27 Januar 2022

Elena Cheah: Die Kraft der Musik

Elena Cheah: Die Kraft der Musik, Edition Elke Heidenreich bei Bertelsmann, 2009

Untertitel: Das West-Eastern Divan Orchestra

Israelis und Araber haben im Normalfall eine so unterschiedliche Sozialisation, dass sie sich gegenseitig für die ärgsten Feinde halten. (Natürlich gibt es auch eine erstaunliche Menge rühmliche Ausnahmen.)

In das West-Eastern Divan Orchestra kommen fast alle Mitglieder des Orchesters nur wegen ihrer außergewöhnlichen Begabung und weil Musik, nicht zuletzt klassische, für sie im Zentrum des Lebens steht. Besonders im arabischen Raum gibt es nur wenige Orchester, die klassische Musik spielen und entsprechend wenige Möglichkeiten, bei hervorragenden Instrumentalisten seines Fachs zu studieren. 

Wenn dann zwei Instrumentalisten vom gleichen Pult spielen, lernen sie sich sehr intensiv kennen, ohne über Politik zu sprechen. Wenn sie hohe persönliche Wertschätzung für einander haben, ist dann die Chance (das gelingt nicht immer), dass sie ihre extrem unterschiedlichen politischen Überzeugungen tolerieren und achten lernen und mit der Zeit sich sogar aneinander annähern können.

Aus dem Bericht von Meirav Kadichevski (S.205-228)

"Im Allgemeinen hatte ich Angst vor Muslimen. Ich dachte, alle wollten mich töten, also hatte ich vor allem Angst, was mit ihnen zu tun hatte. Aber Mohammed gehörte zu den Menschen, die immer lächeln und von ihm spürte ich keinerlei Aggressionen ausgehen. Zwischenraum (S. 207)

"Unsere Gespräche über Religion waren für mich höchst interessant und aufschlussreich, denn nun konnte ich ihm all die Fragen stellen, die ich schon lange beantwortet haben wollte. Er erzählte mir über seinen Alltag als Muslim und was ist für ihn tatsächlich bedeutete, Muslim zu sein, also über Dinge die ich nicht wusste und von denen ich niemals erfahren hatte." (S. 208)

"Ich wusste, dass er praktizierender Muslim war, aber anders als etwa bei orthodoxen Juden gab es dafür bei ihm selbst keine äußerlichen Anzeichen. Insofern konnte ich seine Religiosität erst richtig wahrnehmen, als ich ihn eines Tages beten sah. Er rollte seinen Gebetsteppich aus, den er immer bei sich trug, und ließ sich mit Knien und Händen darauf nieder. Als ich ihn so erlebte, wie ich Muslime bislang immer im Fernsehen gesehen hatte, lief mir plötzlich ein Schauder über den Rücken. Nach dem ersten Schock dachte ich jedoch: "Ich habe zu diesem Typen Vertrauen. Es gibt also keinen wirklichen Anlass dafür, Angst zu haben." (S.209)

"Mein Vater erzählte mir kürzlich zum ersten Mal, wie stark der Antisemitismus zu seiner Zeit in Argentinien gewesen war und wie er dort um sein Überleben kämpfen musste. Er berichtete von seinen Erlebnissen in der Basketballmannschaft der jüdischen Gemeinde. Wenn irgend jemand aus dem gegnerischen Team etwas gegen die Juden sagte, verdrosch die Mannschaft meines Vaters ihn noch auf dem Spielfeld oder auf der Straße, um ihre Stärke zu beweisen. Wenn man Schwäche zeigte, sagte er, fressen sie einen bei lebendigem Leibe auf.

Solche existenziellen Ängste sind bei vielen Israelis tief verwurzelt. Überlebensinstinkte und emotionale Reaktionen behindern uns und halten uns davon ab, friedfertige Lösungen für aufkommende Probleme zu finden. Ich würde zu gern glauben, dass die Menschheit langsam erkennt, dass Gewalt nur Gewalt schafft. Um die Probleme zu lösen, wäre es besser, mit den Leuten zu sprechen, oder sie wenigstens zu ignorieren, um Ihnen zu zeigen, dass Gewalt kein Kommunikationsweg ist." (S. 210/211)

"Nach meiner ersten Teilnahme beim Divan Workshop habe ich damit begonnen, aus mir herauszutreten und die Dinge von außen zu betrachten. Bei jeglichem Konflikt, der für mich im Orchester entstand, gewöhnte ich mir an, entweder auf die andere Seite zu treten und zu sehen, wie mich jemand von dort aus wahrnahm, oder mich komplett aus der Situation herauszunehmen und beide Seiten aus der Distanz zu beobachten. Dieses Vorgehen hat mein gesamtes Denken verändert und passiert seit her völlig automatisch.

Was ich "heraustreten" nenne, ist in der Tat ein Versuch, mein Bewusstsein in einen völlig anderen Zustand zu versetzen. Normalerweise sah ich bis dahin die Dinge nur mit meinen eigenen Augen, aber durch diesen Perspektivenwechsel versuche ich wirklich, eine Situation aus dieser anderen Warte zu verstehen. (S.217)

"So gern ich mich auch altruistisch gebe, für mich war es eine schockierende Erkenntnis, wie leicht ich im Alltag die Bedürfnisse der anderen vergesse, ohne es überhaupt zu bemerken." (S. 218)

"2005 spielten wir mit dem Orchester in Ramallah. Ich hatte vor dieser Reise Angst, denn die politische Lage war äußerst angespannt, und wir mussten unter Umständen mit aggressiven Widerstand rechnen. Aber ich war zugleich sehr aufgeregt. Ich dachte: "Wenn ich dort sterben muss, soll das für mich so sein. Wenn ich sterben muss, weil ich in Ramallah spiele, soll es geschehen. Denn wenn irgendeine meine Handlungen eine Bedeutung hat, dann diese Reise und der Auftritt dort." (S. 219)

"Die meisten Palästinenser, die ich kennen gelernt habe, werden wütend, wenn es um ihren Kampf geht. Das ist für mich nachvollziehbar, denn das passiert, wenn man lange Zeit unterdrückt wird. Ich kann mich noch gut an meine Gefühle während meiner Militärzeit erinnern, da fühlte ich mich auch unterdrückt. Man vergisst, wer man ist, man verliert allmählich seine Identität, und dann unternimmt man alles Erdenkliche, um sie zu behalten.

Ich war achtzehn Jahre alt und nicht sonderlich erpicht auf meinen Wehrpflichtdienst. Der Militärdienst bedeutete, fast zwei Jahre lang keine Musik zu machen oder Ballett zu tanzen." (S.221)

"Beim Militär gibt es eine klare geregelte Hierarchie. Jemand mit einem höheren Dienstgrad besitzt das Recht, mir zu sagen, was ich tun soll, unabhängig von seine Intelligenz oder seinen sonstigen Fähigkeiten. Aber ich konnte meine Frustration nicht an einem rangniedrigeren Soldaten auslassen, weil ich selbst auf der untersten Stufe der Leiter stand. Also schloss ich mich immer, wenn ich mich eine Minute absetzen konnte, in der Toilette ein und begann, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, sprang herum und streckte meine Glieder, um mich zu vergewissern, dass ich noch lebendig war. Ich wollte mich und meinen Körper spüren, weil ich psychisch ausgelöscht war. So habe ich selbst Unterdrückung erfahren, die aber nur ein Jahr und neun Monate andauerte. Und ich wusste immer, wann sie vorbei war." (S. 222)

"Der Sommer 2006 war für den Workshop schwierig. Eine Woche vor Beginn brach der Krieg zwischen Israel und dem Libanon aus. [...] Leider hatten viele arabische Musiker beschlossen, in diesem Jahr nicht am Workshop teilzunehmen. Ich war deswegen sehr enttäuscht, aber natürlich respektierte ich ihre Entscheidungen. Ich verstand, dass sie sich kulturell und politisch in einer anderen Situation befanden und dass sie anderen Druckmechanismen ausgesetzt waren. Ich verstand zum ersten Mal, wie glücklich ich mich schätzen konnte, meine Meinung frei äußern und meinen Überzeugungen folgen zu können, was einigen meiner Kollegen nicht möglich war." (S. 223)

"Für mich bedeutet Mut nicht, Befehle zu befolgen, in den Krieg zu ziehen und andere Menschen umzubringen. Für mich bedeutet Mut, Fragen zu stellen eigene Antworten zu finden und die Bindungen zu lösen, die die Illusion von Sicherheit in meinem Leben schaffen." (S. 225)

"Man kann nicht die ganze Welt verändern, und wer bin ich denn, um zu sagen, was richtig und was falsch ist oder wer was tun sollte? Aber ich kann für mich selbst Verantwortung übernehmen und in mir die für mich beste Welt entwerfen. Wenn ich mich selbst ändere, kann ich auf meine unmittelbare Umgebung einwirken. Als ich bemerkte, wie unterschiedlich Menschen auf eine bestimmte Situation reagieren können, begriff ich, dass ich meine Reaktion auf eine Situation selbst erzeuge." (S. 225)

