16 Oktober 2022

Michel Bergmann: Die Teilacher

 Michel Bergmann: Die Teilacher, 2010

Rezensionen bei Perlentaucher

Wikipedia: "2010 brachte er seinen ersten Teil einer Roman-Trilogie unter dem Titel Die Teilacher heraus, der auf humorvolle Art die Nachkriegsgeschichte der Frankfurter Juden thematisiert. Der Roman war ein großer Erfolg und wurde ab 2016 von Sam Garbarski (Irina Palm) als Deutsch-Luxemburgisch-Belgische-Coproduktion verfilmt. 2017 wurde der Film unter dem Titel Es war einmal in Deutschland… auf der Berlinale uraufgeführt."

Zitate:

David Bermann erzählt:

"Naja, und weil es immer wieder zu Beschwerden von Kunden gekommen war, die rumnörgelten, die Preise sind zu hoch, die Bedienung ist schlecht, die Ware ist mies, da  habe ich das Handtuch geworfen, wie man so schön sagt.
Ich habe mich einfach selbst an die Spitze der Vertreterkolonne gesetzt, die für die Firma reiste. Ich wollte nur noch Teilacher sein. Das hat mir gefallen.
Mein Bruder Emanuel hat nur den Kopf geschüttelt, und Isy hat sich aufgeführt: man muss meschugge sein, um Teilacher zu werden!, hat er geschrien.
Na ja, habe ich gesagt, man muss nicht meschugge sein, aber es kann nicht schaden!
Dann sprang er auf: Ich werd dir geben, Teilacher! Er ist hin und her gerannt im Zimmer. Teilacher willst du sein? Den dicken potz spielen, in der Gegend rumkutschieren und mit schickses rummachen! Das willst du!
Ich habe nur gestanden und ruhig an meiner Zigarette gezogen.
Warum nicht? Das ist schlecht?
Du bist doch eine Schande für die Familie, bist du!
Da habe ich gesagt: und du bist a nudnik! Du weißt, was das ist, ein nudnik? Ein nudnik ist einer, den du fragst, na, wie geht’s… und er erzählt es dir! [...]
Glaub mir, es war meine glücklichste Zeit, sagte David und schaute in die Ferne. Ich war jung, verdiente gutes Geld, und jeder Tag war wie ein Fest. Ich konnte mir meine Zeit einteilen, das habe ich gebraucht. Ich glaube, das war immer das Wichtigste in meinem Leben: über meine Zeit verfügen zu können, keiner, der mir Vorschriften macht. Das ist der größte Luxus, den man haben kann im Leben. Eines Tages wirst du dich erinnern, und du wirst sagen, der Onkel David hat viel Quatsch erzählt, aber wo er recht hat, hat er recht. Und was die Zeit betrifft, da hatte er recht.
Und was hast du gemacht in deiner Freizeit?
Was habe ich gemacht? Ja, ich bin oft in den Taunus gefahren und hatte Maria dabei, Maria Nickel, meine heimliche Verlobte.
Was heißt Verlobte? Doch, es war schon ernst damals, wenn ich so zurückdenke wir waren ziemlich verliebt. [...]" (S. 43/44)

"Das jüdische Substantiv "Teilacher" ist der Cousin des jiddischen Berliner Verbs "teilachen" und das heißt. im vulgären Sprachgebrauch so viel wie "abhauen". Seinen Ursprung hat dies wiederum in dem Wort für Hausierer und müsste eigentlich "Teillaacher" geschrieben werden. Es ist ein Pleonasmus und setzt sich zusammen aus dem Begriff "Teil" und dem Wort "Laachod", Einzelhandel. Der Teilacher als Vertreter des Einzelhandels, ist das kleinste spaltbare Teilchen, das / Atom der Kaufmannswelt. Was den Teilacher vom herkömmlichen Handlungsreisenden unterscheidet: der Teilacher ist Jude. Oder er gibt sich als solcher aus. Denn es gab eine Zeit, da konnte das, unglaublich, aber wahr, Vorteile haben. Aber auch Nachteile.

Wer allerdings glaubt, Teilacher wären gern Teilacher, der irrt. Sie mögen ihren Beruf nicht. Mal ehrlich, ist das ein Leben für einen ausgewachsenen, intelligenten Menschen? Nein, die Teilacher der Nachkriegsjahre waren Gestrandete. Sie alle hatten die Idee gehabt, Warenhausbesitzer, Wundergeiger, Architekt, Anwalt oder Arzt zu werden, aber der Führer wusste dieses zu verhindern. So sahen sie ihren Beruf als eine Art von vorübergehendem, schicksalhaftem Ereignis auf dem steinigen Weg zu etwas ganz anderem, etwas Besserem." (S. 105/106)

Die Widersprüche zwischen David Bermanns Aussage (S.33/44) und der seines Neffen Alfred Kleefeld, des Erzählers (S.105/106), brauchen einen nicht zu wundern, denn die Zeiten, wo jüdische Warenhausbesitzer so viel finanzielle Sicherheit ausstrahlten, dass einer ihrer Verwandten es sich leisten konnte, sich seine Arbeit danach auszusuchen, wo er mehr Freizeit hatte, waren seit der Judenverfolgung durch die Nazis vorbei. 

"Bis 1941 sind etwa zwanzigtausend Juden aus Europa nach Shanghai geflohen. Die Stadt war das "Exil der kleinen Leute", und es begann sich rasch eine Infrastruktur zu entwickeln. Es gab die deutschen Viertel "Klein-Berlin" und "Klein-Wien" und viele wohltätige Menschen. Einer davon war Herr Eisen, Emigrant aus Berlin, der das Café Luise in der Bubbling – Well – Road betrieb, das zum Mittelpunkt der Immigrantenszene wurde. Hier arbeitete Emil Verständig in den ersten Monaten nach seiner Ankunft als Kellner.

