24 Februar 2020

Harald Jähner: Wolfszeit - meine Textauszüge

Harald JähnerWolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955 Berlin 2019, ISBN 978-3-7371-0013-7.

Ich habe schon viel Lob über dies Buch gelesen und kenne einige Zitate daraus, die ich sehr interessant fand. 
Anarchie des Anfangs, SZ 19.2.19
Das Lachen im Elend, Deutschlandfunk 24.2.19
#Jähner
Andererseits dachte ich, angesichts der vielseitigen Literatur der Nachkriegszeit, "Trümmerliteratur", wie man sie auch nannte, könne das Buch etwas so Außergewöhnliches nicht sein.
Ich habe mein Urteil revidiert.  Von der ganzen Reihe von bemerkenswerten Stellen, die ich beim ersten Blättern gefunden habe, zitiere ich hier:

Stunde Null? (Kapitel 1, S.17-30)
Jähner sagt: Nein, es lief vieles weiter und überhaupt beeinflusst die Vorgeschichte natürlich alles.
In Trümmern (Kapitel 2, S.31-60)
Trümmerfrauen, Frauen kommen allein zurecht.

Das große Wandern (Kapitel 3, S.61-119)
"Insgesamt vierzig Millionen auf die eine oder andere Art Entwurzelte in den vier Besatzungszonen! Geflohene, Obdachlose, Desertierte, Gestrandete – eine erzwungene Mobilität und vorstellbaren Ausmaßes. Das heißt nicht, dass alle tatsächlich in Bewegung waren. Die meisten steckten fest, harrten in Lagern aus, kamen nur qualvoll langsam oder mit Unterbrechungen voran. Die einen mussten möglichst rasch nach Hause gebracht, die anderen erst einmal festgesetzt werden. Versorgt werden mussten sie alle – eine gigantische logistische Leistung, selbst wenn es oft nicht einmal das Nötigste war, das beschafft werden konnte. Die Zahl der vorübergehend zu internierenden deutschen Kriegsgefangenen war nach der Kapitulation derart, dass die Alliierten keine andere Möglichkeit sahen, als etwa eine Million von ihnen in den so genannten Rheinwiesenlagern unter freiem Himmel einzuzäunen und sie über viele Wochen ohne Dach über dem Kopf hinter Stacheldraht hausen zu lassen. Erst im Verlauf des Juni hatten die meisten der 23 Lager Latrinen, überdachte Küchen und Krankenbaracken erhalten. Im September 1945 wurde das letzte dieser Massencams aufgelöst, nachdem der Großteil der Internierten längst verhört und entlassen oder auf andere Lager verteilt worden war.
Die teils zu Hundertausenden zusammengepferchten Soldaten, auf dem Boden hockend und schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt, boten ein schockierendes Sinnbild der puren Masse, zu der das NS-Regime und der Krieg die Gesellschaft herabgewürdigt hatten. Vielen, die jenseits dieser Zäune lebten, ging es kaum besser. Wer das Wagnis unternahm, in dieser Zeit eine Reise zu machen, obwohl er ein festes Dach besaß, begegnete den Umherziehenden auf den Straßen, den Bahnsteigen und Wartesälen." (Seite 62/63)


Ursula Trautmann wird auf ihrer Flucht von ihrer Mutter getrennt. 
"Die Witwe Harms, bei der sie wohnt, bringt die Flüchtlinge nur auf dem Heuboden im schmutzigen Stroh unter, obwohl ihr halbes Haus leer steht. [...] 
Als die englischen Besatzungssoldaten merken, dass ihre Aufforderungen, die Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen nichts fruchten, lassen Sie die Dorfbewohner auf dem Kirchplatz in Reih und Glied antreten und drohen mit Beschlagnahme und Enteignung der Häuser. Daraufhin kommt Ursula mit acht weiteren Flüchtlingen in einem Zimmer beim Dorfschmied unter. Dafür lässt man sie bei jeder Gelegenheit spüren, dass man sie zum Teufel wünscht. Es seien zu wenig Schiffe mit Flüchtlingen untergegangen, zischt man dem jungen Mädchen hinterher. Zum Glück findet wenigstens die versprengte Familie wieder zusammen. Das enge Netz von Nachrichten, dass die Vertriebenen über weite Entfernungen unterhalten, bewährt sich. [...] 
Da die Wullenkordts geschickte Landwirte sind, gelingt es ihnen, einen heruntergekommenen Hof, den sie 1955 pachten, wieder in Schuss zu bringen. Nun klettert allerdings die Pacht in unbezahlbare Höhen. Die Familie nimmt daraufhin den nächsten bankrotten Hof unter ihre Fittiche und päppelt ihn hoch, bis auch hier die Pacht steigt. Nach dieser Methode sanieren sie durch Fleiß und Geschick einen heruntergekommenen Hof nach dem anderen, ziehen "von Hardissen nach Roth, dann nach Ransbach-Baumbach, danach auf die Rheininsel Königklinger Aue, nach Birkenfeld an die saarländische Grenze, schließlich nach Neukirchen bei St. Wendel und am Ende nach Rheinhausen in der Pfalz" – eine Sanierungsodyssee, die sie durch ganz Westdeutschland führt und viele Leute reich macht, nur sie selbst nicht." (S.92/93)
"Die Einheimischen, ob in Bayern oder Schleswig-Holstein, wehrten sich teilweise so vehement gegen die Einquartierungen, dass die Vertriebenen nur unter dem Schutz von Maschinengewehren in ihre zugewiesenen Behausungen geleitet werden konnten." (S.94/95)
Der Rassismus lebte fort und richtete sich nun munter nach innen. [...] Nach dem Zusammenbruch hatte die Idee der Volksgemeinschaft an Strahlkraft verloren, der Hochmut aber keineswegs abgenommen. Das Volk war desavouiert, nun besann man sich plötzlich wieder auf die Region als das entscheidende Identitätsmerkmal. In der innerdeutschen Migration sahen viele eine Art multikulturellen Angriff auf sich selbst. Der Tribalismus blühte, man grenzte sich als Stammesangehörige durch Sitten, Gebräuche, Glaubensriten und Dialekte von den umliegenden ab und erst recht von den Deutschböhmen, Banater Schwaben, Schlesiern, Pommern und Bessarabiendeutschen – alles 'Polacken'. [...] 
Ob die Maiandacht auf dem Friedhof, im Freien oder in der Kirche gehalten wird, wie ein Maibaum auszusehen hat [...] all das führte zu Reibereien mit den Flüchtlingen (S.97)
"Der Kreisdirektor des bayrischen Bauernverbandes, Dr. Jakob Fischbacher, bezeichnete es in einer viel beachteten Rede als Blutschande, wenn ein bayrischer Bauernsohn eine norddeutsche Blondine heiratete, und forderte die Bauern auf, die eingefallenen Preußen wieder nach Osten zurückzutreiben [...] 
Der Hass auf die Zuwanderer, der solche Hetzreden beflügelte, hatten einen Grund in der unbestreitbaren Erosion der lokalen Traditionen, die der Zuzug ja tatsächlich bewirkte. Jahrhundertelang gewachsene regionale Eigenheiten waren bedroht. [...] Im Krieg waren Massen von ausgebombten und evakuierten Großstädtern aufs Land geströmt und von den Behörden oftmals mit der gleichen Militanz einquartiert worden wie die Vertriebenen. Die Städter hatten mit ihren freizügigen Sitten die Dörfler schockiert, andere aber auch beeindruckt. Die immerhin fünf Millionen Städter, die auf die deutschen Lande verteilt worden waren, darunter viele lebenslustige junge Frauen [...] hatten die tradierten Wertvorstellungen dort irritiert. [...]
Mischehen [...] kamen trotz des erbitterten Widerstands der Pfarrer bald immer häufiger zustande. Der katholische Partner wurde dabei allerdings in der Regel exkommuniziert, wenn der protestantische nicht seinen Glauben wechselte. [...] Manche Gläubige, hin und her gerissen zwischen Liebe und Kirchentreue, litten unter dem Ausschluss aus der Gemeinde ein Leben lang." (S. 98-100)

"Die Härte der Konflikte hing auch damit zusammen, dass die Flüchtlinge Deutschland tatsächlich veränderten. Vor dem Krieg hatten in Westdeutschland 160 Menschen auf einem Quadratkilometer gelebt, jetzt waren es 200. In den Großstädten war davon relativ wenig zu spüren, in Berlin und Hamburg betrug der Anteil der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung gerade mal sechs und sueben Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern aber waren es 45, in Schleswig-Holstein 33 und in Bayern immerhin noch 21 Prozent. Hier nacge die Einwanderung der Fremden beharrlich an der Gewissheit, die eigene Lebensweise sei die einzig gültige." (S.100/101)
Aufgrund der oft revanchistischen Töne ihrer Verbandsfunktionäre wurden die Vertriebenen lange zu den reaktionär Kräften der Bundesrepublik gezählt. Tatsächlich waren sie in hohem Maße bis in die siebziger Jahre hinein verantwortlich für rechtsradikale Umtriebe. (S.102) [...]
Das Paradoxe ist: so rückwärtsgewandt viele Vertriebene auch waren, in der Nachkriegs gesellschaft wirkten sie als Agenten der Modernisierung. Sie verursachten jene kulturelle und soziale Durchmischung maßgeblich mit, auf die die junge Republik sich später so viel einbildete. [...] So waren sie zum Beispiel – neben dem späteren Fernsehen – in vielen Regionen für den Mundartenschwund verantwortlich. [...]
Schnell wurden die Vertriebenen deshalb von einer Last zu einem Gewinn für die deutsche Wirtschaft. Sie waren meist schneller bereit, sich neuen Umständen anzupassen als die Alteingesessenen. [...]
Der rasche Aufschwung nach der Wirtschaftsreform 1948 wäre ohne die Arbeitsemphase der Vertriebenen nicht möglich gewesen. [...]
Trotz aller Integrationserfolge dauerte es bis 1966, bis die letzten großen Barackenlager für Vertriebene aufgelöst werden konnten. (S.103 -104)
Oft erhielten die Siedlungen von den Einwohnern der gewachsenen Stadtteile Spitznamen wie Kleinkorea, Neupolen, Mau-Mau oder kKeinmoskau, womit sie deutlich machten, wohin sie die Menschen dort am liebsten verbannt hätten. [...] Mau Mau markierte auf sprechende Weise den Punkt, an dem die Deutschen sich selber fremd worden, und das war bezeichnenderweise nicht der Moment, als sie den Holocaust begriffen. [...]
Der Historiker Friedrich Prinz resümierte: "Der zufriedene Rückblick auf die geglückte Integration der Vertriebenen verstellt heute manchmal die Einsicht, wie nahe wir der gesellschaftlichen Katastrophe waren (S. 105)
Die Vertreibung der Deutschen war ein gigantisches Enteignungsprogramm [...]" Irgendwie konnte man darin schon eine gerechte Strafe für das Unrecht ansehen, was NS-Deutschland den überfallenen Völkern angetan hatte. Aber: "Die Vertriebenen fragten sich jedoch zu Recht, warum sie diese Bußlast allein tragen sollten. [...] Von den zurechnungsfähigen Politikern verschloss sich auch niemand der abstrakten Einsicht, dass die Lasten gerechter verteilt werden müssten. In welchem Maße allerdings und wie das konkret bewerkstelligt werden könnte, darüber gingen die Meinungen erheblich auseinander.
Leichter hatte es das Regime in der sowjetischen Besatzungszone, weil es dirigistischer verfahren konnte. Der ab Herbst 1945 beschlagnahmte Großgrundbesitz wurde zu mehr als einem Drittel an Vertriebene verteilt. Die neue Bauernstellen die durch die Bodenreform entstanden, gingen sogar zu über 40 Prozent an die Flüchtlinge. Dafür durften sie sich jedoch nicht mehr Vertriebene nennen; das Regime nannte sie Neubürger oder Umsiedler [...] Das gelang relativ gut um den Preis, dass die Vertriebenen ihre Geschichte verleugnen mussten und sich im offiziellen Geschichtsbild der DDR nicht wiederfanden. [...] 400.000 Vertriebene, darunter etliche, die den Verlust ihrer Identität nicht hinnehmen wollten, zogen bis Jahresende 1949 allerdings in die Westzonen weiter – auch das erhöhte die Integrationschancen für die übrigen in der DDR.
In der Bundesrepublik hatte derweil eine quälende Diskussion um den so genannten Lastenausgleich begonnen. Ein entsprechendes Gesetz trat im September 1952 in Kraft. Es regeite wer welchen Anteil an den Kriegslasten zu tragen hatte. Das Lastenausgleichsgesetz liest sich so trocken und glanzlos, wie es sich anhört, und doch verkleidet der Begriff ein Wunderwerk an politischem Aushandlungsvermögen. [...]
Erich Ollenhauer formulierte: "Es ist das Gesetz der Liquidierung unserer inneren Kriegsschuld gegenüber von Millionen unserer eigenen Volkes genossen." [...]
Das Gesetz bestimmte, dass Eigentümer von Grundstücken, Häusern und sonstigen Vermögen fünfzig Prozent ihres Besitzes, über den sie am Stichtag, dem 21. Juni 1948, verfügt halten, abführen mussten. Die Summe konnte in vierteljährlichen Raten über 30 Jahre hin weg entrichtet werden Nutznießer waren die 'Kriegsgeschädigten': die Ausgebombten, Invaliden und Vertriebenen. [...]
Der Verlust großer Vermögen sollte prozentual weniger entschädigt werden als der Verlust kleineren Besitzes." (S. 106-108)