"Vielleicht führt die Tatsache, dass wir zumindest auf einer persönlichen Ebene gemeinsam mit unseren so genannten "Nationalfeinden" gegenseitige Vergebung und Akzeptanz erfahren, dazu, dass wir Mitglieder von West-Eastern Divan Orchestra so liebevoll miteinander umgehen. Wir sind wie Liebende, die sich nach einer emotionalen Auseinandersetzung wieder versöhnen und sich gegenseitig neu entdecken. Über die Jahre hinweg sind wir zu einer Familie zusammengewachsen. In den zahlreichen Orchestern, in denen ich gespielt habe, habe ich niemals etwas Ähnliches erlebt. Ich bin süchtig nach diesem Orchester, es ist zu einem Bestandteil meines Lebens geworden, ohne den ich nicht mehr leben kann." (S.228)

Das Beispiel von Mohamed Salem Ibrahim (Ägypter) und Mor Biron (Israeli, Berliner Philharmoniker) zeigt, wie intensiv so eine Freundschaft sein kann, auch wenn beide auf verschiedenen Erdteilen miteinander leben. Mohamed (S.237-256), die Freundschaft mit Mor (S.249-256). Mor hat inzwischen eine große Wohnung in Berlin "und er hat Mohamed einen Wohnungsschlüssel gegeben, damit er vorbeischauen kann, wenn er in Berlin ist. Manchmal aber schlafen sie immer noch im selben Bett ein." (S.256)

Rezension von misoli

"[...] Als ich das Buch begann, dachte ich, dass die Absicht hinter dem Projekt war, dass Musiker aus eigentlich verfeindeten Ländern Freunde werden. Dass sie sich einfach verstehen sollten. Das war auch durchaus einer der Gedanken dahinter. Aber was mich besonders überrascht hat, obwohl es im Nachhinein so klar ist: Edward Said und Daniel Barenboim hatten nie die Illusion, dass dieser Workshop einfach so ohne Konflikte stattfinden könnte. Sie wussten, dass es diese geben würde und sie haben es darauf angelegt, dass über die Konflikte auch gesprochen/ diskutiert wurde."

"The West–Eastern Divan Orchestra is an orchestra based in SevilleSpain, consisting of musicians from countries in the Middle East, of EgyptianIranianIsraeliJordanianLebanesePalestinianSyrian and Spanish background." (en:Wikipedia)

26 Januar 2022

Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen

Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen, Berlin 2020 (Rezensionen von Christian ModehnErich Garhammer (pdf) und 4 in perlentaucher sowie weitere hier)

"These: Außerhalb der Aktualität angesiedelt, handelt Theopoesie, auf den ersten Blick betrachtet, von den in der Bibliothek der Menschheit gespeicherten Versuchen, Gott oder die Götter zum Sprechen zu bringen: Entweder reden sie unmittelbar selbst oder sie werden von den Dichtern mittelbar in ihrem Tun und Denken wiedergegeben. [...] Religionen berufen sich in ihren theopoetischen Gründungsdokumenten auf mehr oder weniger elaborierte literarische Verfahren, auch wenn die begleitende Dogmatik dazu dient, diese Tatsache vergessen zu machen. Religionen sind »literarische Produkte, mit deren Hilfe die Autoren um Klienten auf dem engen Markt der Aufmerksamkeit von Gebildeten konkurrieren«."

Religiöse Aussagen werden also als Narrative gesehen und dementsprechend der Untertitel Theopoesie. (vgl. Theopoiesis. Das Verfertigen Gottes und der Religion in der nachkantischen Denkbewegung In: Kritik der neomythischen Vernunft Author: Linus Hauser)

Die Spätantike habe in "mediologischer Sicht erst im 19. Jahrhundert" geendet. (S.179)

S.179/80 Demokratisierung der Realitätsbeschreibung durch die Soziologie, Aufzählung von Autoren

Eine typische Formulierung. Es geht darum, dass die Soziologie vermehrt quantifizierende Methoden verwendete, um sich in der Exaktheit an die Naturwissenschaften anzunähern:

"Nichts freilich garantiert, dass die Gesellschaft sich in den an sie gesendeten Beschreibungen erkennt. Sie ist von Differenzen der Lebensstile, der Gesinnungen, der Besitzverhältnisse, der Bildungsstandards so tief zerklüftet, dass keine Botschaft "an alle" sie je erreichen kann. In dieser Lage erscheint es plausibel, anschaulichen Bildern den Rücken zu kehren und die sozialen Strukturen anhand von Zahlen, Kurven und Statistiken offenzulegen. Die metrische Soziologie verzichtet auf Alltagswissen, Intuition tacid  knowledge und Lebensähnlichkeit, Um an ihrem hybriden und ausweichenden Gegenstand mit Hilfe der Zahlensprache und der Graphen Regelmäßigkeiten, Konstellationen und Strömungsrichtungen nachzuweisen, die der wahrnehmenden und teilnehmenden Beobachtung entgehen." (S. 180)

Auf den ersten 50 bis 100 Seiten wurde häufig in diesem aufzählenden, aber nicht differenzierenden, sondern verunklarendem Stil geschrieben. Bei diesem Stil, ist es schwer, Aussagen kurz zusammenzufassen, aber eine Zumutung für den Leser, inhaltlich relevante Aussagen wörtlich zu zitieren. Deshalb werde ich vermutlich vermehrt nur grobe Inhaltsangaben für länger Abschnitte liefern, wenn überhaupt.

Freilich, Sloterdijk vermag es durchaus anschaulich und prägnant zu schreiben: Das Verhältnis von Fürst und Panegyriker sei wie das vom Inhalt und der Außenhülle der Kanne: Wärme wird zurückgestrahlt. Oder: Rom sei das Silicon Valley der Redner gewesen. Freilich, stets kleidet er es so ein, dass es nicht zu leicht verstanden werden kann, z.B. so:

"Die Geschichte der erhöhenden Rede lässt sich als Geschichte des wechselseitigen Austauschs von Königslob und Gotteslob erzählen. Es waren in erster Linie die Könige, die Cäsaren, die Fürsten, die mithilfe ihrer angestellten Panegyriker das Schwungrad der erhebenden Diskurse am Laufen hielten. [...] Monarchien sind, technisch interpretiert, wie Thermoskannen gebaut: Wärmestrahlen (Machtstrahlen) werden von der Hülle reflektiert; sie verhindern über längere Zeit die Abkühlung. Daher sind gut etablierte Monarchin als Systeme der Entropie-Verzögerung zu verstehen. Solange die Königtümer in ihrem theologisch verstärkten Selbstlob-Kontinuum nachhaltig tätig waren, wirkte ihr Glanz auf ihren Bestand zurück." (S. 191/92)

oder so:

"Bis ins fünfte Jahrhundert blieb Rom das Silicon Valley der Oratoren; sie erprobten mithilfe von Kombinationen aus ciceronischen, quintilianischen, platonischen und stoischen Programmen eine Fülle an wortreichen Simulationen existenzieller Souveränität – anknüpfend an die seit dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ausgegebene Devise der Sophisten, der Mensch sei ein Wesen, dass nie in die wortlose Hilflosigkeit (griechisch amechania, Abwesenheit von Tricks und Hilfsmitteln versinken dürfe." (S. 196)

II. Teil Unter hohen Himmeln
Kap 13: Erdichtetes Zusammengehören
"Der Wirkungsraum des Dichtens, der Träumens und des Halluzinierens wie der des Rezitierens, des Imitierens, des Umformulierens und des Re-Inszenierens hingegen wird ernster genommen als bei herkömmlichen Unterscheidungen von Dichtung und Wahrheit üblich. Herodot empfand keine Scheu zu sagen, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter gegeben" (S141/42)
"Dem Wirkungsraum der primären Poesie wird besser gerecht, wer in Betracht zieht, wie dichtendes Tun vom Ursprung der Sprache her in Welterzeugungen eingebunden ist." (S.142) Sprache schafft in Begriffen Wirklichkeit, Grammatik ist Soziologie vor der Soziologie", insofern sie Akteure, Aktionen, Tatfolgen, Attibute und Ähnlichkeiten kennt. Protagoras Satz "Der Mensch ist das Maß von allem" ist mit der Polis-Gesinnung zusammen zu sehen, die den einzelnen in ein Wir einbindet. Die griechischen und römischen Kulte schaffen durch die ständigen Rituale eine Gemeinsamkeit, in die alle eingebunden sind. (S.144/45)
Weil alle das Gleiche taten, stellte sich die Frage, ob es einen Sinn habe, nicht. 
"Die religiöse Dissonanz führte [...] erst im römischen Imperium erst durch das Auftreten von Juden und Christen zu unlösbaren Konflikten." (S.146) Vorher stellte das Nebeneinander viele Götter kein Problem dar, weil alle in gleichgeartete Riten eingebunden waren.