Mithilfe eines chinesischen Strohmanns übernahm Verständig im Jahre 1940 eine kleine Bar im Stadtteil Hong-kew. Hier war er in seinem Element, hier konnte er seine sarkastischen Witze loswerden, hier hielt er Hof. Die Bar war keine Goldgrube, aber ernährte ihren Mann. Und für Agenten, Spione und Journalisten war der Ort ein idealer Tummelplatz. [...]
Noch war alles ruhig.
Das änderte sich schlagartig, als die Japaner 1941 Shanghai besetzten und es mit den mit ihnen verbündeten Nazis gleichtun wollten. Die Japaner, die zwar keine Antisemiten waren, / aber von Hause aus nicht zimperlich und mit einem hohen Maß an Herrenmenschenideologie behaftet, erließen sogleich strenge "Judengesetze" und erfassten im Lauf der nächsten Monate fast fünfzehntausend illegale Ausländer auf Listen.
Verständig wurde ernst und meinte:
Mit einer Liste fängt es an.
Er sollte Recht behalten.
In Emil Verständigs Bar ging es zu wie in einem Bienenstock: jeder ahnte, wusste, mutmaßte, hörte, vermutete, beschwor, klagte, jammerte, fluchte und rebellierte.
Als sich die Nachricht verbreitete, die Japaner beabsichtigten, ein Getto für die Juden einzurichten, hielten das die meisten für einen miesen Witz.
Verständig aber, hinter seiner Bar, glaubte daran und schaute auf den aufgeregten Hühnerhaufen, der vor ihm stand, und sagte:
Freunde, zuerst Ghetto – am Ende KZ!
Auch hier sollte er sich nicht irren.
Der lange Arm der Gestapo reichte bis nach China. Es gab plötzlich eine Ortsgruppe der NSDAP, es wehte die Hakenkreuzfahne [...] Ende 1942 Gestapo-Offizier Josef Meisinger nach Shanghai, nachdem er erfolgreich das Warschauer Getto liquidiert hatte. Er wollte mit seinen japanischen Verbündeten über Pläne zur Ermordung der Juden sprechen. Angeblich wollte die Gestapo die Schanghaier Juden auf Flöße treiben und auf dem offenen Meer verhungern lassen. Auch über ein KZ mit Verbrennungsöfen bei Shanghai wurde diskutiert. [...]/ Aber Verständlig hatte nicht sein Auge verloren, um blind und hilflos zu werden, und er organisierte eine Art Untergrund. [...] 
Wie von ihm vorausgesagt, bemühten sich die Japaner noch in den letzten Kriegsmonaten auf Anweisung der deutschen Regierung ein Internierungslager außerhalb von Shanghai fertigzustellen, das aber von den chinesischen Partisanen gemeinsam mit jüdischen Saboteuren zerstört werden konnte.
Kurz nach dem Endes des Pazifikkriegs im August 1945 heiratete Verständig seine rumänische Kellnerin Sofia, und das Ehepaar reiste ein Jahr später nach Deutschland, in die Stadt, aus der Verständig verjagt worden war: Frankfurt am Main!

Verständig und seine Frau hausten in einem sogenannten "Verschlepptenlager" im Vorort Rödelheim. Hier hatten die Sieger viele Überlebende untergebracht, aber die Umstände waren nur unwesentlich besser als in einem KZ. Die Verständigs mussten sich einen Raum mit zwei älteren orthodoxen Juden und deren Frauen teilen, die auf eine Ausreise nach Palästina warteten. [...]" (S.140-43)

Verständig und Krautberg beim Verkauf von Wäschepaketen:
"Er suchte mit zusammengekniffenem Auge die Grabsteine ab, las die Namen. Wischte Schnee von Grabplatten, bis er schließlich fand, was er suchte. Es war ein Familiengrab, und unter den Namen Wilhelm Schütz, Dorothea Schütz, geb. Langer, Herbert Schütz, Minna Schütz geb. Schmittchen, stand der entscheidende, frisch eingravierte Satz: In Erinnerung an unseren geliebten Sohn, unter Offizier Heinrich Schütz, geboren 4. März 1921, gefallen am 12. Oktober bei Smolensk
Fabelhaft! Verständig klatschte in die Hände.
"Schütz" stand deutlich auf dem Messingschild an der Tür des schmucken Zweifamilienhauses. Verständig beugte sich zu dem Klingelknopf und drückte einmal kurz. Ein Gong ertönte, und nach ein paar Sekunden öffnete ein älterer, grauhaariger Herr mit Hornbrille die verglaste Haustür mit Spanngardine.
Ja bitte?
Ist das zufällig hier das Haus von  Familie Schütz?, fragte Verständig naiv.
Ja. Ich bin der Herr Schütz, antwortete der Mann misstrauisch.
Prima! Dann bin ich richtig, rief Verständig fröhlich. Ist denn der Heini zu Hause?
Der Mann wurde ernst.
Wenn Sie unseren jüngsten Sohn, also den Heinrich, meinen, der ist tot, der ist in Russland geblieben.
Was? Verständig begann zu straucheln und musste sich am Türrahmen festhalten. Das ist nicht wahr! Der Heinrich? Ich kann es nicht glauben.
Doch. Leider. Es ist wahr. Kannten Sie denn meinen Sohn?
Was heißt kannten? Gut sogar. Ein Kamerad! Wir waren zusammen in… Warten Sie, bei Smolensk war das, glaube ich. Wir haben noch unsere Adressen ausgetauscht.
Ja. Smolensk, Da ist es passiert. Ein Hinterhalt. Partisanen.
Partisanen? Banditen!
Das können sie laut sagen, aber kommen Sie doch rein. Ein Kamerad von Heinrich ist uns immer willkommen.
Gerda! Hier ist ein Herr… Wie war der Name?
Wehrmann! Wie Wehrmacht, mit einem richtigen Mann hinten, ha, ha.
Krautberg saß bereits über dreißig Minuten in dem kalten Wagen. Die Scheiben waren beschlagen. Er musste an das Lager denken, an die endlosen dunklen Winter. Hopp, hopp, raus, raus! Er wischte sich einen Sehschlitz frei und starte auf das erleuchtete Parterrefenster." (S.156-58)

12 Oktober 2022

Wolf von Niebelschütz: Der Blaue Kammerherr

Wolf von Niebelschütz

Am aufschlussreichsten für den potenziellen Leser ist vermutlich das sehr ausführliche Inhaltsverzeichnis, das weiter unten durch 7 Fotos wiedergegeben wird. Es informiert auch über den Stil sowie die Erzählhaltung und die Annäherung an musikalische Kompositionsprinzipien, die die Rezensionen meist ansprechen.

Ich plane, dem auch Stilproben hinzuzufügen.