Tanzwut (4. Kapitel, S.121-148)
[...] Das Gefühl, der Katastrophe entronnen zu sein und die unvorhersehbare, ungeregelte Zukunft führten zu einer gesteigerten Lebensintensität. Viele existierten nur für den Moment; war dieser schön, wollten sie ihn bis zur Neige ausschöpfen." (S.121)


Liebe 47 (5. Kapitel, S.149-206)
"Ohne den Vater waren viele Familien zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen, die mehr denn je auf einander angewiesen war (S. 152) 
"Die Entfremdung zwischen Vätern und Kindern, vor allem den Söhnen, nahm oft dramatische Formen an. Kinder, die in den Nachkriegsmonaten beim Hamstern und Schwarzhandeln über sich hinaus gewachsen waren, sahen nicht ein, warum sie sich plötzlich einem nichtsnutzigen, kranken Tyrannen unterwerfen sollten. 
(S. 154/155)
In glücklichen Fällen endete der Ehekrieg in einem langen anhaltenden Waffenstillstand. Man lernt sich zu arrangieren, fügte sich, schloss Kompromisse. Meist ging es nüchtern zu in diesen mühsam konsolidierten Ehen." (Seite 160/161)


Frauenüberschuss

"Weit über fünf Millionen deutsche Soldaten waren im Krieg gefallen. Hinzu kamen 6,5 Millionen Männer, die Ende September 1945 noch in westlicher Kriegsgefangenschaft waren. Über 2 Millionen Gefangene hungerten in sowjetischen Lagern. Noch 1950 entfielen auf 1000 Männer 1362 Frauen.[...] Von den Jahrgängen 1920-1925 kehrten mindestens zwei Fünftel der jungen Männer nicht mehr aus dem Krieg zurück. Besonders spürbar wurde das zahlenmäßige Ungleichgewicht in den Großstädten. [...] 
Es ging ja nicht nur um Liebe, sondern auch um den Lebensunterhalt, und die Erwerbsarbeit erschien nicht allen Frauen als das größte Glück auf Erden, zumal die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt bald wieder schlechter wurden. In der Folge wurde der Frauenüberschuss zu einer Kampfvokabel auf dem Stellenmarkt. Auch hier konkurrierten Frauen gegen Frauen. Die Alleinstehenden wurden gegen die Verheirateten ausgespielt. [...] Mit dem Hinweis auf die Vielzahl unverheirateter Frauen, die zu beschäftigen waren, entspann sich eine staatlich geförderte Kampagne gegen die 'Doppelverdiener', denen man vorwarf, sich überproportional zu bereichern. (S.176/78) 
"In vielen Bundesländern wurden weibliche Beamte, die mit männlichen verheiratet waren, aufgrund ihrer guten Versorgungslage aus dem Dienst entlassen – vorgeblich auch zum Wohl der Kinder und einer  'gedeihlichen Atmosphäre'. [...]
"Die Tochter einer Sodatenwitwe erinnert sich: [...] Die Heilgebliebenen separierten sich von den Blessierten, die mannlosen Frauen gerieten ins Abseits, die Kluft zwischen den Sanierten und den Dauergeschädigten blieb unüberbrückbar. Freundschaften entwickelte meine Mutter nur zu anderen Kriegerwitwen." (Seite 179)
"In Berlin verteilte die Rote Armee zeitweise Tintenfässer an die Frauen mit der Aufforderung, Vergewaltiger zu kennzeichnen, um sie durch ihre Vorgesetzten bestrafen zu lassen. Doch welche Frau traute sich schon, durch solche Maßnahmen die enthemmten Männer zusätzlich zu reizen?" (Seite 187)
"Ein SMS-Obersturmbannführer berichtete im März 1945 während des amerikanischen Vormarschs an seine Dienststelle, was ihm nach der vorübergehenden Rückeroberung eines Ortes durch die Wehrmacht von dessen Bewohnern erzählt worden war: 'Die Amerikaner hätten durchweg versucht, durch V.erschenken von Konserven, Schokolade und Zigaretten ein gutes Verhältnis mit der Bevölkerung herzustellen.' [...] Allgemein wird behauptet, dass sie sich besser verhalten hätten als unsere deutschen Truppen." 

(S. 191/92)
Die amerikanische Militärführung hatte "ihre Soldaten auf eine schonungslose Unterwerfung des Feindes eingestimmt und Fraternisierung jedweder Art im April 1944 verboten. Kein Händeschütteln, keine Wortwechsel, nicht die geringste Annäherung sei erlaubt. Umso verblüffter reagierten die einrollenden GIs auf den freundlichen Empfang, der ihnen von hübschen Frauen und staunenden Jugendlichen bereitet wurde, und konnten sich an den dankbaren Reaktionen nicht sattsehen, die sie mit ihren Zigaretten und ihrer Schokolade ausgelösten, welche sie trotz des Verbotes aus den Jeeps reichten." (Seite 193)


"Der 24-jährige Daniel Militello aus Brooklyn war der erste amerikanische Soldat, der nach Kriegsende eine deutsche Frau heiratete". Er hatte freilich allerlei zu erdulden. Als er um Ausreise für seine Frau und den gemeinen Sohn einkam, wurde er verhaftet und in die UC`SA zurück gebracht. Nur dank des Einsatzes einen Kongressabgeordneten wurde nach Monaten erreicht, dass seine Frau ihm folgen durfte. 

"Bis 1988 sollten ihr auf diesem Weg schätzungsweise 170.000 deutsche Soldaten Bräute folgen." (S:201)
"Es waren bezeichnenderweise die Frauenzeitschriften, die sich am vehementesten gegen die Verurteilung der 'Fräuleins' wehrten. In dem Beitrag 'Veronika Dankeschön: Frauen und Mädchen – Die Vorwürfe gegen sie und wen sie in Wahrheit treffen' wendete sich das Blatt Die Frau – ihr Kleid, ihre Arbeit, ihre Freude  gegen die Unterstellung, es ginge Veronika vorrangig um Zigaretten. Vielmehr wolle die Frau, die der Krieg um so viele Tanzbälle, Dampferfahrten, Konzertabende und Liebesabenteuer betrogen habe, nun 'endlich mal leben'." (S.203)

Was Marta Hillers in ihrem Tagebuch beschrieben hatte, als sie in Berlin von mehreren russischen Soldaten vergewaltigt worden war, kommentiert Harald Jähner: 

"Ihr kaltblütiges Bestreben, sich in den oberen Militärrängen einen Leitwolf als Beschützer zu suchen, um fortan vor den Nachstellungen der rohen, einfachen Wölfe bewahrt zu werden, entspricht einer Urszene der Partnerwahl.Sie selbst ist erstaunt, wie das Gefühl der Dankbarkeit, inmitten der Anarchie einen gewissen Schutz gefunden zu haben, zu zärtlicher Anhänglichkeit führt. Es herrscht eben Wolfszeit; [...]" (S. 204)

Rauben, Rationierung, Schwarzhandeln – Lektionen für die Marktwirtschaft (6. Kapitel, S.207-250)
Die meisten Deutschen lernten den Hunger erst nach dem Krieg kennen. Bis dahin hatte man von der Ausplünderung der besetzten Gebiete einigermaßen gut gelebt." (S. 207)


"Besonders schwach ausgeprägt war das Unrechtsbewusstsein beim Verschieben von Kaffee. In den Dörfern an der belgischen Grenze wurde der Schmuggel zu einer Massenbewegung, die sich wegen der hohen Besteuerung in der britischen Zone extrem lohnte. Die polizeilichen Gegenmaßnahmen nahmen dort so militante Züge an, dass man bald von der "Kaffeefront" sprach. 31 Schmuggler und zwei Zöllner kamen bei den Auseinandersetzungen ums Leben. Da die Zöllner Skrupel hatten, auf Kinder zu schießen, kamen sie auch hier überall zum Einsatz. Dabei nutzten sie ihre schiere Überzahl. Zu Hunderten überrannten Kinder und Jugendliche die Grenze, die Taschen voller Kaffee, und wieselten zwischen den Zöllner Beinen hindurch. Gelang es den Grenzen aus dem Schwarm ein Kind herauszugreifen, mussten sie es am Abend wieder ziehen lassen, denn die Heime waren längst mit schweren Fällen überfüllt. Der Film "Sündige Grenze" von Robert A. Stemmle setzte 1951 den Schmuddelkindern von Aachen, die sich selbst "Rabatzer" nannten, ein eindrucksvolles, vom italienischen Neorealismus inspiriertes Spielfilmdenkmal. Stemmler hatte 500 Kinder und Jugendliche rekrutiert, die Hälfte davon aus Berlin, um an der deutsch-belgischen Grenze an den Originalschauplätzen zu drehen. Wie diese verwahrlosten Kindermassen die Bahndämme entern, gejagt von Zöllnern und Polizisten, sich unter anfahrenden Zügen hindurchzwängen und die Grenze befallen wie Heuschrecken, das gehört zu den packendsten Szenen, die der Nachkriegsfilm zustande brachte übrigens auch deshalb, weil er zeigte, wie unsicher die Grenze zwischen den Guten und Bösen verlief.
Ganz im Sinne von Kardinal Frings halten die Aachener Rabatzer das Verständnis der Kirche. Sie wandte sich mehrfach gegen den Schusswaffengebrauch an der

Die Generation Käfer stellt sich auf (7. Kapitel, S.251-302)
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Die Umerzieher
Drei Schriftsteller und Kulturoffiziere arbeiten für die Alliierten am deutschen Geist (8. Kapitel, S.303-336)

Hans Habe schuf rasch ein Zeitungsimperium und mit der Neuen Zeitung ein Blatt von Rang, das viele große Namen anzog und eine erstaunlich freie Diskussionskultur pflegte. Er schreib Bestseller um Bestseller und leistete sich gegenüber seinen Förderern von der amerikanischen Besatzungsmacht recht große Freiheiten. Einen guten Klang hat sein Name heute wohl aber deshalb nicht mehr, weil er Rudolf Augstein und Heinrich Böll als Verharmloser des RAF-Terrors "abkanzelte" (S.333). - Bemerkenswert, wie es Hildegard Knef gelang, Habe und Henri Nannen, der Habe übel angegriffen hatte, dazu zu bringen, sich in einem "kleinen Atlantikpakt" wieder zu vertragen. (S.331)
Alfred Döblin arbeitete in der französischen Zone, leistete gute Arbeit, wurde aber in der Öffentlichkeit nicht mehr akzeptiert. (Seinen letzten Roman musste er in der DDR anbieten, dort verlangte man von ihm, ihn umzuschreiben. Als man ihn dann in Westdeutschland druckte, nicht in der Originalfassung, sondern in der der DDR.)
Rudolf Herrnstadt wagte es 1948 im Neuen Deutschland etwas über die Barbarei der Roten Armee im Siegesrausch zu schreiben. Aber als idealistischer Kommunist stand er "so zweifelsfrei auf Seiten der Sowjets, dass er von Ulbricht sogar verdächtigt wurde, das Politbüro für die Russen ausgeforscht zu haben" (S.326). Dann setzte er sich für "die Forderungen der Bauarbeiter nach besseren Absprachen und gerechterer Entlohnung" (S.327) ein. Als die am 17. Juni 1953 den Aufstand probten, war sein Schicksal besiegelt. "Die SED war einen ihrer größten Idealisten los." (S.328)

