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22 Januar 2012

Gustav Freytag: Die Geschwister (aus: Die Ahnen)

Der Rittmeister von Alt-Rosen

Den Dreißigjährigen Krieg führt Gustav Freytag am Beispiel des Rittmeisters Bernhard König von Alt-Rosen und seiner Schwester Regina vor, Anlass genug, die Erzählung mit der folgenden (Der Freikorporal bei Markgraf-Albrecht) unter dem Titel "Die Geschwister" zu vereinigen.
Wir erleben das Lagerleben von Regimentern, die sich vom Marschall Turenne getrennt haben, um die evangelische Sache nicht verraten zu müssen, das Schicksal der in den Wald flüchtenden Bauern, den Privatbereich Herzog Ernsts des Frommen (einem Vorfahr von Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha, dem Maezen Gustav Freytags) und schließlich auch eine Hexenverfolgung, deren Opfer Judith, die Geliebte Bernhard Königs, wird.
Bernhards Beitrag zum Kriegsrat der einen obersten Führer suchenden Regimenter:
Ansehnliche Herren und lieben Brüder! Da ich einer der jüngsten bin, ziemt mir mehr zu hören als zu raten. Was dem Heere am vorteilhaftesten ist für Sold, Quartiere und Ruhm, darüber haben viele unter uns mehr Erfahrung als ich. Ich aber will sagen, was uns allen während unserer Händel mit den Franzosen am Herzen gelegen hat: Wir haben uns von dem Marschall darum geschieden, weil wir Deutsche sind und unser Blut nicht länger für den Eigennutz fremder Potentaten vergießen wollen. Wir hören viel von der alten Herrlichkeit des deutschen Landes, wo ist sie hingeschwunden? Ich kenne manchen unter euch, der mitten in Brand und Plünderung aus tiefem Herzen erseufzte über das Unglück, welches wir ertragen und anderen zufügen, und ich hörte manchen Kriegsmann mit grauem Haar einen Fluch ausstoßen gegen die vornehmen Perücken, welche Frieden im Munde führen und den Krieg im Herzen begehren. Fünf Jahre verhandeln die Schreiber über den Frieden, und wir sind weiter davon entfernt als je. Ich aber lebe des Glaubens, daß der römische Kaiser als der hartnäckigste und diffizilste Gegner des Friedens gegen uns steht. Er fühlt in seinen Erblanden wenig von der Kriegsnot und ist wohl zufrieden, wenn die Dörfer und Städte der evangelischen Landesherren verwüstet werden. Und ich sage euch, ihr Herren und Brüder, nicht eher wird er sich einem billigen Vertrage zuneigen, als bis ein deutsches Heer über seine Berge zieht und seine Hofburgen ausbrennt. Darum, wenn die Großen üblen Willen haben, das deutsche Land in einen besseren Zustand zu bringen, so meine ich, sollen wir Kleinen dazu helfen. Habt ihr den Mut und den Willen, euch als Helden zu erweisen und den Kaiser zum Frieden zu zwingen, so wählt euch einen kühnen Kriegsobersten, dem ihr zutraut, daß er sich mit eurer Hilfe hoher Anschläge vermesse. Und in diesem Falle rate ich, daß ihr den General Königsmark zuzieht, obgleich er den Schweden dient. Denn wir wissen, daß er von allen großen Befehlshabern am fröhlichsten schlägt und in seinen Reiterstiefeln weder Tod noch Teufel fürchtet. Wollt ihr jedoch so hohes Wagnis nicht auf euch nehmen, so wahrt wenigstens euer Gewissen, auf daß ihr nicht ferner an der Zerstörung teilhabt, und sucht einen gerechten protestantischen Landesherrn, dem ihr euch zum Schutz seines Landes anbietet und der vielleicht, wenn er die Regimenter entlassen will, mit unseren Völkern, ihren Weibern und Kindern die leeren Bauernhöfe seines Landes besetzt. Wollt ihr in solcher Weise für das Heil des gemeinen Reiters sorgen, so fragt den Herzog Ernestus, den Bruder unseres seligen Kriegsherrn, ob er die Regimenter auf billige Bedingungen in seine Gewalt aufnimmt. (G.Freytag: Die Ahnen, Der Rittmeister von Alt-Rosen, Kapitel "Der Kriegsrat", S.974)

Der Freikorporal bei Markgraf Albrecht (1721)

Um ein möglichst umfassendes Bild  der von ihm in den vorhergehenden Erzählungen behandelten Gebiete, in denen Deutsche siedelten, zu bieten,  verbindet Gustav Freytag einen Bericht aus dem Sachsen und Polen Augusts des Starken mit einem aus dem Preußen des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I..
Dabei setzt er, um das Interesse des Lesers und die Dramatik des Geschehens zu erhöhen, nicht nur zwei Liebesgeschichten, sondern auch das Motiv der unbedingten Opferbereitschaft für den Freund ein, wie wir es aus Schillers Bürgschaft kennen. Nur sind es hier Brüder, die beide bereit sind, sich für den anderen zu opfern, nicht zwei Freunde und zusätzlich bestand vorher eine ganze Zeit lang eine Rivalität zwischen ihnen.

