfeldes zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt habe. eine Engführung sieht Münkler auch insofern, als alle drei Denker ihre Vereinfacher gefunden hätten, die die Ergebnisse ideologiekompatibel gemacht und damit verfälscht hätten.

Mit meiner Darstellung verkürze ich Münklers Darstellung (notgedrungen) noch weiter und verfälsche sie insofern. Das versuche ich durch Rückbindung an Zitate und Textabschnitte wieder aufzubrechen, so dass Leser angerecht werden, zu Münklers und Marx', Wagners' und Nietzsches Texten selbst zurück zu gehen.

Marx' Revolutionierung des revolutionären Denkens: vom katastrophischen Umsturz zur strukturellen Umwälzung (S.550-572)

Marx stellte fest, dass seine Naherwartung eines politischen Umsturzes immer wieder enttäuscht wurde, deshalb erklärt er die politischen Umbrüche zu Oberflächenphänomenen, die auf die grundlegenden sozioökonomischen Veränderungen zurückzuführen seien, die sich ihrerseits relativ gleichmäßig in einer immer gleichen Richtung entwickelten.

Engels habe die sozio-ökonomische Theorie zu einer umfassenden Theorie der Entwicklung der Welt und damit ideologiefähig gemacht. 

Wagners Revolutionierung der Musik (S.572-590)

Wagner, im Unterschied zu Marx praktischer Revolutionär, wurde durch die Entwicklung der Revolution in Frankreich 1848 zum zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. so enttäuscht, dass er nicht mehr die Gesellschaft, sondern sein spezifisches eigenes Feld Musik, Dichtung und Schauspiel revolutionieren wollte, indem er die unterhaltsame Bühnenkunst durch enge Verbindung von Dichtung, Musik und Schauspiel so umgestaltete, dass tiefste - in Worte nicht zu fassende - Erkenntnisse durch das Zusammenwirken der Künste im Gesamtkunstwerk den Hörer erreichen sollten. Er sah darin einen Rückgriff auf das Theater der griechischen Antike (weshalb er wie die frühen Tragödienschreiber auf Mythen, die sich in seinem Sinne umdeuten ließen, zurückgriff.

Cosima und in ihrer Nachfolge Winifred Wagner hätten sein Werk durch ihre Interpretation dauernd im Gespräch gehalten und ideologiefähig und für Hitler verwendbar gestaltet. 

Nietzsches stille Revolution: Die Umwertung aller Werte (S.590-602)

Nietzsche wollte die paulinische Revolution rückgängig machen. (S.595) Nach Nietzsche (zumindest in Münklers Interpretation) war Paulus unglücklich, weil er das jüdische Gesetz nicht erfüllen konnte. In seinem Damaskuserlebnis hat er Jesus als 'Vernichter des [jüdischen] Gesetzes' (S.596) und insofern als Befreier erlebt. Was für Paulus Befreiung war, bedeutete für die Christen freilich Knechtschaft. Denn als Machtmittel der Kirche wurde die Unsterblichkeit zur 'Bekehrungswaffe'. Der Tod, der vielen Heiden gar nicht so beängstigend erschien, wurde durch die Unsterblichkeit auch der Sünder, die in der Hölle ewige Qualen zu erleiden hätten, tatsächlich unerträglich. Insofern menschliche Leidenschaften, insbesondere die Sexualität als streng zu vermeidende Sünde erklärt wurden und insofern jedes Unglück als göttliche Strafe interpretiert wurde, war damit drei wirksame Machtmittel geschaffen, mit denen Gläubige geknechtet werden konnten.

Nietzsches Umwertung aller Werte  sollte die Menschen von diesen unnatürlichen Forderungen befreien. Da Nietzsches Schwester (dank Nietzsches Rückkauf der Rechte an seinem Werk) seine Werk ganz entsprechend ihrer Interpretation umordnen und damit interpretieren konnte, konnte sie ihrerseits dies Werk ideologiefähig machen. 

Im Kapitel Nachspiel (S.603-621) spricht Münkler davon, Elisabeths Zusammenstellung von Äußerungen zu seinem - angeblichen - Hauptwerk  Der Wille zur Macht sei "mehr als eine Verfälschung, das war eine feindliche Übernahme" (S.613)

"Auch darin sind alle drei, Max, Wagner und Nietzsche bei sich angekommen: Sie haben ihre Theorien, Aphorismen und kreativen Innovationen als Schutzschild gegen die eigenen Unsicherheiten genutzt. In einem Jahrhundert der schwindendenden Gewissheiten haben sie diese Unsicherheit durch gelegentliche Hyperaffimativität im Denk- und Sprechduktus verborgen. Aber gleichzeitig haben sie dann doch auch wieder die fortbestehende Unsicherheit erkennbar werden lassen: Marx in Gestalt der vielfältigen Revisionen seiner Theorie sowie den Korrekturen und Hinzufügungen seiner Schriften, die der Ausbildung eines Systems entgegenwirkten; Wagner durch die Polyperspektivität seiner Musikdramen, die den Sehenden und Hörenden in ein Psychodrama hineinzieht, das eher in Ratlosigkeit als in kathartisch gewonnener Selbstsicherheit endet; und Nietzsche durch die kataklysmische Steigerung eines Gedankens, die den nach Gewissheiten greifenden Leser gerade durch die wirbelnde Verdichtung dieses Gedankens in neuerliche Ungewissheit stößt. Nur wer die Gewissheiten des jeweiligen Werks dekonstruiert, gelangt zur Person des Autors; nur wer das Dekonstruierte nutzt, um die Gegenwart in ihrer irritierenden Vielgestaltigkeit zu erfassen, kann die Vorzüge dieser Wegbegleitung für sich in Anspruch nehmen."   (S. 621)

27 Juli 2022

Richard Wagner: Götterdämmerung

Im Wartezimmer hatte ich die Gelegenheit, ein Vorwort zur Götterdämmerung aus DDR-Zeit zu lesen. Der Eifer, mit dem der Autor betonte, dass Wagner seinen ursprünglichen Entwurf 1848 verfasste und dass der Text der Tetralogie vom Ring der Nibelungen schon fertig gewesen sei, als Wagner noch ganz unter dem Einfluss Proudhons  und Feuerbachs stand und noch nicht Schopenhauer gelesen hatte, war mir bemerkenswert. So viel Bemühen, Wagner als optimistischen Revolutionär im Kampf gegen das Kapital (Symbol: Gold) zu sehen! Auf die gekünstelt altdeutsche Sprache und den Antisemitismus ging der Autor, so weit ich im Wartezimmer gelesen habe, überhaupt nicht ein. 