Der Kalte Krieg der Kunst und das Design der Demokratie (9. Kapitel, S. 337-371)
Wie die abstrakte Kunst die soziale Marktwirtschaft ausgestattete
"[...] Bei der Documenta sah man Besucherinnen, deren Kleider so gemustert waren wie die Bilder, die sie betrachteten. Der Kunsthandel wollte jetzt genauer wissen, wer welche Kunst kauft, und beauftragte das junge Allensbach-Institut mit einer Umfrage. Das Ergebnis: Willi Baumeister und seine Kollegen von der tachistischene Avantgarde wurden von den Zukunftsorientierten gekauft, von Industrieunternehmen, Elektroingenieuren, Betriebsdirektoren und Managern. Bedenkentragende Bankdirektoren, Professoren und Anwälte hingegen, das klassische Bildungsbürgertum, kaufte die Moderne moderaten Typs, also Expressionismus und Impressionismus. [...] (S.353)

Kubiceks Wirken ist beispielhaft für die amerikanische Reeducation-Strategie. Eine überaus effektive Linie verläuft vom Genie des Jackson Pollock bis hin zu den Berliner Kindern, die sich in der Malschule des Amerika-Hauses mit großen Gesten buchstäblich frei malten. [...] Pollock [...] schien mit seinen eindrucksvollen, riesigen Tröpfelbildern geeignet, Amerikas beste Seiten zu verkörpern. (S. 358)
"Wenn das Kunst ist, bin ich ein Hottentotte", hatte Präsident Truman 1947 im MoMA gesagt und konnte sich dabei des stürmischen Beifalls der Mehrheit sicher sein. Seine Strategen des Kalten Krieges hinderte das nicht, in genau dieser Kunst das beste Mittel zu sehen, um Amerika wirksam in Szene zu setzen. (S.359)


Wie der Nierentisch das Denken veränderte
[...] 20 Jahre später erschien der fünfziger-Jahre-Chic vielen als verlogen und deplatziert. Und doch gehörte das schräge Mobiliar zur geistigen Gesundung der Deutschen unbedingt hinzu.(S.368)

Der Klang der Verdrängung (10. Kapitel, S.373-403)


Nachwort: Das Glück (S.405-409)


Dass sich trotz der verbreiteten Weigerung, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, und trotz der massiven Rückkehr der NS-Eliten auf ihre alten Positionen in beiden deutschen Staaten vom Nationalsozialismus geläuterte Gesellschaften durchsetzten, ist ein viel größeres Wunder als das so genannte Wirtschaftswunder. Fast so beunruhigend wie die Dimension, in der Deutschland zum globalen Albtraum werden konnte, ist die schlafwandlerische Sicherheit, mit der es danach seine Biederkeit wieder gewann. Das Wunder ist gerade deshalb eines, weil es so unspektakulär ausfiel. (S. 405)


Jaspers forderte auf:
"Wir wollen lernen, miteinander zu reden. Das heißt, wir wollten nicht nur unsere Meinung wiederholen, sondern hören, was der andere denkt. Wir wollen nicht nur behaupten, sondern im Zusammenhang nachdenken, auf Gründe hören, bereit bleiben, zu neuer Einsicht zu kommen. Wir wollen uns innerlich versuchsweise auf den Standpunkt des anderen stellen. Ja, wir wollen das uns Widersprechende geradezu aufsuchen. Das Ergreifen des Gemeinsamen im Widersprechenden ist wichtiger als die voreilige Fixierung von sich ausschließenden Standpunkten, mit denen man die Unterhaltung als aussichtslos beendet." 
(Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschland, 2012, Seite 8 – zitiert nach Harald Jähner: Wolfszeit 2019, S. 409)

Aus den Rezensionen (in der Wiedergabe durch Perlentaucher): 
Melanie Longerich im Deutschlandfunk: "Die Geschichte Deutschlands mit seinen Vertriebenen wiederum schildere Jähner als "Fremdheitserfahrung der Deutschen mit sich selbst" (so Jähners Formulierung), die das Land nach dem Krieg gegen den Nationalismus geimpft habe."
Thomas E. Schmidt in der ZEIT: "Welch große Rolle der Zufall in den ersten Jahren nach dem Krieg spielte, wie soziale Marktwirtschaft aus dem Geist des Schwarzmarktes erwuchs, wie Albernheit und Erotik Urständ feierten und schließlich in Kulturreaktion mündeten - all das kann Jähner zeigen. Laut Schmidt verpasst er dabei nur die Gelegenheit, den "Rückzug ins Verzagte" hinreichend zu erklären."

23 Februar 2020

Alfred Döblin

Ich bin mit Döblins Romanwerk nicht warm geworden. Berlin Alexanderplatz ist zweifellos bedeutend, aber an der Sprache fand ich nicht den Gefallen, der mich zu einem zweiten Lesen verlockt hätte. Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende glaube ich gelesen zu haben, mit weniger Schwierigkeiten, mich darauf einzulassen. Aber ich kann mich nicht mehr daran besinnen. Jetzt kann ich keins der Bücher in meinem Bücherschrank finden.
In andere Romane von ihm habe ich hinein gesehen, aber keinen durchgelesen.
Ich bedaure, dass es mir mit ihm so geht, wie es ihm in Deutschland ging, als er nach 1945 dorthin zurückkehrte, um bei der mission civilisatrice,  der Re-Education der Deutschen zu helfen. Ob es die französische Majorsuniform war, an der so viele Anstoß nahmen, ob er für die noch selbtmitleidigen Nachkriegsdeutschen nicht die richtige Sprache fand?
Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende wurde weder in der DDR (nachdem es in der BRD keinen Verlag gefunden hatte) noch in der BRD, als es dann doch auch hier gedruckt wurde, mit seinem originalen Schluss gedruckt.
Ludwig Marcuse schrieb 1957 in der ZEIT unter dem Titel Döblin, Hamlet, Ost und West über dies merkwürdige Phänomen.
Selbst das energische Lob von Günter Grass hat Döblin aus seiner Halbvergessenheit nicht befreien können.

Fanny Lewald in "Jenny" über Liebe

Das ist das Geheimnis der Liebe, dass sie zwei Herzen verbindet zu einem und diese absondert unter Tausenden; dass das Gefühl der erwiderten Liebe nicht der Worte, kaum des Blickes bedarf, um sich deutlich zu machen. Es ist, als ob die Liebe wie ein flüchtiger Äther dem einen Herzen entströme, um das andere zu erfüllen und zu beleben. Aber nur das geliebte, geöffnete Herz empfindet das Lebenswehen, das für es ausgeströmt wird. Die übrigen berührt der Strom von jenseits nicht, und sie atmen ruhig die kalte Erdenluft, ohne zu ahnen, wie schnell und leicht und freudig zwei Herzen in ihrer Nähe klopfen. (S.46)

Er liebte ihre reiche, schöne Natur, ihr lebhaftes Gefühl und wurde es doch nur zu häufig mit Betrübnis gewahr, dass Jenny infolge ihrer Erziehung und der Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen war, eine Richtung genommen hatte, die seiner ganzen Seele widerstrebte, die auch Eduard missbilligte, die aber zu ändern ihren beidseitigen Bemühungen bis jetzt nicht gelungen war. Reinhard glaubte an ihr Herz, er liebte sie, wie ein kräftiges Gemüt zu lieben vermag – und doch fühlte er eine Scheidewand zwischen sich und der Geliebten; doch konnte er die bange Ahnung nicht unterdrücken, es stehe ein Etwas trennend zwischen ihm und ihr. (S.60)

Wie Herr Horn seine Tochter Clara liebte
 Er liebte sie, wie er zu lieben imstande war. Sie war sein Stolz, die Krone seines Besitzes, und alle seine Wünsche gingen darauf hinaus, diese Tochter so glänzend als möglich versorgt zu sehen. (S.62)

Sie wünschte und fühlte in sich die Macht, ihn zu entschädigen für alles, was fremde Unduldsamkeit an ihm verbrochen hatte; sie wollte ihm zeigen, dass sie wenigstens die Vorurteile der Menge nicht teile. Darum hatte sie tausend jener kleinen Aufmerksamkeiten ihm gegenüber, in denen weibliche Liebe so erfinderisch ist, und die, allen andern unbemerkbar, sicher den Weg in das Herz dessen findet, dem sie gelten. (S.81)

»Da irrst du!« entgegnete der Vater. »Ich achte Reinhard und erkenne seine Vorzüge an, aber er lebt in einer Ideenwelt. Solche Menschen sind mir bedenklich und taugen nicht für die Ehe. Weil er mit der höchsten Anstrengung und allem Ernste daran arbeitet, die Vollkommenheit, die er im Auge hat, sein Ideal eines Menschen, zu erreichen, darum glaubt er sich berechtigt, auch an andere die gleichen Ansprüche zu machen. So wie er das Leben, die Liebe auffasst, sind sie nicht, und die Ehe, die sittliche Feststellung der Verbindung der beiden Geschlechter, bleibt trotz der höchsten Liebe, die zwei treffliche Menschen verbindet, immerdar hinter dem zurück, was einem jungen Manne oder Weibe als Ideal vorschweben mag! Der Ruhige, der Besonnene findet sich darin und tröstet sich mit dem Guten, das sich ihm in der Ehe offenbart, über das, was nicht zu erreichen ist – das aber, fürchte ich, will und kann Reinhard nicht. Weil er Jenny liebt, erscheint sie ihm geeignet, das Ideal einer Hausfrau, einer Gattin zu werden, wie er sie sich träumt; er wird es deshalb auch verlangen, dass sie sein Ideal verwirklicht und, wie ich ihn beurteile, nur zu geneigt sein, ihr aus den Unvollkommenheiten des Menschen überhaupt einen persönlichen Fehler zu machen. (S.127)

Er erriet, dass kein inneres Bedürfnis, sondern nur Liebe zu Reinhard der Beweggrund sei, welcher sie dem Christentum entgegenführe, und er tadelte sie deshalb nicht. [...] Mit dem gewissenhaftesten Eifer hatte er die Lehre Jesu und sich selbst geprüft und sich dadurch in der Überzeugung befestigt, dass Liebe und Duldung bei fortschreitender geistiger Entwicklung die Grundzüge des Christentums und besonders des Protestantismus ausmachten. In diesem Sinne hatte er sein Amt behalten und verwaltet. (S.163)

Eduard zu Clara
»Jene Stunde, die ich mit aller Wonne der Liebe erwartet hatte, ist herangekommen und zur Trennungsstunde für uns geworden – das höchste Glück, das Bewusstsein, Ihre Liebe zu besitzen, wird zum Schmerz, denn auch auf Sie fällt die Pein des Scheidens. – Zürnen Sie mir um deshalb nicht. Mehr als mein eigener Schmerz peinigt mich der Gedanke, dass Sie mit mir leiden, dass meine Liebe Sie nicht zu schützen, nicht zu beglücken vermag. Ich könnte eine Welt hassen, in der Herzen, die zusammengehören, getrennt werden, weil das eine so, das andere anders zu seinem Schöpfer betet, der beide füreinander erschuf, der sie, wie uns, zusammenführte. Jahrtausende hat der Fluch über meinem Volke geschwebt, nun hat er auch mich getroffen. [...] Aber wer hieß Dich, einen Juden zu lieben? Warum wolltest Du lieben, was die Deinen hassen? Die Deinen, welche sich zu einer Religion der Liebe bekennen! – Oh! Christus wusste, wie der Hass zerfleischt, entmenscht, darum predigte er Liebe, und die Unwürdigen begriffen nur den Hass, vor dem er sie gewarnt. (S.194)

