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30 November 2018

Muss ein Literaturkritiker alle Gedichte Walsers aus dem Jahr 1968 kennen?

In der FAZ kritisiert Metz ein Walser-Gedicht von 1968 so, als ob es von 2018 stammte, nur weil Walser nicht darauf hingewiesen hat, dass er in "Spätdienst" nur eine leicht veränderte Neufassung des Gedichtes von 1968 aufgenommen hat.
War das eine unfaire Falle, die Walser da aufgestellt hat?
Ich danke Iris Radisch in der ZEIT vom 29.11.18, dass ich schon auf dieser Metaebene über den Artikel von Metz reflektieren darf.

Hier die Passage, die Metz aus dem verführerischen Gedicht zitiert:

„Ostern, schönes Feuilleton
Aus Blut und Blüte,
du, das feiern wir!
Statt Golgatha, Verdun und Auschwitz
lassen wir diesmal holzschnitthaft Hué herkommen
und sagen keinem hierzulande nach,
dass er diesen Krieg andauernd billigt,
sagen das nicht der CDU nach,
die diesen Krieg andauernd billigt,
sagen das nicht der SPD nach,
die diesen Krieg andauernd billigt.“

Freilich, dass das Massaker von Hué 1968 stattfand, lässt sich relativ leicht feststellen. Und eine Rede von 1998 zur Interpretation eines Gedichtes von 1968 heranzuziehen, das "geht gar nicht". Dazu reicht auch nicht aus, was Metz zu seiner Rechtfertigung anführt:

"Auschwitz aber ist kein Phänomen, das man in eine Anadiplose einreihen kann. Es ist kein historisches Ereignis, das man auf Knopfdruck herkommen lässt oder wieder abbestellt, wenn es einem gerade nicht passt. Auch nicht, wenn dies nur in einem einzelnen Satz innerhalb eines Buchs geschieht. Und selbst dann nicht, wenn es sich – wie die für die Umschlagrückseite gewählte Bezeichnung „Lebensstenogramme“ nahelegt – um ein historisches Notat etwa aus dem Jahr 1968 handeln sollte, als in Hué von amerikanischen Truppen ein Massaker verübt wurde und CDU und SPD als erste Große Koalition in Bonn regierten. Denn weder musste man das damals schreiben, noch ist jemand dazu gezwungen, diese Formulierung fünfzig Jahre später zu wiederholen."

Offenbar wollte Metz Anstoß nehmen. Denn niemand "muss" ein Gedicht von 1968 aus der Sicht nach 1998 interpretieren. 

27 September 2017

Johnson: Jahrestage 22. September

22. September, 1967    Freitag
– Mrs. Cresspahl? Mrs. Cresspahl! Wie schön, Mrs. Cresspahl. Ich meine: daß wir uns nun telefonisch kennen lernen. Brewster. Ich meine: Mrs. Brewster, die Gattin. Die Gattin von Dr. Brewster. Ist Ihre Tochter da? Sehen Sie, sie ist nicht da. Sie ist unterwegs, sie kommt, aber sie ist nicht bei Ihnen, stimmts? Hier ist sie auch nicht. Sie war hier, ich meine: sie war nicht gleich hier. Sie war erst in der Praxis von Dr. Brewster an der Park Avenue, aber da war nur Miss Gibson, ja wie das Getränk, und ließ den Hausmeister die Geräte einpacken. Miss Gibson war ein bißchen in Tränen, ich wundere mich immer, meinen Mann mögen ganz unglaubliche Leute leiden, [...]