Nach 20 Jahren wieder entdeckt. Offenbar ein 2. Leseversuch in der Zeit nach meiner Krankheit. Ein Lesezeichen bei S.130.

Ich wunderte mich, dass ich das Taschenbuch (779 S.) damals gelesen habe (noch dazu mit kleiner, für mich jetzt relativ schwer im Bett lesbarer Schrift), als ich weniger Lesezeit hatte als heute. Erinnerte mich daran als an ein Buch aus einer interessanten Welt. 

Jetzt wieder hineingesehen, verwirrend, bei Danae wieder das Gefühl einer sympathischen Person, über die ich mehr lesen will. Aber auch das Bedürfnis, die Erinnerung an das Buch festzuhalten. 

1. Lektüre 2002 (Lektüretagebuch): Bis Seite 274 gelesen, etwas mehr als der erste Band und den Schluss. Auf der Rückfahrt aus Lübeck. Zu wortreich. Das, was mir als Nachahmung von Thomas Mann erscheint, vielleicht aber noch mehr von Hofmannsthal [Danae oder die Vernunftheirat - im Inhaltsverzeichnis vom Autor ausdrücklich als Inspiration genannt] beeinflusst ist, die ausführliche ridikulisierende Schilderung, mir zu penetrant, maniriert. Es erinnert mich in mancher Hinsicht an Hauffs 'Mann im Mond'. Doch für eine Parodie zu ausführlich. Da war der 'Mann im Mond' weit ergötzlicher zu lesen. Auch ist es wohl kaum als Parodie gedacht, da es (entsprechend den stark gedanklichen Passagen am Schluss) die Formalitäten des 18. Jahrhunderts zu ernst nimmt. Offenbar als Entfliehen aus der Wirklichkeit des Dritten Reiches geschrieben. Als Kritik an totalitärer Herrschaft aufgrund der Verspieltheit aber kaum zu lesen. Im wesentlichen wohl mehr nach 1945 entstanden. Dann wohl Ausweichen vor Naturalismus Borcherts, Bölls und der anderen Kahlschlag-Literatur, ohne die moralische Utopie des Glasperlenspiels übernehmen zu wollen. Realitätsflucht aus ästhetischen Gründen?

Zeus Verfolgung. Danaes mit Horrorwelt für das normale Volk als Parodie auf die Anforderung an die Künstler, unbedingt auf die Realität des Dritten Reiches und des Weltkrieges Bezug zu nehmen? Fin du Siecle-Stimmung wie bei Hofmannsthal?

Jedenfalls für mich nicht die Entdeckung, die mir Anfang der siebziger Jahre von der stellvertretenden Schulleiterin Frau Frank und anderen versprochen wurde. 
Ich bin aber ganz zufrieden mit mir, dass ich diese Kenntnis- (nicht Bildungs-) Lücke jetzt geschlossen habe. Ich hatte das Buch für 5 Euro in Lübeck als Lektüre für die Heimfahrt erstanden.

Stilproben:

1. Band 20. Kapitel: 
Zeus setzt die Naturgewalten ein, um Danae dazu zu bringen, seinem Liebeswerben nachzugeben.
Zu diesem Kapitel heißt es in der Inhaltsangabe: "Des Gottes Antwort entbehrt jeder Courtoisie, der Stallmeister verliert die Neven" [...]
"Er sah Menschen dort vorne, ach was! er hörte sie – wie sie schrien! Schreie, dass einem das Blut gefror – Menschen, lebende Fackeln, hingen über den Fensterbrüstungen – verkohlte Leichen, ganz zusammengeschnurrt, lagen vornüber im Schmutz und in der Gosse – auf den Treppen lagen sie, vor ihren Türen lagen sie, aus Dachstühlen wirbelten sie empor, Balken und Latten drehten sich, mit ihnen, brennend durch die Luft, die Luft sauste, heute und der Brandsturm, pfeifend, langte nach weiteren Opfern, Menschen, die hilfreich bemüht waren, zwei Kinder zu retten, ja, er langte nach ihnen, wie sie auch immer sich wehrten, sog sie in seine Lungen, am Boden hin, und sie wehten davon ..
Da wurde dem Stallmeister klar, was sie wollte, die schöne Dame, Endlich begriff er: sie wollte umkommen, hier gab es nicht zu rätseln. Welche Vermessenheit! Und ihn angehend, so änderte das keinen Deut an der Aussicht, dass er Amt und Brot verlor, wenn er sie nicht zurückbrachte." (S. 174)

Was - im Jahre 1949 gelesen - noch wie eine Beschreibung des Hamburger Feuersturms verstanden werden könnte, verwandelt sich in eine groteske Beschreibung: Der Brandsturm "sog sie in seine Lungen, am Boden hin, und sie wehten davon .." Man muss bedenken, hier treten Götter auf. Im 6. Kapitel war Zeus als goldener Regen aufgetreten. Der darüber Berichtende sagt: "ihr näherte sich der alte Galan als Wolke, ich bitte Sie." (S.53) Das Verhalten des Gottes wird als Fauxpas angesehen. Hier ist der Ort für realistische Schilderung längst verlassen. Was der Leser als ein von Zeus herbeigerufenes Naturschauspiel zu erkennen gelernt hat, ist freilich für das einfache Volk noch bitterer Ernst. 
Das Kapitel schließt: 
"Ein ausgehöhlter, von Kummer, Zorn und Hass flackernder Mann, offenbar aus der niedrigsten Ständen, sprang auf das Trittbrett und schrie ihr, verzerrt vom Geiste des Aufruhrs, mitten in die Augen hinein: "Opfere dich, schöne Hure, das Sterben tut dir nicht weher als uns!" Die Heiducken rissen ihn herab, er wurde von den Rädern zermalmt und war tot.
Die Prinzessin ließ nicht anhalten." (S.176)


Inhalt (Tabula operis)