Der Staat, der es erlaubt, dass Menschen ohne alle innere Zusammengehörigkeit einander den Eid der Treue vor dem Altare schwören, der es duldet, dass die Jungfrau mit gebrochenem Herzen in die Arme eines Mannes geführt wird, welcher vielleicht noch gestern an der Brust einer Buhlerin des Bundes lachte, den er heute beschwört, der Gesetze gibt, diese fluchenswerten Ehen zu schützen derselbe Staat will es nicht dulden, dass zwei Herzen, die in reinstem Einklang schlagen, sich verbinden, weil sie auf verschiedene Weise Gott für das Glück danken würden, das er ihnen durch ihre Liebe gewährt. – Das sind die Gesetze, vor denen man Achtung verlangt!   Nur eine Zuflucht bietet sich uns dar, wenn Du es vermöchtest, Dich von allen Vorurteilen zu befreien, wenn Du Dich entschließen könntest, mir unter dem Schutze der Meinen in ein Land zu folgen, das unsere Ehe zulässt, und dort die Meine zu werden; wenn ich Dich im Triumphe zurückführen dürfte und den Verblendeten zeigen dürfte, wie die Liebe frei ist vor dem Urteil eines weiseren Staates; wenn Du durch ein Wort uns den versagten Himmel zu öffnen bereit wärest – ein Leben voll der wärmsten, ergebensten Liebe sollte es Dir lohnen; Dir, aus deren Hand mir die Liebe und Freiheit zugleich gegeben würden. (S.196)

So nimm denn wenigstens das heilige Versprechen, Du Geliebte, dass ich mit keinem Worte versuchen werde, das Urteil, wie Du's auch fällst, zu ändern. Was Dein liebendes Herz vermag oder nicht vermag, was Dein gerader Sinn Dir zu tun gebietet, das soll auch meine Richtschnur sein. Nur versage mir die Gunst nicht, Dich noch einmal zu sehen. Und somit Lebewohl!« (S.197)

Die Erzählerin über Eduards Sicht auf Clara
 Ihr preiset das süße Lächeln des holden Mundes, der nur zu oft traurig lächelt über ein Dasein, das so grelle Gegensätze in sich schließt. Kommt dann einer einmal zu der Erkenntnis des Schmerzes, den solch ein heiteres Frauenantlitz birgt, dann schreit er über die Verstellung, die Unwahrheit des Geschlechts und vergisst, dass jeder, der ein Mädchen traurig sieht, ohne sich zu bedenken, auf eine unglückliche Liebe schließt und mit roher Hand das stille Geheimnis an das Licht ziehen möchte. Ein Frauenherz, in dem einmal der Strahl wahrer Liebe gezündet, erkennt seinen Besieger in dem Manne, fühlt sich ihm untertan, als Sklavin seines Willens, und möchte doch aus angeborenem Schamgefühl nicht dem Auge jedes Ungeweihten die Fessel zeigen, durch die es gebunden wird, die oft blutig drückt und selbst zerbrochen unvertilgbare Narben zurücklässt. Geliebt werden ist das Ziel der Frauen. Ihr Ehrgeiz ist Liebe erwerben; ihr Glück lieben, und die Liebe, nach der sie gestrebt, nicht erlangen können, unglücklich lieben, eine Kränkung, welche nur die edelsten Frauennaturen ohne Schädigung zu tragen vermögen. So beruht die ganze Entwicklung der weiblichen Seele auf dem Verhältnis zum Manne; und man darf das Weib nicht der Falschheit anklagen, wenn es den geheimnisvollen Prozess seines geistigen Werdens schamhaft der Welt verbergen möchte. (S.201)

Über Jenny
Sie schauderte vor der Wahl zwischen der Wahrheit und der Liebe; sie fühlte, dass alle sie bedauern, alle mit ihr leiden würden, falls sie sich wirklich entschließen müsste, den Geliebten ihrer Überzeugung zu opfern. (S.232)

Jenny in ihren Glaubenszweifeln
Nicht nur um glücklich zu machen, sondern um es zu werden, war sie Christin geworden; es lag Selbstsucht auch in dieser Handlung, und die Bemerkung, dass es ihr fast zur Gewohnheit geworden, sich nach ihrem Bedürfnis zu täuschen, vermehrte ihre Seelenpein in einem Grade, der ihr jedes ruhige Urteil raubte. [...] ›Auch Reinhard‹, sagte sie sich, ›ziehe ich mit in mein Verderben; auch ihn wird der Strudel erfassen, wenn ich ihm nicht mehr verbergen kann, dass ich nicht glaube. Was soll er dann beginnen? Er wird mich lieben und mir doch nicht verzeihen können! Auch er wird in den heillosen Kampf zwischen seiner Liebe und seinem Glauben geraten; auch auf sein teures Haupt werde ich das Elend herabbeschwören, das mich nicht ruhen lässt, und das wird die erste Strafe sein, mit der Gott meine Sünden rächt.‹ (S.286)
»Geliebtester! Wieviel glücklicher wären wir beide, wenn statt dieses Briefes die Nachricht in Deine Hände käme, Deine Jenny sei gestorben. Du würdest weinen, mein Reinhard. Du würdest um mich trauern, mein Andenken lieben, wie Du mich liebst, und ich wäre, erhoben von diesen Gedanken, geschieden und hätte Ruhe. Warum konnte ich nicht sterben, als du mich das letzte Mal in Deine Arme schlossest, als Deine Liebe mich so beglückte? Denkst Du daran, wie ich es wünschte, wie ich es Dir sagte, weil ich schon damals ahnte, dass ein Augenblick wie der jetzige mir bevorstehen könnte?   Bei der Erinnerung an jene Stunde beschwöre ich Dich, bei der Liebe und Nachsicht, die Du mir damals gelobt hast, stoße mich jetzt nicht von Dir, Geliebter! Du, der mich fast seit meiner Kindheit kennt, den ich liebte, seit ich ihn zuerst sah. Du bist mein Lehrer gewesen und kennst meine Seele; Du weißt, dass mein Geist ebenso heiß nach Wahrheit dürstet, als mein Herz nach Liebe verlangt. Darum kannst Du mich verstehen, darum musst Du Mitleid mit mir haben, wenn ich Dir sage, dass ich Dich mehr als die Wahrheit liebe, dass ich meine Überzeugung zwingen wollte, sich meiner Liebe zu fügen. Ich vermag es nicht länger.   Von Augenblick zu Augenblick zögere ich, Dir ein Bekenntnis zu machen, von dem ich fürchte, dass es Dich tief betrüben, mich in Deinen Augen heruntersetzen könne. Ich möchte Dich an all die Liebe erinnern, die uns vereint, an das Glück, das wir gemeinsam erhoffen, damit sie Dir vorschweben, wenn ich Dir alles gesagt haben werde.   Ich glaube nicht, dass Christus der Sohn Gottes ist; dass er… (S.287)

Es schien ihr leichter, Unrecht zu haben, sich selbst eines Fehlers zu bezichtigen, als Reinhard eine Schuld beizumessen: denn wahre Frauenliebe klagt lieber sich als den Geliebten an. (S.302)

Graf Walter über sein Verhältnis zu Jenny (in Unklarheit über seine Gefühle)
[...] ich liebe Jenny Meier nicht, so sehr ich mich ihrer Freundschaft, ihres Umganges erfreue. Es ist wahr, sie ist schön und liebenswürdig in hohem Grade, aber eine gewisse Jugendlichkeit, das weiblich Weiche fehlt ihr, das man an Mädchen ungern vermisst. Sie weiß mit Sicherheit, dass sie gefällt, es ist ihr lieb, ohne dass sie Anspruch darauf macht, und sie würde, wie mich dünkt, nicht das geringste dazu tun, die Meinung oder Gunst eines Mannes zu erwerben. Gefällt sie, ist's ihr recht, wenn nicht, so gilt's ihr gleich. Gestehen Sie, das ist eigentlich nicht die Art, welche wir an einem Mädchen lieben. Es liegt etwas Männliches darin, das interessant ist, das den Umgang sehr erleichtert, unser Vertrauen, unsere Freundschaft erweckt, aber Liebe erzeugt es nicht. (S.322)

Die Erzählerin über Graf Walter
Er hatte Jenny immer schon geliebt, und jetzt, da sie freundlich und doch arglos, als müsse es so sein, seinen Schutz und seine Stütze annahm, jetzt ging die Sonne der Liebe siegreich in seinem Bewusstsein auf, und er fragte sich: ›Warum erst jetzt?‹ (S.327)

Jenny zur Geheimrätin
»Ich habe die Entdeckung gemacht, die Liebe eines Mannes zu besitzen, an die ich nie gedacht habe, und das ist mir unangenehm.«   Die Geheimrätin sah sie verwundert an, lächelte dann und meinte: »Das heißt, du bemitleidest ihn, weil du diese Liebe nicht erwiderst und er dir nicht gefällt. Das kommt wohl vor im Leben und sollte dir nicht so neu sein, dich so sehr zu verstimmen.«   »Im Gegenteil«, antwortete Jenny, »er ist mir lieb und wert, und gerade darum tut es mir so wehe.«  [...] er ist frei und unumschränkter Herr seines Willens; ich zweifle nicht, dass er mir seine Hand anträgt, aber das ist es, was ich fürchte und was mein Vater ungern sehen wird.« (S.339)

Trotz ihres klaren Verstandes besaß Jenny die Schwärmerei eines tieffühlenden Herzens und hatte mit Treue das Andenken des Geliebten ihrer Jugend in sich gepflegt, bis sich nach Reinhards Verheiratung der Gedanke in ihr ausgebildet, sie habe jetzt keinen Anspruch mehr an Liebesglück zu machen, ihr Leben sei in der Beziehung beendet.   So hatte sie sich seit Jahren mit der Idee, »entsagt zu haben«, wie mit einem Witwenschleier geschmückt, den sie jetzt abzulegen sich nicht entschließen konnte. (S.344)

Sie konnte sich es nicht verhehlen, sie liebte Walter, nicht mit der stürmischen Glut der Leidenschaft, die sie für Reinhard einst gefühlt, sondern mit jener ruhigen Zuversicht, die an der Brust des Geliebten zwar nicht den Himmel jugendlicher Hoffnung, aber eine sichere Zuflucht in allen Stürmen des Lebens erwartet. [...] ›Ich war stark genug‹, sagte sie, ›noch ein halbes Kind, meiner Liebe zu entsagen, um Frieden mit mir selbst zu haben, und sollte nicht Kraft besitzen, für Walter ein Gleiches zu tun, für ihn, der mir ein so großes Opfer bringen will? Nein! Den Leidenskelch, der mir vom Schicksal bestimmt ist, will ich allein leeren. Ich will Walter wiedersehen, ich will ihm morgen sagen, dass ich nie die Seine werde, weil ich ihn liebe, und mir wenigstens den Trost erhalten, sein Leben nicht verbittert zu haben.‹ (S.362)

