Posts mit dem Label DDR werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label DDR werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

29 Oktober 2023

Steffen Mau: Lütten Klein Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft

  Steffen Mau: Lütten Klein Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Suhrkamp 2019

dazu auch: Youtube Interview

Einleitung, S.11 ff.

"Gab es in der Frühphase beachtliche Aufstiegsmobilität, so war die späte DDR durch eine starre Sozialstruktur und zunehmend verstopfte Pfade in die höheren Positionen gekennzeichnet. Sie war zudem eine eingekapselte und ethnisch homogene Gesellschaft, die kaum Erfahrung mit Zuwanderung gemacht hatte. [...]

Zudem fand sich die DDR-Bevölkerung über Nacht auf den unteren Rängen der gesamtdeutschen Hierarchie wieder und unterschichtete die westdeutsche Gesellschaft. Deklassierungs- und Entmündigungserfahrungen waren an der Tagesordnung, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem man gerade zum ersten Mal die beglückende Erfahrung kollektiver Handlungsfähigkeit gemacht hatte. Es gab einen massiven Elitentransfair von West nach Ost – eine Überschichtung –, die wichtigsten Schaltstellen der ostdeutschen Teilgesellschaft wurden mit neuen, importierten Eliten besetzt." (S.15)

Lütten Klein (der Name stammt aus dem wendischen und bedeutet kleiner Ahorn,) ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin: [...] (S. 18)

1. Leben in der DDR, S.25 ff.

"Christoph Weinhold, der 1966 während seines Architekturstudiums als Praktikant nach Rostock kam, blieb und später, nach der Wende, Architekt der Hansestadt werden sollte, war einer der Planer der Neubauten im Nordwesten Rostocks. Lütten Klein hatte, so seine Einschätzung, "eine besondere Position im Kanon der Entwicklung des Städtebaus, gehörte es doch vom Planungsansatz und von der räumlichen Dimensionen her mit Hoyerswerda, Eisenhüttenstadt und Schwedt zu den ersten großen, durch Arbeitskräftekonzentration hervorgerufenen Stadt- und Stadtteilplanungen." Das Vorhaben wurde auch in den anderen sozialistischen Ländern aufmerksam zur Kenntnis genommen und fand Eingang in zahlreiche Standardwerke zur sozialistischen Baukultur. Im Vergleich zu vielen Altbauten, die auf dem technischen Standard der Jahrhundertwende verharrten, war die Wohnqualität hier von "konkurrenzlose(r) Attraktivität. Die Wohnungen gelten als komfortabel, da sie mit Fernwärme und nicht/mit Kohlöfen beheizt wurden, warmes Wasser aus den Hähnen kam und alle lebensnotwendigen Infrastrukturen vor Ort vorhanden waren." (S.27/28)

Die "Platte" versammelte alle Schichten, alle Berufsgruppen und stellte durch die standardisierten Lebenslagen und die geringe Varianz der Lebensformen Kohäsion zwischen unterschiedlichen sozialen Fraktionen her. Sie beseitigte Trennungslinien zwischen akademisch Qualifizierten, Facharbeitern, Angestellten sowie Un- und Angelernten und schuf an schichtenübergreifendes respektables soziales Milieu.

Unsere Nachbarn im Hochhaus waren Diplom-Ingenieurinnen, Bäcker, Stahlschiffbauer, Lehrerinnen, Straßenbahnschaffner, Opernsänger, Sprachwissenschaftlerinnen, Seemänner, Sparkassenangestellte, Bauzeichnerinnen, NVA-Offiziere. Selbst Universitätsprofessoren, das Leitungspersonal sozialistischer Betriebe und höre Politfunktionäre wohnten bei uns im Viertel. So konnte man – ohne dass dies in irgendeiner Weise als falsche Fraternisierung mit dem Volk der Werktätigen angesehen worden wäre - den Direktor einer Rostocker Werft aus einem Plattenbau herauskommen und in einen dunkelblauen Wolga mit Chauffeur einsteigen sehen." (S. 37)

Die Wohnraumbewirtschaftung unterlag politischen Maßgaben und keine ökonomischen Regulierung über den Mietpreis oder einen Markt. Quadratmeter Preise von 80 kündigen bis 1,20 DM der DDR und Energiepreise, die deutlich unter den Erzeugungskosten lagen/bedeuteten dass die DDR ihre Muster viertel heftig subventionieren musste. Die Furcht, bei einer Anhebung der Preise und eine Annäherung an die realen Kosten von den Bürgern abgestraft zu werden, war zu groß. Dafür klopfte man sich oft und gerne auf die Schulter. In der Ostsee Zeitung, dem SED Blatt des Bezirks Rostock, war im August des Jahres 1989 folgender Lobgesang auf die niedrigen Mieten zu lesen:

Für die Bürger der Republik ist es von großer Bedeutung und ein Markenzeichen sozialistischer Wohnungspolitik, dass sie seit mehr als 40 Jahren stabil sind. Etwa 3 % vom netto Einkommen eines Arbeiter – und Angestellten Haushalt werden dafür verausgabt. Die Mieten decken rund ein Drittel der Bewirtschaftungskosten, die anderen zwei drittel werden Tim Staatshaushalt finanziert. Zwischenraum der Vollständigkeit halber und nicht wegen der Polemik sei angemerkt, dass der Anteil der im Wohnungsmieten an Familieneinkommen in der BR D bis zu 50 % beträgt [...]. Seite 37/38

Die in den Neubaugebieten Stein gewordene Wohnungspolitik der DDR verschrieb sich einem Leitbild, dass auf Vereinheitlichung setzte. Damit wurde ein städtebaulich verankert es Bezugssystem für die durch die Bürger zu erfüllenden gesellschaftlichen Rollen geschaffen, dass auf zusammenfügen und Konformismus, nicht auf aus Differenzierung und Individualisierung ausgerichtet war. Zwischenraum die größeren Betriebe waren in dem Wohnviertel präsent Zwischenraum auch andere staatlich Mandat kollektive wie Eltern Kollektiv in der Schule bis hin zur Hausgemeinschaft – waren fester Bestandteil des Alltagslebens. Die fungierten als erweiterte Sozialisationsagenturen, die auf die Einbindung der Menschen achteten und/das Leben jenseits der Arbeit nahezu konkurrenzlos bewirtschafteten. In den Häusern wurden Verantwortliche gewählt, es gab ein Hausbuch, in das sich Bewohner und Gäste eintragen mussten, die Flurwoche war üblich.[...]" (S. 38/39)