Kap. 14: Götterdämmerung und Soziophanie 
Mit dem Auftreten der Gesellschaft (Soziophanie)  wird in Europa das Christentum nach eineinhalb Jahrtausenden als gesellschaftsbestimmende Kraft langsam abgelöst. 
Außerhalb des religiösen Raums wird das gemeinsame Befolgen von Regeln zunächst an den Sprachen deutlich. "Tatsächlich waren die ersten geschriebenen Grammatiken von Landessprachen älter als die expliziten politischen Verfassungen." (S.173) "In der Gesellschaftsdämmerung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erwachten neue Götter [...] Volk, Nation, Handel, Industrie, Presse, Literatur, Kunst, Freiheit, Frechheit, Radikalität." (S.177)
"Die Offenbarung des Wahren und Wesentlichen geht nicht mehr von oben aus" (S.178) "Die Realität [...] schickt ihre Zeugen vor sich her. [...] Der zum Sprechen gebrachte Himmel hat die Kioske erreicht." (S179)

Kap.15: Herrlichkeit: Poesien des Lobs
"Während die biblische Genesis eine Schöpfung vorführt, die durchgehend auf monoton parallel geformten Machtworten beruhte – archetypisch: "es werde Licht und es ward Licht" [...] und somit expeditive Logokratie, die unverzügliche Herstellung von Zuständen durch Befehl, zum Inhalt hat, ausgenommen die Schaffung des Menschen die ins handwerkliche Fach überwechselt [...] neigten sich die hellenischen Vorstellungen über das Herkommen der Welt der Ewigkeitsvermutung zu; auch Aristoteles [...] ergriff für sie Partei." (S. 187)

Kap.16: Poesie der Geduld
Die frühen Formulierer der Para-Monotheismen im Zweistromland, auch Summotheismen oder Henotheismen genannt, standen vor der Aufgabe, mit der Ambivalenz des Gottes zurechtzukommen – eines Gottes, der ganz aus Mutwille, Alleskönnen und Allesdürfen besteht; er tritt zuweilen auf als Berserker, der mit dem Riesenspielzeug Katastrophe spielt. 
Er streut seine Zuneigungen und Abneigungen aus wie ein Über-Krösus, der sich von seiner Fülle erleichtert.
Aus der klinischen Perspektive moderner Zeit liegt auf der Hand, dass die ersten Reichsgötterfiguren, nicht anders als ihre ranggleichen Rivalen, unter dem litten, was man eine schwere Persönlichkeitsdissoziation nennt: sie machte es ihnen unmöglich ihren Anhängern unter einem kohärenten Profil entgegenzutreten. Schon bei kleineren Kultverletzungen verloren sie die Fassung und tobten ihre Kränkungen auf infantil destruktive Weise aus. Wie man bei den Nachfolgern des römischen Augustus – Tiberius, Caligula, Claudius und Nero – den furor Caesarum sich ausprägen sah, so verrieten die Götterporträts des alten und jüngeren Orients von Marduk, Ahura Mazda, JHWH bis zu Allah eine Art furor deorum, ein Wüten im Zustand stetiger Majestätsbeleidigung, das zwischen Ordnungswidrigkeiten und Verbrechen nicht zu unterscheiden weiß: so wird Evas und Adams Biss in den falschen Apfel mit der Vertreibung aus dem Paradies geahndet – was die Sterblichkeitsstrafe impliziert –, indes Kain, der Mörder seines Bruders, unter Gottes Protektion unangetastet überleben und als Städtegründer tätig werden soll." (S.207/08)

"Der Poesie der Geduld kommen, wie die Auflösungen der Geschichten zeigen, nicht nur protostoische, sondern auch protoevangelische Qualitäten zu. Sie beantworten die Frage: Gibt es ein Leben nach dem Unglück? Da die bejahende Antwort hier nicht ausbleibt, sind die Geschichten mehr als Stücke 'weisheitlicher' Literatur. Sie weisen bereits einen Zug von Guter Nachricht auf. Doch gäbe, wer im Buch Hiob auch schon die Spur des Messianischen erkennen möchte, nicht dem Hang Überinterpretation nach?
In Geschichten wie der vom duldenden Gerechten geht es nicht um das Kommen eines Erlösers, erst recht nicht darum, von den Toten aufzuerstehen. Wunderbar genug ist es, sich vom Unglück zu erholen – so wie sich der nach Jerusalem zurückgekehrte Teil des Volkes vom Unglück des Exils in Babylon erholte, dank Kyros, dem Messias, der aus Persien kam. (S. 217/18)

Kap.17: Poesien der Übertreibung: Religiöse Virtuosen und ihre Exzesse

"Nimmt man zur Kenntnis, dass die heiligen Bücher des Volkes Israel die Entrückung beziehungsweise die Himmelreise als ein nahezu stereotypes Motiv in den Berichten von Berufungen zum Prophetenamt kennen, so bei Jesaja, Jeremia und Ezechiel (die ihrerseits in der Nachfolge des Elia stehen), fällt auf die Angaben des Paulus ein verändertes Licht: Da der Briefschreiber vor dem dissidenten Teil der korinthischen Gemeinde seine Autorität als Apostel [...] zur Geltung bringen wollte, ist der Hinweis auf ein Entrückungserlebnis auch als Teil seiner Legitimationsstrategie gegenüber lokalen Skeptikern zu verstehen [...] Er stellte sich jedenfalls nicht auf eine Stufe mit den Empfängern landläufiger Charismen wie Weissagung, Dichtung, Zungenreden oder Geistheilung. Im übrigen darf nicht übersehen werden, dass auch Mohammed das jüdische Pensum der Himmelsreise summa cum laude bewältigt haben soll." (S. 226/27)
"Versteht man die verzögerten Exekutionen [Kreuzigung oder Schlimmeres] als Komparative des schweren Todes, so wäre die Steigerung zum schwersten erreicht, sobald das gedehnte Sterben unter der Folter über den Tod hinaus verlängert werden könnte. Diese Verlängerung hat das Christentum, unter Wiederverwendung altiranische Motive, durch die Institutionalisierung der Hölle mit ihrem nie erlöschenden Feuer im Imaginären verwirklicht – eine Errungenschaft, die der Islam als Religion der rigiden Zweiwertigkeit sich eifrig zu eigen machen sollte- Er war, wie das Christentum vor der Erfindung des Purgatoriums, eine Religion ohne Zwischenlösungen. [...] der Übergang vom Komparativ zum Superlativ des Leidens kann erfolgen, sobald die Forderung nach der Erhaltung der leidensfähigen Seele über den Tod hinaus als erfüllbar erklärt wird." (S.232/33)

 Zur Vermeidung ewiger Höllenstrafen suchten manche Gläubige schon im irdischen Leben in äußerste Entbehrung und äußerste Qualen auf sich zu nehmen: z.B. Säulenheilige, Flagellanten, Mumifizierung bei lebendigem Leib (S.245-58)