Stilprobe: 24. Kapitel: 
"Wir, Danae", trompetete der Ceremoniar, ungerührt in steinerner Beamtenseele, "Wir, Danae, Francesca, Albertine [...] haben die Gnade gehabt, Uns, um eines allgemeinen Wohles  willen zu einer Antwort zu entschließen, in welcher wir zu bekunden belieben, dass einer nicht näher zu qualificierenden, auf das Formloseste  vorgebrachten Forderung in aller Form Genüge geschehen mag. Gegeben in seiner Majestät Residenz zu Myrrha, gesiegelt und gezeichnet Danae, Prinzessin zu Myrrha, urkundlich contresigniert Alphanios Rex, [...] aber der Ceremoniar war noch nicht am Ende.
"Der Minister des Kgl. Hauses. Ihre Kgl. Majestäten geben unter heutigem Datum die Verlobung ihrer einzigen Tochter, der Prinzessin Danae, Kgl. Hoheit, mit Sr. Kaiserl. Majestät Jupiter Tonans, Chef des ehemals souveränen Hauses der Chroniden, ihren Staaten und Untertanen zu wissen. [...] 
Und nun blieb sie einfach stehen, mitten vor der Statue des Gottes. Sie verweigerte ihm sogar die Reverenz, nickte nur kurz nach der Seite hin, wo der Ceremoniar auf das Zeichen wartete und blickte für eine Sekunde in den Text, den er ihr reichte.
"Angesichts all des Unrechtes", sagte sie und betonte es nicht einmal sehr, aber man verstand es unten bis in das kleinste Wort, [...] "angesichts all des Unrechtes, das sie, mein Herr, über die Welt gebracht haben angesichts Ihrer Macht, die Sie missbrauchen und angesichts des Elendes, der Gewalt, der Unterdrückung und der Finsternis, im Namen meines Volkes: verfügen Sie über das, was an mir sterblich ist."
"Es wird mir ein Vergnügen sein", erklärte die Statue, nur Danae hörte es, und sie zuckte so wenig wie der Marmor, auf dem sich, weil Marmor, kein Muskel gerührt hatte. [...]
Der geneigte Leser wird nun auch an dem Punkt gekommen sein, wo es sich empfiehlt, den Atem anzuhalten. Gesetzt es sei dem Chronisten gelungen trotz hier hin und wieder ein wenig weit getriebenen Skepsis, ihm die mindeste Vorstellung von dem zu vermitteln, was dem Barroco heilig und was ihm wundervoll dünkte, wird er sich noch einmal all die düsteren Umstände vor die Seele rufen: das Erdbeben, die vielen und unterschiedlichen Todesfälle, die in seinem Gefolge leider statthaben mussten; Zerstörung allerorten, Grauen, wohin man blickte; die ausgebrannten Ruinen, dass Verfaulte auf den Feldern; die Bäume von Ruß bedeckt, die Waldstücke voll von Briganten; Mord und Frevel durch die Gehölze schleichend [...] 
Ja, es jubelt sich leicht, wenn der Solist seinen Part geendet hat. Fragt man nach Lust und Necessität? Er tat doch nur, was seines Amtes war. Man zollt ihm Beifall, findet ihn großartig, und es gehört sich so, dass man ihm dankt.
Er aber möchte allein sein
.
Ende des ersten Bandes" (S. 200 - 205)


2. Band 17. Kapitel: "[...] Der Staatssekretär erhob ungeduldig die Schultern. 
Eine Brise fuhr über See, weiße Schaumkronen wurden auf das Blau der Wellen getuscht, die einen Augenblick aussahen, als frören sie, denn eine Wolke glitt über den Himmel, und das goldene Linienschiff rauschte mit mächtigerem Wind an der Insel Theodosia vorüber in den Sund, wo nun Escarpe  und Contraescarpedie Batterien sprechen ließen. Und wieder feuerte die Flotte eine Breitseite in den Aether hinauf, das Volk aber, militärfromm und königstreu, jauchzte dazu, und es war ein herrlicher Tumult.
"Man wird mir nicht zumuten wollen", sagte der König, "dass ich schiefe Situationen eingehe. Schließlich bin ich der Brautvater und habe die Priorität vor dem Bräutigam – von der Anciennität meiner Krone ganz zu schweigen."
"Majestät werden, erwiderte der Staatssekretär mit der furchtbaren Beharrlichkeit der Beamten, "die Majestät des Herrn Bräutigams doch auf die eine oder andere Weise begrüßen wollen?"
"Auf jede andere Weise gern, nicht auf diese, entgegnete der Monarch gereizt. [...]" (S. 350)

4. Band Die Bürgerin Valente, 
Kapitel 63-66
Danae versucht ihrer Rolle als Kronprinzessin zu entgehen, indem sie ins Kloster Gelmion geht. Dort aber trifft sie auf eine Orgie der Gewalt. Eine Meuterei ist ausgeartet. 
Das schildert von Nebelschütz weniger in Handlung als in Bildern, die den Kriegsgräueln des 30-jährigen Krieges und Märtyrerlegenden entlehnt sind. Der Stil schlägt dabei vom Rokokohaften ins Barocke um. Der Erzähler entschuldigt In moderner Weise und eher rokokohaft im Stil.
Danae wird beim Versuch einer Revolution zur "Bürgerin Valente". 
Kapitel 70-73 (S.624-660)
Im Traum erlebt Danae die Herrschaftsbereiche von Jupiter (jovial), Neptun (poseidonisch) und Pluto (plutonisch). Opulente Bilder, die ohnehin phantastische Welt des Buches verwandelt sich in eine Traumwelt, die kaum Beziehung auf die übrige Handlung hat.
Kapitel 74-77 (S.661-688)
Danae wird Gefangene eines Finanzhais, der sie wieder als Königin einsetzen will, weil er sich mit den Revolutionären, denen er sich angedient hat, nicht mehr recht versteht. Es sei ihm egal, durch wen er mit seinem Geld regiert. Danae weigert sich, besteht auf absoluter Herrschaft. Befreit wird sie durch den roten Dominik, dem Staatssekretär Merziphon, der sich durch zügellose Gewalt als Revolutionsgeneral hervorgetan hat, aber in Wirklichkeit Danae dafür gewinnen will, mit Hilfe von Brieftauben Befehle an die königliche Armee zu senden, in der er auf dem Schlachtfeld kämpft. Dafür hat er ihr zuvor seinen Schlachtenplan erläutert.
Danae reitet, nachdem Merziphon gefallen ist, mit Bauern des Grafen Auffenbühl und Merziphons Sohn Deodat selbst in die Schlacht. Als Deodat den Revolutionsgeneral Bandra gefangen genommen hat, sagt sie zu ihm: "Nur ruhig, Deodat, ruhig, ruhih, wir wollen Menschen bleiben, .. Nicht wahr." (S.698)

Wikipedia: 

Der Blaue Kammerherr ist ein historischer Roman von Wolf von Niebelschütz, erschienen 1949.