"Das Umpflanzen einer großen Zahl von Menschen in die sozialistischen Wohnkomplexe sollte auch die aus den Herkunftskontexten mitgebrachten Verhaltensweisen und Eigensinnigkeiten zurückdrängen. Von dieser Sozialökologie des Wohnens versprach man sich nicht weniger als einen Persönlichkeitswandel, der jeden einzelnen auf seine gesellschaftliche Rolle festgelegte und damit einen mehr oder weniger freiwilligen Verzicht auf Extravaganzen und Widerspruch bestärkte, so dass sich staatliche Nachstellungen und die Drohkulisse der Sicherheitsorgane vielleicht nicht erübrigten, aber doch weniger notwendig erschienen." (S. 40)

"Die Unterschiede in den Wohnformen waren zunächst äußerlich, aber es gab auch etwas im Habitus der Bewohner, dass die Altbaumenschen von uns unterschied. Dazu trug sicher auch die soziale Selektivität derer bei, die sich vorstellen konnten, in einem auf der grünen Wiese aus dem Boden gestampften Neubauviertel zu leben. In der Altstadt wohnten in der Mehrzahl ältere Leute, Studierende und die Reste des Bürgertums. Richtige Bürgerkinder aus der Innenstadt traf ich erst als ich anfing, als Jugendlicher ins Volkstheater Rostock zu gehen und dort am Jugendklub teilzunehmen. Allerdings war das "Refugiumsbürgertum", das man an den Elbhängen Dresdens oder in einigen Teilen Berlins besichtigen konnte, in der Hafenstadt Rostock trotz langer Universitätstradition eine allenfalls randständige und kleine Gruppe. [...] Das gesellschaftliche Modell der Plattenbausiedlung zielte auf die soziale kulturelle Integration der Werktätigen, ihr sozialer Ertrag bestand in der Schaffung respektabler und selbstbewusster Milieus, in denen soziale und auch kulturelle Unterschiede weitgehend abgemildert waren." (S.42)

"Fragt man ehemalige DDR – Bürger heute, welcher sozialen Errungenschaft sie nachtrauern, so nennen viele die im Vergleich zur Bundesrepublik geringere soziale Ungleichheit. Zwar findet man kaum jemanden, der sich für ein System der absoluten Gleichheit ausspricht, aber ein engeres bei bei einander stehen der sozialen Gruppen und eine relative Gleichheit der Lebensverhältnisse werden als positiv empfunden. Zwischenraum die DDR hat zwar nicht die klassenlose Gesellschaft eingeführt, sich aber doch daran gemacht, gravierende materielle Ungleichheiten zu beseitigen."    (S. 43)

"Die Erinnerung an die DDR-Gesellschaft trügt allerdings nicht vollends, auch wenn sie nur einen Teil der Verhältnisse spiegeln mag. In der DDR spielte die normative Selbstbindung an gesellschaftliche Gleichheitsziele eine große Rolle, der erreichte Grad an sozialer Egalität galt sogar als Fortschrittsmaß der sozialistischen Gesellschaft. Die DDR hat zwar nicht die klassenlose Gesellschaft eingeführt, sich aber doch daran gemacht, gravierende materielle Ungleichheiten zu beseitigen. Die Enteignungswellen in der sowjetischen Besatzungszone und in den ersten Jahren der DDR, die Verstaatlichung großer Bereiche /sowie die begrenzten Möglichkeiten der Vermögensbildung wirkten der Entstehung von Besitzklassen im Sinne des Soziologen Max Weber entgegen. Das Eigentum an Immobilien, Luxusgütern oder Produktionsmitteln war kein hervorstechendes gesellschaftliches Differenzierungskriterium, dass eine Statusordnung begründet hätte. Als privilegiert galten diejenigen, denen ein Häuschen an der Ostsee gehörte oder zugeschanzt wurde. Wer sich jedoch von anderen absetzen wollte, wurde schnell mit Konsumengpässen konfrontiert, dem uniformen Angebot und der  begrenzten Produktpalette. In wichtigen Bereichen, etwa im Wohnungswesen, beim Zugang zur Urlaubsplätzen oder bei der Bildung, spielte Geld nur eine untergeordnete Rolle und wurde von anderen, eher politischen Distributionsmodi überlagert. Was in der Erinnerung als Gesellschaft der Gleichen erscheint, war eine nach unten hin nivellierte Gesellschaft." (S. 43/44)

"Gerade weil viele Mitglieder des Führungszirkel selbst als einfachen Milieus stammten, versuchten sie, den Anschein eines gesellschaftlichen Gefälle zu vermeiden, und verknappten den Zugang zu Hörer Bildung und hören Qualifikationen. Gegen den internationalen Trend kräuselte die DDR den Ausbau von erweiterten Oberschule und Universitäten." (S. 53)












ABF  Die Aula






























"Alltagskulturell blieb die Funktionskaste im Grunde ihrem Herkunftsmilieu verbunden: Sie war zwar machtstark, aber kulturarm.". (S. 65)

2. TransformationenS.113 ff.

Zusammenbruch und Übergang, S.113 ff

Endlichkeit einer Gesellschaftsform S.113 ff

"Albert O.. Hirschman [...] hat drei Strategien unterschieden, wie Menschen reagieren, wenn sie mit einem System nicht länger zufrieden sind: exit (Abwanderung), voice (Widerspruch) und loyalty (Loyalität). Zwar übte sich zunächst nur ein kleiner Teil der DDR-Bürger in aktiver Opposition, aber die Bereitschaft, Unzufriedenheit und Zweifel zu äußern (voice) nahm insgesamt doch zu. Im Sommer 1989 begann dann die Flucht und Ausreisewelle über Ungarn und die Prager Botschaft (exit), doch auch sie bremste den erwachenden Widerspruchsgeist nicht spürbar ab. [...] Die Massenloyalität schmolz rapide dahin, das System reagierte zunächst mit einer Mischung aus barscher Gegenwehr und rhetorische Überhöhung gesellschaftspolitischer Fernziele, dann mit Zugeständnissen und Reformversprechen. Allerdings verschliss sich diese Melange nach und nach. (S. 116)

Zerfallserscheinungen (S.117 ff.)

"[S.118: ]Ab einem gewissen Punkt hatten dann viele das Gefühl, es sei tatsächlich möglich, der Führung durch einen stummen Protestzug durch die Innenstadt Zugeständnisse abzuringen. .Dieses – für jeden Soziologen spannende – Kippen von Einschüchterung und Anpassung zu offenen Widerspruch erlebte ich als NVA-Soldat im Grundwehrdienst in der Werder Kaserne in Schwerin hautnah mit. ...
