Da habe ich mir noch einmal den Wikipediaartikel vorgenommen und wenigstens zwei Textstellen herausgesucht. (Bei Gelegenheit füge ich im Anschluss an den Text noch die kritische Sicht Fontanes auf die Behandlung des Mythos  und andererseits einen selbstironischen Text Wagners, der gar nicht zu meiner gefühlmäßigen Ablehnung von Wagnerschwulst passt.)

Meine Annäherung an Wagner kam sehr spät (2016); aber in ganz kleinen Happen, kann ich ihn inzwischen aufnehmen.


Richard Wagner: Götterdämmerung (Wikipedia)

1. Aufzug, 1. Szene

"[...] Das Geschwisterpaar erkennt den verschlagenen Hagen neidlos als Ratgeber an. Listig hält er ihnen vor, noch unvermählt zu sein, und fädelt einen geschickten Plan ein: Für Gunther weiß er ein „Weib“, „das herrlichste der Welt“ – Brünnhilde –, das indes nur Siegfried vom feuerumloderten Berg holen kann. Dieser aber werde Gunthers Bitte erfüllen, um dafür Gutrune als Ehefrau zu gewinnen. Gutrune mag nicht glauben, dass der „herrlichste Held der Welt“ sie begehren könne. Doch Hagen erinnert an einen Trank: Genösse Siegfried den, vergäße er, „daß je ein Weib ihm genaht“. Die Geschwister stimmen diesem Plan begeistert zu, ohne zu bedenken, welches Weib Siegfried vergäße. In Wahrheit freilich geht es Hagen ausschließlich um den Ring.

Auf seiner Rheinfahrt legt Siegfried bei der Gibichungenhalle an. Gutrune reicht ihm den von Hagen präparierten Begrüßungstrunk. Kaum hat er diesen „in einem langen Zuge“ geleert, hat er Brünnhilde vergessen. Er entbrennt in wilder Leidenschaft für Gutrune und ist sogleich bereit, für Gunther die gewünschte Braut – Brünnhilde – zu holen, wenn er dadurch „Gutrun zum Weib“ gewinnt. Er schließt mit Gunther Blutsbrüderschaft und drängt: „Frisch auf die Fahrt!“, denn, so erklärt er seinem Blutsbruder: „Um die Rückkehr ist’s mir jach!“. Gunther und Siegfried besteigen das Schiff. Hagen bleibt zurück und bewacht die Halle. Im Selbstgespräch höhnt er ihnen nach: „Ihr freien Söhne, frohe Gesellen, segelt nur lustig dahin! Dünkt er euch niedrig, ihr dient ihm doch, des Niblungen Sohn.“ [...]"

(Wikipedia)

Text:

"Hagen
In sommerlich reifer Stärke
seh' ich Gibichs Stamm,
dich, Gunther, unbeweibt,
dich, Gutrun', ohne Mann.

Gunther
Wen rätst du nun zu frein,
daß unsrem Ruhm es fromm'?

Hagen
Ein Weib weiß ich,
das herrlichste der Welt:
auf Felsen hoch ihr Sitz;
ein Feuer umbrennt ihren Saal;
nur wer durch das Feuer bricht,
darf Brünnhildes Freier sein.

Gunther
Vermag das mein Mut zu bestehn?

Hagen
Einem Stärkren noch ist's nur bestimmt.

Gunther
Wer ist der streitlichste Mann?

Hagen
Siegfried, der Wälsungen Sproß:
der ist der stärkste Held.
Ein Zwillingspaar,
von Liebe bezwungen,
Siegmund und Sieglinde,
zeugten den echtesten Sohn.
Der im Walde mächtig erwuchs,
den wünsch' ich Gutrun' zum Mann.

Gutrune
Welche Tat schuf er so tapfer,
daß als herrlichster Held er genannt?

Hagen
Vor Neidhöhle den Niblungenhort
bewachte ein riesiger Wurm:
Siegfried schloß ihm den freislichen Schlund,
erschlug ihn mit siegendem Schwert.
Solch ungeheurer Tat
enttagte des Helden Ruhm.

Gunther
Vom Niblungenhort vernahm ich:
er birgt den neidlichsten Schatz?

Hagen
Wer wohl ihn zu nützen wüßt',
dem neigte sich wahrlich die Welt.

Gunther
Und Siegfried hat ihn erkämpft?

Hagen
Knecht sind die Niblungen ihm.

Gunther
Und Brünnhild' gewänne nur er?

Hagen
Keinem andren wiche die Brunst.

Gunther
Was weckst du Zweifel und Zwist!
Was ich nicht zwingen soll,
darnach zu verlangen machst du mir Lust?

Hagen
Brächte Siegfried die Braut dir heim,
wär' dann nicht Brünnhilde dein?

Gunther
Was zwänge den frohen Mann,
für mich die Braut zu frein?

Hagen
Ihn zwänge bald deine Bitte,
bänd' ihn Gutrun' zuvor.

Gutrune
Du Spötter, böser Hagen,
wie sollt' ich Siegfried binden?
Ist er der herrlichste Held der Welt,
der Erde holdeste Frauen
friedeten längst ihn schon.