– so ein höfliches Kind, Mrs. Cresspahl ich beglückwünsche Sie, das war gewiß ihr Sonntagskleid, eine richtige Dame, Sie müssen mir die Adresse von der Schule sagen, wissen Sie meine Töchter so auf dem Lande, es kann ja teuer sein, wir denken nämlich an einen Umzug nach New York, Dr. Brewster bleibt mindestens zwei Jahre in Viet Nam, in Danang, oder Danghoi, gibt mir einer eine Landkarte, also Ihr Kind sieht sich um in unserer Suite, das Biltmore gibt mir immer eine Suite, sie hat nach Dr. Brewster gesucht, nicht wahr, und ich erkläre ihr daß wir ihn nach Newark gebracht haben und daß wir nach New York ziehen und ob sie lieber Cola will oder Sprite, es soll ja bessere Tests haben, und Ihre Tochter sieht mich an, wissen Sie, ich saß auf dem Sofa, Ihre Tochter sah mich an, so auf eine stille Art, als ob sie mich versteht in meinem Kummer, als ob sie es mir ansieht, und was soll ich Ihnen sagen Mrs. Cresspahl, sie dreht sich um, auf dem Absatz dreht sie sich um, weg ist sie, ich war noch auf dem Korridor, sie hätte ja bleiben können, so war es nicht gemeint, weg war sie, so ein taktvolles Kind, Mrs. Cresspahl, und so mutig, jetzt am Abend in der Ubahn, ich bin seit zehn Jahren nicht in der Ubahn gewesen, alle diese Betrunkenen und Neger und Ritualmorde, Sie müssen uns besuchen, ich gebe Ihnen meine Nummer, und natürlich darf Ihre Tochter an Dr. Brewster schreiben, die Briefe gehen dann über mich, und ich möchte Sie beglückwünschen zu einer solchen Tochter, ich rufe dann an Mrs. Cresspahl. Mrs. Cresspahl! Mrs. Cresspahl ich sagte nur noch: Besser rufen nicht Sie mich an. Ich rufe dann Sie an. Es war ein Vergnügen. Ich bin entzückt.

Heute will uns die New York Times endlich das letzte Problem im Gemüt von Swetlana Dshugashwili, Darstellungskünstlerin, zur Prüfung vorlegen: Kann, was gut ist, jemals vergessen werden?

22. September, 1967    Freitag
– Mrs. Cresspahl? Mrs. Cresspahl! Wie schön, Mrs. Cresspahl. Ich meine: daß wir uns nun telefonisch kennen lernen. Brewster. Ich meine: Mrs. Brewster, die Gattin. Die Gattin von Dr. Brewster. Ist Ihre Tochter da? Sehen Sie, sie ist nicht da. Sie ist unterwegs, sie kommt, aber sie ist nicht bei Ihnen, stimmts? Hier ist sie auch nicht. Sie war hier, ich meine: sie war nicht gleich hier. Sie war erst in der Praxis von Dr. Brewster an der Park Avenue, aber da war nur Miss Gibson, ja wie das Getränk, und ließ den Hausmeister die Geräte einpacken. Miss Gibson war ein bißchen in Tränen, ich wundere mich immer, meinen Mann mögen ganz unglaubliche Leute leiden, und eine Freundin von ihr hat einen Verlobten, der hat einen Bruder in Viet Nam, der hat ein Foto geschickt, da hat er so eine Kette von abgeschnittenen Ohren von Viet Congs schräg über der Schulter, und ich habe gesagt Unsinn, erstens sind wir eine zivilisierte Nation, und zweitens werden die Viet Cong nicht Rache an Ärzten nehmen, erst recht nicht an meinem Mann, den mögen ganz unglaubliche Leute gern, sagte ich, aber ich war ja nicht da, ich war schon im Biltmore, wir wohnen doch in Greenwich, Connecticut, kennen Sie Greenwich, Mrs. Cresspahl?

Der Außenminister hat seine Tochter einen Neger heiraten lassen, der überdies Leutnant der Luftwaffenreserve ist und sich um Verwendung in Viet Nam beworben hat.