Fotos: S.S.118/119


"[...]Was die eigentlich risikoaversen DDR-Bürger trieb, war dabei weniger die Lust am Untergang als vielmehr die Hoffnung auf Veränderung. Das Umschlagen subjektiver Ohnmacht in kollektive Handlungsmacht hatte etwas Berauschendes – so habe ich es damals empfunden und so muss es vielen, vor allen den Jüngeren gegangen sein, selbst wenn sie nicht zur Opposition zählten. War bislang alles starr und vorherbestimmt, hatten die versteinerten Verhältnisse, mit Marx gesprochen nun plötzlich zu tanzen begonnen." (Steffen Mau: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Suhrkamp 2019, S.121)

2. Blaupause West, S.133 ff.

Der Organisierungsgrad der Parteien war weit geringer als im Westen. "Einzig die Linkspartei war mit einem festen Wählerstamm im Osten von Anbeginn verankert, wobei die Mitglieder Basis durch das Wegsterben der Älteren immer schmaler wird. Die AfD beginnt seit einiger Zeit, mehr und mehr Mitglieder einzusammeln – Ende 2018 waren es in Mecklenburg-Vorpommern schon über 750, die angegebene Zielmarke ist 1000. Schaut man auf die Ergebnisse der letzten Europawahl im Mai 2019, scheint die AfD auf dem Weg zur ostdeutschen Regionalpartei, die die traditionellen Volksparteien zum Teil überholt." (S.145) [Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen 2023 zeigten freilich auch im Westen in dieselbe Richtung.]

"Die Wiedervereinigung steht, so gesehen, für eine Unternutzung des demokratischen Potenzials der friedlichen Protestbewegung und für eine Übernutzung des nutz nationalen Potenzials politische Mobilisierung. Den Lohn ehemaligen DDR Bürgern wurde zu verstehen gegeben, dass ich ihre Stellung und ihr Status vor allem vom Deutsch – sein ableitet und nicht auf ein Republikanisches Verständnis der Mitglieder schafft zurückgeht. Angesichts des Verlustes der Heimat DDR und der gleichzeitigen kulturell – politischen Entwertung dieser Identitätsressourcen nimmt es nicht Wunder, dass ich viele ostdeutsche bereitwillig auf dieses neue Identitätsangebot einlesen. Die DDR war keinesfalls frei von nationalen Anwandlungen, im Prozess der Vereinigung wurden diese Leidenschaften aber weiter versiert und identitätspolitisch aufgeladen (S. 149)

3. Vermarktlichung S.150 ff.
Allein von 1989 auf 1990 brach die Industrieproduktion der DDR um über vierzig Prozent ein, weil im Osten die Märkte wegfielen und/man gegenüber dem Westen nicht konkurrenzfähig war: die ersten Entlassungswellen trafen die Menschen aus heiterem Himmel. [...] Von den im Jahr 1989 Erwerbstätigen arbeiteten vier Jahre später gut zwei Drittel nicht mehr im ursprünglichen Beruf, bei Personen auf den höheren Leitungspositionen waren es neunzig Prozent. Arbeitslosigkeit wurde binnen kürzester Zeit zum ostdeutschen Kollektivschicksal, wobei die Folgen weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinausgingen. In praktisch jeder Familie musste(n) ein oder gar mehrere Mitglieder zu Hause bleiben, die urplötzlich nichts mehr mit sich anzufangen wussten und darauf warteten, dass die Gesellschaft ihnen ein Angebot machen würde. [...] Die im Westen nicht unumstrittene Eingliederung der ehemaligen DDR-Bürger in die bundesdeutschen Sozialsysteme war das Palliativ, um den Schmerz des Absturzes einigermaßen zu lindern." (S. 151)
"In den Folgejahren kam es in ganz Ostdeutschland im Zeitraffer zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit bis auf Höchstwerte von über 20 Prozent. Vierzig aller Beschäftigten waren bis 1996 mindestens einmal arbeitslos. Die Frauen waren davon noch deutlich stärker betroffen als die Männer, was auch damit zu tun hatte, dass sie häufig in Sektoren arbeiteten, in denen der Strukturwandel besonders stark zuschlug: [...] Begleitet wurde die krankmachende Gesundschrumpfung durch eine ganze Reihe arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, die für Ostbiografien als typisch gelten können: Vorruhestand, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulungen und Kurzarbeit machten aus ehemaligen Werktätigen Kostgänger des Sozialstaates, die nun am Tropf öffentlicher Zuwendungen hingen. Nicht umsonst hat man die ostdeutschen als 'Pioniere der Prekarität' bezeichnet." (S.153)

"Die vielbeschworene Individualisierung ging in Ostdeutschland mit sozialer Separierung ein her. Freundeskreise zerrissen, Familienbande lockerten sich, Bildungskarrieren entwickelten sich auseinander, die Nähe des Wohnens wurde aufgehoben. Konkret stellten sich Fragen wie: Wer in meinem Freundeskreis kann sich den Restaurantbesuch oder eine gemeinsame Urlaubsreise leisten? Die formierte und auf einheitlich getrimmte Gesellschaft wurde fragmentierter, was auch bedeutete, dass die Individuen aufgefordert waren, sich in einer unübersichtlicher werdenden Statuslandschaft zu neu zu verordnen. [...] 
Wer gehofft hatte, nach dem Ende der DDR-typischen politisierten Verteilung von Positionen und Ressourcen würden nunmehr meritokratische Prinzipien einziehen, wurde enttäuscht. Statt Qualifikation und Leistungsbereitschaft waren es kontingente Umstände, die die Post-Wende-Biografien dirigierten: der richtige Ort, die richtige Zeit oder die richtigen Kontakte. Meine Mutter konnte sich in den Räumlichkeiten ihrer alten Poliklinik als Kassenärztin niederlassen. Dafür musste sie zwar mit über fünfzig Unternehmerin werden und Kredite schultern, / aber die Arbeit blieb ihr erhalten. So half den einen das Quäntchen Glück, andere gerieten in die Teufelsmühle von Jobverlust, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulung." (S.159/160)

Unterschichtung, Überschichtung, S.166
Statusbedingte Deklassierung
Aufstieg für alle?  (S.169ff.)
Nach 1989 wurden die Mobilitätsblockaden der ostdeutschen Gesellschaft also nicht aufgelöst, sondern vertieft. Statt auszuheilen, ist die Erstarrung mit einem weiteren Bruch überlagert worden, der auch die nachfolgenden Kohorten einschränkt. In Bezug auf die erneute Aushärtung nach der Wende ist von sozialstruktureller Petrifikation oder Versteinerung gesprochen worden. Man kann das aber auch anhand des Spiels 'Reise nach Jerusalem' veranschaulichen: Nachdem es jahrzehntelang kaum Bewegung gegeben atte und alle an ihren Stühlen klebten, spielte plötzlich die Musik. Manche sprangen beherzt auf, doch viele wurden, ob sie wollten oder nicht, hochgerissen. Doch bevor es so richtig losging, verstummte die Musik wieder. Nun fehlte allerdings nicht nur ein Stuhl sondern gleich mehrere, so dass für viele kein Platz mehr war." (S.172)

29 März 2023

Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.

Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.

Wikipedia:

Die Ortschaft[A 2], in der sich die Erzählerin und Christa T. im November 1943 in der Schule kennenlernen, liegt zwei Fahrstunden von Berlin entfernt. Beyersdorf und Altensorge sind Nachbarorte. Christa T., Tochter eines Dorfschullehrers, kommt aus dem knapp 50 Kilometer entfernten Eichholz bei Friedeberg[A 3]. Die jungen Mädchen in der Klasse stehen auch nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 treu zu Adolf Hitler.[A 4]

Die Erzählerin und Christa T. verlieren sich 1945 aus den Augen, begegnen sich jedoch 1952 an der Uni Leipzig beim Pädagogikstudium[A 5] wieder. Umdenken ist angesagt; neue Namen stehen auf den Broschüren: Gorki und Makarenko. Christa T. liest Dostojewski und schreibt. Schreibend auf dem „Weg zu sich selbst“[7] entdeckt und behauptet sie sich; nähert sich den Dingen.[8] Während des mehrjährigen Lehrerstudiums in Leipzig verlässt Christa T., die als wirklichkeitsfremd gilt, mitunter – unruhig geworden[A 6] – ihre Kommilitonen, kommt aber stets wieder zurück. Dem Wunsch der Eltern, die Stelle ihres Vaters zu übernehmen, folgt sie nicht. In den Leipziger Jahren malen sich die künftigen Pädagogen ihre Paradiese aus – gleichviel ob mit Gas oder Atomstrom beheizt, es sind ihre Refugien, es ist ihre Sache.[9] Mit den Jahren verflüchtigen sich die Luftschlösser. Der Streit über die Ausgestaltung der Utopien geht in einstimmigen Chorgesang über.[10]

Am 22. Mai 1954 beendet Christa T. ihr Studium. In Leipzig hatte sie Justus, einen Veterinär, kennengelernt, den sie 1956 heiratet. Im selben Jahr wird ihre Tochter Anna geboren. Manchmal sucht Justus seine Verwandten in Westdeutschland auf. In der siebenjährigen Ehe kommen noch zwei Kinder zur Welt. Des Öfteren fahren Justus und Christa T. gemeinsam über Land. Für ihre Skizzen „Rund um den See“ lässt sich Christa T. von den Bauern Geschichten erzählen. Später beschließt das Paar, auf dem Land zu bleiben, wo Justus als Tierarzt tätig ist. Das Ehepaar baut ein Haus, einsam gelegen, auf einer kleinen Anhöhe am See. Bauen bedeutet in der DDR für Intelligenzler ohne „Beziehungen“ eine beträchtliche Kraftanstrengung. Die Ehe ist glücklich; nur einmal erlaubt sich Christa T. einen Seitensprung mit einem Jagdfreund von Justus. Der Gehörnte schafft das Problem aus der Welt, indem er seine Frau ein weiteres Mal schwängert.

Christa T. schluckt Unmengen Prednison gegen Leukämie. Auf den Tod an Panmyelophise erkrankt, bringt Christa T. im Herbst 1962 ihr drittes Kind, ein Mädchen, zur Welt. Im darauf folgenden Februar stirbt sie.

Christa Wolf und Christa T. (G. Gauss)

In den Schlussüberlegungen meint Wolf, 1993 dass hilfreiche Veränderungen nur von unten kommen können und fügt hinzu: Das hat etwas mit Verzicht zu tun.

Wortprotokoll:

Wolf: [...] Ich meine, es könnte sich vielleicht etwas ändern, nur würde das, wie ich es jetzt sehe, wahrscheinlich nicht wieder von einer Idee oder Ideologie ausgehen, was ich mir auch gar nicht wünschen würde, sondern das könnte eigentlich nur von unten kommen, aus den Verhältnissen der Leute und ihrem Ungenügen daran. Es könnte nur etwas Praktisches sein, vielleicht ganz klein anfangend, praktische Versuche, die das Miteinanderleben der Menschen betreffen, nach und nach vielleicht größeren Umfang annehmen könnten. Nur so kann ich das sehen.

Gaus: Ist dies die Hoffnung, oder gibt es eine andere Hoffnung, die Sie nicht aufgegeben haben?

Wolf: Ich habe manchmal wenig Hoffnung, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass die jüngeren Menschen, die jetzt nachwachsen und die doch leben wollen, dass die nicht imstande sein sollen, dem zerstörerischen und selbstzerstörerischen Drang, der im Moment die Menschheit zu beherrschen scheint, in den Arm zu fallen. Natürlich ist das furchtbar schwer, weil das eine ganz grundlegende Änderung der Bedürfnisse bedeutet, der falschen Bedürfnisse, die jetzt auf falsche Weise befriedigt werden. Eine Änderung dieser Bedürfnisse hatte ich mir vom Sozialismus erhofft. Und genau das hat er ganz und gar nicht geleistet und nicht leisten können; er hat das Gegenteil getan. Die Frage ist, ob es irgendeine Chance gibt – von unten her, von zunächst kleinen Gruppen, und vielleicht ausgehend von der großen Gefahr, die dann die Menschen doch sehen mögen –, so etwas nach und nach zu tun. Das hängt sehr viel mit Verzicht zusammen. [Hervorhebung von Fontanefan - Diese Aussage scheint mir besonders im Zusammenhang mit einer Umstellung von Wirtschaft auf Klimaneutralität aktuell. Wobei Wolf 1993 nicht ahnen konnte, in welcher spezifischen Weise sie heute aktuell ist.]

Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W.

 Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W.