Hagen
Gedenk des Trankes im Schrein;
vertraue mir, der ihn gewann:
den Helden, des du verlangst,
bindet er liebend an dich.
Träte nun Siegfried ein,
genöss' er des würzigen Tranks,
daß vor dir ein Weib er ersah,
daß je ein Weib ihm genaht,
vergessen müßt' er des ganz.
Nun redet: wie dünkt euch Hagens Rat?

Gunther
Gepriesen sei Grimhild',
die uns den Bruder gab!

Gutrune
Möcht' ich Siegfried je ersehn!

Gunther
Wie fänden ihn wir auf?

Hagen
Jagt er auf Taten wonnig umher,
zum engen Tann wird ihm die Welt:
wohl stürmt er in rastloser Jagd
auch zu Gibichs Strand an den Rhein.

Gunther
Willkommen hieß' ich ihn gern.
Vom Rhein her tönt das Horn."


[...]


3. Aufzug, 3. (letzte) Szene

Während der folgenden Trauermusik verwandelt sich die Bühne wieder in die Gibichungenhalle. Die von Albträumen gequälte Gutrune irrt durch die Nacht. Sie glaubt, sie habe Brünnhilde gesehen, wie sie zum Ufer des Rheines schritt. Der tote Siegfried wird gebracht. Hagen brüstet sich trotzig mit dem Mord, weil der Tote „Meineid sprach“. Er macht „Heiliges Beuterecht“ geltend und fordert den Ring. Gunther stellt sich ihm in den Weg, doch Hagen erschlägt ihn und „greift nach Siegfrieds Hand; diese hebt sich drohend empor“. Alles schreckt zurück. Jetzt erscheint Brünnhilde und befiehlt, einen Scheiterhaufen am Rande des Rheins zu errichten, in dessen Flammen Siegfried, sie selbst und Grane verbrannt werden sollen. Noch einmal preist sie den Toten. Den Rheintöchtern, die sie am Ufer besucht hat, dankt sie „redlichen Rat“. Sie weiß jetzt alles. Sie zieht den Ring von Siegfrieds Finger. Aus ihrer Asche sollen die Rheintöchter den durch das Feuer vom Fluch Gereinigten an sich nehmen. Dann wirft sie eine Fackel in den Holzstoß, besteigt Grane „und sprengt mit einem Satze in den brennenden Scheiterhaufen“. Als das Feuer am höchsten lodert, tritt der Rhein über die Ufer, der Brand erlischt, die Rheintöchter schwimmen heran. Als Hagen diese erblickt, stürzt er sich mit dem Ruf: „Zurück vom Ring!“ in die Flut. Doch die Rheintöchter ziehen ihn in die Tiefe. In einem hellen Feuerschein am Himmel sieht man das brennende Walhall. „Als die Götter von den Flammen gänzlich verhüllt sind, fällt der Vorhang.“

(Wikipedia)

Text:

Brünnhilde (allein in der Mitte; nachdem sie lange, zuerst mit tiefer Erschütterung, dann mit fast überwältigender Wehmut das Angesicht Siegfrieds betrachtet, wendet sie sich mit feierlicher Erhebung an die Männer und Frauen)
Starke Scheite schichtet mir dort
am Rande des Rheins zuhauf!
Hoch und hell lodre die Glut,
die den edlen Leib
des hehrsten Helden verzehrt.
Sein Roß führet daher,
daß mit mir dem Recken es folge;
denn des Helden heiligste Ehre zu teilen,
verlangt mein eigener Leib.
Vollbringt Brünnhildes Wunsch!

(Die jüngeren Männer errichten während des Folgenden vor der Halle nahe am Rheinufer einen mächtigen Scheiterhaufen, Frauen schmücken ihn mit Decken, auf die sie Kräuter und Blumen streuen.)

Wie Sonne lauter strahlt mir sein Licht:
der Reinste war er, der mich verriet!
Die Gattin trügend, treu dem Freunde,
von der eignen Trauten, einzig ihm teuer,
schied er sich durch sein Schwert.
Echter als er schwur keiner Eide;
treuer als er hielt keiner Verträge;
lautrer als er liebte kein andrer:
und doch, alle Eide, alle Verträge,
die treueste Liebe trog keiner wie er!
Wißt ihr, wie das ward?

(Nach oben blickend.)

O ihr, der Eide ewige Hüter!
Lenkt euren Blick auf mein blühendes Leid,
erschaut eure ewige Schuld!
Meine Klage hör, du hehrster Gott!
Durch seine tapferste Tat,
dir so tauglich erwünscht,
weihtest du den, der sie gewirkt,
dem Fluche, dem du verfielest:
mich mußte der Reinste verraten,
daß wissend würde ein Weib!
Weiß ich nun, was dir frommt?
Alles, alles, alles weiß ich,
alles ward mir nun frei!
Auch deine Raben hör' ich rauschen;
mit bang ersehnter Botschaft
send' ich die beiden nun heim.
Ruhe, ruhe, du Gott!

(Sie winkt den Mannen, Siegfrieds Leiche auf den Scheiterhaufen zu tragen; zugleich zieht sie von Siegfrieds Finger den Ring und betrachtet ihn sinnend.)

Mein Erbe nun nehm' ich zu eigen.
Verfluchter Reif! Furchtbarer Ring!
Dein Gold fass' ich und geb' es nun fort.
Der Wassertiefe weise Schwestern,
des Rheines schwimmende Töchter,
euch dank' ich redlichen Rat.
Was ihr begehrt, ich geb es euch:
aus meiner Asche nehmt es zu eigen!
Das Feuer, das mich verbrennt,
rein'ge vom Fluch den Ring!
Ihr in der Flut löset ihn auf,
und lauter bewahrt das lichte Gold,
das euch zum Unheil geraubt.

(Sie hat sich den Ring angesteckt und wendet sich jetzt zu dem Scheiterhaufen, auf dem Siegfrieds Leiche ausgestreckt liegt. Sie entreißt einem Manne den mächtigen Feuerbrand, schwingt diesen und deutet nach dem Hintergrund.)