Kap.18: Kerygma, Propaganda, Angebotsoffensiven oder: Wenn die Fiktion nicht mit sich spaßen lässt
"Gemeinsam ist dem Christentum und dem Islam das kritische Intervall zwischen den prophetischen Interventionen der Neuerer bis zur Verschriftlichung ihrer Botschaften. Jesus war kaum drei Jahre lang öffentlich in Erscheinung getreten; Mohammeds Vortrags– und Cheftätigkeit soll rund 32 Jahre umspannt haben. Eine etwa gleich lange Zeit ist vermutlich bis zur Kodifizierung des Korans unter dem dritten Kalifen Uthman (gest. 656) vergangen." (S. 266)
"Ein Umstand ist nicht missverständlich: die Predigten der ersten Impulsgeber waren erfüllt von der Gewissheit, ihre Aussagen würden sich nicht im Wind des Wandels rasch zerstreuen. Die Verkünder gingen darauf aus, dass ihre Botschaften von den ersten Hörern zu neuen Hörern weitergetragen würden. Für solches Weitertragen bot die christliche Nachahmung früh den Begriff kerygma, Verkündigung, an – der Zeithorizont für diese Tätigkeit war nicht weitergespannt als bis zum Ende der lebenden Generation. Es wäre widersinnig, den ersten Anhänger in Jesu zu unterstellen, sie sollten oder wollten einen universalen 'Missions'-Auftrag erfüllen. Das 'Ende der Welt' (genauer: der Ablauf der Zeiten, aionos) von dem im nachösterlichen Taufimperativ bei Mathäus die Rede ist, mag von späteren Deutern terminiert worden sein, wie es ihnen beliebte: im Verständnis des Sprechers und der Hörer bezog er sich auf ein dicht bevorstehendes Ereignis." (S. 267/68) 
"Zu den Geburtsfehlern des christianismos gehört dass unaustilgbare Universalismusmissverständnis. Es war bei Paulus angelegt (oder in ihn hineingelegt) und wurde bereits von den Verfassen der Evangelien in ihre Berichte kopiert. Paulus – falls nicht auch seine Briefe auf spätere Fälschung zurückgehen – scheint in der Gewissheit gelebt zu haben, die Zeit sei knapp; folglich muss es nahe gelegt haben mit dem Verlust der meisten zu rechnen. Johannes ging soweit, das Leitmotiv der göttlichen Tragödie im Prolog seines Evangeliums auszusprechen: der Logos kam herab in die Welt, die von ihm geschaffen worden war, und die Welt erkannte ihn nicht. [...] Niemand konnte sich darüber im unklaren sein, dass nur eine kleine Minderheit der Lebenden zu den Erwählten zählen werde – wobei Griechesein, Sklavesein, Frausein nicht mehr als Gründe der Ausschließung vom auserwählten Volk zweiter Ordnung gelten durften." (S. 269/70)
"Die neuen Glaubensdoktrinen setzten eine profunde Verlegenheit in die Welt: Wer würde sich einer Heilsbewegung anschließen wollen, solange deren Prediger verfügen, die Vorfahren der Neugläubigen könnten in den jetzt geoffenbarten Heilsraum normalerweise nicht nachträglich eingemeindet werden; ja sie dürften von Glück sagen, wenn sie in einer mild klimatisierten Zone der Unterwelt, der Vorhölle, angesiedelt würden? 
Als einschneidende Erwählungsreligion entworfen – 'Viele sind berufen, aber wenige auserwählt' (Matthäus 22,14) –, kann das Christentum, um vom Islam nicht zu reden, auf Dauer nicht verhehlen, dass es zur Desolidarisierung der jetzigen und künftigen von den vergangenen Generationen einlädt: 'Folge mir und lass die Toten ihre Toten begraben!' (Matthäus 8,22) Ist dies ausgesprochen, wird die Menschenwelt – traditionell als die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten aufgefasst [...] von zwei Desolidarisierungen zerklüftet: die erste trennt die wenigen Rekuperierbaren unter den früheren Toten von den zahllosen Toten zweiten Grades [...] die zweite zerspaltet die Weltpopulation der Lebenden in die der rettbaren Gläubigen und jene, die auch heute nach Ablauf ihrer Zeit aus den Büchern des Lebens gelöscht werden, weil sie den Weg des Heils nicht fanden oder ihn, obwohl bekannt gemacht, nicht gehen wollten.
Man stößt hierbei auf einen Wesenszug, der den Selbstwiderspruch des mit Erwählung gekreuzten Universalismus zum Vorschein bringt. An alle kann sich nur wenden, wer latent überzeugt ist, dass nicht alle folgen. Es verrät einen tiefgründigen Aspekt der ansonsten an Seltsamkeiten nicht armen Mormonen-Bewegung [...] wenn sie nicht nur für die Taufe Verstorbener plädierte, sondern die rückwirkende Erlösung von Angehörigen vergangener Generationen für möglich erklärte." (S. 288/89)

Angebotsoffensive Mission

"Seine bleibende Bedeutung erhielt der jesuitisch geprägte Terminus 'Mission' durch sein Potential zur Vorausprojektion. Es geschah nicht zufällig, dass er an der Schwelle zur Neuzeit konzipiert wurde. In dem zu Ende gedachten Bogen der Mission verbirgt sich, was man vom 18. Jahrhundert an 'Weltgeschichte' nennen würde. Das konjunkturelle Zusammenspiel von Missionsgeschichte und Weltgeschichte ergab sich aus dem Umstand, dass den Entdeckern, Eroberern und Emissären, den Naturwissenschaftlern und Fernhändlern aus den seefahrenden Nationen Europas von Anfang an Geistliche zur Seite gestellt waren, die auf die Ausweitung der empirischen Menschheit dank der Auffindung zahlloser peoples of colour mit einer planetarischen Dehnung ihre Sendungsbewusstsein antworteten." (S. 296)

Schillernd glänzende Formulierungen:

Ein "Charaktertypus, der sich nach Bedarf als Seefahrer, als Konquistador, als Kolonialgouverneur, als Gutsverwalter, als Soldat, als Pflanzer und Fernhändler und schließlich als Missionar ausprägen ließ." Mit dem katholischen Missionaren betrat eine Variante aktivistischer Mystiker die historische Bühne. Die geistlichen Agenten – anfangs vor allem Absolventen der jesuitischen Willensschule – gingen an ihre Aufgaben mit einen Elan, als wollten sie Alexanderzüge in der Soutane gewinnen. Man könnte glauben, die von den ägyptischem und syrischen Wüstenmönchen in Kampagnen nach innen mobilisierten Kräfte hätten sich nach einem Moratorium von nahezu zwölfhundert Jahren ins Offensive gewendet. 
(S.296/97)

Mit Reizwörtern und Reizbildern, z.B. "Kapitalismus" werden Pawlowsche Reflexe der Abstoßung erzielt. (S.300-302)

"Was die Theopoesien im Zeitalter national-imperialer Aussendungen betrifft, die von den katholischen, namentlich den franziskanischen, dominikanischen und jesuitischen, später auch von den protestantischen Ordenszentralen lanciert wurden, nicht zu vergessen jene, die die holländischen und britischen Ostindien-Geschäfte begleiteten, so brachten sie Globus-weit das Portrait eines kosmisch kompetenten, expansionslustigen, gemeinschaftsstiftenden und zugleich mit jeder einzelnen Seele intim verwobenen Gottes zur Geltung." (S.302)
"Theologie, die den Unterschied zwischen Eindringlichkeit und Zudringlichkeit wenig respektierte" (S.304)
Levinas "These vom unbedingten Vorrang des 'Anderen'" (S.305)
So kommt es zu einer neuen Art der Erbsünde (Augustinus): "unvermeidbare Unterlassungssünde" (S.305), wenn man die Leiden der Menschen in der Ferne nicht ebenso ernst nimmt wie die in unmittelbarer Nähe. (S.305)
Vgl. bei Jaspers "metaphysische Schuld", das "Solidaritätsdefizit unter endlichen Wesen" (S.306)

Kap.19: Von Prosa und Poesie der Suche

"fast alle religiösen Sätze, Regungen und Gefühle" entstehen durch Gewohnheit. (S.307) William unterscheidet in "The Will to Believe" zwischen Glauben durch Enkulturation und "Eigenleistung des erwachsenen Gläubigen" (Sloterdijk, S.306) und sieht sie als Leistung im Unterschied zum üblichen theologischen Verständnis von Glauben als Gnadengabe Gottes.
Coleridge spricht von "the willing suspension of disbeleive(Sloterdijk, "willentliche Außerkraftsetzung von Ungläubigkeit", S.309)
In den USA wurde Glauben als selbstverständlich angenommen. "Atheismus konnte man sich nur wie einen Hungerstreik gegen das Jenseits vorstellen" (S.310)

Von 7,7 Milliarden Menschen sind 2,3 Milliarden Christen und zwar in 30.000 "Formen rechtlich autonome Kirchentümer" (S. 312) 1,75 Milliarden Muslime (also isind über 50% der Weltbevölkerung Monotheistien) ,1,0 Milliarden sind Hinduisten 0,5 Milliarden Buddhisten, 14 Millionen Juden. Nicht zuzuordnen und damit als Atheisten bezeichnet sind 1,2 Milliarden.. De facto rechnet sicher ein Teil der angeblich Gläubigen dazu, also sind circa 20 % der Menschheit nicht gläubig..
Vom Kinderglauben her kommend "lässt sich die Annahme nicht vermeiden, es gebe auf der Erde mindestens 6 Milliarden ehemalige Animisten" (S. 314)