22 Februar 2020

Lewald: Wie Jenny auf die Absage ihres Geliebten reagierte

S.302:
Es schien ihr leichter, Unrecht zu haben, sich selbst eines Fehlers zu bezichtigen, als Reinhard eine Schuld beizumessen: denn wahre Frauenliebe klagt lieber sich als den Geliebten an. [...] 
S.305
Den Eltern Claras, welche sie scheidend seiner Sorgfalt empfohlen, war er ein treuer und geschätzter Freund geworden. Ihm, das wussten sie jetzt, verdankten sie das Glück ihrer Tochter, das in einer vollkommen übereinstimmenden Ehe mit William immer schöner erblühte.
[...] S.307
Nun stand Jenny allein an der Spitze ihres Hauses, auf sie war ihr Vater angewiesen.
[...] S.314
Überhaupt charakterisiert sich ein edles Gemüt, ein freier, durchgebildeter Sinn am meisten in der Art, mit welcher man Dienste empfängt und Gefälligkeiten annimmt. Sie auf eine schickliche Weise zu leisten erlernt mancher.
[...] S.315
Darum habe ich Vertrauen zu Personen, die mit guter Art anzunehmen verstehen, ohne den innerlichen Vorbehalt, durch einen Gegendienst baldmöglichst quitt zu werden oder zu vergelten.
[...] S.315
30.
So sehr Jenny und Clara sich ihres Wiedersehens erfreuten, so lieb sie einander waren, so konnte es beiden doch nicht verborgen bleiben, dass es ihnen eigentlich an jenen gemeinsamen Berührungspunkten fehle, welche die Basis der Freundschaft machen. Sie hatten im ganzen nur wenig Monate zusammen verlebt, eine Reihe von Jahren war seitdem verflossen, und trotz eines fleißigen Briefwechsels waren sie einander in ihrer gegenwärtigen Entwicklung fremd und wussten sich nicht recht ineinander zu finden. Wie Claras ganze Erscheinung Glück und Zufriedenheit ausdrückte, wie jeder Zug die Wonne aussprach, welche sie als Gattin und Mutter empfand, so zeigte sich auch in ihrer geistigen Richtung eine gewisse Ruhe, ein abgeschlossenes Begnügen. Sie hatte die höchsten Schätze des Lebens erreicht und, obgleich sie für die Außenwelt nicht abgestorben war, interessierte sie dieselbe doch eigentlich nur insoweit, als sie William berührte und mit seinen Wünschen und Ansichten zusammenhing, denn sie lebte doch eigentlich nur in ihrem Manne und in ihren Kindern. Jenny hingegen wollte, durch Eduard daran gewöhnt, teilnehmen an allem Großen und Wichtigen. Mit weiblicher Schwärmerei hing sie an den Plänen und Hoffnungen Eduards, nicht um seinetwillen allein, sondern weil sie auch die ihren geworden waren. Geistige und künstlerische Beschäftigungen füllten die größte Zeit ihres Tages aus, und mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit strebte sie nach neuen Kenntnissen, nach höherer, vielseitiger Ausbildung der Anlagen, die sie ungenutzt in sich fühlte. [...]
S.322
[...] ich liebe Jenny Meier nicht, so sehr ich mich ihrer Freundschaft, ihres Umganges erfreue. Es ist wahr, sie ist schön und liebenswürdig in hohem Grade, aber eine gewisse Jugendlichkeit, das weiblich Weiche fehlt ihr, das man an Mädchen ungern vermisst. Sie weiß mit Sicherheit, dass sie gefällt, es ist ihr lieb, ohne dass sie Anspruch darauf macht, und sie würde, wie mich dünkt, nicht das geringste dazu tun, die Meinung oder Gunst eines Mannes zu erwerben. Gefällt sie, ist's ihr recht, wenn nicht, so gilt's ihr gleich. Gestehen Sie, das ist eigentlich nicht die Art, welche wir an einem Mädchen lieben. Es liegt etwas Männliches darin, das interessant ist, das den Umgang sehr erleichtert, unser Vertrauen, unsere Freundschaft erweckt, aber Liebe erzeugt es nicht.
[...] S.327
Denn es gibt gewiss nichts Gleichgültigeres als die Sitte, einer fremden Dame den Arm zu bieten, und doch fast nichts Süßeres, als wenn diese gleichgültige Sitte unter Personen zur traulichen Gewohnheit wird, die es noch selbst nicht wissen, wie nahe sie schon zueinander gehören.   Was unverstanden wie eine dunkle Ahnung in Walter geschlummert hatte, das fühlte er plötzlich als unwiderstehliche Wahrheit. Er hatte Jenny immer schon geliebt, und jetzt, da sie freundlich und doch arglos, als müsse es so sein, seinen Schutz und seine Stütze annahm, jetzt ging die Sonne der Liebe siegreich in seinem Bewusstsein auf, und er fragte sich: ›Warum erst jetzt?‹ [...]

S.339:
»Ich habe die Entdeckung gemacht, die Liebe eines Mannes zu besitzen, an die ich nie gedacht habe, und das ist mir unangenehm.«   Die Geheimrätin sah sie verwundert an, lächelte dann und meinte: »Das heißt, du bemitleidest ihn, weil du diese Liebe nicht erwiderst und er dir nicht gefällt. Das kommt wohl vor im Leben und sollte dir nicht so neu sein, dich so sehr zu verstimmen.«   »Im Gegenteil«, antwortete Jenny, »er ist mir lieb und wert, und gerade darum tut es mir so wehe.«   »Jenny«, sagte die Geheimrätin, plötzlich ernsthaft geworden, »ich will kein Vertrauen erzwingen, wenn du nicht geneigt bist, es mir zu gewähren. Nur das eine sage mir, mich zu beruhigen: Ist der Mann, der dich liebt, verheiratet oder sonst in einer Weise gebunden, die deine Unruhe erregt? Nur die Frage beantworte mir.«   »Nein, nein!« rief Jenny, über den feierlichen Ernst ihrer Freundin lächelnd, »er ist frei und unumschränkter Herr seines Willens; ich zweifle nicht, dass er mir seine Hand anträgt, aber das ist es, was ich fürchte und was mein Vater ungern sehen wird.« [...]
S.343:
»Nein!« antwortete Jenny, »auch in mir sind Gründe dagegen. Mir fehlt die Fähigkeit, mich in dem Leben eines andern aufgehen zu lassen. Meine Existenz ist eine fest bestimmte, in sich abgeschlossene. Ich habe mich an eine gewisse Freiheit gewöhnt, die ich nicht mehr entbehren kann und die ich in der Ehe doch aufgeben müsste.
[...] S.344
Trotz ihres klaren Verstandes besaß Jenny die Schwärmerei eines tieffühlenden Herzens und hatte mit Treue das Andenken des Geliebten ihrer Jugend in sich gepflegt, bis sich nach Reinhards Verheiratung der Gedanke in ihr ausgebildet, sie habe jetzt keinen Anspruch mehr an Liebesglück zu machen, ihr Leben sei in der Beziehung beendet.   So hatte sie sich seit Jahren mit der Idee, »entsagt zu haben«, wie mit einem Witwenschleier geschmückt, den sie jetzt abzulegen sich nicht entschließen konnte.
[...] S.352
»Mir scheint, was die Dichtung anbetrifft, Nathan der Weise überhaupt mehr eine großartige Allegorie, ein didaktisches Gedicht, als ein darstellbares Schauspiel zu sein. In dem Bestreben, die positiven Religionsunterschiede als unwesentlich darzustellen, sobald die innere, wahre Religion vorhanden, hat Lessing den einzelnen Repräsentanten der verschiedenen Konfessionen ihren nationalen und durch den Glauben bedingten Typus genommen, so dass Saladin, der Templer und Nathan, drei so ganz abweichende Charaktere, eine Art von protestantischer Familienähnlichkeit bekommen. Das tut dem Interesse Abbruch, welches man an ihnen nähme, wenn die Gegensätze schärfer gezeichnet wären. Dazu kommt noch, dass die Ruhe, mit der der Templer, der strenggläubige Christ, sich als den Abkömmling eines Muselmannes, den Bruder einer Jüdin erblickt, etwas Unwahres hat, wie der ganze Schluss, der nicht befriedigt – wenigstens auf der Bühne nicht. Das Schauspiel unterhält den Zuschauer nicht, so herrlich das Gedicht ist, und wird durch den Darsteller noch langweiliger.«
[...] S.353
»Madame Steinheim hat recht!« bekräftigte Walter. »Gerade da liegt jenes Schauspielers Fehler in dieser Rolle. Er ist nicht der schlichte, klare Mann, der aus eigener Anschauung Gott, die Welt und den Menschen begriffen hat; nicht der anspruchslose Weise, der sich seiner hohen Weisheit kaum bewusst ist und sie für die natürlichste Erkenntnis hält – sondern ein selbstbewusster Gelehrter, der seine Sentenzen im Kathedertone vorträgt, weil er ihre wichtige Bedeutung fühlt. Deshalb stellt er sich jedes Mal in Position, ehe er eine seiner moralischen Behauptungen spricht, und der Schein von Demut, von Schlichtheit, mit dem er sich umgibt, täuscht uns keinen Augenblick. Lessing dachte sich einen Erzvater in heiliger, erhabener Einfalt, und jener stellt uns einen Professor des neunzehnten Jahrhunderts vor, der wohl fühlt, dass er tausendmal gescheiter sei als sein Auditorium, sich aber hütet, es zu zeigen, weil er weltklug genug ist, niemand beleidigen zu wollen. Er erscheint feig und arrogant zugleich.«   Frau von Meining lächelte und stimmte dem Grafen bei, auch Jenny schien seine Ansicht zu teilen.
[...] S.354
»Vor allem vergessen Sie nicht, dass Nathan, der unterdrückte, der verachtete Jude, zu seinem Herrn und Unterdrücker spricht. Das mag die bescheidene, fast furchtsam Weise seines Auftretens bei aller seiner Selbstschätzung entschuldigen.«   »Im Gegenteil!« rief Jenny. »Wenn er es fühlt, dass er ein freier Mensch ist vor den Augen des Schöpfers, wenn er die Qual empfindet, unterdrückt, verachtet zu sein, so muss ihn das nur stolzer gegen seinen Unterdrücker machen. Was kann ein Mann wie Nathan fürchten? – Ketten und Gefängnis? Darüber erhebt ihn sein Selbstgefühl; – den Tod? Er hat sein Weib und seine Söhne sterben sehen und Gott getraut, er kann den Tod für sich nicht… [...]

S.362:
Sie konnte sich es nicht verhehlen, sie liebte Walter, nicht mit der stürmischen Glut der Leidenschaft, die sie für Reinhard einst gefühlt, sondern mit jener ruhigen Zuversicht, die an der Brust des Geliebten zwar nicht den Himmel jugendlicher Hoffnung, aber eine sichere Zuflucht in allen Stürmen des Lebens erwartet. Sie wusste, wie teuer sie ihm sei, sie konnte sich in den lieblichsten Farben eine Zukunft an seiner Seite denken und hatte ihre Hoffnung, ohne es zu wissen, bereits an diese Zukunft geknüpft. Das fühlte sie an dem Schmerz, den der Gedanke, sich von Walter trennen zu müssen, in ihr hervorrief. Aber diese Trennung stand jetzt als Notwendigkeit vor ihr. Die Äußerungen Steinheims am Morgen und die Unterhaltung, deren Zuhörerin sie am Abend gewesen war, hatten ihr gezeigt, was sie ohnehin fühlte, dass sie Walter, indem sie seine Hand annehme, in den Kampf verwickle, den sie als Jüdin gegen die Meinung der Menge zu bestehen hatte.   ›Ich war stark genug‹, sagte sie, ›noch ein halbes Kind, meiner Liebe zu entsagen, um Frieden mit mir selbst zu haben, und sollte nicht Kraft besitzen, für Walter ein Gleiches zu tun, für ihn, der mir ein so großes Opfer bringen will? Nein! Den Leidenskelch, der mir vom Schicksal bestimmt ist, will ich allein leeren. Ich will Walter wiedersehen, ich will ihm morgen sagen, dass ich nie die Seine werde, weil ich ihn liebe, und mir wenigstens den Trost erhalten, sein Leben nicht verbittert zu haben.‹