Fliegt heim, ihr Raben!
Raunt es eurem Herren,
was hier am Rhein ihr gehört!
An Brünnhildes Felsen fahrt vorbei.
Der dort noch lodert,
weiset Loge nach Walhall!
Denn der Götter Ende dämmert nun auf.
So – werf' ich den Brand
in Walhalls prangende Burg.

(Sie schleudert den Brand in den Holzstoß, der sich schnell hell entzündet. Zwei Raben sind vom Felsen am Ufer ausgeflogen und verschwinden nach dem Hintergrunde zu.

Brünnhilde gewahrt ihr Roß, welches zwei junge Männer hereinführen. Sie ist ihm entgegengesprungen, faßt es und entzäumt es schnell; dann neigt sie sich traulich zu ihm.)

Grane, mein Roß, sei mir gegrüßt!
Weißt du auch, mein Freund,
wohin ich dich führe?
Im Feuer leuchtend, liegt dort dein Herr,
Siegfried, mein seliger Held.
Dem Freunde zu folgen, wieherst du freudig?
Lockt dich zu ihm die lachende Lohe?
Fühl meine Brust auch, wie sie entbrennt;
helles Feuer das Herz mir erfaßt,
ihn zu umschlingen, umschlossen von ihm,
in mächtigster Minne vermählt ihm zu sein!
Heiajoho! Grane!
Grüß deinen Herren!
Siegfried! Siegfried! Sieh!
Selig grüßt dich dein Weib!

(Sie hat sich auf das Roß geschwungen und sprengt mit einem Satze in den brennenden Scheiterhaufen. Sogleich steigt prasselnd der Brand hoch auf, so daß das Feuer den ganzen Raum vor der Halle erfüllt und diese selbst schon zu ergreifen scheint. Entsetzt drängen sich die Männer und Frauen nach dem äußersten Vordergrunde. Als der ganze Bühnenraum nur noch von Feuer erfüllt erscheint, verlischt plötzlich der Glutschein, so daß bald bloß ein Dampfgewölk zurückbleibt, welches sich dem Hintergrunde zu verzieht und dort am Horizont sich als finstere Wolkenschicht lagert. Zugleich ist vom Ufer her der Rhein mächtig angeschwollen und hat seine Flut über die Brandstätte gewälzt. Auf den Wogen sind die drei Rheintöchter herbeigeschwommen und erscheinen jetzt über der Brandstätte. Hagen, der seit dem Vorgange mit dem Ringe Brünnhildes Benehmen mit wachsender Angst beobachtet hat, gerät beim Anblick der Rheintöchter in höchsten Schreck. Er wirft hastig Speer, Schild und Helm von sich und stürzt wie wahnsinnig sich in die Flut.)

Hagen
Zurück vom Ring!

(Woglinde und Wellgunde umschlingen mit ihren Armen seinen Nacken und ziehen ihn so, zurückschwimmend, mit sich in die Tiefe. Floßhilde, den anderen voran dem Hintergrunde zuschwimmend, hält jubelnd den gewonnenen Ring in die Höhe. Durch die Wolkenschicht, welche sich am Horizont gelagert, bricht ein rötlicher Glutschein mit wachsender Helligkeit aus. Von dieser Helligkeit beleuchtet, sieht man die drei Rheintöchter auf den ruhigeren Wellen des allmählich wieder in sein Bett zurückgetretenen Rheines, lustig mit dem Ringe spielend, im Reigen schwimmen. Aus den Trümmern der zusammengestürzten Halle sehen die Männer und Frauen in höchster Ergriffenheit dem wachsenden Feuerschein am Himmel zu. Als dieser endlich in lichtester Helligkeit leuchtet, erblickt man darin den Saal Walhalls, in welchem die Götter und Helden, ganz nach der Schilderung Waltrautes im ersten Aufzuge, versammelt sitzen. Helle Flammen scheinen in dem Saal der Götter aufzuschlagen. Als die Götter von den Flammen gänzlich verhüllt sind, fällt der Vorhang.)

(Projekt Gutenberg)


Zur Würdigung der Leistung der neuen Formsprache Wagners

In seiner "Mitteilung an meine Freunde" weist Wagner darauf hin, dass er die klassische Form der Oper Mit Arie, Duett, Chor und Ensemble nicht absichtlich aufgelöst habe, sondern dass er um der Aussage der Dichtung willen die Musiksprache um dieser Aussage willen jeweils der Aussage angepasst habe. Thomas Mann sagt dazu in "Richard Wagner und der 'Ring des Nibelungen'": "Wagners Dichtertum anzuzweifeln schien mir immer absurd ... Die wundervollen Laute, die hier der Musiker findet, verdankt er dem Dichter. Aber was auch wieder dankt nicht dieser alles dem Musiker." Der russisch/sowjetische Regisseur Konstantin Stanislawski (1863-1938) sagte über Wagners Gesamtkunstwerk: "Wagners Gefühl für die Inszenierung und sein Traum von den Festspielen in Bayreuth sind das Großartigste, was das 19. Jahrhundert auf dem Gebiete der Theaterkultur geschaffen hat." [Zitate nach Werner Wolf*]

Fontane über Wagners Ring:

"Er ist, aller glänzenden Rekapitulationen unerachtet, doch in einer totalen Konfusion steckengeblieben; deshalb steckengeblieben, weil er sich eine Aufgabe stellte, die entweder überhaupt nicht zu lösen war oder für die wenigstens seine Kräfte, so respektabel sie an sich an und für sich waren, nicht ausreichten.
Und welches war nun diese Aufgabe? Die Verschmelzung zweier Sagen oder Fundamentalsätze, von denen jeder einzelne gerade Schwierigkeiten genug bot. Erster Fundamentalsatz: An der Gier, an dem rücksichtslosen Verlangen hängt die Sünde, das Leid, der Tod. Wer den Goldring der Nibelungen hat, der hat ihn immer nur zum Unheil und Verderben. Zweiter Fundamentalsatz: Die Götter sind gebunden und regieren nur durch Vertrag. Auch dem Himmel kann gekündigt werden. Wächst der Mensch, so sinken die Götter; der eigentliche Weltenherrscher ist der freie Geist und die Liebe. [...] Satz 1 ist die alte Evageschichte, sündiges Verlangen und die bekannten Konsequenzen. Satz 2 hat durch Feuerbach einen viel prägnanteren und viel geistreicheren Ausdruck empfangen:

"Ob Gott die Menschen schuf, ist fraglich; dass sich die Menschen ihren Gott geschaffen, ist gewiss." [...]" (Fontane an Karl Zöllner 13.7.1881)

*Werner Wolf: "Richard Wagner und sein Bühnenfestspiel 'Der Ring des Nibelungen' in: R. Wagner: Götterdämmerung Leipzig 1960, S.24 u. 27

05 März 2021

Aus Fontanes Briefen 1881/82

 Über Wagner:

"Und nun das große Ziel, das Weltenrätsel und das erlösende Wort, [...]

Er ist, aller glänzenden Rekapitulationen unerachtet, doch in einer totalen Konfusion steckengeblieben; deshalb steckengeblieben, weil er sich eine Aufgabe stellte, die entweder überhaupt nicht zu lösen war oder für die wenigstens seine Kräfte, so respektabel sie an sich an und für sich waren, nicht ausreichten.
Und welches war nun diese Aufgabe? Die Verschmelzung zweier Sagen oder Fundamentalsätze, von denen jeder einzelne gerade Schwierigkeiten genug bot. Erster Fundamentalsatz: An der Gier, an dem rücksichtslosen Verlangen hängt die Sünde, das Leid, der Tod. Wer den Goldring der Nibelungen hat, der hat ihn immer nur zum Unheil und Verderben. Zweiter Fundamentalsatz: Die Götter sind gebunden und regieren nur durch Vertrag. Auch dem Himmel kann gekündigt werden. Wächst der Mensch, so sinken die Götter; der eigentliche Weltenherrscher ist der freie Geist und die Liebe. [...] Satz 1 ist die alte Evageschichte, sündiges Verlangen und die bekannten Konsequenzen. Satz 2 hat durch Feuerbach einen viel prägnanteren und viel geistreicheren Ausdruck empfangen:

"Ob Gott die Menschen schuf, ist fraglich; dass sich die Menschen ihren Gott geschaffen, ist gewiss." [...]

Ich bin der Mann der langen Briefe, dieser ist aber doch einer der längsten geworden. Heine sagte zu dem älteren Dumas: "Lieber Dumas, Sie haben gut schreiben, aber wer soll es lesen?" Auch das also ist schon dagewesen." (an Karl Zöllner 13.7.1881)

"Übrigens steht dies in durchaus keinem Widerspruch zu meinen vier Bänden "Wanderungen"; ich habe überall liebevoll geschildert, aber nirgends glorifiziert, nicht einmal meinen Liebling Marwitz. Ich habe sagen wollen und habe wirklich gesagt: "Kinder,
so schlimm wie ihr es macht, ist es nicht", und dazu war ich berechtigt; aber es ist Torheit aus diesen Büchern herauslesen zu wollen, ich hätte eine Schwärmerei für Mark und Märker. So dumm war ich nicht". (An Emilie 12.8.1882)

"Goethe hat einmal gesagt: die Produktion eines anständigen Dichters und Schriftstellers entspricht allemal dem Maß seiner
Erkenntnis." Furchtbar richtig. Man kann auch ohne Kritik mal was Gutes schreiben, ja vielleicht etwas so Gutes wie man später mit Kritik nie wieder zustande bringt. Das alles soll nicht bestritten werden. Aber das sind dann die "Geschenke der Götter", die, weil es Göttergeschenke sind, sehr selten kommen. Einmal im Jahr, und das Jahr hat 365 Tage. Für die verbleibenden 364 entscheidet die Kritik, das Maß der Erkenntnis. In poetischen Dingen habe ich die Erkenntnis dreißig Jahre früher gehabt als in der Prosa; daher lese ich meine Gedichte mit Vergnügen oder doch ohne Verlegenheit, während meine Prosa aus der selben Zeit mich beständig geniert und erröten macht." (An Emilie 17.8.1882)

"Ich bin erst in dem Unglücksjahre 76 ein wirklicher Schriftsteller geworden; vorher war ich ein beanlagter Mensch, der was schrieb. Das aber ist nicht genug." (An Emilie 28.8.1882)

31 Juli 2016

Parsifal-Inszenierung 2016 in Bayreuth

Die Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg halte ich für gelungen. Ich habe sie durchaus nicht als islamkritisch aufgefasst, sondern als gegen die Instrumentalisierung von Religion und menschlichen Grundbedürfnissen gerichtet. Die Anspielung auf Scharia und Terror legt sich dabei gegenwärtig nahe.
Die Inszenierung legt Fragen nahe.
Könnte die religiöse Überhöhung seines Auftrags Parzifal, statt seine Mitleidsfähigkeit zu stärken, zum Gotteskrieger machen?
Kann Instrumentalisierung und strikteste Privatisierung weiblicher Reize für den Ehemann (oder Besitzer?) die Belohnung durch die Huris im Paradies so attraktiv machen, dass Selbstmordattentate als Selbstverwirklichung verstanden werden oder ist die religiöse Motivierung weit stärker als solche vorgeblich Erfüllung lang unterdrückter Wünsche?

Aber ich habe großes Verständnis für Musikliebhaber, die eine solche Aktualisierung des Bühnenweihfestspiels für eine Verhunzung des Gesamtkunstwerkes halten.
Denn mich hat die Sprache des Musikdramas so abgestoßen, dass ich es nie fertig gebracht habe, das Stück durchzulesen. Die geniale Musik ist mir viel zu anspruchsvoll, als dass ich mich ihr länger als 20 Minuten aussetzen wollte, ohne mich auf anderes konzentrieren zu können. Der Parzival Wolframs von Eschenbach ist mir zu lieb, als dass ich die Fabel von Wagners Parsifal nicht als fragwürdige Beschränkung auffassen könnte.
So hat mir erst diese Inszenierung ermöglicht, Text und Musik des Gesamtkunstwerks im Zusammenhang kennen zu lernen. Dass ich damit dem Gesamtkunstwerk nicht gerecht werden kann, ist klar. Immerhin hat mir die Inszenierung erstmals einen ersten Zugang dazu verschafft und die Möglichkeit, die Leistungen der beteiligten Interpreten wenigstens im Ansatz zu würdigen.