"Sobald das katholische Angebotsmonopol gebrochen war, strömten in den folgenden Jahrhunderten zahllose Fabrikate auf den nun zu Recht so genannten religiösen Markt – eines mehr als das andere darauf berechnet, den Stimmen der Nachfrage und den Stimmungen von Milieu und Zeitalter Ausdruck zu verleihen." (S. 315) Wer nach Gründen für die individualistische Erosion der gegenwärtigen 'Weltgesellschaft' sucht, sollte nicht bei der neo-antiliberalen Diagnose 'Geist des Kapitalismus' stehen bleiben. Der Wettbewerb um das knappe gut 'Erwählung' reicht bis ins Zeitalter der Europa prägenden Reformation zurück – und von dort in die alten metaphysischen Apotheken des Nahen Orients. (S. 316)
Die Expansion der kürzlich aus Nordamerika nach Brasilien überspringenden Pfingstkirchen spricht eine klare Sprache: es sind die Nachfragenden, die die Bewegung stark machen, indessen deren Designer importieren, wonach am Empfangsort am meisten verlangt wird: Begehrt sind rigide moralische Regeln, schlichte Dogmen, konkrete Aussichten auf sozialen Erfolg, gemeinschaftlicher Halt, Schutz der Kinder, Bindung der Männer an die Familie, Immunisierung gegen Kriminalität und Drogen und nicht zuletzt enthusiastische gemeinsame Feiern. (S. 316)
"In der europäischen Moderne folgte die religiös nachfragende Haltung der einzelnen mehr den Gesetzen der Vermischung als denen der Rechtgläubigkeit. Die Hoch-, Spät- und Nachmoderne ähnelt der hellenistischen Antike durch ihren Synkretismus. Wo sie von Elementen höherer Bildung geprägt war, sympathisierte sie mit Lehren, die nicht aus abgenutzten Traditionen stammten; sie neigte zur Skepsis gegen Kanzelgetön und Dogmatismus. Entkirchlichung und spirituelle Rezeptivität bildeten für sie keinen Widerspruch. Abstrakte Menschenfreundlichkeit war ihr Erkennungszeichen. [...] Wer so gestimmt ist, findet Gehobenes in der Literatur, Erbauliches in der Weisheit aus dem Osten, Erhabenes in klassischer Musik, Pathetisches in Staatsbegräbnissen, Absurdes bei Kierkegaard, Tröstliches in der Diskretion von Hospizseelsorgern, Numinoses vor einer Anselm-Kiefer-Wand und einen Hauch von Höchstem beim Blick von Land's End aufs offene Meer. [...] Das explizit artikulierte Nachfrageverhalten in puncto Wahrheit, Sinn und Lebensführung – in hochreligiöser Sprache: der Erlösung, der Erleuchtung, der Befreiung, der Ungebor[g]enheit – zeigt sich in den unzähligen Varianten einer Poesie der Suche. Sie gehört ins beginnende Zeitalter der Ausbrüche existentiell beunruhigter einzelner aus den Gehäusen des Herkommens, wie sie sich in der indischen Legende vom jungen Siddharta Gautama bekundet, dem überbehüteten Sohn eines vornehmen Kshatriya, eines Angehörigen der Kriegerkaste, der auf seinen vier Ausfahrten aus dem väterlichen Palast die Negativität des Daseins entdeckte. Sie trat ihm vor Augen in den Gestalten eines zerfallenden Greises, eines Fieberkranken in Agonie und eines verrottenden Leichnams; einer der Legenden vom Werden des Buddhas zufolge wurden die drei Erscheinungen dem jungen Shakyamuni von den Göttern wie Testbilder an den Wegrand gelegt, um eine Schocktherapie einzuleiten. [...] Das fünfte Hausverlassen des späteren Buddhas mündet in eine Suche ohne Wiederkehr; ihretwegen ließ er seine Frau, seinen Sohn [...] und 'die Welt' zurück." (S. 317/318)
"Zu den Hauptmerkmalen des Weges gehören: die Begegnung mit einem einzelnen, der auf den asketischen modus vivendi verweist; die Entscheidung zum Aufbruch oder Abschied (buddhistisch: 'Hausverlassen'; christlich: peregrinatio, Nachfolge; hinduistisch: sanyas Rückzug in Entsagung); die Versuch-und-Irrtum-Phase, in Form des Anschlusses an diverse Lehrer und Lehren, gefolgt von umfassenden Enttäuschungen; die große Krise, bis hin zur Erkrankung, Depression und Suizidimpuls; die Resignation, die Aufgabe der Suche; die Ankunft, das Finden, die Erleuchtung." (S. 319) 
"Erst wenn das vorstellende Suchen resigniert oder, um im mystischen Dialekt zu sprechen, wenn es alles 'läßt', kann das Gesuchte sich im Subjekt als dessen eigener Regungs Herd vergegenwärtigen. Das Gesuchte ist das Suchende. Die großen Ziele: Wahrheit, Gott, Sinn, Natur, Glück, Weisheit, Erlösung, Erleuchtung und so weiter liegen außerhalb des Denkspieles 'Erreichen'. Sie haben keinen anderen Ort als im Spontanitätskern der Unruhe, die sich auf die Suche gemacht hat. (S. 320)
"Die Poesie in der Suche prägen sich in Weg-Geschichten aus. Sie weisen gemeinsam das Merkmal auf, das Aufbruch und Suchbewegungen erzählbar sind, der Zustand des Suchens nach der Ankunft nicht. Da es für einen, der gefunden hat, nichts zu erzählen gibt, kann nachträglich behauptet werden, es habe von vornherein nichts zu finden gegeben." (S. 322)

Kap. 19: Von Prosa und Poesie der Suche

Individualismus
"Wer nach Gründen für die individualistische Erosion der gegenwärtigen 'Weltgesellschaft' sucht, sollte nicht bei der neo-antiliberalen Diagnose 'Geist des Kapitalismus' stehen bleiben. Der Wettbewerb um das knappe Gut 'Erwählung' reicht bis ins Zeitalter der Europa prägenden Reformation und zurück – und von dort in die alten metaphysischen Apotheken des Nahen Orients.
Mit dem Willen zum Glauben kommt der Wunsch nach bevorzugten Glaubensinhalten in den Blick – an erster Stelle die Erwähnung zum ewigen Leben; der Wunsch wurde von der Annahme gestützt, irdische Erfolge erlaubten den Erfolgreichen, auf ihre Erwähnung zu schließen. Seither bewegt sich der Strom moderner Praxis als eine Summe aus Vektoren sich selbst wahrmachenden Wunschdenkens.
Die Expansion der kürzlich aus Nordamerika nach Brasilien überspringenden Pfingstkirchen spricht eine klare Sprache: Es sind die Nachfragenden, die die Bewegung stark machen, indessen deren Designer importieren, wonach am Empfangsort am meisten verlangt wird: Begehrt sind rigide moralische Regeln, schlichte Dogmen, konkrete Aussichten auf sozialen Erfolg, gemeinschaftlicher Halt, Schutz der Kinder, Bindung der Männer an die Familie, Immunisierung gegen Kriminalität und Drogen und nicht zuletzt enthusiastische gemeinsame Feiern. Mit der Trias von Jubel, Arbeit und Struktur orientieren sich die wachsenden pfingstlichen und evangelikalen Kirchen des globalen Südens an der Nachfrage von Populationen, die aus ihren ökonomischen, sozialen, kulturellen und spirituellen Defizit kein Geheimnis machen. Ihr deutlich bekundetes Haltbedürfnis treibt eine Popkultur schlichter Formeln an." (S.316)

Die Rezension von  Jörg Seidel lässt mich hoffen: "Im letzten Abschnitt zieht Sloterdijk die Fäden seiner bis dahin scheinbar schwebenden gedankensatten Assoziationen überraschend straff zusammen – hier klärt sich die Frage »wozu?« endgültig – und begründet den notwendigen Autoritätsverlust des Religiösen in der Moderne: Sich verselbständigende »Diesseitspraktiken« haben der Religion und ihren Institutionen die Kompetenzen entzogen, befriedigen mit eigenen Mitteln den numinosen Bedarf; Religion ist »der Rest, der nach dem Abzug von allem bestehen bleibt, was in die Wissenschaft, die Ökonomie, das Justizwesen, die Philosophie usw. abwandert« und eine »Beihilfe zur Auslegung des Daseins« darstellt. Der Begriff der Religionsfreiheit erhält hier eine doppelte Bedeutung: die Religion sei frei, ihre sozialen Funktionen zu entlassen, sie müsse den sozialen Ensembles keine Zusammenhaltsmotive mehr liefern – diese sind also auch frei von der Religion –, sie müßten sich zum zweiten einer neuen Konkurrenz um die Existenzdeutung stellen, namentlich der Philosophie und der Künste. Religion erringt eine »erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit, sie ist so überflüssig wie die Musik«. Sie erlangt Luxuscharakter, ihre Institution dürfe nun den Rang einer Körperschaft des öffentlichen Rechts beanspruchen." (Hervorhebungen von Fontanefan)


24 Januar 2022

Max Havelaar 7. und 8. Kapitel - Amtsantritt

 Der Amtseid

"Für einen feinen Beobachter wäre es der Mühe wert gewesen, den Unterschied in Ton und Haltung bei dem Residenten und bei Havelaar bei dieser Gelegenheit zu beobachten. Beide hatten einer solchen Feierlichkeit schon öfter beigewohnt; der Unterschied, den ich meine, lag also nicht darin, daß der eine oder der andere von dem Neuen und Ungewohnten mehr oder minder berührt wäre, sondern er wurde ganz allein durch das Verschiedenartige der Charaktere beider Personen hervorgerufen. Der Resident sprach allerdings etwas schneller als gewöhnlich, da er den Beschluß und die Eide lediglich vorzulesen brauchte, was ihn der Mühe überhob, nach dem Schluß seiner Sätze zu suchen; aber es geschah doch alles mit einer Würde und einem Ernst, die dem oberflächlichen Zuschauer eine sehr hohe Vorstellung von dem Gewicht, das er der Sache beilegte, einflößen mußte. Havelaar dagegen hatte etwas in Gesicht, Stimme und Haltung, als ob er sagen wollte: »Das versteht sich alles[97] von selber, auch ohne Gott den Allmächtigen würde ich das thun« – und wer ein Menschenkenner ist, würde sich wohl auf seine Zwanglosigkeit mehr verlassen haben als auf die Würde des Residenten.