Handlung

Der Roman spielt zu großen Teilen auf der Mittelmeerinsel Myrrha im Jahr 1732. König Alphanios ist das Opfer intriganter Minister und Finanzleute und sein Reich geht langsam, aber sicher dem Bankrott entgegen. Die Regierungsgeschäfte sind unentwirrbar verfahren, und die Großreiche Venedig und Konstantinopel beziehungsweise die ägäischen Nachbarstaaten bemühen sich eifrig, das Königtum zu annektieren. Dazu umwerben sie die Thronfolgerin, die kluge und selbständige Prinzessin Danae, den Liebling des Volkes. Die entzieht sich jedoch dem höfischen Zeremoniell und versucht allen Intrigen zu begegnen, um ihrem Land zu helfen. Schließlich weist sie sogar Göttervater Zeus zurück, der ihr als angeblicher „Kammerherr“ seine Avancen macht. Dies hat für Myrrha verheerende Folgen.

Mit unvergleichlicher Gewandtheit verbindet Niebelschütz die Mythologie der Antike mit der Galanterie des christlichen Rokokos und spannt mit einem bunten Figurenreigen aus Sagenwelt, Religion, Literatur- und Menschheitsgeschichte spielerisch den Bogen durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart. Niebelschütz' gewaltige Mittelmeersaga ist zugleich ein Lehrstück der Staatskunst und Gesellschaftskunde, eine Schelmengroteske von hintergründigem Humor und stilistischer Opulenz sowie ein psychologisch eindringliches Zeitgemälde, das von menschlicher Größe, Selbstbeherrschung und Leidenschaften erzählt.

Ausgaben

  • Der Blaue Kammerherr. Galanter Roman in vier Bänden. Frankfurt a. M. 1949 (4 Bücher in 2 Bänden) Neuausgaben 1972 und 1980.

Weblinks

Literatur



Perlentaucher

KLAPPENTEXT

Das Inselreich Myrrha im Jahr 1732. König Alphanios ist das Opfer intriganter Minister und Finanzleute. Die Regierungsgeschäfte sind unentwirrbar verfahren, und die Großreiche Venedig und Konstantinopel bemühen sich eifrig, das Königtum zu annektieren. Dazu umwerben sie die Thronfolgerin, die kluge und selbständige Prinzessin Danae, den Liebling des Volkes. Die entzieht sich jedoch dem höfischen Zeremoniell und versucht allen Intrigen zu begegnen, um ihrem Land zu helfen. Niebelschütz greift mit diesem Roman auf die Gattung der galanten Dichtung des Rokoko zurück. Er bedient sich des Stils der Epoche und legt sein Epos ganz nebenbei noch nach den traditionellen Kompositionsprinzipien der klassischen Musik an.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 12.12.2011

So problematisch er die Entstehungskonstellation dieses Romans des früh Verstorbenen Wolf von Niebelschütz auch findet - das Buch entstand, für den Rezensenten Inbild des Eskapismus, während in Deutschland und Frankreich die Nazis wüteten -, so gut kann sich Jens Malte Fischer den Text als utopisches Stück Literatur vorstellen, als Versuch des Autors, den eigenen, für Fischer im besten Sinn retrospektiven Geist ins Überzeitliche zu heben. So gesehen fängt der über ein Fragment von Hugo von Hofmannsthal mit Lust zum barocken Spiel aufgetürmte Roman für Fischer dann an zu leuchten. Otello, Zeus, ein gewisser Don Giovanni, Venedig, der Zutaten sind zu viele, als dass er sie alle aufzählen könnte. Aber außer einer mythisierenden, humorvollen Märchenoper entdeckt Fischer bei Niebelschütz auch die Verarbeitung der Gräuel des Dritten Reichs. Etwas muss sein an diesem Buch, davon ist er überzeugt.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 17.07.2010

Das gab es also auch, meint Rezensent Tobias Schwartz leicht ratlos nach Lektüre zweier Romane von Wolf von Niebelschütz: "Der blaue Kammerherr" und "Die Kinder der Finsternis". Niebelschütz gehört zur Altersgruppe von Stefan Heym, Max Frisch, Arno Schmidt und Alfred Andersch, so Schwartz, aber geschrieben hat er ganz anders. So ist "Der blaue Kammerherr" ein "galanter Roman", der im Stil des Rokoko verfasst ist. Ziemlich maniriert findet das unser Rezensent. Auch findet er, wenngleich in eleganter Sprache verfasst, "reaktionäre staatstheoretische Abwägungen". Alles in allem ist ihm nicht ganz klar, warum diese Romane noch einmal aufgelegt wurden.

Die Zeit, 07.12.2000

Ralf Vollmann macht auf einen Schriftsteller aufmerksam, dessen Bücher jetzt wiederzuentdecken sind. Bücher? Wälzer. Fast tausend Seiten lang ist der "Der blaue Kammerherr", so Vollmann, den der Autor im Jahr 1949 herausgebracht hat und damals recht erfolgreich war. Ein "politisch-utopischer Roman", behauptet Vollmann, und zugleich eine "Apotheose des Barock", in der die Vorzüge der Jugend, der Schönheit, der politischen Vernunft gepriesen würden. Der Roman strotze zwar anfangs vor Manierismen - Vollmann fallen dabei Thomas Manns Joseph-Romane als Vorlage ein -, dennoch habe das Buch ganz großartige Passagen, sobald sich der Autor freigeschrieben habe.
Noch begeisterter zeigt sich Vollmann von dem zehn Jahre später erschienenen Roman "Die Kinder der Finsternis", ebenfalls einen geschichtlichen Stoff abhandelnd, diesmal im 12. Jahrhundert in der Provence angesiedelt, einem wilden und frei imaginierten Land, in dem alles und alle Phantasienamen tragen. Besonders angetan hat es Vollmann eine Stelle, die Niebelschütz` Witwe Ilse in ihrem Nachwort weiterspinnt: wie der Schriftsteller dort unten einmal eine geheimnisvolle Teilung des Wassers gesehen haben will. Diesem Geheimnis möchte Vollmann auf den Grund gehen.