18 Februar 2020

Fanny Lewald: Jenny: Der Briefwechsel zwischen den Verlobten

Jenny's Herz schlug freudig der langersehnten Nachricht entgegen, sie drückte das Blatt an ihre Lippen. Vor der sichern Hoffnung auf die nahe Vereinigung mit dem Geliebten war für einen Augenblick jeder andere Gedanke aus ihrer Seele geschwunden; und sie begann den Brief nochmals zu lesen, um nur keines der Worte zu verlieren, welche sie so glücklich machten. Da fiel ihr Blick auf die Stelle: Ich wünsche noch vor unserer Hochzeit mit Dir das Abendmahl zu nehmen, und auch auf diese Weise in die heiligste, innigste Gemeinschaft mit Dir zu treten, die Du bald als mein geliebtes Weib, unauflöslich, untrennbar mit mir verbunden, mein sein wirst.
Ihrer Hand entsank das Blatt, jetzt war der Augenblick gekommen! Zum zweiten Mal, wie bei der Taufe, ein Spiel[249] zu treiben mit Dem, was Reinhard das Heiligste auf der Welt war, das vermochte sie nicht. Dies, das fühlte sie, dies war der entscheidende Moment, in welchem sie entweder sich durch einen gewaltsamen Entschluß in ihrer eigenen Achtung wieder herstellen und ihr Gewissen in Bezug auf Reinhard beruhigen, oder sich mit geschlossenen Augen in ein Labyrinth stürzen mußte, in dem sie und der Geliebte untergehen konnten.
Der Kampf war ernst und schwer, aber die Wahrheit siegte, und aufgelöst in Schmerz schrieb sie nach durchwachter Nacht, als schon das helle Tageslicht in ihre Fenster schien, folgenden Brief an Reinhard:
Geliebtester! Wie viel glücklicher wären wir Beide, wenn statt dieses Briefes die Nachricht in Deine Hände käme, Deine Jenny sei gestorben. Du würdest weinen, mein Reinhard! Du würdest um mich trauern, mein Andenken lieben, wie Du mich liebst, und ich wäre, erhoben von diesem Gedanken, geschieden und hätte Ruhe. Warum konnte ich nicht sterben, als Du mich das letzte Mal in Deine Arme schlossest, als Deine Liebe mich so beglückte? Denkst Du daran, wie ich es wünschte, wie ich es Dir sagte, weil ich schon damals ahnte, daß ein Augenblick, wie der jetzige, mir bevorstehen könnte?
Bei der Erinnerung an jene Stunde beschwöre ich Dich, bei der Liebe und Nachsicht, die Du mir damals gelobt hast, stoße mich jetzt nicht von Dir, mein Geliebter! Du, der mich fast seit meiner Kindheit kennt, den ich liebte, seit ich ihn zuerst sah. Du bist mein Lehrer gewesen und kennst meine Seele; Du weißt, daß mein Geist ebenso heiß nach Wahrheit dürstet, als mein Herz Liebe verlangt. Darum kannst Du mich verstehen, darum mußt Du Mitleid mit mir haben, wenn ich Dir sage, daß ich Dich mehr als die Wahrheit liebe, daß ich meine Ueberzeugung zwingen wollte, sich meiner Liebe zu fügen. Ich vermag es nicht länger.[250]
Von Augenblick zu Augenblick zögere ich, Dir ein Bekenntniß zu machen, von dem ich fürchte, daß es Dich tief betrüben, mich in Deinen Augen heruntersetzen könne. Ich möchte Dich an all die Liebe erinnern, die uns vereint, an das Glück, das wir gemeinsam erhoffen, damit sie Dir vorschweben, wenn ich Dir Alles gesagt haben werde.
Ich glaube nicht, daß Christus der Sohn Gottes ist; daß er auferstanden ist, nachdem er gestorben. Ich glaube nicht, daß es seines Todes bedurfte, um uns Gottes Vergebung und Nachsicht zu erwerben. Die Dreieinigkeit, die er lehrte, ist mir ein ewig unverständlicher Gedanke, der keinen Boden in meiner Seele findet. Ich glaube nicht, daß es ein Wunder gibt, daß Eines geschehen kann, außer den Wundern, die Gott, der Eine, einzig wahre, täglich vor unsern Augen thut. Und selbst zu Christus, des erhabenen, göttlichen Menschen Erinnerung kann ich das Abendmahl nicht nehmen, mich nicht zu einer Ceremonie entschließen, die mir wie eine unheimliche Form erscheint, während Du die innigste Verbindung mit Gott darin feierst.
Ich kann nicht anders! Diese Ueberzeugung ist stärker als meine Liebe, als ich! Nach furchtbarem Kampfe wurde ich Christin; denn schon vor der Taufe war die Wahrheit in mir Herr geworden über eine Täuschung, die ich mit der Angst der Verzweiflung in mir zu erhalten strebte, um Deinetwillen! Lügen kann ich nicht länger, aber auch glauben kann ich nicht – kein Ausweg ist möglich; und mit dem Gefühl der tiefen Liebe, die ewig wahr und unverändert in mir ist, werfe ich mich an Deine Brust. Du sollst mir sagen, wie ich Frieden mache zwischen Liebe und Glauben, wie ich mich wiederfinde in dem Gewühl des Kampfes.
Wenn Du mich liebst, habe Mitleid mit mir, komme bald, komme gleich und laß mich aus Deinem Munde die Worte hören, die meiner Seele allein Ruhe geben können. Sage mir,[251] daß Du mich lieben kannst, wenn ich auch nicht an Christus glaube, wie Ihr es verlangt. Ihr sagt, er sei die Liebe – nun, dann ist er mit mir, denn ich liebe Dich, wie je ein Mensch zu lieben vermochte; ich kenne kein Glück als Deine Liebe. Schreibe mir nicht! Das dauert zu lange, komme selbst, damit ich Dich sehe und in Deinen Augen die Antwort finde, die langsam aus todten Lettern zu lesen, eine Qual wäre, die Du mir ersparen wirst, weil Du mich liebst. 
Ja! ich weiß, daß Du mich liebst. Mit dem Glauben, sage ich Dir, auf Wiedersehen! Geliebter, Lehrer, Freund, mein Alles auf der Welt! Laß mich nicht lange auf Deine Ankunft warten, jetzt, wo jede Minute mir zu Jahren wird, bis ich Dich sehe!
Nachdem sie diesen Brief gefaltet und der Diener ihn besorgt hatte, schien es ihr, als hätte sie nichts von Dem gesagt, was sie eigentlich gedacht. Sie wollte ihn zurück haben, es anders sagen, nochmals überlegen. Sie warf sich vor, zu rasch gehandelt zu haben, sie befahl dem Diener, sich zu beeilen und Alles aufzubieten, um ihr diesen Brief zurückzubringen. Aber vergebens. Die Post war abgegangen, kein Widerruf war möglich. Nun, so mag Gott sich meiner erbarmen! rief Jenny und stürzte weinend zu ihren Eltern, die jetzt durch sie das Geschehene erfuhren und, mit ihr leidend, Alles aufboten, ihr Ruhe und Trost zu geben. Zärtlich, nur für den Augenblick besorgt, versicherte ihre Mutter, Jenny könne doch unmöglich daran zweifeln, daß Reinhard sie liebe, und sie hege das Vertrauen, ein so aufgeklärter Mann werde an seiner Braut wegen einer Meinungsverschiedenheit nicht irre werden. [...]
Geschäftig, ihn zu trösten, hielt sie ihm das Unrecht vor, das man an ihm begehe, und steigerte dadurch sein eignes Leiden so sehr, daß er, von Eifersucht und gekränktem Stolz getrieben, in der ersten Aufregung seines leidenschaftlichen Schmerzes diese Antwort schrieb:
Ein Mädchen, das Seelenstärke genug besitzt, den vertrauenden Mann, der mit glaubensvoller Liebe jeden Zweifel an sie für eine Todsünde gehalten, mit dem heiligsten Eide zu täuschen, wird die Kraft finden, eine Trennung zu ertragen, der mein Männermuth zu unterliegen droht. Wohl ihr, wenn diese Kraft sie auch vor Reue zu bewahren vermag.
Anfänglich sollte das Alles sein, was er ihr sagen wollte, und seine Mutter, welche dies Blatt gelesen, war eilig, es abgesendet zu wissen, weil es gerade so ihrer Gesinnung entsprach. Aber ein anderer Geist, eine unsägliche Traurigkeit kam über Reinhard. Er nahm das Blatt aus den Händen seiner Mutter, öffnete es nochmals und fuhr fort:
Jenny, warum hast Du mir das gethan? Gab es kein anderes Spiel, als das mit meinem Herzen? Ich weiß jetzt Alles, weiß, daß mich mein Argwohn nicht betrog. Du kannst mich nicht mehr täuschen. Alle Bande zwischen uns sind gelöst, mein Gewissen verlangt, daß ich sie zerreiße, aber mein Herz blutet. Ich fühle, daß ich kein Weib die Meine nennen darf, dem der heilige Glaube, welchen zu verkünden ich berufen bin, verschlossen ist. Und doch könnte ich Dich lieben, könnte Dich segnen, wenn Du mir nur die Möglichkeit gelassen hättest, Dich zu achten. Warum sagtest Du mir nicht, daß Du[257] Erlau liebtest, daß nur er Dich beglücken könne? Für Dich wäre mir das Opfer nicht zu schwer gewesen. Aber Du liebtest ihn und gelobtest mir Treue; Du theilst meinen Glauben nicht und schwörst, daß auch Dich Christus durch seinen alleinseligmachenden Tod mit dem Vater im Himmel vereint. Jenny, wie durftest Du so grausam das Ideal zerstören, das ich in Dir anbetete? Wie konntest Du Deine Seele, dies heilige, Dir von Gott vertraute Pfand, bis zu dieser That versinken lassen? Sage mir nicht, daß Du Dich getäuscht hast, das ist unmöglich, wenn Du es nicht wolltest. Selbst Liebe entschuldigt die Lüge nicht, und diese Lüge ist es, die uns für ewig trennt, denn ich habe unwiederbringlich den Glauben an Dich verloren, in der ich alles Heilige und Wahre liebte. Lebe denn wohl, Du, die ich nimmer vergessen kann, die mir das größte Glück und das tiefste Leid meines Lebens gegeben. Lebe wohl. Ich klage Dich nicht an, denn Du bist unglücklicher als ich, der im Glauben eine Stütze finden wird. O, wollte Gott, daß ich Dir den Glauben geben könnte zum Dank für das Glück, das ich, wenn auch nur durch eine Täuschung, bisher in Deiner Liebe genossen!
So kam der Brief in Jenny's Hände. Sie selbst vermochte ihn nicht zu lesen, ihre Hände zitterten, die Buchstaben schwammen vor ihren Augen. Sie reichte ihrem Vater, der gerade bei ihr war, das Blatt hin und fragte bebend: Kommt er? Sage mir, ob er kommt, ich kann nicht lesen. – Verneinend schüttelte der Vater das Haupt, nachdem er den Brief beendet, und gab ihn der Tochter wieder, die sich gewaltsam zusammennahm, um ihn hastig zu durchfliegen. Eine tiefe Ohnmacht, das einzige Glück, das ihr in dieser Stunde werden konnte, senkte sich auf sie nieder.
Als sie erwachte, las sie wieder und immer wieder den Brief, ohne zu begreifen, wie Reinhard an ihrer Liebe zweifeln [258] könne, oder was der Gedanke bedeute, daß sie Reinhard um Erlau's willen aufopfere. Sie hatte sich gesagt, daß eine Trennung bei Reinhard's Gesinnung denkbar sei, aber für möglich hatte sie sie nicht gehalten, trotz der Andeutungen ihres Vaters. Von dem Geliebten verachtet, ohne Glauben, ohne Hoffnung, mir selbst eine Last, was bleibt mir im Leben? rief sie aus.
Jenny! sagte der Vater verweisend und doch mit unaussprechlicher Liebe, zog seine Tochter in seine Arme und rief auch die Mutter herbei, daß sie Beide mit ihrer Liebe das Kind beschatten möchten vor dem versengenden Strahl des Schmerzes, der sie getroffen."