Ist es nicht in der That komisch, anzunehmen, daß der Mann, der berufen ist Recht zu sprechen, dem das Wohl und Wehe von Tausenden in die Hand gegeben ist, sich durch ein paar ausgesprochene Laute gebunden erachten sollte, wenn er nicht, auch ohne diese Laute, sich durch sein eigenes Herz dazu gedrungen fühlte?

Wir glauben von Havelaar, daß er die Armen und Unterdrückten, wo er sie antreffen mochte, auch geschützt hätte, wenn er bei Gott dem Allmächtigen das Gegenteil gelobt hätte. [...]

Wir werden sehen, wie das einfache, scheinbar unbewegte Lebak Havelaar mehr kostete als alle früheren Extravaganzen seines Herzens zusammen.

Aber das wußten sie nicht! Sie sahen der Zukunft mit Vertrauen entgegen und fühlten sich glücklich in ihrer Liebe und dem Besitz ihres Kindes ...[105]" (Max Havelaar 7. Kapitel)



Die Ratsversammlung


Havelaar hatte den Kontroleur ersucht, die zu Rangkas-Betung anwesenden Häupter aufzufordern, bis zum folgenden Tage zu verweilen, um der Sebah (Ratsversammlung), die er abhalten wollte, beizuwohnen. Solch eine Versammlung fand gewöhnlich einmal im Monat statt. Aber sei es, daß er einigen Häuptern, die sehr fern von dem Hauptorte wohnten, das unnötige Hin- und Herreisen ersparen wollte, sei es, daß er sofort und ohne den festgesetzten Tag abzuwarten auf feierliche Weise zu ihnen zu sprechen wünschte, er hatte den ersten Sebah-Tag auf den folgenden Morgen festgesetzt. [...] Havelaar trat ein, grüßte und nahm Platz. Er empfing die geschriebenen Berichte über Landbau, Polizei und Justiz und legte sie zur Seite zu späterer Nachprüfung.
Jeder erwartete nun eine Ansprache, wie sie der Resident[106] hatte tags zuvor gehalten, und es ist auch ganz und gar nicht sicher, daß Havelaar beabsichtigte, den Häuptern irgend etwas anderes zu sagen. Aber man mußte ihn bei solchen Gelegenheiten gehört und gesehen haben, um zu verstehen, wie er bei solchen Ansprachen aus sich herausging und durch seine eigenartige Sprechweise den bekanntesten Dingen eine neue Färbung verlieh; wie sich dann seine Haltung aufrichtete, wie sein Blick Feuer schoß, wie seine Stimme vom Schmeichelnd-Sanften zum Ätzend-Scharfen überging, wie die Bilder von seinen Lippen flossen, als streue er etwas Kostbares um sich, was ihn doch nichts kostete, und wie, wenn er schloß, jeder ihn mit offenem Munde anstarrte, als wollten sie fragen: »Mein Gott! wer bist du?« Er selbst, der bei solchen Gelegenheiten sprach wie ein Apostel, ein Seher, wußte später nicht mehr genau, wie er gesprochen hatte, und seine Beredsamkeit hatte denn auch mehr die Eigenschaft, zu treffen und Bewunderung zu erregen, als durch die Bündigkeit seiner Gründe zu überzeugen. [...]– man bedenke ferner, daß der größte Teil seiner Zuhörer aus einfachen, doch keinesfalls dummen Menschen bestand, und schließlich, daß es Orientalen waren, deren Eindrücke von den unseren sehr verschieden sind. 
Havelaar mußte etwa so gesprochen haben: »Mynherr Radhen Adhipatti, Regent von Bantan-Kidul, und Ihr, Rhaden Demang, die ihr Häupter seid der Distrikte dieses Bezirks, und Ihr Radhen Djaksa, die Ihr die Justiz zu Eurem Amte habt, und auch Ihr, Rhaden Kliwon, die Ihr die Aufsicht führt über den Hauptort, und Ihr, Radhen, Mantris und alle die Häupter, die ihr seid in dem Bezirk Bantan-Kidul, ich grüße euch.
Und ich sage euch, daß ich Freude fühle in meinem Herzen, wenn ich euch da alle versammelt sehe, den Worten meines Mundes lauschend.[107] Ich weiß, daß einige unter euch sind, die sich auszeichnen durch Kenntnis und wackeren Sinn. Ich hoffe meine Kenntnis durch die eure zu vermehren, denn sie ist nicht so groß, als ich wünschte. Und ich liebe wackeren Sinn, aber oft merke ich, daß in meinem Gemüt Fehler sind, die die guten Triebe überschatten und ihnen das Wachstum benehmen, wie ihr ja wißt, daß der große Baum den kleinen verdrängt und tötet. Darum will ich auf diejenigen unter euch achten, die hervorragen in Tugend, um zu trachten, besser zu werden, als ich bin. [...] (8. Kapitel)

18 Januar 2022

Ferdinand Gregorovius

 "Gregorovius’ monumentale Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (1871), an der er über 18 Jahre lang arbeitete und für die er zahlreiche Archivalien erschloss, gilt als Klassiker der Geschichtsschreibung. Die von ihm verfassten Wanderjahre in Italien, die aus journalistischen Arbeiten hervorgingen, gelten in ihrer Wirkungsgeschichte für das Italienbild der Deutschen bis heute als wichtigster Beitrag nach Goethes Italienischer Reise.[1] Die darin enthaltenen Reiseberichte gehören größtenteils dem Genre der historischen Landschaftsbeschreibung an, das Gregorovius mit seinem Buch Corsica (1854) begründet hatte." (Wikipedia: Ferdinand Gregorovius)

F. Gregorovius Briefe

F. Gregorovius in seinem Jahrhundert 1 (Zeitenwende)

F. Gregorivius in seinem Jahrhundert 2 (Einführung)

F. Gregorovius Briefedition 3

F. Gregorovius und das Judentum 4

Gregorovius über die Huldigung der Juden für die Päpste des Mittelalters

Es fehlte im Mittelalter nicht an anderen Huldigungszeremonien, die den Juden auferlegt waren. Beim Fest der Besitznahme des erwählten Papstes vom Lateran mußten sie in festlicher Deputation ihm entgegenkommen, und man will wissen, daß sie schon den alten Kaisern in ähnlicher Weise verehrend sich darstellten. Die Hebräer opferten in ihrem Tempel zu Jerusalem, wenn der römische Kaiser den Thron bestieg, und brachten Gebete für ihn dar; so sagte schon Philo in seiner «Gesandtschaft an den Kaiser Cajus», daß die Juden dreimal für Caligula Opfer vollzogen hätten, das erstemal, als er den Thron bestieg, darauf, als er in gefährliche Krankheit verfiel, das drittemal für seinen Sieg über Deutschland. Daß auch die Juden in Rom das gleiche taten, ist natürlich, und schwerlich haben sie bei den Huldigungsfeierlichkeiten gefehlt, um vor dem Kaiser als Schutzflehende zu erscheinen und solche Duldung zu erbitten, wie sie ihnen von Augustus gewährt worden war.

Als nun an die Stelle der Kaiser die Päpste getreten waren, wechselten nur die Formen, nicht das Wesen der Zeremonien. Bei jeder Huldigung eines Papstes erschienen die Abgesandten der römischen Judenschaft, mit dem Pentateuch auf der Schulter, an dem Wege, wo der päpstliche Triumphzug vorüberkam. Man betrachtete sie nach dem Ausspruch des heiligen Hieronymus gleichsam als die Bibliothekare der christlichen Religion, weil sie das Alte Testament oder vielmehr das Gesetz in ihrer Bundeslade verwahrt gehalten hatten; und indem sie dem neuerwählten Papst als Schutzflehende nahten, taten sie dies, wie man sagt, teils weil ihre Väter in solcher Gestalt vor den Kaisern erschienen waren, teils weil sie, auf einen Messias und Befreier aus der Gefangenschaft hoffend, den jedesmaligen Papst daraufhin betrachteten, ob nicht er es sei, der sie von ihrem Joch befreien würde.