Spoiler - Deutung
Der Anfang des 1. Kapitel des 2. Buches, S.209, kann als Parodie auf die Duschszene von Goethe in Th. Manns "Lotte in Weimar" gelesen werden. 
Das 11. Kapitel des 2. Buches als Parodie auf das Gespräch zwischen Teufel und Adrian in "Doktor Faustus" gelesen werden, natürlich als sehr spielerische, verharmlosende. Der war 1947 auf Deutsch in Europa erschienen. Dass der blaue Kammerherr, Reichsgraf zu Weißenstein, für den Olympier steht, habe ich sicher bei der Erstlektüre verstanden. Damals habe ich aber mit großer Wahrscheinlichkeit das 11. Kapitel noch nicht gelesen. 

Sieh auch:

Die Kinder der Finsternis1959 bei Diederichs? in Düsseldorf erschienen, ist Wolf von Niebelschütz' zweiter Roman. Er ist zwölften Jahrhundert angesiedelt und gilt als das dunkle Gegenstück des ersten. Wieder spielt das Buch in einem erfundenen Reich, das einer realen Region nachgebildet ist: in der mauretanischen Mark Kelgurien, die provenzalische Züge trägt.

Protagonist ist der Schäferjunge Barral, der als Einziger das Massaker eines moslemischen Heeres in seinem Heimatdorf überlebt. Von da an beginnt er um Macht und Einfluss zu kämpfen, steigt zum Grafen, zum Herzog und sogar zum Freund des Kaisers auf. Sogar die Liebe der schönen Markgrafentochter Judith gewinnt er. Doch je größer sein Erfolg, desto schwieriger fällt es ihm, sich selbst und seinen Idealen treu zu bleiben ...

Kriege und Seuchen, Inquisitionsprozesse, Turniere, Hungersnöte und eine mitunter jähzornige Lebensfreude - das sind die Zutaten, die Wolf von Niebelschütz in diesem Werk verarbeitet. Es gilt längst als Klassiker. Geradezu trunken, so jubelten die Kritiker, erlebe man als Leser diese wilde Zeit.

(Bücher-Wiki)

07 Oktober 2022

Annie Ernaux erhielt am 7.10.2022 den Literaturnobelpreis

Im Oktober 2022 wurde Annie Ernaux „für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt“, der Nobelpreis für Literatur zuerkannt.[38][39]

Wikipedia:

"Das Werk Ernaux’ ist entschieden autobiografisch geprägt. Wiederholt thematisierte sie ihren eigenen Lebensweg vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin. Dieser Selbstfindungsprozess spiegelt sich bei Ernaux auch im Wandel ihres Stils.[2]

1974 publizierte Ernaux ihren ersten autobiografischen Roman Les Armoires vides. 1984 erhielt sie für La Place den Prix Renaudot.

Der 2008 veröffentlichte Roman Les Années wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Ebenfalls 2008 erhielt sie den Prix de la langue française für ihr Gesamtwerk[6].

2011 veröffentlichte sie L’Autre Fille, einen Brief an ihre Schwester, die als sechsjähriges Kind, zwei Jahre vor der Geburt der Autorin, gestorben war.[7] Ebenfalls 2011 erschien L’Atelier noir, eine Sammlung von Notizen, Plänen und Gedanken zu ihrem Werk. Die Anthologie Écrire la vie erschien ebenfalls 2011 in Quarto. Darin enthalten sind neben den meisten ihrer autobiographischen Werke Fotografien und Tagebuchausschnitte.[8]

Im April 2016 veröffentlichte sie ein weiteres autobiographisches Werk, Mémoire de fille (Erinnerung eines Mädchens)[9], in dem sie sich mit den im Sommer 1958 gemachten ersten sexuellen Erfahrungen und deren lebenslangem Nachklang beschäftigt. Sie schreibt vom „Gedächtnis der Scham“[10]:

„Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere. Es ist im Grund die besondere Gabe der Scham.“

– Annie ErnauxErinnerung eines Mädchens[11]

Zu ihrer Arbeitsweise schreibt Ernaux programmatisch in Die Scham (1997, deutsch 2020):

„Um meine damalige (sc. 1952) Lebenswirklichkeit zu erreichen, gibt es nur eine verlässliche Möglichkeit, ich muss mir die Gesetze und Riten, die Glaubenssätze und Werte der verschiedenen Milieus vergegenwärtigen, Schule, Familie, Provinz, in denen ich gefangen war und die, ohne dass ich mir ihrer Widersprüche bewusst gewesen wäre, mein Leben beherrschten. Die verschiedenen Sprachen zutage bringen, die mich ausmachten, die Worte der Religion, die Worte meiner Eltern, die an Gesten und Gegenstände geknüpft waren, die Worte der Fortsetzungsromane, die ich in Zeitschriften las (...). Mich dieser Worte bedienen, von denen manche noch immer mit der damaligen Schwere auf mir lasten, um den Text der Welt, in der ich zwölf Jahre alt war und glaubte, wahnsinnig zu werden, anhand der Szene eines Junisonntags zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen.“

– Ernaux, Die Scham.

Zeitzeugin

Bisher seien alle französischen Revolutionen von Paris ausgegangen, nun zum ersten Mal nicht, bemerkt Ernaux zur Gelbwestenbewegung im Interview mit der Zeit. Es gebe einen Graben zwischen denen, die vom Liberalismus profitieren und in Zukunftsberufen arbeiten, und den Leuten, die in Dienstleistungsberufen oder als Arbeiter beschäftigt sind. „Sie haben das Gefühl festzustecken und nicht voranzukommen. Die Reden, die Macron hält, sind völlig losgelöst von ihrer Wirklichkeit.“ Die Benzinsteuer sei in bestimmter Hinsicht ein Symbol: Die Gelbwesten brauchten das Auto, weil es da, wo sie wohnen, keine öffentlichen Verkehrsmittel gebe. „Die kleinen Städte in Frankreich wurden schlimm vernachlässigt, das ist eine alte Geschichte.“[12]