17 Februar 2020

Fanny Lewald: Über die Spannungen, die eine nur halbe Emanzipation der Juden bedeutete

Jüdisches Leben im 19. Jahrhundert

In ihrem Roman Jenny kann Fanny Lewald durch die Nähe zu ihren eigenen Erfahrungen an den Schicksalen der Hauptpersonen deren Gefühlen einen sehr glaubwürdigen Ausdruck verleihen. 
Wikipedia: "Fanny Lewald selbst bezeichnete rückblickend das Verfassen ihrer ersten beiden Romane, Clementine und Jenny als relativ leicht: hier „war das Arbeiten in sofern ganz subjektiv, als ich (…) mich selbst in gewisser Weise meiner Natur zum Modell hatte - und auch für die anderen Figuren hatte ich Modelle, die jedoch zum Teil nur insofern benutzte, als ich das Typische an ihnen festhielt“.[14]
Besonders von einem heutigen Standpunkt aus, wo ein weniger enges Verständnis des christlichen Dogmas der Dreieinigkeit herrscht, berühren  die Gewissensbisse, die sich die Hauptperson darüber macht, dass sie drei Personen nicht als eine aufzufassen versteht. Das gilt umso mehr, als sie Glauben als "für wahr halten" und nicht als Vertrauen in Gott auffasst.
Denn wenn man Gewissensbisse als im Grunde unbegründet sieht, wirkt es umso stärker, wenn eine Person sehr darunter leidet und sich darum von der Person getrennt fühlt, die ihr die wichtigste in ihrem Leben erscheint. 
Auch wenn Kellers Kritik trifft, dass der realistischen Schilderung des Alltagslebens des Lebens zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, so scheint die Konzentration auf die gedankliche und gefühlsmäßige Auseinandersetzung mit der unvollständigen Emanzipation der Juden doch angemessen.  