Seit Calixt II., der im Jahre 1119 von den Juden eine solche Zeremonie empfing, haben wir von jeder Huldigungsfeierlichkeit Nachricht. Allen brachten sie den Pentateuch auf der Schulter entgegen, so Eugen III., wie Alexander III. und Gregor IX., und sangen Lieder, zu ihrem Lobe. Cancellieri in seinem Werk «Storia de' possessi» (Geschichte der Besitznahme der Päpste) gibt darüber die besten Aufschlüsse aus den Tagebüchern der päpstlichen Zeremonienmeister.

Der Ort, an welchem die Juden sich aufstellten, wechselte. In der Zeit des älteren Mittelalters war es die Region Parione, einer der ältesten und wichtigsten Stadtteile Roms, diesseits der Hadrianischen Brücke gelegen, wo die Judenschaft den nach dem Lateran ziehenden Papst erwartete. So erzählt schon das alte lateinische Gedicht des Kardinals Giacoma Stefaneschi, welches die Huldigungsfeier Bonifacius' VIII. im Jahr 1295 beschreibt:

Ecce, super Tiberim positum de marmore pontem
Transierat, provectus equo; turrique relicta
De campo Judaea canens, quae caecula corde est,
Occurrit vesana duci Parione sub ipso,
Quae Christo gravidam legem plenamque sub umbra
Exhibuit Moysi. Veneratus et ille figuram
Hanc post terga dedit, cauto sermone locutus.
Ignotus Judaea deus, sibi cognitus olim.
Qui quondam populus, nunc hostis; qui deus et rex
Obnubi patitur, praesentem temnere mavis,
Quem fragilem reputas hominem, sperasque futurum,
Et latet ipse deus – –

Schon hatte er die marmorne Tiberbrücke hoch zu Roß überschritten. Als er am Turm vorüber war, kam ihm die wahnsinnige Judenschaft, Blindheit im Herzen, vom Campus her unter der Führung des Pario selbst entgegen und zeigte das Christus ärgerliche und schattenreiche Gesetz des Moses. Jener ehrte die Rolle, reichte sie hinter sich und sprach in wohlgemessener Rede: ‹Gott ist der Judenschaft unbekannt, obwohl er ihr einst bekannt war. Einst war er vom Volke geliebt, jetzt verhaßt. Dieser Gott und König muß sich verdunkeln lassen, denn du ziehst es vor, den Gegenwärtigen zu verachten, den du für einen vergänglichen Menschen hältst, und hoffst auf den Zukünftigen. Gott selbst aber bleibt dir verborgen.›.

Schon damals hatte dies Schauspiel dieselben Formen, wie sie später beobachtet wurden. Die Juden, Loblieder singend, warteten des im Triumphzug daherreitenden Papstes; sie boten ihm die Gesetzrolle dar, der Papst nahm sie, las einige Worte darin, reichte sie dann hinter sich und sagte: «Wir bestätigen das Gesetz, aber das jüdische Volk und seine Auslegung verdammen wir.» Hierauf ritt er weiter, und die Juden kehrten in ihre Wohnungen zurück. Niedergeschmettert oder zur Hoffnung belebt, je nach dem, was sie mit scheuer Furcht in den Augen des Papstes gelesen hatten. Entweder standen sie hinter der Hadriansbrücke, oder, wie es häufig geschah, an dem Platze, welcher Monte Giordano heißt. Obwohl dieser aus Schutt entstandene Hügel seinen Namen von Giordano Orsini, einem Edlen dieses alten römischen Geschlechts, empfangen hatte, der dort seinen Palast baute, so wählte man vielleicht um des Namens Jordan willen gerade diesen Ort für die Judenzeremonie; und dort standen die Nachkommen Israels, den prachtvoll in Gold gebundenen, mit einem Schleier bedeckten Pentateuch haltend, umringt vom verhöhnenden Volk und allen Mißhandlungen des Spottes oder Hasses ausgesetzt, bis der Papst erschien, und sie ihm kniend das Gesetz überreichten. Mit der Zeit wurde die Mißhandlung der Juden bei dieser Gelegenheit so groß, daß ihrem dringenden Flehen nachgegeben ward, und ihnen Innocenz VIII. Cibo zuerst im Jahre 1484 erlaubte, im innern Raum des Kastells Sant Angelo zu erscheinen. Die Feierlichkeit beschreibt der Zeremonienmeister Burkhard: «Als der Papst vorüberkam, hielt er nahe am Kastell Sant Angelo an, und die Juden, welche sich an die untersten Zinnen im Winkel des genannten Kastells gegen das Erdgeschoß zurückgezogen hatten, im Ornat und mit ihrem Gesetz, reichten es dem heiligen Vater zur Anbetung und Verehrung, mit hebräischen Worten ungefähr dieses Sinnes den Papst anredend: ‹Allerheiligster Vater, wir hebräischen Männer flehen Eure Heiligkeit im Namen unserer Synagoge an, daß wir gewürdigt werden möchten, daß uns das Gesetz, vom allmächtigen Gott dem Moses, unserm Priester, auf dem Berge Sinai übergeben, möge bestätigt und gebilligt sein, wie auch andere erhabene Päpste, die Vorgänger Eurer Heiligkeit, es bestätigt und gebilligt haben.‹ Es antwortete der Papst: ‹Wir billigen das Gesetz, aber euren Glauben und eure Auslegung verdammen wir, weil der, von dem ihr sagt, er werde kommen, gekommen ist, unser Herr Jesus Christus, wie die Kirche uns lehrt und predigt.› Nach vollendeter Zeremonie zogen sich die Juden zurück.»

Erinnert man sich, daß jenes Kastell Sant Angelo das Grabmal Hadrians war, des Kaisers, welcher Jerusalem zum zweitenmal von Grund aus zerstört und die Juden in die Sklaverei verkauft hatte, so stand auch dieser Ort zur Geschichte Israels in einer kränkenden Beziehung; denn das Andenken Hadrians hassen die Juden wie das des Titus.

Ausnahmsweise empfing Pius III. im Jahre 1503, weil er krank war, die Juden in einem Saal des Vatikans selbst. Julius II. empfing ihre Huldigung wieder am Grabmal des Hadrian, wobei sie einen langen Sermon machten, und besonders der spanische Rabbi Samuel, der Leibarzt des Papstes, mit Beredsamkeit sprach. Der Papst antwortete «prout in libello», das heißt nach Vorschrift des Zeremonienbuchs. 

(https://www.projekt-gutenberg.org/gregorov/wanderit/wand084.html)


Endlich errichtete Paul IV. den Ghetto oder Judenzwinger. Bis auf seine Zeit hatten die Juden die, wenn auch nicht ausgesprochene Freiheit, überall in Rom zu wohnen. Natürlich wohnten sie sehr selten in der Mitte der Stadt, noch unter den Christen, ihren Hassern, zerstreut, sondern hielten sich beieinander in Trastevere und an dem Flußufer bis zur Brücke Hadrians. Nun wies ihnen der Papst, nach Art der Venezianer, ein streng abgesperrtes Quartier an, welches wenige enge Straßen unmittelbar am Tiber umfaßte und von der Brücke Quattro Capi bis zum heutigen «Platz der Tränen» reichte. Mauern oder Tore sperrten das Judenviertel. Man nannte es zuerst «Vicus Judaeorum», dann kam der Name Ghetto dafür auf, der nicht mit der venezianischen Benennung Guidecca zusammenzuhängen scheint und wahrscheinlich aus dem talmudischen Wort «Ghet» gebildet ist, welches Absonderung heißt. Es war am 26. Juli 1556, als die Juden Roms in diesen Ghetto zogen, weinend und seufzend wie ihre Vorfahren, da man sie in die Gefangenschaft führte.

So war Paul IV. Caraffa der grausame Pharao für die Juden Roms, welcher sie all den Übeln aussetzte, die aus Mangel an Raum und aus der niedern Lage der Wohnungen am Fluß entspringen mußten, und diese Übel waren Seuchen und das Fieber und ein ganzes Heer ägyptischer Plagen, deren Schrecken in Wahrheit schwer zu beschreiben sind. Als Caraffa im Jahr 1559 starb, und das römische Volk seine Wut an dem Toten auszulassen aufstand, das Haus der Inquisition plünderte und die Minerva, das Kloster der Dominikaner, stürmte, sah man auch die Juden, furchtsam Menschen, die sich an den Revolutionen selbst zur Zeit des Cola di Rienzo nie beteiligt hatten, aus ihrem Zwinger hervorkommen und Flüche auf das Andenken Pauls IV. schleudern. Ein Jude durfte es sogar wagen, der Statue des Papstes auf dem Kapitol den gelben Schandhut aufzusetzen; das Volk lachte, zertrümmerte die Bildsäule und schleifte ihren Kopf mit der Papstkrone durch den Kot. Welchem Schicksal aber die Juden Roms nach Einführung der neuen Ketzertribunale der Inquisition entgegengingen, wird derjenige wohl wissen, welcher mit der Geschichte jener Zeit bekannt ist. Viele Juden verbrannte man auf dem Platz der Minerva oder auf dem Campo dei Fiori, wo die Autodafés gehalten wurden. Es war die fürchterliche Zeit, da man auch Giordano Bruno lebendig verbrannte.