„‚Gerettet werden soll […] der Mann in Schlafanzug und Hausschuhen in dem Altersheim in Pontoise, der jeden Nachmittag alle Besucher bat, seinen Sohn anzurufen, und ihnen weinend einen schmutzigen Zettel mit der Telefonnummer hinhielt‘. An anderer Stelle spricht Ernaux davon, dass ihr das Schreiben immer Angst mache, es sei eine ernste Sache: Es sei der ‚richtige Ort‘, derjenige, an dem sie sich an ihre Erinnerung wende. Das sei nicht einmal ein sehr persönlicher Akt, sondern wie der Besuch eines Archivs, das sie besonders gut kenne. Dieses Archiv sei eine Fiktion, und zwar diejenige, in der man seine eigene Erinnerung durchgehen könne wie einen Karteikasten. Diese Fiktion sei notwendig, um die Erzählung in Gang bringen zu können. Ein einzelnes Foto diene als Fund aus diesem Archiv, ein beschreibungsbedürftiges, zu analysierendes und erträgliches Einzelstück. So ein Foto sei ein guter Anfang, etwas Konkretes, über das man etwas sagen könne. Mit einer Beschreibung gehe es los, so sei man nicht allein mit der leeren Seite, das Foto sei ja da.“

– Annie Ernaux spricht für sich, von Hanna Engelmeier[13]

Rezeption

Ernaux bei der Verleihung des Premio Strega Europeo 2016 für Les Années

Annie Ernaux gilt als „eine der prägendsten Stimmen der Französischen Gegenwartsliteratur“.[14] Sie wird im universitären Umfeld positiv rezipiert; ihr Werk ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten.[15][16] In der Literaturkritik wird ihr Werk vorwiegend positiv rezipiert, von einzelnen Stimmen hingegen als „Zurschaustellen des Elends“ oder „banale und unglaubliche Anmaßung“ beurteilt. Mémoire de fille wurde „ein Geruch nach Mottenkugeln“ attestiert, man habe „den Eindruck, dasselbe schon tausendmal“ von ihr gelesen zu haben.[17] Andere hingegen führen die große Popularität und die unmittelbare Verbundenheit zwischen Autorin und Leserschaft auf das große Talent von Ernaux zurück, die den schneidenden Stil ihrer ersten Romane zu einer klassischen Strenge weiterentwickelt habe.[18] Ihre trockene, minimalistische und kalt erscheinende écriture plate verberge vielleicht die Tränen: „cette froideur cache peut-être des larmes“[19] Nathalie Crom lobt Les Années als großes und schönes Buch, in welchem ihre Meisterschaft zur Blüte komme.[20] Ernaux erhalte seither außerordentliche Aufmerksamkeit durch Literaturkritik und Leserschaft; die Publikation von Les Années habe allgemeinen Beifall ausgelöst.[21] Das Buch wurde zum Bestseller.[22]

Nils Minkmar bewertete die im September 2017 veröffentlichte deutschsprachige Fassung von Les Années, Die Jahre, im "Spiegel" unter der Überschrift Ein weiblicher Proust als „Meisterwerk“. Ernaux habe „eine Klasse, die vielen ihrer männlichen Kollegen fehlt“.[23] Laut Ruth Fühner unternimmt Ernaux den weitgehend „großartig“ gelungenen Versuch, ihre „eigene Lebenszeit als Epoche“ darzustellen.[24] Im Deutschlandfunk Kultur kommentierte Peter Urban-Halle: „In unserer Zeit des autobiografischen Romans schreibt die Französin Annie Ernaux eine Anti-Autobiografie. Da sich für sie das Individuelle und das Kollektive gegenseitig beeinflussen, gibt es in ihrem einzigartigen Buch kein Ich.“ Die Schriftstellerin schreibe „sachlich“, „ohne Metaphern und ohne Beurteilungen“ aus soziologischer Perspektive, beeinflusst von Pierre Bourdieu und anhand von Fotos aus ihrem Leben.[25] Meike Feßmann bezeichnete in der Süddeutschen Zeitung Annie Ernaux als „herausragende Schriftstellerin“. Als Vorbilder für dieses „eigenständige“ Werk nennt Feßmann neben Marcel Proust und Virginia Woolf auch die Soziologen Michel Foucault und Pierre Bourdieu sowie Roland Barthes.[26] In der TAZ erschien eine Rezension von Klaus Bittermann Als die Leichen durch Paris schwammen. Der Titel bezieht sich auf das Massaker von Paris. „Nachkriegszeit, Algerienkrise, Mai ’68, Mitterrand, Frauenbewegung – Annie Ernaux hat ein ungewöhnliches Stück Gedächtnisliteratur geschrieben, in dem die persönliche Geschichte eine kollektive Geschichte erzählt. Keine klassische Autobiografie, weil, wie Annie Ernaux sagt: Man ist nicht allein.“ Bittermann konstatiert, es handele sich um ein „großes Buch“. Kritisch merkt er an, der hintere Teil der Erzählung sei teilweise banal, weil die Ereignisse keinen unmittelbaren Bezug mehr zu der Autorin hätten. Ab der Jahrtausendwende stellt er einen melancholischen Unterton und eine Distanz zu den Geschehnissen heraus.[27] Als Titel für seine Buchbesprechung wählte Tobias Schwartz im Tagesspiegel Etwas von der Zeit retten und zitiert damit einen Teil des letzten Satzes von Ernaux’ Werk. Er postuliert, man könne Ernaux eine Soziologin nennen. Gemeinsam mit dem Soziologen Didier Eribon, der sich ausdrücklich auf sie beziehe, trat sie im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2017 auf.[28] Ernaux sehe sich als „Ethnologin ihrer selbst“. Schwartz hebt hervor, der Text sei „experimentell“, „anspruchsvoll“, teilweise „gewagt“ und dennoch publikumswirksam.[29]