– Sie müssen uns besuchen in Greenwich, natürlich wenn wir unseren Schmerz verwunden haben, zusammen mit Ihrer Tochter, ein Kind das ich behalten würde, so wie sie Miss Gibson getröstet hat und beim Einpacken half und mit einem Mal gegangen war, ein bescheidenes Kind sagt Miss Gibson, Miss Gibson rief hier an, lassen Sie doch das Gespräch durchstellen sagt sie, wir haben nämlich nichts mehr angenommen, ich bin hier mit meinen beiden Töchtern, sieben und neun Jahre, reizende Kinder, Sie müßten sie sehen, wir können es noch gar nicht fassen, Dr. Brewster, ein Arzt und doch so angesehen, wie er in Newark ins Flugzeug stieg, schon ganz Soldat, und übermorgen ist er in San Francisco und im Oktober in Viet Nam, schrecklich, und diese Flüchtlingskinderlager sollen durchaus unhygienisch sein, wenn er sich nun ansteckt, aber das ist eben unser Beitrag, die Pflicht gegenüber dem Vaterland, das muß auch Ihre Tochter verstehen, es kommt eine Patientin, zehn Jahre, sie will ihn noch einmal sehen, Dr. Brewster, vorher: sagt Miss Gibson.

Seit 1961 sind in Viet Nam, ungefähr, insgesamt 13 365 Bürger der U. S. A. in Kampfhandlungen gefallen.

– so ein höfliches Kind, Mrs. Cresspahl ich beglückwünsche Sie, das war gewiß ihr Sonntagskleid, eine richtige Dame, Sie müssen mir die Adresse von der Schule sagen, wissen Sie meine Töchter so auf dem Lande, es kann ja teuer sein, wir denken nämlich an einen Umzug nach New York, Dr. Brewster bleibt mindestens zwei Jahre in Viet Nam, in Danang, oder Danghoi, gibt mir einer eine Landkarte, also Ihr Kind sieht sich um in unserer Suite, das Biltmore gibt mir immer eine Suite, sie hat nach Dr. Brewster gesucht, nicht wahr, und ich erkläre ihr daß wir ihn nach Newark gebracht haben und daß wir nach New York ziehen und ob sie lieber Cola will oder Sprite, es soll ja bessere Tests haben, und Ihre Tochter sieht mich an, wissen Sie, ich saß auf dem Sofa, Ihre Tochter sah mich an, so auf eine stille Art, als ob sie mich versteht in meinem Kummer, als ob sie es mir ansieht, und was soll ich Ihnen sagen Mrs. Cresspahl, sie dreht sich um, auf dem Absatz dreht sie sich um, weg ist sie, ich war noch auf dem Korridor, sie hätte ja bleiben können, so war es nicht gemeint, weg war sie, so ein taktvolles Kind, Mrs. Cresspahl, und so mutig, jetzt am Abend in der Ubahn, ich bin seit zehn Jahren nicht in der Ubahn gewesen, alle diese Betrunkenen und Neger und Ritualmorde, Sie müssen uns besuchen, ich gebe Ihnen meine Nummer, und natürlich darf Ihre Tochter an Dr. Brewster schreiben, die Briefe gehen dann über mich, und ich möchte Sie beglückwünschen zu einer solchen Tochter, ich rufe dann an Mrs. Cresspahl. Mrs. Cresspahl! Mrs. Cresspahl ich sagte nur noch: Besser rufen nicht Sie mich an. Ich rufe dann Sie an. Es war ein Vergnügen. Ich bin entzückt.