In den Ghetto eingesperrt, waren die Juden in fremdes Eigentum eingezogen. Denn die Häuser des Viertels gehörten Römern; auch angesehene Familien wohnten daselbst, wie die Boccapaduli. Ausziehend, blieben diese Eigentümer, jene Mieter. Weil sie aber für immer in jene Straßen eingesperrt wurden, mußten sie ein dauerndes Mietverhältnis feststellen, denn ohne dasselbe konnte sich für die Juden zweierlei Not ereignen: Obdachlosigkeit, wenn es dem Eigentümer einfiel, dem hebräischen Mieter zu kündigen; unerträgliche Verschuldung oder Zahlungsunfähigkeit, wenn er darauf verfiel, den Zins zu steigern. So entstand das Gesetz, welches verordnete: die Römer bleiben im Eigentum der an die Juden vermieteten Wohnungen, aber jene haben die Häuser in Erbpacht; niemals darf dem jüdischen Einwohner die Miete gekündigt werden, sobald er den Zins richtig gezahlt; niemals darf der Zins erhöht werden; der Jude kann nach seinem Willen das Haus verändern und erweitern. Man nannte und nennt dieses noch heute bestehende Recht das «Jus Gazzagà». Kraft desselben ist der Jude im Erbbesitz des Mietkontrakts und darf diesen an Verwandte oder andere verkaufen, und noch heutigentags gilt es als eine köstliche Habe, im Besitz des Jus Gazzagà oder eines erblichen Mietkontraktes zu sein, und hochgepriesen wird das Judenmädchen, welches ihrem Bräutigam als Mitgift ein solches Dokument aufzuweisen imstande ist. So ward durch dieses wohltätige Gesetz dem Juden ein Dach gegeben, welches er gewissermaßen das seine nennen durfte.

Die Bulle Pauls IV. bestätigte Pius v. Ghislieri im Jahre 1566, er erließ strenge Verordnungen gegen das Herumschweifen der Juden, welchen befohlen ward, mit der Nacht im Ghetto sich wieder einzufinden. Denn nach Ave Maria schlossen sich unerbittlich die Tore des Zwingers, und Strafe traf den draußen Ergriffenen, wenn es ihm nicht gelang, durch Geld die Wächter zu bestechen. Im Jahre 1569 untersagte derselbe Papst den Juden, in anderen Städten des Kirchenstaats zu wohnen als in Rom und Ancona, da sie vordem auch in Benevent und Avignon geduldet waren. 

(https://www.projekt-gutenberg.org/gregorov/wanderit/wand085.html)

17 Januar 2022

Hölderlin: Hyperion (2)

 Während ich mit einem anderen handlungsarmen Roman, Stifters Nachsommer, Freundschaft geschlossen habe, gerade, weil dort so wenig geschieht, Konflikte fehlen, habe ich zu Hyperion (Wikipediaartikel) weiterhin noch keinen rechten Zugang gefunden.  Vor vier Jahren habe ich einen relativ erfolgreichen Versuch gestartet. Es blieb beim Versuch.

Hölderlins Ode Heidelberg habe ich seit 12 Jahren in den Kreis meiner auswendig gelernten Gedichte aufgenommen und es lange besonders gepflegt. 

Hier einige Zitate:

"Das macht uns arm bei allem Reichtum, daß wir nicht allein seyn können, dass die Liebe in uns, so lange wir leben, nicht erstirbt." - Erstes Buch, Hyperion an Bellarmin IV, S. 25
"Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön." - Zweites Buch, Hyperion an Bellarmin XXX, S. 141
"Religion ist Liebe der Schönheit." - Zweites Buch, Hyperion an Bellarmin XXX, S. 142
"Der Zwang des Gesezes und des Schiksaals betastet es nicht; im Kind’ ist Freiheit allein." - Erstes Buch, Hyperion an Bellarmin III, S. 13
"Wer auf sein Elend tritt, steht höher. Und das ist herrlich, dass wir erst im Leiden recht der Seele Freiheit fühlen." - Erstes Buch, Hyperion an Diotima LI, S. 50
"Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder." - Zweites Buch, Hyperion an Bellarmin LX, S. 124
"Wir sterben, um zu leben." - Zweites Buch, Hyperion an Bellarmin LVIII, S. 103

Und da ich dabei bin, auch einige weitere von außerhalb des Hyperion:

"Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, // Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern', // Und verstehe die Freiheit, // Aufzubrechen, wohin er will." - Lebenslauf, 1800, 4. Strophe. In: Gedichte, J. G. Cotta'sche Buchhandlung, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 75, DTA
"Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid // Tatenarm und gedankenvoll." - An die Deutschen, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 253-254, zeno.org
"Die Mauern stehn // Sprachlos und kalt, im Winde // Klirren die Fahnen." - Hälfte des Lebens, Verse 12-14, zitiert nach: Taschenbuch für das Jahr 1805. Der Liebe und Freundschaft gewidmet, 1. Auflage, Verlag Friedrich Wilmans, Frankfurt am Mayn 1805, S. 85
"Komm! ins Offene, Freund!" - Der Gang aufs Land, An Landauer, Anfang, in: Sämtliche Werke und Briefe, Band 1: Gedichte, Deutscher Klassiker Verlag, 1992, ISBN 3-618-60810-1, S.  276f., gutenberg.spiegel.de
"Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! // Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, // Daß williger mein Herz, vom süssen // Spiele gesättiget, dann mir sterbe." - An die Parzen, 1. Strophe, zitiert nach: Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung, Joh. Frid. Steinkopf, Stuttgart 1799, S. 166
"Was bleibet aber, stiften die Dichter." - Andenken, 1803, letzter Vers, in: Friedrich Hölderlin, Exzentrische Bahnen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, S. 51f., gutenberg.spiegel.de
"Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles." - Fragment von Hyperion, aus: Neue Thalia, Vierter Band, Hrsg. Friedrich Schiller, Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, S. 220
"Wo aber Gefahr ist, wächst // das Rettende auch." - Patmos, 1803, Vers 3f. in: Gedichte von Friedrich Hölderlin, Druck und Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig 1873, S. 133, Google Books

16 Januar 2022

Multatuli

Im Rahmen seiner Übersetzung von Max Havelaar im Verlag Die Brücke von 1927 zeichnet Erich M. Lorebach ein recht kritisches Bild des Privatlebens des Schriftstellers Eduard Douwes Dekker, was seine politischen und literarischen Verdienste nicht schmälert, aber sein Persönlichkeitsbild abrundet.

Es ist gut denkbar, dass das hohe Maß an Verantwortung und denkbarer Selbstwirksamkeit das mit dem Verlust seines hohen Beamtenpostens verlorenging, ihn aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht haben.

"Eduard Douwes Dekker, der sich mit etwas koketter Überheblichkeit » Multatuli«, das ist: »Ich habe viel getragen«, nannte, wurde am 2. März 1820 in Amsterdam geboren. Schon in jungen Jahren, bereits 1838, verließ er Holland und übersiedelte nach Java, und hier betrat dieser Mann, der im guten und schlechten Sinne des Wortes ein typischer Bohème war, eine Laufbahn, die für sein stark entwickeltes Unabhängigkeitsgefühl, für seine Abneigung gegen jeden Formenzwang die ungeeignetste sein mußte: Er wurde Beamter. Es erübrigt sich, eine Schilderung seiner amtlichen Karriere zu geben, der vorliegende Roman, das bedeutsamste seiner zahlreichen, aber sehr ungleichmäßigen Werke, ist fast eine Autobiographie. Max Havelaar ist Multatuli. [...]

Ein peinlicher Widerspruch zwischen Lehre und Leben klafft auch in Multatulis Verhalten gegenüber seiner von ihm »über alles geliebten« Tine. Er hat an dieser bedauernswerten Frau, deren Dasein wirklich nur ein einziger Opfergang für den angebeteten Mann war, sehr häßlich gehandelt, und wiederholt, und nicht nur im Rausche einer flüchtigen Künstlerlaune, hat er die Arme rücksichtslos anderen Neigungen zuliebe den unwürdigsten Kränkungen preisgegeben. Sie starb, fern von ihm, 1874 in Venedig." (Erich M. Lorebach in der Einleitung der Ausgabe von  Max Havelaar im Verlag Die Brücke von 1927)

Mehr dazu findet sich in der Wikipedia.