Mir waren dabei die vielfältigen Verfremdungseffekte hilfreich, das theatralische Pathos zu würdigen, das ich so in einer Passionsaufführung nicht akzeptieren könnte.

Richard Wagner: Parsifal

27 Juni 2013

Richard Wagner: Über sein Leben (Fortsetzung I)

Auf einer schönen Sommerreise in die böhmischen Bäder entwarf ich den Plan zu einer neuen Oper: »Das Liebesverbot«, wozu ich den Stoff aus Shakespeare's »Maaß für Maaß« entnahm, nur mit dem Unterschied, daß ich ihm den darin vorherrschenden Ernst benahm und ihn so recht im Sinne des jungen Europa modelte: die freie, offene Sinnlichkeit erhielt den Sieg rein durch sich selbst über puritanische Heuchelei. – Noch im Sommer desselben Jahres, 1834, nahm ich die Musikdirektorstelle am Magdeburger Theater an. Die praktische Anwendung meiner musikalischen Kenntnisse für die Funktion eines Dirigenten glückte mir sehr bald: der wunderliche Verkehr mit Sängern und Sängerinnen hinter den Coulissen und vor den Lampen entsprach ganz und gar meiner Neigung zu bunter Zerstreuung. Die Komposition meines »Liebesverbotes« wurde begonnen. [...] Auf einige Zeit darin unterbrochen, nahm ich die Komposition im Winter 1835 zu 1836 wieder auf und beendete sie kurz vor dem Auseinandergehen der Opernmitglieder des Magdeburger Theaters. Mir blieben nur noch zwölf Tage bis zum Abgange der ersten Sänger übrig; in dieser Zeit mußte also meine Oper studirt werden, wollte ich sie noch von ihnen aufführen lassen. Mit mehr Leichtsinn als Überlegung ließ ich nach zehntägigem Studium die Oper, welche sehr starke Partien hatte, in Szene gehen; ich vertraute dem Souffleur und meinem Dirigentenstabe. Trotzdem konnte ich aber doch nicht verhindern, daß die Sänger ihre Partien kaum halb auswendig wußten. Die Vorstellung war Allen wie ein Traum, kein Mensch konnte einen Begriff von der Sache bekommen; dennoch wurde, was halbweg gut ging, gehörig applaudiert. Eine zweite Vorstellung kam aus verschiedenen Gründen nicht zu Stande*. – Während dem hatte sich denn auch der Ernst des Lebens bei mir gemeldet; meine schnell ergriffene äußere Selbstständigkeit hatte mich zu Thorheiten aller Art verleitet, Geldnoth und Schulden quälten mich auf allen Seiten. [...]
Im Sommer 1837 besuchte ich Dresden auf eine kurze Zeit. Dort brachte mich die Lektüre des Bulwer'schen Romans »Rienzi« wieder auf eine bereits gehegte Lieblingsidee zurück, den letzten römischen Tribunen zum Helden einer großen tragischen Oper zu machen. Durch widerliche äußere Verhältnisse daran verhindert, beschäftigte ich mich aber nicht weiter mit Entwürfen. Im Herbste dieses Jahres ging ich nach Riga, um die Stelle des ersten Musikdirektors bei dem unter Holtei neu eröffneten Theater anzutreten. Ich fand da vortreffliche Mittel für die Oper versammelt, und mit vieler Liebe ging ich an die Verwendung derselben. Mehrere Einlagen in Opern sind für einzelne Sänger in dieser Zeit von mir komponirt worden. [...] Als ich im Herbst die Komposition meines »Rienzi« begann, band ich mich nun an nichts, als an die einzige Absicht, meinem Süjet zu entsprechen: ich stellte mir kein Vorbild, sondern überließ mich einzig dem Gefühle, das mich verzehrte, dem Gefühle, daß ich nun so weit sei, von der Entwickelung meiner künstlerischen Kräfte etwas Bedeutendes zu verlangen und etwas nicht Unbedeutendes zu erwarten. Der Gedanke, mit Bewußtsein – wenn auch nur in einem einzigen Takte – seicht oder trivial zu sein, war mir entsetzlich. Mit voller Begeisterung setzte ich im Winter die Komposition fort, so daß ich im Frühjahr 1839 die beiden großen ersten Akte fertig hatte. Um diese Zeit ging mein Kontrakt mit dem Theaterdirektor zu Ende, und besondere Umstände verleideten es mir, länger in Riga zu bleiben. Bereits seit zwei Jahren nährte ich den Plan, nach Paris zu gehen; [...] In Boulogne sur mer blieb ich vier Wochen: dort machte ich die erste Bekanntschaft Meyerbeer's, ich ließ ihn die beiden fertigen Akte meines »Rienzi« kennen lernen; er sagte mir auf das Freundlichste seine Unterstützung in Paris zu. Mit sehr wenig Geld, aber den besten Hoffnungen betrat ich nun Paris. Gänzlich ohne alle Empfehlungen war ich einzig nur auf Meyerbeer angewiesen; mit der ausgezeichnetsten Sorgsamkeit schien dieser für mich einzuleiten, was irgend meinen Zwecken dienlich sein konnte, [...]
Richard Wagner: Autobiographische Skizze

*Es kamen nur drei Besucher.