Heute will uns die New York Times endlich das letzte Problem im Gemüt von Swetlana Dshugashwili, Darstellungskünstlerin, zur Prüfung vorlegen: Kann, was gut ist, jemals vergessen werden? (22.9.1967)

»Ich hatte in der Zwischenzeit einen Besuch in den Vereinigten Staaten von Amerika gemacht und muß meinen Gastgebern sehr danken dafür, daß sie meinen Aufenthalt für länger nötig hielten als bloß für drei Wochen, denn ich verfiel damals, 1961, in den üblichen Fehler, begriff in der ersten Woche gar nichts, in der zweiten Woche fast alles, und war am Ende der dritten Woche sicher, die ganze Sache Amerika, jedenfalls Nordamerika, in der Tasche zu haben. Das ist jener Zeitpunkt, in dem die Leute für gewöhnlich ihr Amerika-Buch schreiben – oder zumindest ihre Amerika-Erzählungen. Ich durfte also länger bleiben und mir den Eindruck erwerben, daß dieses Land überhaupt nicht zu begreifen ist.« (Uwe Johnson)

Ich danke dem Suhrkamp-Verlag, der mir über (jahrestage@suhrkamp.de über mail7.suw11.mcdlv.net) die ersten Tage der Jahrestage zugesandt hat.
Ich habe das benutzt, um daraus eine kleine Einführung in diesen vierbändigen Roman 
(1892 S.) zu gestalten. Der Verlag teilt mit "Aufgrund des großen Erfolgs dieser Jubiläumsaktion ist der Jahrestage-Schuber derzeit leider vergriffen." 
Ich habe meinerseits  wieder meine Ausgabe konsultiert, mir wieder eine Reihe von Fernsehsendungen, die ich früher aufgenommen habe, und Bernd Neumanns Biographie "Uwe Johnson" vorgenommen und dankbar auf Rolf Michaels "Kleines Adressbuch" zu den Jahrestagen sowie Johnsons "Begleitumstände" zurückgegriffen.
Hinweisen darf ich außer auf den Wikipediaartikel auch auf den Artikel im ZUM-Wiki zu Uwe Johnson, wo dessen Hommage an Fontanes Schach von Wuthenow vorgestellt wird. 
Hier geht's zur Umfrage des Suhrkamp Verlags zum Jahrestage-Abo. 

Dem Suhrkamp Verlag verdanke ich auch den Hinweis auf  Manfred Bierwischs Erinnerungen bei Youtube. 
Außerdem möchte ich auf Johnsons Kurzbiographie und den Kurzfilm anlässlich Johnsons 80. Geburtstag bei Youtube aufmerksam machen.

Die FAZ bietet an:  Die Woche mit Frau Cresspahl

Lektüreblog zu „Jahrestage“ von Uwe Johnson

20 September 2017

Dieser Sommer ist vorüber. (Johnson: Jahrestage 15. September 1967)

15. September, 1967    Freitag
Dieser Sommer ist vorüber.
In der letzten Woche sind in Viet Nam 2376 Menschen beruflich am Krieg gestorben. Gestern bestritten die Sowjets, daß sie einen ihrer Schriftsteller im Arbeitslager mißhandeln. Die Lehrer der öffentlichen Schulen streiken weiter. Südkorea will einen Zaun aus Draht und Elektronik an seiner Nordgrenze errichten. [...] Bei der Siegesparade auf dem Riverside Drive ging Marie neben Rebecca Ferwalter am Rande einer Reihe, als gehörte sie hinein, nicht im blauweißen Aufzug, aber winkend mit einem Fähnchen, dem Davidsstern. [...] Dieser Sommer ist vorüber. In diesem Sommer ist der milliardenfache Revolutionsgewinner Tschombe nach Algerien entführt worden, und seine ehemaligen Freunde schärfen das Fallbeil. In diesem Sommer begann der 33. militärische Konflikt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, [...] Dieser Sommer ist vorüber, das ist unsere zukünftige Vergangenheit, das sind unsere Lebenserwartungen. Aber noch unter dem Broadway, auf dem Bahnhof 86. Straße, auf dessen Mittelgleisen ein Expreß donnernd nach Norden durchfährt, sehen wir auf die erstarrten, blicklosen Leute in den ruckenden Fenstern des Zuges und ängstigen uns davor, einmal nicht mehr zu ihnen zu gehören, vor einer Zukunft, da wir nur noch mit dem Heimweh leben könnten in New York.(15.9.1967)