>



























Wertherzitate

Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden.  

 Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. 

 Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.



 


22 Juli 2021

Erich Loest: Nikolaikirche

 Erich LoestNikolaikirche

Meine Notizen nach der Lektüre (17.4.1998) :

- anonymer Brief zeigt den moralischen Unterschied zwischen Bleibenden u. Protestierenden einerseits und Fliehenden, Ausreisewilligen andererseits, allerdings überspitzt zuungunsten der Ausreisewilligen. - moralisch ist das Verhalten der Angepaßten bei kritisch Angepaßten in unserer Gesellschaft angesiedelt zwischen: Karrieristen in der SED,  Mitläufern in der SED u. informellen Mitarbeitern Ausreisewilligen, wenn man allein die Opferbereitschaft zum Kriterium nimmt. Das Verhalten der Friedensgebetler ist am ehesten Greenpeace-Aktivisten bei uns zu vergleichen: Erkannt haben, was falsch ist und unter persönlichen Opfern etwas dagegen tun. - 

Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die DDR ganz andere Mittel eingesetzt hat. Der Karrierist mußte also weit schlimmere Mittel akzeptieren als in unserem Staat. Allerdings läuft auch bei uns einiges schief. Wenn man nicht politisch mit hohem Engagement dagegen arbeitet, ... {Regimekritiker, die bleiben, vgl. Bonhoeffer, Ausreisewillige mit Emigranten - freilich wieder ein unterschiedlich grausames Regime) Haltung zur Politik: Idealismus: Ziele billigend, unbeabsichtigte Folgen übersehend Realismus: Ziele billigend, Folgen in Kauf nehmend moralischer Rigorist: Ziele heiligen keinerlei problematische Folgen 

Urteil heute (22.7.21): Atmosphärisch sehr überzeugend.

"zugeführt" (S.213) offenbar DDR-Deutsch für "festgenommen"

Episode, wo sie zu viert unterwegs sind und Jörg filmt. Kurzfristige Festnahme, Sorge, doch der Film zeigt keinerlei sowjetische Militäranlage. Sie erhalten ihn aber nicht wieder. Er sei beim Entwickeln von ungeübtem Personal versehentlich "verdorben worden" (S.215)

09 Juni 2020

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder

Wo es Schulze gelingt, Sympathie für den monomanischen Antiquar zu wecken, ist es großartig und hilft es zum Verständnis von Susanne Dagen, deren Kreis sich Uwe Tellkamp zugeneigt hat. Da zeigt sich bei Schulze wie andererseits bei Johnson, dass die Zuordnung zu "Erklärer der DDR-Psyche" eine wichtige Funktion des Autors trifft, obwohl beide damit in eine Schublade eingeordnet werden, für die sie viel zu groß sind. 
Auf Seite 99, wo er nicht an der sanften Revolution von 1989 teilnimmt, habe ich das Buch erst einmal auf die Seite gelegt. Der Blick in Rezensionen bestätigt mir, dass es eine passende Stelle war. Großartig ist noch einmal die Darstellung der Geschichtsvergessenheit, mit der zusammen mit einseitig Ideologischem auch eine Unmenge wertvoller Beispiele hervorragender Editionstätigkeit auf die Müllhalde geworfen wurden, um die westdeutschen Verlage nicht einer Billigkonkurrenz auszusetzen. (Ein Parallelbeispiel zu der Abwicklung von Betrieben, die mehr wert waren, als die eine Mark, für die sie gekauft wurden.)

Doch die Teile 2 und 3 des Romans, so gut sie sich lesen, fallen doch stark ab.
Freilich, meine persönliche Abneigung gegen Whodunit-Spannung und der Ergründung der Psychologie von Mördern mag dabei eine Rolle spielen. 

Wenn Cornelia Geissler in der FR vom 4.3.2020 formuliert: "Der Roman lässt - getreu dem Motto - anfangs nicht ahnen, in welchem Maße er die Leser am Ende mit Fragen beunruhigt", so muss ich gestehen: Die Frage nach den Mördern interessiert mich nicht. 

Die Frage, die sie vorher nennt: "Wie konnte die gewonnene Freiheit viele Menschen im Osten zu einer Haltung führen, die Unfreiheit für andere fordert?", interessiert mich eher,  insbesondere die Frage: Wie können Autoren wie Tellkamp, die DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld und Cora Stephan zu der Aussage kommen: „Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.“ (15.3.2018(Sächsische Zeitung 17.3.2018)
Diese Frage wird für mich aber durch den Whodunit-Schluss verdeckt. 

Was Cornelia Geissler auf die Formel bringt, eine Haltung, "die Unfreiheit für andere fordert" (Fluchtabwehr), ist nämlich zu vereinfacht gestellt.

Zum historisch-politischen Hintergrund:
Susanne Dagen Leiterin des Kulturhauses Loschwitz
https://www.dnn.de/Nachrichten/Kultur/Regional/Lingnerpodium-Meinungsgraeben-muessen-kein-Unglueck-sein

Das Massenunglück, das zur Flucht der vielen führt, die traumatisiert in Europa ankommen:
Verelendung: Fluchtgründe, Beispiele für die Situation in einzelnen Ländern
Fluchtwege
Traumatisierung: Flüchtlingsschicksale 
Gründe für Fluchtabwehr: Münkler: Die neuen Deutschen


16 Juli 2019

Barbara Honigmann: Georg

 "zugewandt und zugleich dezent [...] obgleich sie ihm selbst als Kind oft unverständig gegenüberstand" (Hanna Engelmeier in der taz) schreibt Honigmann über ihren Vater Georg (Perlentaucher).
"Wie Honigmann ihren Vater frei von Sentimentalitäten in den Griff bekommt, hat den Rezensenten [Lothar Müller in der SZ) beeindruckt."

Er lebte in einer Wohnung, wo die Toilette nicht mehr auf dem Treppenabsatz war, wohl aber das einzige Telefon des Hauses im Besitz der Hauswirtin war, der er beim Einzug hatte unterschreiben müssen, dass seine Gäste keinen Krach machen. 
Ich selbst habe zwar Jahrzehnte ohne Telefon gelebt, aber diese Verhältnisse nur als Besucher kennengelernt und in den 60er Jahren vornehmlich in der DDR, wo es galt, sich beim Hauswirt im Hausbuch einzutragen, bis man das beim Rat des Kreises zu erledigen hatte.
Mein Sohn schrieb dann in den 80er-Jahren ins Gästebuch meines Vetters "die DDR mit Gänsefüßchen" (weil er sie aus der Hörzu so kannte). Das waren die Zeiten, als ich die Besuche von der "Nationalen Front", die ich als Besucher meiner Tante des öfteren erhalten hatte, schon als Anwerbungsversuch als IM zu interpretieren gelernt hatte. 
Doch auch als ich im Zug der Studentenbewegung meine Zweifel an der Vorbildlichkeit der BRD*-Demokratie entwickelt hatte, war ich offenbar keiner energischeren Annäherung samt Erpressung wert.