Das Literarische Quartett auf der Frankfurter Buchmesse hatte u. a. Annie Ernaux’ Werk Die Jahre zum Thema. Volker WeidermannChristine Westermann und der Gast Johannes Willms sprachen sich für das Buch aus, Thea Dorn dagegen. Willms, der den Text vorstellte, nannte ihn eine „Soziografie“, eine Emanzipationsgeschichte als Frau und als Mädchen aus der Provinz, das in Paris eine Ausbildung als Lehrerin absolviert. Er empfahl die „spannende Lektüre“. Christine Westermann bezog den Text auf ihre eigene Kindheit und Jugend und bezeichnete ihn als Zeitreise in ihr eigenes Leben. Für Volker Weidermann ist Die Jahre bis 1989 ein „Aufbruchsbuch“, das ihn nach anfänglicher Irritation gepackt habe. Thea Dorn wandte sich scharf gegen die Verwendung des „man“ statt „ich“. Das „quasi soziologische“ statt literarische Buch sei politisch, links und poststrukturell. Sie monierte, ein Mädchen aus kleinen Verhältnissen in der Provinz dürfe nach Ernaux keine Subjektivität haben. Im Südwestfunk analysierte Michael Kuhlmann die Sprache der Autorin und wies auf die Leistung der Übersetzerin hin, durch die das Buch lesenswert sei.[30] Ein Interview von Beate Tröger mit Sonja Finck zu den Anforderungen an die Übersetzung erschien in der Wochenzeitung Der Freitag.[31] Laut Magnus Klaue gelingt Ernaux in Die Jahre, was Eribon in Rückkehr nach Reims nur versprochen habe: „die glückliche Allianz von Autobiographie und Historiographie.“[32] Christoph Vormweg zufolge handelt es sich um eine Provozierende Aufforderung zur Selbstbesinnung. Er zitiert Ernaux’ Intention, „etwas von der Zeit (zu) retten, in der man nie wieder sein wird.“[33]

Im Tagesspiegel rezensiert Gerrit Bartels die Erinnerung eines Mädchens unter dem Titel Begehrenswert ist das Begehren. ‘Bemerkenswert unerschrocken‘ schon im Jahr 1958[34]:

„Aufregend ist, wie Ernaux sich in ihrem Buch selbst umkreist, wie sie nach dem Wirklichkeitsgehalt des Erlebten, dem Erinnerten fragt, wie sie um den Erkenntniswert, um die Wahrheit ‚dieser Erzählung‘ ringt. Und dass sie weiß: deshalb ist ihre autobiografische Literatur etwas Besonderes, ist ihr Leben ein unerschöpfliches Stoffreservoir, weil sich das Schreiben, das Erlebte und das Erinnern nie gänzlich zur Deckung bringen lassen.“

– Gerrit Bartels

In der Wiener Zeitung zitiert Shirin Sojitrawalla Ernaux zum Verhältnis von Ereignis und Erinnerung:

„Ich konstruiere keine Romanfigur. Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich gewesen bin […] Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.“

– Ernaux, Erinnerung eines Mädchens[35]

Ernaux betrachtet ihr Werk im Zusammenhang von Literatur, Soziologie und Geschichte und „will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen.“[36] Sie beschreibt ihr Ich als fragmentarisch, nicht kontinuierlich, vom Zufall bestimmt. Traumatisierende Erlebnisse in Kindheit und Jugend wurden in der Familie verschwiegen und sind Ursache einer lebenslangen Scham.[37]

„"Ich werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren." Was für Sätze! Annie Ernaux schreibt sie in ihrem neuen Buch "Eine Frau", die Frau ist ihre Mutter, ... Sonja Finck hat es ins Deutsche übersetzt.“

– ZEIT Magazin, November 2019

Speziell dem Verhältnis Ernaux zu Pierre Bourdieu widmet sich Franz Schultheis 2020:

„In Frankreich hatte Ernaux parallel zu Bourdieus "Die feinen Unterschiede" vor fast vier Jahrzehnten eine wahlverwandte und in vielerlei Hinsicht ergänzende literarische Sicht auf die französische Klassengesellschaft entwickelt. Es ist erstaunlich, wie spät man sie im deutschsprachigen Raum entdeckt hat […] In den 1980er Jahren, als Bourdieus und Ernaux' Gesellschaftsanalysen in Frankreich zum Standardrepertoire des intellektuellen Lebens gehörten, feierte die deutsche Mainstream-Soziologie das "Ende der Klassengesellschaft" und den Fahrstuhl nach oben für alle. Jetzt, fast 4 Jahrzehnte danach, scheint man sich angesichts wachsender gesellschaftlicher Ungleichheiten beim Zugang zu allen Formen an Lebens-Chancen zu besinnen und die Schwerkraft gesellschaftlicher Reproduktionen neu zu entdecken.“

– Schultheis, Beilage zu jungle world, 31, 30. Juli 2020, S. 10-13"


eurotopics (7.10.2022)

Annie Ernaux erhält als erste französische Frau den Literaturnobelpreis. Das Nobelpreiskomitee zeichnete die 82-Jährige aus für "ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt". Auch Europas Presse würdigt die Auszeichnung an eine unerschrockene und politische Autorin.

TAZ, DIE TAGESZEITUNG (DE)

Aus der nackten Realität heraus

Das Komitee hat eine gute Entscheidung getroffen, freut sich die taz:

„Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr nicht an das Altehrwürdige, Gehobene, Raffinierte. Sondern an das Schäbige, das Eiskalte, das scharf Blutende. ... Ernaux ist keine Künstlerin, die auf die Armen und Ungesehenen blickt, sondern eine, die direkt aus dieser Perspektive heraus schreibt. ... Die heute 82-jährige Schriftstellerin ist sich trotz Weltruhms treu geblieben. Immer beteiligt sie sich am aktuellen politischen Geschehen, nimmt Stellung, verteidigt die Mittellosen. ... Unter anderem 'für ihren Mut' werde der Französin nun der Nobelpreis verliehen, hieß es von der Schwedischen Akademie. In diesem Fall ist das keine Floskel.“

Lea Fauth
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KLEINE ZEITUNG (AT)

Späte Würdigung

Auch die Kleine Zeitung begrüßt die Auszeichnung Ernaux':

„Es ist eine literarische Entscheidung! Das war und ist nicht immer selbstverständlich. ... Wie schwer sich die 'Literaturwelt' lange Zeit mit der Beurteilung dieser herausragenden Schriftstellerin getan hat, zeigen die ersten Übersetzungen ihrer Bücher in deutscher Sprache. Auf den Umschlägen waren schlüpfrige, leicht bekleidete Frauenkörper zu sehen. Ernaux wurde unter 'erotische Frauenliteratur' schubladisiert. Was für ein Unsinn. ... Und was für eine richtige Einschätzung und Einordnung, die jetzt in Stockholm getroffen wurde.“

Bernd Melichar
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