22 Juni 2013

Richard Wagner über sein Leben

Ich heiße Wilhelm Richard Wagner und bin den 22. Mai 1813 in Leipzig geboren. Mein Vater war Polizeiaktuarius und starb ein halbes Jahr nach meiner Geburt. Mein Stiefvater, Ludwig Geyer, war Schauspieler und Maler; er hat auch einige Lustspiele geschrieben, worunter das Eine: »Der bethlehemitische Kindermord« Glück machte; mit ihm zog meine Familie nach Dresden. Er wollte, ich sollte Maler werden; ich war aber sehr ungeschickt im Zeichnen. Auch mein Stiefvater starb zeitig, – ich war erst sieben Jahr. Kurz vor seinem Tode hatte ich: »Üb' immer Treu und Redlichkeit« und den damals ganz neuen »Jungfernkranz« auf dem Klavier spielen gelernt: einen Tag vor seinem Tode mußte ich ihm Beides im Nebenzimmer vorspielen; ich hörte ihn da mit schwacher Stimme zu meiner Mutter sagen: »Sollte er vielleicht Talent zur Musik haben?« Am frühen Morgen, als er gestorben war, trat die Mutter in die Kinderstube, sagte jedem der Kinder etwas, und mir sagte sie: »Aus Dir hat er etwas machen wollen.« Ich entsinne mich, daß ich mir lange Zeit eingebildet habe, es würde etwas aus mir werden. – Ich kam mit meinem neunten Jahre auf die Dresdner Kreuzschule: ich wollte studiren, an Musik wurde nicht gedacht; zwei meiner Schwestern lernten gut Klavier spielen, ich hörte ihnen zu, ohne selbst Klavierunterricht zu erhalten. Nichts gefiel mir so wie der »Freischütz«: ich sah Weber oft vor unserm Hause vorbeigehen, wenn er aus den Proben kam; stets betrachtete ich ihn mit heiliger Scheu. Ein Hauslehrer, der mir den Cornelius Nepos explizirte, mußte mir endlich auch Klavierstunden geben; kaum war ich über die ersten Fingerübungen hinaus, so studirte ich mir heimlich, zuerst ohne Noten, die Ouvertüre zum Freischütz ein; mein Lehrer hörte das einmal und sagte: aus mir würde nichts. Er hatte recht, ich habe in meinem Leben nicht Klavierspielen gelernt. Nun spielte ich nur noch für mich, nichts wie Ouvertüren, und mit dem greulichsten Fingersatze. Es war mir unmöglich, eine Passage rein zu spielen, und ich bekam deshalb einen großen Abscheu vor allen Läufen. Von Mozart liebte ich nur die Ouvertüre zur »Zauberflöte«; »Don Juan« war mir zuwider, weil da italienischer Text darunter stand; er kam mir so läppisch vor. – Diese Beschäftigung mit Musik war aber nur große Nebensache: Griechisch, Lateinisch, Mythologie und alte Geschichte waren die Hauptsache. Ich machte auch Gedichte. Einmal starb einer unsrer Mitschüler, und von den Lehrern wurde an uns die Aufgabe gestellt, auf seinen Tod ein Gedicht zu machen; das beste sollte gedruckt werden: – das meine wurde gedruckt, jedoch erst, nachdem ich vielen Schwulst daraus entfernt hatte. Ich war damals elf Jahre alt. Nun wollte ich Dichter werden; ich entwarf Trauerspiele nach dem Vorbild der Griechen, wozu mich das Bekanntwerden mit Apel's Tragödien: Polyidos, die Ätolier u.s.w. antrieb; dabei galt ich in der Schule für einen guten Kopf in litteris: schon in Tertia hatte ich die ersten zwölf Bücher der Odyssee übersetzt. Einmal lernte ich auch Englisch, und zwar bloß um Shakespeare ganz genau kennen zu lernen: ich übersetzte Romeos Monolog metrisch. Das Englische ließ ich bald wieder liegen, Shakespeare aber blieb mein Vorbild; ich entwarf ein großes Trauerspiel, welches ungefähr aus Hamlet und Lear zusammengesetzt war; der Plan war äußerst großartig; zweiundvierzig Menschen starben im Verlaufe des Stückes, und ich sah mich bei der Ausführung genöthigt, die Meisten als Geister wiederkommen zu lassen, weil mir sonst in den letzten Akten die Personen ausgegangen wären. Dieses Stück beschäftigte mich zwei Jahre lang. Ich verließ darüber Dresden und die Kreuzschule, und kam nach Leipzig. Auf der dortigen Nikolaischule setzte man mich nach Tertia, nachdem ich auf der Dresdner Kreuzschule schon in Sekunda gesessen; dieser Umstand erbitterte mich so sehr, daß ich von da an alle Liebe zu den philologischen Studien fahren ließ. Ich ward faul und lüderlich, bloß mein großes Trauerspiel lag mir noch am Herzen. Während ich dieses vollendete, lernte ich in den Leipziger Gewandhauskonzerten zuerst Beethoven'sche Musik kennen; ihr Eindruck auf mich war allgewaltig. Auch mit Mozart befreundete ich mich, zumal durch sein Requiem. Beethovens Musik zu »Egmont« begeisterte mich so, daß ich um Alles in der Welt mein fertig gewordenes Trauerspiel nicht anders vom Stapel laufen lassen wollte, als mit einer ähnlichen Musik versehen. Ich traute mir ohne alles Bedenken zu, diese so nöthige Musik selbst schreiben zu können, hielt es aber doch für gut, mich zuvor über einige Hauptregeln des Generalbasses aufzuklären. Um dies im Fluge zu thun, lieh ich mir auf acht Tage Logier's Methode des Generalbasses und studirte mit Eifer darin. Das Studium trug aber nicht so schnelle Früchte, als ich glaubte; die Schwierigkeiten desselben reizten und fesselten mich; ich beschloß Musiker zu werden.
Richard Wagner: Autobiographische Skizze

Ob Hitler diesen Satz als bewusstes oder unbewusstes Vorbild hatte, als er in "Mein Kampf" formulierte: „Ich aber beschloß nun, Politiker zu werden.“?
Freilich, der Text Wagners atmet doch wohl zu viel Selbstironie, als dass er Hitler als Vorbild bei der Abfassung von "Mein Kampf" hätte dienen können.