Die Verwendung der Abkürzung BRD in Arbeitsmaterialien für Schüler wurde 1977 in einer Rezension noch als bedenklich vermerkt.


27 Oktober 2016

Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie

Ein hervorragendes Kompendium zur Vergegenwärtigung der Geschichte der DDR. Denn es stimmt, was Helmut Schmidt gesagt hat: "Wolf Biermann hat ein Stück deutsche Identität gestiftet."

Biermann bleibt sich selber treu. Er hat immer Recht.
Aber wenn er das nicht geglaubt hätte, wie hätte er sich so in der DDR behaupten können!

Das Lied, dessen Titel Biermann seiner Autobiographie vorangestellt hat:
Warte nicht auf bessre Zeiten

Zitate

"Dialektik der Berühmtheit: Der Knebel im Mund des populären Sängers verwandelt sich in ein Mikrophon." (S.233)
"Ausgerechnet in den elf Jahren meines Totalverbots war ich der wohl am wenigsten isolierte Mensch in der DDR." (S.239)
"Ausgerechnet ich, der arbeitslose Staatsfeind, stellte den Faust nun pro forma an als meinen Privatsekretär - verdrehte Welt!" (S.312)
"Freiheit ist seit je die einzige Ware, deren Preis sinkt, wenn endlich die Nachfrage steigt." (S.324)
Auf dem evangelischen Kirchentag in Hannover sang Biermann sein Lied Ermutigung:
" 'Du, lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit ...' - die bewährten fünf Strophen in evangelischer Kirchentonart.* Das passte. In Schweden ist das Lied inzwischen sogar ins offizielle Gesangbuch der protestantischen Kirche aufgenommen worden." (S.382)
"Und zum Schluss kam ich den Kirchentagsbesuchern mit einem unbekannten Lied, denn ich wollte in Hannover nicht den gläubigen Christen mimen. Es kulminiert in den Zeilen: 'Und meine ungläubigen Lippen/ Beten voller Inbrunst/ Zu Mensch, dem Gott/ All meiner Gläubigkeit.'
Soweit so gut. Der Sänger hatte seine Schuldigkeit getan und trat ab. [...] In der vorderen Reihe stand der oberste Hirte der Evangelischen Kirche Deutschlands, der greise Präses Kurt Scharf. Ein würdiger Bischof mit weißem Haar, wie ein Heiligenbild von Lukas Cranach. In der Nazizeit war er Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen, und aus der DDR war er 1961, kurz nach dem Bau der Mauer, ausgebürgert worden. Pastor Scharf legte väterlich den Arm um meine Schulter. Plötzlich stürmte eine Frau aus dem Publikum auf uns zu. Sie fuchtelte mit den Armen, sie kreischte wutverzerrt. Als sie mit Fäusten auf mich losgehen wollte, hatte ich nur Angst um meine Gitarre. Der alte Mann sprang wie ein Junger dazwischen. Er umarmte die Furie. Er schlug seine Arme fest um sie und umklammerte sie wie eine lebende Zwangsjacke. Die Frau kreischte: 'Das ist eine Gotteslästerung! Der Biermann soll nicht singen! Nicht hier! Biermann betet nicht zu Gott, sondern zu Mensch! Das ist eine Gotteslästerung!' Der Kirchenmann ließ nicht los und brüllte ihr ins Ohr – denn brüllen musste er, weil die Lautsprecher so nah standen: "Meine Liiiebe! Gerade Wolf Biermann soll für uns singen. Und er darf doch zu Mensch beten. Denn Gott hat seinen Sohn als Menschen gesandt, um unsere Sünden zu vergeben! Der Biermann ist vielleicht frommer als wir!' Daraufhin ließ er sie los. Sie glaubte ihm, glaube ich, kein Wort. Was ist 'ne verrückte Szene! Das wütende Schaf tappte zurück zu den Schafen. Und der Wolf stand verwirrt neben dem Hirten." (S. 382/383)
Anti-Stasi-Demonstration nach der Wende:
"Das Volk brüllte mit Schaum vor dem Mund. Es herrschte eine dumpfe Lychstimmung. [...] Ich fingerte ein paar Figuren auf der Gitarre und goss dann Öl ins Feuer: 'Auch ich hasse dieses Stasipack!' - die Leute johlten. [...] Die Wut der Leute war ganz nach meinem Herzen. Und nach meinem Verstand. Denn ich wusste ja, worauf ich hinaus wollte. Wie ein gewiefter Demagoge drehte ich ab in einen brechtschen Break. Ich brüllte ins Mikrophon: 'Das passt zu euch! Ihr brüllt! Ihr wollt Rache! Aber ihr seid Feiglinge! Als Ulbricht und Honnecker und Mielke an der Macht waren, habt ihr alles mitgemacht und alles mit euch machen lassen! ... Da habt ihr geschwiegen und habt euch geduckt! ... Und jetzt, wo es zum Glück nichts mehr kostet, jetzt wollt ihr, dass wir an diesen Mördern zu Mördern werden!? - Nein!' [...]
Mein überraschender Angriff brachte sie zum Nachdenken. Und es besänftigte sie mein Lied 'Ermutigung': 'Du, lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit ...' " (S.431/32)
"Manche Konflikte, wie der zwischen Abrahams Söhnen Ismael und Isaak haben gar keine Lösung, sondern nur eine Geschichte." (S.460)

* Noten und Text dieses Liedes stehen auf den Einbandinnenseiten des Buches.