Um die negativen Seiten der Herrschaft des Soldatenkönigs zu zeigen, lässt er den Sachsen August König freiwillig in preußische Dienste treten und dabei die Schrecken absoluter militärischer Unterordnung und des Rekrutierungssystems kennen lernen. Doch gerade als August höchst negative Erfahrungen mit dem System gemacht hat, trifft er auf einen hilfreichen Zivilisten, der seine Vorzüge herausstellt:
»Ich glaub's wohl«, sagte der Wirt, »denn manchen trifft es hart und grausam. Jedoch dazu sind wir alle da, die einen zahlen die Steuern, während die anderen marschieren, damit die Fremden Respekt vor uns behalten. Als mein Großvater jung war, hausten die fremden Kriegsvölker hier am Orte wie Mordbrenner und Kannibalen, und die Bürger wurden wie die Hunde erschlagen, von den Weibern und Kindern gar nicht zu reden. Als aber mein Vater jung war, hieben wir Brandenburger den Schweden, der sich noch einmal ins Land gewagt hatte, mit unseren Fäusten hin aus; seitdem haben wir Sicherheit, unsern Weibern wird keine Schmach mehr angetan, und unsere kleinen Kinder werden nicht mehr unter die Hufe der Pferde geworfen. Wenn nur von den Herren Offizieren Billigkeit geübt wird, so ist die Last für das Volk zu ertragen. Unsere Landeskinder, soweit sie wirklich eingezogen werden, dienen nicht gar lange und kommen klüger nach Hause zurück, als sie gegangen sind. Ich denke, es ist bei uns in Stadt und Land, obgleich wir viele Soldaten unterhalten, mit der Nahrung und mit dem Verdienst nicht schlechter bestellt als bei Ihnen in Sachsen oder anderswo in Deutschland. Denn unser König führt einen schweren Stock, aber er sorgt auch wie ein Vater für die Blauen und für uns andere in Hemdsärmeln.«
August freute sich über die kluge Rede, denn auch er fühlte zuweilen [1120] wieder den Stolz eines Preußen, ... (G. Freytag: Der Freikorporal bei Markgraf-Albrecht, Kapitel Alles verwandelt", S.1119/20)
Die Verhältnisse in Polen lässt Freytag den Kandidaten der Theologie Friedrich König erleben und das bietet dem Erzähler die Möglichkeit, seinen Helden darüber dem Soldatenkönig berichten zu lassen:

»Was habt Ihr sonst in Thorn gesehen?« fragte der König. »Erzählt geradeaus und ehrlich.«
Friedrich begann seinen Bericht über die Standhaftigkeit und die letzten Stunden des Konsuls Roesner und der übrigen Gerichteten. Der König setzte sich und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bis der Erzähler mit den Worten schloß: »Königliche Majestät, in diesen schrecklichen Tagen habe ich das Größte erlebt, was einem Diener des heiligen Amtes zuteil werden kann, denn ich sah fromme deutsche Männer, welche mit Gottvertrauen mutig in einen elenden Tod gingen. Jeder von den zehn Gerichteten konnte sich Leben und Freiheit retten, wenn er seinen Glauben abschwor. Aber nur einer von elfen wurde schwach, die anderen zehn blieben treu bis zum Tode.« Da faltete der König die Hände: »Was sagtet Ihr vorhin über eine Hilfe, die sie von mir begehrt haben?«
(G. Freytag: Der Freikorporal bei Markgraf-Albrecht, Kapitel Von Thorn nach Berlin, S.1138)
Freilich, da der Theologe groß ist, hilft es ihm nichts, dass er die protestantische Seite im Soldatenkönig anspricht. Dieser will ihn behalten und lässt ihn nur gehen, als er versprochen hat, sich wieder zum Dienst zu stellen, falls sein Bruder nicht aus seinem Diensturlaub zurückkehrt. Damit beginnt die Geschichte des Edelmuts der Brüder ...