Während dem war mein großes Trauerspiel von meiner Familie entdeckt worden: sie gerieth in große Betrübniß, weil am Tage lag, daß ich darüber meine Schulstudien auf das Gründlichste vernachlässigt hatte, und ich ward somit zu fleißiger Fortsetzung derselben streng angehalten. Das heimliche Erkenntniß meines Berufes zur Musik verschwieg ich unter solchen Umständen, komponirte nichtsdestoweniger aber in aller Stille eine Sonate, ein Quartett und eine Arie. Als ich mich in meinem musikalischen Privatstudium hinlänglich herangereift fühlte, trat ich endlich mit der Entdeckung desselben hervor. Natürlich hatte ich nun harte Kämpfe zu bestehen, da die Meinigen auch meine Neigung zur Musik nur für eine flüchtige Leidenschaft halten mußten, um so mehr, da sie durch keine Vorstudien, besonders durch etwa bereits erlangte Fertigkeit auf einem Instrument, gerechtfertigt war. Ich war damals in meinem sechzehnten Jahre, und zumal durch die Lektüre Hoffmann's zum tollsten Mystizismus aufgeregt: am Tage, im Halbschlafe hatte ich Visionen, in denen mir Grundton, Terz und Quinte leibhaft erschienen und mir ihre wichtige Bedeutung offenbarten: was ich aufschrieb, starrte von Unsinn. Endlich wurde mir der Unterricht eines tüchtigen Musikers zugetheilt; der arme Mann hatte große Noth mit mir; er mußte mir erklären, daß, was ich für seltsame Gestalten und Gewalten hielt, Intervalle und Akkorde seien. Was konnte für die Meinigen betrübender sein, als zu erfahren, daß ich auch in diesem Studium mich nachlässig und unordentlich erwies? Mein Lehrer schüttelte den Kopf, und es kam so heraus, als ob auch hier nichts Gescheites aus mir werden würde. Meine Lust zum Studium erlahmte immer mehr, und ich zog vor, Ouvertüren für großes Orchester zu schreiben, von denen eine einmal im Leipziger Theater aufgeführt wurde. Diese Ouvertüre war der Kulminationspunkt meiner Unsinnigkeiten; ich hatte sie eigentlich, zum näheren Verständnis Desjenigen, der die Partitur etwa studiren wollte, mit drei verschiedenen Tinten schreiben wollen, die Streichinstrumente rot, die Holzblasinstrumente grün und die Blechinstrumente schwarz. Beethoven's neunte Symphonie sollte eine Pleyel'sche Sonate gegen diese wunderbar combinirte Ouvertüre sein. Bei der Aufführung schadete mir besonders ein durch die ganze Ouvertüre regelmäßig alle vier Takte wiederkehrender Paukenschlag im Fortissimo: das Publikum ging aus anfänglicher Verwunderung über die Hartnäckigkeit des Paukenschlägers in unverholenen Unwillen, dann aber in eine mich tief betrübende Heiterkeit über. Diese erste Aufführung eines von mir komponirten Stückes hinterließ auf mich einen großen Eindruck.
Nun kam aber die Julirevolution; mit einem Schlage wurde ich Revolutionär und gelangte zu der Überzeugung, jeder halbwegs strebsame Mensch dürfe sich ausschließlich nur mit Politik beschäftigen. Mir war nur noch im Umgang mit politischen Litteraten wohl: ich begann auch eine Ouvertüre, die ein politisches Thema behandelte. So verließ ich die Schule und bezog die Universität, zwar nicht mehr um mich einem Fakultätsstudium zu widmen – denn zur Musik war ich nun dennoch bestimmt –, sondern um Philosophie und Ästhetik zu hören. Von dieser Gelegenheit, mich zu bilden, profitirte ich so gut als gar nicht; wohl aber überließ ich mich allen Studentenausschweifungen, und zwar mit so großem Leichtsinn und solcher Hingebung, daß sie mich bald anwiderten. Die Meinigen hatten um diese Zeit große Noth mit mir; meine Musik hatte ich fast gänzlich liegen lassen. Bald kam ich aber zur Besinnung; ich fühlte die Nothwendigkeit eines neu zu beginnenden, streng geregelten Studiums der Musik, und die Vorsehung* ließ mich den rechten Mann finden, der mir neue Liebe zur Sache einflößen und sie durch den gründlichsten Unterricht läutern sollte. Dieser Mann war Theodor Weinlig, Kantor an der Thomasschule zu Leipzig. Nachdem ich mich wohl schon zuvor in der Fuge versucht hatte, begann ich jedoch erst bei ihm das gründliche Studium des Kontrapunktes, welches er die glückliche Eigenschaft besaß, den Schüler spielend erlernen zu lassen. In dieser Zeit lernte ich erst Mozart innig erkennen und lieben. Ich komponirte eine Sonate, in welcher ich mich von allem Schwulste losmachte und einem natürlichen, ungezwungenen Satze überließ. Diese höchst einfache und bescheidene Arbeit erschien im Druck bei Breitkopf und Härtel. Mein Studium bei Weinlig war in weniger als einem halben Jahre beendet, er selbst entließ mich aus der Lehre, nachdem er mich so weit gebracht, daß ich die schwierigsten Aufgaben des Kontrapunktes mit Leichtigkeit zu lösen im Stande war. »Das, was Sie sich durch dieses trockene Studium angeeignet haben, heißt: Selbstständigkeit«, sagte er mir. 
Richard Wagner: Autobiographische Skizze

*Die Vorsehung war im 19. Jahrhundert eine gängige Redeweise, wenn man es vermeiden wollte, Gott ins Spiel zu bringen. Hitlers Vorstellung eines höheren Auftrags schwang so noch nicht mit.

Sollte "Selbstständigkeit" eine Vorwegnahme heutiger Vorstellungen vom selbstbestimmten Lernen sein?