Wichtige Passagen

Englische Bomben wie Himmelsgeschenke
Feuersturm in Hamburg S.35-39

Zur Gitarre, zum Klavier
Onkel Kalli schmuggelt 50 Schachteln Zigaretten aus dem Freihafen und tauscht dafür ein Klavier für Wolf ein S.47

Maßnahmepläne zur Zersetzung
Emma Biermann S.239-243

Moskau 1971
Samisdat S.249
Dissidenten in Moskau S.252

Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um
"Finanzierung des "arbeitslosen" Lebens S.256-264
liebste Gitarre S.269
Streit mit Havemann S.269-271
Kritik an Brandts Ostpolitik S.273

Weltjugendfestspiele. Oma Meime. Realsozialistische Liebe.
Oma Meume S.283-385

Tine Barg S.289-291

 Stasiunterlagenbehörde: Zum allgemeinen Umfeld

24 März 2013

17. Juni aus der Sicht de Bruyns

de Bruyn schreibt in "Vierzig Jahre" (dazu Spiegel 12.8.96, 1.10.96; Kommune Okt. 96)

"Eingezwängt in der Masse, in der meiner Erinnerung nach, Frauen fehlten [...] fühlte ich mich, eingekeilt zwischen Menschenleibern, von Ekel gepeinigt und meiner Freiheit beraubt." (S.47)

Er er ist ein Gegner des Regimes und denkt darüber nach, dass er an sich zu der Menge reden müsste, um ihr ein Ziel zu geben. Dennoch schreibt er 1996, wo es erwartet wurde, dass man seine Gegnerschaft zum DDR-Regime möglichst deutlich bekundete, offen über seine Hauptempfindung bei dieser so wichtigen Bekundung der Ablehnung dieses Regimes, die so vielen Beteiligten Folter und andere Bedrängnisse brachte.

Sein Bedürfnis, nichts zu beschönigen kommt in diesen Erinnerungen immer und immer wieder sehr deutlich zum Ausdruck.

Ich zitiere Udo Scheer: Gefährlich liberal:
In Vierzig Jahre wird auf sympathisch uneitle Weise die Lebenshaltung eines bewußt in der DDR gebliebenen Kritikers transparent. Zaudern, eingegangene Kompromisse und Selbstzweifel sind dabei nicht ausgespart.

09 April 2012

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts

Wir erfahren mehr über das Rezept von Irinas Burgundergans und darüber, wie man sich  in Zeiten der DDR mühen musste, die dafür notwendigen Zutaten zu besorgen, als über die Lebensleistung der männlichen Helden Wilhelm, Kurt (für ihn lieferte Eugen Ruges Vater Wolfgang Ruge das Vorbild) und Alexander Umnitzer.
Und das, obwohl wir die Geburtstagsfeier des 90-jährigen Wilhelm, bei der über seine Leistungen berichtet wird, sogar fünfmal erleben. Zu dröge und verlogen ist der Bericht, zu unterschiedlich die Interessen der Zuhörer, als dass die fünf verschiedenen Personen, aus deren Sicht über die Feier berichtet wird, so recht etwas mit dem Bericht anfangen könnten, das der Leser für seine Information nutzen könnte.

Damit ist auch das Bauprinzip des Romans angedeutet. Fünf Berichte aus dem Jahr 2001, je einer von 1952, 1959, 1961, 1966, 1973, 1976, 1979, 1991 und 1995 aus der Sicht von acht verschiedenen Personen werfen Licht auf vier Generationen einer Familie und verschiedene Phasen der DDR-Geschichte. Doch was mich am meisten interessiert hat, ist der Blick auf das Verhältnis der Ehepartner und der verschiedenen Generationen im Umgang miteinander und ihre Auseinandersetzung mit dem Älterwerden.
Eugen Ruge selbst wollte - laut Interview - seine Familiengeschichte erzählen und bei der Gelegenheit - sekundär - auch etwas DDR-Leben möglichst neutral dokumentieren.
Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts
Wolfgang Ruge: Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion

Eugen Ruge spricht über seinen Roman und liest drei kurze Passagen daraus vor.
Recht kritische Rezension. Die DDR werde darin zu negativ gesehen.

09 Februar 2011

Monika Maron: Stille Zeile sechs

"Es können aber doch nicht beide Recht haben!"

Vielleicht doch.  -  Ihr Recht.

Der alte Kommunist, der sich sagt: "Nie wieder Opfer!"
Die Frau im mittleren Alter, die sich sagt: "Ihr habt uns am Leben gehindert. Ich will selbst denken dürfen." (Monika Maron: Stille Zeile sechs)

Der Jude, der sagt: "Nie wieder Opfer!"
Der Palästinenser im Lager, der sagt: "Ihr habt uns unser Leben genommen. Im Lager existieren wir nur ."

12 November 2010

Gauck: Winter im Sommer - Frühling im Herbst

Joachim Gaucks Autobiographie erklärt das etwas herbe und allzu selbstgewisse Auftreten aus den Erfahrungen seines Vaters in einem sowjetischen Arbeitslager und der Weise, wie er diese Erfahrung an seine Kinder weitergegeben hat. Er gab Mut zum Widerstehen durch die Vermittlung des Bewusstseins, im Recht zu sein.

Besonders anrührend erscheint mir sein Brief an seine in die Bundesrepublik geflohenen Kinder vom 27.10.1989 (S.97)
Ihr Lieben im Westen!
Vor vielen Jahren hat Wolf Biermann in seinem wundervollen Lied "Ermutigung" die Zeile geschrieben: ... das Grün bricht aus den Zweigen / wir woll'n es allen zeigen ...
Ja, so ist das jetzt bei uns. Das Grün bricht aus den Zweigen.
Wir wissen noch nicht, ob ein Frost kommt und es vernichtet oder die Blüten dem Grün folgen werden oder gar die Frucht reifen und wachsen kann.
Noch mischen sich massiv Ängste, Befürcvhtungen, neue Hoffnungen und neuer Mut. Was wird sein? [...]
Übrigens: Ob ich wirklich im November nach West-Berlin fahre, weiß ich nicht. Hier ist es zur Zeit interessanter.
Rezensionen in Perlentaucher