Marcus König

Der Thorner Kaufmann Marcus König hat mit dem Hochmeister des Deutschen Ordens Albrecht von Hohenzollern einen Vertrag geschlossen, wonach der Kaufmann seinen gesamten Besitz dem Hochmeister zu Truppenwerbung zur Verfügung stellt, wenn dieser lieber sein Leben verliert, als für den Deutschen Orden dem polnischen König den Lehnseid zu leisten.
Albrecht wendet sich nach dem Auftreten Luthers der Reformation zu, erklärt sich zum weltlichen Herzog von Preußen und schwört seinem Onkel, dem polnischen König den Lehnseid.
Als der Kaufmann 1530 in Coburg seine Sache Luther vorträgt, argumentiert dieser:

 »Wenn der Herzog Euch gelobt hat, etwas zu tun, was er nach dem Willen Gottes nicht durchsetzen konnte, so war das Gelübde ein Unrecht, nicht die Vereitlung; und der Zorn über den vorschnellen Eid steht dem Herrn zu, nicht Euch. Mein Amt ist nicht, weltklug zu sein, doch muß ich Euch sagen, daß gerade Euer heißer Wunsch für das deutsche Wesen Eurem Haß gegen den Herzog unrecht gibt. Ihr wolltet Eure Heimat unter deutscher Herrschaft sehen, und deshalb wolltet Ihr, daß der Herzog lieber untergehen sollte, als dem Polen huldigen. War's nicht so?«
»So war es, Herr.«
»Nun gebt acht. Gesetzt, der Herzog wäre seinem Versprechen, das er Euch töricht gegeben, so treu nachgekommen, wie Ihr fordert, was hätten wir erlebt? Wäre er Hochmeister und Knecht des Papstes geblieben, so hätten ihn seine eigenen Untertanen verachtet und ausgestoßen, denn wir wissen wohl, daß der ganze Orden zerfiel wie morsches Gestein. Und hätte er bis zum Tode widerstehen wollen, so wäre ihm nichts übriggeblieben, als sich auf der Heide von polnischen Säbeln niederhauen zu lassen. Dann war er tot und seines Gelübdes quitt. Doch was wurde aus dem Ordensland, wenn der letzte Herr wie ein Katzbalger erschlagen war? Es wäre den Polen gänzlich anheimgefallen, kein Hahn hätte darum gekräht; und was Ihr hartnäckig begehret, das wurde nach menschlichem Erkennen für alle Zeit vereitelt. Aber gerade, weil der Herzog erkannte, daß sein Versprechen gegen Euch eine sündige Vermessenheit war, und weil er sich beim Leben und bei der Regierung erhielt, bewahrte er seinem Lande ein deutsches Regiment. Und daß er den geistlichen Stand aufgab und ein weltlicher Herr wurde, verschaffte dem Lande die Hoffnung auf fürstliche Nachkommenschaft und auf ein Herrengeschlecht, welches sich dort behaupten und Euer deutsches Wesen, wie Ihr wollt, für künftige Zeiten bewahren kann. Ihr seht [952] also, das Versprechen, welches Ihr von ihm erhieltet, war nicht nur ein Unrecht vor dem Herrn, die Erfüllung wäre auch nachteilig für das, was Ihr selbst begehrt.« (G. Freytag: Marcus König. Schluss, S.951-952)
Der Roman schließt:
Da klang über den Lauten der Natur die feierliche Stimme des Mannes, in welchem sich die Kraft, die Größe und die Einfalt des deutschen Wesens vereinten wie nie vorher in einem einzelnen Menschen. [...] alle späteren, wohin sie auch der himmlische Landwirt nach dem Bedarf seiner Wirtschaft säte, wurden Dank schuldig für ihre Freiheit und für ihre Frömmigkeit dem Doktor Martinus Luther.G. Freytag: Marcus König. Schluss, S.954)
Der Nationalliberale Gustav Freytag, der 1870 aus dem Reichstag ausschied, weil er Bismarcks Politik nicht mitmachen wollte, schreibt nach der Begründung des Deutschen Reiches einen Roman, in dem er die Gründung des ersten Staates mit dem Namen Preußen durch die damals höchste evangelische Autorität in Deutschland, Martin Luther, rechtfertigen lässt.
Nach Bonifatius ist es diesmal Martin Luther, der einen Angehörigen des Thüringer Geschlechtes, an dessen Familiengeschichte Freytag in "Die Ahnen" die deutsche Geschichte veranschaulichen will, erkennen lässt, dass er einen falschen Weg gegangen ist und dass er seinen Frieden nur findet, wenn er der geistlichen Autorität folgt.
Bei aller Liberalität Freytags zeichnet er hier doch ein bemerkenswertes Bündnis von Thron und Altar.