Leseprobe

24 Oktober 2010

B. v. Weizsäcker: Die Unvollendete

Beatrice von Weizsäcker spricht mir in ihrem Buch über "Deutschland zwischen Einheit und Zweiheit" mit vielem aus dem Herzen. Dass die Bürgerrechtsbewegung so ganz ihren Einfluss auf die politische Entwicklung verlor, dass es ein Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes wurde und keine Einigung mit neuer Verfassung im Sinne des Artikels 146, beides steht der Vollendung der Einheit im Wege.
Beachtenswert ist auch ihr Hinweis auf die fortbestehenden Unterschiede in Virginia (USA), wo die Trennung des Staates während des Amerikanischen Bürgerkrieges noch heute nach weit über 100 Jahren spürbar ist. Es muss mehr für die innere Einigung getan werden.
Dankbar bin ich auch für die Erinnerung an manche beschämende Vorgänge. Wie mit Bürgerrechtlern, mit Schriftstellern und Büchern aus der ehemaligen DDR umgegangen wurde, war ein Skandal. Ihre Ausführungen - großenteils Zitate aus der damaligen Zeit - möchte ich hier wörtlich anführen:
Im Oktober 1990 folgte der Beitritt, und vorbei war es mit dem Interesse an östlichen Andersdenkenden. Das aufgestoßene Fenster war wieder zu, der aufrechte Gang gebrochen. [...] »Der Mut und die Lust, mitzusprechen in der verei­nigten Demokratie, ist denen im Osten rasch wieder aus­getrieben worden«, brachte es Gunter Hofmann von der Zeit später treffend auf den Punkt. Christa Wolf beispielsweise habe sich »von den Belehrungen aus dem Westen bis heute nicht recht erholt«. Christa Wolf war vielleicht die Bekannteste, der es so ging, aber bei weitem nicht die Einzige.
[...] Schriftsteller hatten keine Lektoren mehr und schon gar keine Kritiker. Selbst Autoren wie Ulrich Plenzdorf, der zur Zeit der Teilung im Westen noch als Kronzeuge des östlichen Aufbegehrens gefeiert worden war, resig­nierten bald. Plenzdorfs westdeutscher Verlag verlor das Interesse an ihm, später lehnte auch das Femsehen seine Drehbücher immer wieder ab. »Ich habe die Auseinan­dersetzung über die Deutungshoheit östlicher Schicksale glatt verloren«, sagte er 2003, wenige Jahre vor seinem Tod, verbittert in einem Interview.
Der gesamten DDR-Kunst sei vorgeworfen worden, sie habe dem Staat gedient und das Unrechtsregime un­terstützt, resümiert die Publizistin Dahn in ihrem Buch »Wehe dem Sieger!« - »ob Malerei, Literatur, Film oder Theater«. Wie weit die Verachtung alles Östlichen ging, beschreibt sie an einem Beispiel, das im Westen kaum bekannt ist. Eine halbe Million druckfrischer Bücher wurden »an der Peripherie der Bücherstadt Leipzig auf Müllkippen entsorgt« - Klassiker, Werke antifaschis­tischer Exilanten, wissenschaftliche Literatur, Bildbände, sogar Noten von Bach. Sie alle wurden »zu Abfall degra­diert«, nur weil sie in der DDR gedruckt worden waren. Es war der westdeutsche Pfarrer Martin Weskott, der dies entdeckte und einen Großteil der Bücher rettete." (S.48-50)
Wichtig ist in diesem Kontext Daniela Dahns Buch "Wehe dem Sieger!"

Doch die tiefere Spaltung unserer Gesellschaft liegt meiner Meinung nach bei dem Umgang mit den Gefahren des Klimawandels, mit den daher sich abzeichnenden Kriegsgefahren, bei der tiefen sozialen Ungerechtigkeit auf der Welt (Jean Ziegler spricht von der "kannibalistischen Weltordnung") und den ebenfalls schmerzhaften sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland.

Solange die Preise nicht die ökologische Wahrheit sagen und der internationale Austausch weiterhin primär der Plünderung der Naturschätze der wirtschaftlich schwächeren Länder dient, ist die Welt nicht in Ordnung.
Auch der Gegensatz zwischen den sich entvölkernden neuen Bundesländern und den einem naturzerstörenden Wachstum verschriebenen alten ist nicht primär ein ideologischer, sondern wesentlich durch die wirtschaftlichen Unterschiede mitbestimmt.

26 September 2010

Migration nach Deutschland

Isolde Heyne schildert in "Ankunft im Alltag", wie aufreibend aus der DDR kommend Einreise und Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft vor dem Mauerfall für eine Familie sein konnte, die legal aus- und einreiste.
Es wird dramatisiert, aber weitgehend realistisch geschildert, welche Probleme sich selbst bei bestem Willen von Einreisenden wie ihren neuen Kontakten ergeben konnten. Man kann besonders mit den Eltern und mit ihrer Tochter im Teenageralter mitfühlen, aus deren Sicht erzählt wird.
Doch während man noch mitfühlt, stellt sich auch schon die Frage: Und wie geht es illegal Einreisenden, die die Sprache nicht beherrschen und die keine Arbeitserlaubnis bekommen? Und man merkt, weshalb einem bei Berichten über diese Schicksale die Einfühlung oft so schwer fällt.

27 Oktober 2007

Tallhover

Tallhover ist in Preußen für die politische Polizei tätig. Er versucht im Prozeß gegen die neue rheinische Zeitung Zeugen gegen Marx zu finden. In der DDR ist er immer noch tätig und zwar bei der Stasi. Er droht einem, der im damaligen Prozeß keine Aussage machen wollte, damit, ihn zu bestrafen, weil er gegen "uns" war.
Hauptteil des Buches sind freilich Tallhovers Beobachtungen Lenins während eines Deutschlandaufenthalts, seine Kritik an Lenins Fahrt durch Deutschland auf Abmachung mit der OHL, weil die Revolutionäre Gelegenheit bekamen, die Revolution auch in Deutschland voranzutreiben. Sein Bericht über Radek, seine Verhaftung und seine Kontakte. Wichtig sind auch die Berichte über seine Tätigkeit unter dem NS-Regime.
Immer dient er der Obrigkeit: dem preußischen König, der NS-Diktatur und der SED. Dass er sich dafür nicht zu verändern braucht, ist Schädlichs Aussage über die Rolle von SED und DDR.
Der Gedanke des ewigen Spions ist nicht schlecht (vgl. Grass). Außerdem gefällt auch die historische (?), jedenfalls Atmosphäre gebende Darstellung zu Uljanow (Lenin), der Fahrt durch Deutschland und zu Radek. Tallhover selbst bleibt blutleer. Der Vorwurf gegen Grass' Weites Feld trifft hier noch mehr. (Hans Joachim Schädlich)

20 August 2007

Rummelplatz

Bräunig hat einen Roman über Bergarbeiter in der Wismut AG geschrieben, ohne die bewusste Verstrahlung der Bergarbeiter und diese als Voraussetzung für die rasche Entwicklung der sowjetischen Atombombe in den Mittelpunkt zu stellen. Dennoch fiel er in der politischen Kritik durch. Erst über 30 Jahre nach seinem Tod kam der Roman schließlich dieses Jahr heraus.