[...] S.160
»Ich habe«, sagte sie, »mein Leben lang an Gott gedacht; ich habe seit meiner frühesten Kindheit, wenn mir etwas besonders Gutes oder Böses begegnete, geglaubt, das komme mir aus seiner Hand; und da mir meine Eltern als seine sichtbaren Stellvertreter auf Erden erschienen, mich vollkommen ruhig und glücklich gefühlt, ohne nach einer besonderen religiösen Erkenntnis zu streben.«   »Und Sie fühlen diese innere Zufriedenheit auch jetzt noch?« fragte der Geistliche.
[...] S. 163
Er erriet, dass kein inneres Bedürfnis, sondern nur Liebe zu Reinhard der Beweggrund sei, welcher sie dem Christentum entgegenführe, und er tadelte sie deshalb nicht. Ein langes Leben hatte ihn zu der Überzeugung gebracht, die er in früher Jugend mit orthodoxer Strenge bekämpft, dass man Christ sein könne ohne den Glauben an die christlichen Dogmen, und er war, einmal zu dieser Erkenntnis gelangt, ernstlich mit sich zu Rate gegangen, ob diese Ansicht ihn nicht zwinge, sein Amt niederzulegen. Mit dem gewissenhaftesten Eifer hatte er die Lehre Jesu und sich selbst geprüft und sich dadurch in der Überzeugung befestigt, dass Liebe und Duldung bei fortschreitender geistiger Entwicklung die Grundzüge des Christentums und besonders des Protestantismus ausmachten. In diesem Sinne hatte er sein Amt behalten und verwaltet. Er hatte von ganzem Herzen danach getrachtet, unter seiner Gemeinde die Lehre Jesu in ihrer moralischen Reinheit zu verbreiten, und auch die Form heilig geehrt, in der diese Lehre uns übergeben worden ist, ohne jedoch diejenigen fanatisch zu verdammen, die sich ausschließlich an den Geist hielten. Diese bekannte Gesinnung hatte den Vater bewogen, ihn zu Jennys Lehrer zu wählen, womit Reinhard nur auf Zureden seiner Mutter sich einverstanden erklärt.
[...] S. 167
Nach einer einfachen Einleitung sagte er zu ihr, die ersten christlichen Philosophen, welche über die Dreifaltigkeit gedacht, hätten von ihr gesagt: Gott war! Aber außer ihm nichts. Gott dachte sein Bild; und da das Denken und Entstehen bei Gott eins ist, so war dies Bild Gottes vorhanden, ohne selbständiges Wesen zu sein, denn es besteht nur in Gott. Dieses Wesen, für das die deutsche Sprache kein Wort hat, heiße in dem Urtext der Bibel Logos und sei in dem Menschen Jesus Mensch geworden, als die geistigen Geschöpfe der Erde, die Menschen, einer göttlichen Offenbarung gewürdigt werden sollten. Darum nenne sich Christus den Erstgeborenen. Das Band nun zwischen diesem Gedanken Gottes und Gott sei der Heilige Geist. Man könne also Gott allein, ohne Jesus und den Heiligen Geist denken, nicht aber die letzteren ohne Gott – denn nur in ihm sind sie.
[...] S.167
Als Jenny diese Erklärung vernommen hatte, rief sie freudig: »Oh! Sie geben mir das Leben wieder, indem Sie mir sagen, ich dürfe Gott denken ohne Christus und den Heiligen Geist! Das ist der Gott, den man mich von Kindheit an gelehrt hat, der uns alle beschützt. So vermag ich ihn zu glauben.«   »Nein, meine Tochter!« wendete der Greis ihr ein, erstaunt über die willkürliche Auslegung, welche Jenny seinen Worten gegeben. »Nein, Sie täuschen sich selbst! Ich habe Ihnen gesagt, dass wir Gott allein zu denken vermögen, aber es konnte unmöglich meine Absicht sein, Ihnen den Glauben an die Dreifaltigkeit Gottes preiszugeben, den unsere Religion lehrt.«
[...] S. 169
Vergebens rang sie danach, zu einer klaren Vorstellung zu kommen, es gelang ihr nicht, und immer wieder tönte ihr das furchtbare »Glaube« ins Ohr, auf das man sie verwies und das sie nicht in sich erzwingen konnte.
[...] S.170
Durch einen Eid will ich mich in wenigen Wochen lossagen vom Glauben meiner Väter, den ich begreife und heilig halte, und zu einer Religion übertreten, gegen welche meine Überzeugung sich noch immer sträubt. Das kann Gott nicht wollen, das wäre Sünde.‹   Aber was konnte sie denn tun, sich zu befreien aus dieser Not? Sich Reinhard entdecken oder irgendjemandem, hieße Reinhard verlieren; denn nur als Christin konnte sie die Seine werden, konnte er ihr angehören. Sie erschien sich unglücklicher als jene Arbeiter, die in Dürftigkeit, aber gewiss ruhigen Geistes neben ihr herschritten. Was hatte sie verbrochen, um so schwer geprüft zu werden? Die sorglose Freudigkeit, mit der sie an Gott geglaubt und das Rechte getan, hatte ihr Reinhard geraubt und sie auf Lehren hingewiesen, die ihr bis jetzt nicht die geringste Beruhigung boten und sie den qualvollsten inneren Kämpfen preisgaben.
[...] S.172
Wie ernst strebte sie, den Gedanken der Dreieinigkeit zu fassen um seinetwillen! Denn sie selbst, sie konnte wie bisher sehr glücklich sein auch ohne diese Erkenntnis – aber ohne Reinhard nicht.
[...] S.185
Es bewährte sich auch an ihm, dass niemand uns so tödlich verletzen, so unablässig zu peinigen vermag als wir selbst, weil niemand so genau die wunde Stelle unserer Seele kennt und sie in jedem Augenblick so tief und sicher zu treffen weiß als eben wir. Darum sollte man sich vor keinem Feinde so sehr hüten als vor seinen eigenen Schwächen und Phantasien, mögen sie auch noch so nahe mit der Tugend verwandt sein! Jedem Feinde tritt man mit Härte, mit aller Macht des Geistes entgegen, und eine Art von Schadenfreude nebst der Lust am Siege sind uns vortreffliche Hilfstruppen gegen den Feind außer uns. Wer hat aber Selbstbeherrschung genug, mit offenen ehrlichen Waffen gegen sich selbst zu kämpfen? Wen freut es, über ein verhätscheltes Kind des eigenen Wesens zu siegen, das wir doch immer lieben, eben wie ein Vater sein Kind, wenngleich er nicht blind für dessen Fehler ist?
[...] S. 194
»Jene Stunde, die ich mit aller Wonne der Liebe erwartet hatte, ist herangekommen und zur Trennungsstunde für uns geworden – das höchste Glück, das Bewusstsein, Ihre Liebe zu besitzen, wird zum Schmerz, denn auch auf Sie fällt die Pein des Scheidens. – Zürnen Sie mir um deshalb nicht. Mehr als mein eigener Schmerz peinigt mich der Gedanke, dass Sie mit mir leiden, dass meine Liebe Sie nicht zu schützen, nicht zu beglücken vermag. Ich könnte eine Welt hassen, in der Herzen, die zusammengehören, getrennt werden, weil das eine so, das andere anders zu seinem Schöpfer betet, der beide füreinander erschuf, der sie, wie uns, zusammenführte. Jahrtausende hat der Fluch über meinem Volke geschwebt, nun hat er auch mich getroffen. Ich wähnte, es sei an der Zeit, frei zu werden von jenen Fesseln, die blinder Pfaffenglaube der ganzen Menschheit auferlegt. Ich hatte Dich gesehen, ich liebte Dich und ich hoffte, Du solltest die Aurora werden, welche ein neues Morgenrot der Aufklärung für unser ganzes Land verkündete. Denn nicht allein den Juden trifft der Wahnwitz dieses Hasses, er schlägt in gerechtem Undank selbst die Mutter, die ihn erzeugt. Auch Du, die Christin, leidest unter ihm. Aber wer hieß Dich, einen Juden zu lieben? Warum wolltest Du lieben, was die Deinen hassen? Die Deinen, welche sich zu einer Religion der Liebe bekennen! – Oh! Christus wusste, wie der Hass zerfleischt, entmenscht, darum predigte er Liebe, und die Unwürdigen begriffen nur den Hass, vor dem er sie gewarnt.
[...] S. 196
Der Staat, der es erlaubt, dass Menschen ohne alle innere Zusammengehörigkeit einander den Eid der Treue vor dem Altare schwören, der es duldet, dass die Jungfrau mit gebrochenem Herzen in die Arme eines Mannes geführt wird, welcher vielleicht noch gestern an der Brust einer Buhlerin des Bundes lachte, den er heute beschwört, der Gesetze gibt, diese fluchenswerten Ehen zu schützen derselbe Staat will es nicht dulden, dass zwei Herzen, die in reinstem Einklang schlagen, sich verbinden, weil sie auf verschiedene Weise Gott für das Glück danken würden, das er ihnen durch ihre Liebe gewährt. – Das sind die Gesetze, vor denen man Achtung verlangt!   Nur eine Zuflucht bietet sich uns dar, wenn Du es vermöchtest, Dich von allen Vorurteilen zu befreien, wenn Du Dich entschließen könntest, mir unter dem Schutze der Meinen in ein Land zu folgen, das unsere Ehe zulässt, und dort die Meine zu werden; wenn ich Dich im Triumphe zurückführen dürfte und den Verblendeten zeigen dürfte, wie die Liebe frei ist vor dem Urteil eines weiseren Staates; wenn Du durch ein Wort uns den versagten Himmel zu öffnen bereit wärest – ein Leben voll der wärmsten, ergebensten Liebe sollte es Dir lohnen; Dir, aus deren Hand mir die Liebe und Freiheit zugleich gegeben würden.
[...] S. 197
So nimm denn wenigstens das heilige Versprechen, Du Geliebte, dass ich mit keinem Worte versuchen werde, das Urteil, wie Du's auch fällst, zu ändern. Was Dein liebendes Herz vermag oder nicht vermag, was Dein gerader Sinn Dir zu tun gebietet, das soll auch meine Richtschnur sein. Nur versage mir die Gunst nicht, Dich noch einmal zu sehen. Und somit Lebewohl!«
[...] S. 201
Er bewunderte Clara, aber er konnte ihre Entsagung kaum begreifen. Ja, einen Augenblick lang wagte er zu glauben, Claras Gefühl könne an Stärke dem seinigen nicht gleich sein; sie müsse ihn weniger lieben als er sie. Das ist eine Ungerechtigkeit, deren man sich nur zu oft schuldig macht. Weil das Weib besser liebt, weil es nur an den Schmerz des Geliebten, nicht an sich selbst denkt und sich in dem Glück des andern vollkommen vergessen kann, schilt man es kalt und tröstet sich über den Gram, den man verursacht, mit dem alten Gemeinplatz, das Weib sei leidensfähiger als der Mann. Die Schmach fühlt man gar nicht mehr, den Frauen, dem sogenannten schwachen Geschlecht, eine Stellung im Leben angewiesen zu haben, die sie von Jugend auf an Leiden und Entsagungen gewöhnt; man denkt nicht an jene schweren Stunden, in denen sie genötigt sind, sich zu beherrschen, wenn ihr Herz gepeinigt wird. Wer sieht die Tränen, die oft aus der innersten Seele hervorbrechen möchten, während ein Männerarm die schöne Gestalt umschlingt und mit ihr durch die fröhlichen Reihen des Walzers dahinfliegt? Ihr seht nur die schimmernden Tautropfen auf dem Rosenkranz in ihren Locken, nur die Perlen, die den schönen Nacken zieren, und ahnet nicht, dass hinter dem feuchten Blau des Auges, das euch entzückt, Perlen und Tautropfen hängen, viel kostbarer und reiner als der Tand, den ihr bewundert. Ihr preiset das süße Lächeln des holden Mundes, der nur zu oft traurig lächelt über ein Dasein, das so grelle Gegensätze in sich schließt. Kommt dann einer einmal zu der Erkenntnis des Schmerzes, den solch ein heiteres Frauenantlitz birgt, dann schreit er über die Verstellung, die Unwahrheit des Geschlechts und vergisst, dass jeder, der ein Mädchen traurig sieht, ohne sich zu bedenken, auf eine unglückliche Liebe schließt und mit roher Hand das stille Geheimnis an das Licht ziehen möchte. Ein Frauenherz, in dem einmal der Strahl wahrer Liebe gezündet, erkennt seinen Besieger in dem Manne, fühlt sich ihm untertan, als Sklavin seines Willens, und möchte doch aus angeborenem Schamgefühl nicht dem Auge jedes Ungeweihten die Fessel zeigen, durch die es gebunden wird, die oft blutig drückt und selbst zerbrochen unvertilgbare Narben zurücklässt. Geliebt werden ist das Ziel der Frauen. Ihr Ehrgeiz ist Liebe erwerben; ihr Glück lieben, und die Liebe, nach der sie gestrebt, nicht erlangen können, unglücklich lieben, eine Kränkung, welche nur die edelsten Frauennaturen ohne Schädigung zu tragen vermögen. So beruht die ganze Entwicklung der weiblichen Seele auf dem Verhältnis zum Manne; und man darf das Weib nicht der Falschheit anklagen, wenn es den geheimnisvollen Prozess seines geistigen Werdens schamhaft der Welt verbergen möchte.
[...] S. 229
Und wieder geleitete er Clara zu ihrem Wagen, wie an dem letzten Abende, den sie in der Stadt zusammen verlebt; aber gegen den dumpfen Gram, den beide jetzt empfunden, musste ihnen der Schmerz jener Stunden wie ein Glück erscheinen. Denn in jenem Schmerze lag noch Bewegung und Leben; heute aber fühlten sie die Entsagung wie ein Leichentuch über ihre Zukunft gebreitet und schieden wortlos, hoffnungslos.
[...] S. 229
Wie der Dichter, namentlich in seiner Jugend, die Geschöpfe seines Geistes kaum von den um ihn her lebenden Menschen zu unterscheiden vermag; wie Kinder sich spielend so fest in die erfundenen Verhältnisse ihrer Puppen hineindenken, dass sie unwillkürlich Erfundenes und Wirkliches vermischen und nicht mehr trennen können, so ging es in gewisser Art Jenny mit ihrer religiösen Erkenntnis. Nachdem sie vergebens versucht, die Symbole des Christentums mit dem Verstande zu erfassen, bemächtigte sich einst plötzlich ihre Einbildungskraft derselben, und sie wurde mit Überraschung gewahr, dass sie vieles sich denken und in seinen Folgen und in seiner Veranlassung ausmalen, ja es bis zu einer deutlichen Vorstellung in sich ausbilden könne, woran ihr der Glaube fehlte. Christus, der eingeborene, gekreuzigte und wiederauferstandene Sohn Gottes, wurde für sie zu einer so festen Gestalt in seinen Wundern, wie es ihr früher irgendein Gott des Olymps gewesen, wie es ihr noch jetzt Goethes göttlicher Mahadö war, der die sich opfernde Geliebte mit sich verklärt aus den Flammen emporhebt. So wie sie, trotz der historischen Kenntnis des mittelaltrigen Johann Faust, diesen gänzlich in der unsterblichen Gestalt des Goetheschen Faust verloren hatte, weil der letztere allein ihr durch die poetische Schönheit des Gedankens als wirklich erschien, so bildete sie aus dem Menschen Jesus, den die Apostel beschrieben, jenen mystischen Christus in sich aus, wie ihn die späteren christlichen Philosophen als Teil der Dreieinigkeit dachten. Sie wähnte, als diese Erscheinung in einer bestimmten Form in ihr lebte, endlich an Christus und seine Wunder zu glauben, in dem Sinne, den Reinhard verlangte, so dass sie mit vollem Vertrauen von sich zu behaupten wagte, jetzt sei ihr nicht bloß die christliche Moral, sondern die Menschwerdung Christi zu einer vollkommenen Wahrheit geworden. Wie bei allen Trugschlüssen stimmte plötzlich alles zu ihren Ideen, nachdem sie willkürlich einen Anfangspunkt für ihr System gefunden hatte, den sie als richtig annahm, obgleich er es in der Tat nicht war. Die sichere Ruhe, mit der sie sich hinterging, täuschte auch Reinhard und den sie unterrichtenden Pastor, obgleich der letztere über eine so unerwartete Veränderung der Ansichten bei seiner Schülerin sehr überrascht zu sein schien.
[...] S. 231
Als sie nun jenes Glaubensbekenntnis niederschreiben wollte, das sich eigentlich streng an die im »Glauben« enthaltenen Dogmen binden musste; als sie ihr Nachdenken fest auf den Punkt richtete, fing das Luftgebäude ihrer künstlichen Überzeugung zu schwanken an, und die Schöpfung einer regen Phantasie zerfloss vor dem festen Blick ihres Verstandes in ein Nichts. Sie bemerkte das mit Schrecken. Sie hatte Ruhe und Heiterkeit gewonnen durch die Täuschung, der sie sich unbewusst hingegeben; was frommte ihr eine Einsicht, die ihr beides schonungslos raubte, die sie in das alte Chaos des Zweifels stürzte und, wenn sie wahr sein sollte, sie von Reinhard trennte, weil ihr Übertritt zum Christentum bei diesen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Vergebens wollte sie die Vorstellungen in sich zurückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig und klar gewesen waren; es gelang ihr nicht. Ebenso wie es dem Erwachsenen nicht gelingt, jene Empfindung in sich hervorzuzaubern, die wir als Kinder alle haben, wenn wir im Wagen dahinfahrend wähnen, Bäume und Häuser an uns vorüberfliegen zu sehen, während wir stillstehen.
[...] S.232
Einen Moment lang mag man noch hoffen, sich gegen die Wahrheit zu verblenden, eine liebgewonnene Täuschung in sich festhalten zu können – die Wahrheit siegt doch immer. Es ist ihr Prüfstein, dass sie siegen muss, und auch Jenny sträubte sich jetzt vergebens gegen die Gewalt der Wahrheit.   Die Überzeugung, dass der Geist des Christentums die Hauptsache in demselben sei, war es allein, die ihr einen Ausweg für ihre Besorgnisse zeigte, einen Ausweg, vor dem ihre Redlichkeit sich scheute. Was aber sollte sie tun? Jetzt, nachdem sie unaufhörlich ihren Glauben an die christlichen Dogmen behauptet hatte, plötzlich erklären, sie habe sich getäuscht und sie könne nichts davon glauben? [...] S. 232
Sie schauderte vor der Wahl zwischen der Wahrheit und der Liebe; sie fühlte, dass alle sie bedauern, alle mit ihr leiden würden, falls sie sich wirklich entschließen müsste, den Geliebten ihrer Überzeugung zu opfern. Alle würden es beklagen, selbst Joseph, der sie ungern Christin werden sah, und Erlau, der sie liebte – alle – nur Therese nicht. Therese allein konnte sich darüber freuen, [...]
S. 233
Das sollte und durfte aber nicht geschehen; Therese sollte nicht ernten, wo Jenny mit ihrem Herzblute gesät hatte, und wieder und wieder ging sie daran, alles durchzudenken, was ihr je von religiösen Ansichten bekannt geworden war, bis sie entschieden zu der Überzeugung gelangte, die Dogmen als eine Nebensache zu betrachten, und, um Reinhards Meinung zu schonen, endlich ein Glaubensbekenntnis zustande brachte, das in Spitzfindigkeit dem ältesten Jesuiten Ehre gemacht hätte. Mit großem Geschick hatte sie vermieden, jener Lehren von der Kindschaft Christi, der Erlösung durch seinen Tod und der damit gegebenen Genugtuung zu erwähnen, ohne irgend Zweifel [...]
S. 234
Was tat es ihrer Liebe oder ihrem häuslichen Glücke, wenn Jenny den Gekreuzigten für den ersten unter den Menschen statt für Gott hielt, solange sie nur seine Lehren befolgte? Indessen führten alle diese Gedanken sie doch nur immer auf den einen Punkt zurück, dass Reinhard es nimmer zugeben würde, sie Christin werden zu lassen, wenn sie ihm die Wahrheit bekenne: dass sie ihn verliere, wenn sie es nicht werde. Das machte sie verzagt, und diese Kämpfe ermüdeten sie so sehr, dass sie aus Schwäche Mut zu einer Trennung von dem Geliebten fühlte, wie Feiglinge zu Selbstmördern werden würden, wenn im Moment der Entscheidung nicht eben ihre Feigheit sie von der Tat zurückhielte.
[...] S.234
Claras ruhige, ergebene Entsagung leuchtete ihr als Beispiel vor; sie wollte nicht kleiner sein als ihre Freundin, denn auch sie war sich bewusst, das Unvermeidliche würdig zu tragen und eher das Glück als die Achtung vor sich selbst entbehren zu können.
[...] S. 236
Obgleich nur ein paar Monate seit der Abreise der Pfarrerin verflossen waren, fand sie das Verhältnis ihres Sohnes zu Jenny wesentlich verändert und fast umgekehrt. Reinhards Eifersucht hatte sich gelegt, da Erlau dieselbe nicht mehr erregte; mit den äußern Verhältnissen seiner Zukunft, mit dem Reichtum seiner Braut hatte er sich ausgesöhnt, je mehr er sich überzeugte, dass die ganze Familie denselben zwar in seinem Werte begriff, aber doch nicht überschätzte oder damit absichtlich prunkte; und da nun auch Jennys religiöse Erkenntnisse sich seinen Ansichten angeschlossen hatten, war er vollkommen glücklich und zu einer inneren Zufriedenheit gelangt, die ihn seit seiner Verlobung geflohen hatte.
[...] S. 244
Wieweit Therese bei dieser Unterredung sich selbst über die Beweggründe ihrer Handlungen getäuscht hatte, wieweit sie absichtlich dabei zu Werke gegangen, möchte schwer zu entscheiden sein. Ob sie wirklich an Jennys Liebe für Reinhard zweifelte, an eine Neigung für Erlau glaubte, ob nur der Wunsch, Reinhard und Jenny vor Reue zu bewahren, allein sie antrieb, der Pfarrerin jenen Bericht zu erstatten, das lassen wir dahingestellt sein. Jedenfalls aber war sie sich der eigensüchtigen Motive, die zweifelsohne in ihrer Seele sich regten, nicht deutlich bewusst, so dass sie die Lobsprüche der Pfarrerin mit ruhigem Gewissen annahm und sich Jenny gegenüber in einer stillen Größe erschien, welche es ihr leichter machte. sich fügsam und nachgebend gegen sie zu betragen.
[...] S. 284
Und leider war Josephs Vermutung nur zu richtig. Je glücklicher sich Jenny in Reinhards Liebe fühlte, umso mehr demütigte sie der Gedanke, unwahr gegen ihn zu sein. Von frühester Kindheit an hatte man ihr die Lüge als etwas so Unedles, so Verächtliches dargestellt, dass sie sich nur mit Entsetzen zu gestehen vermochte, wie tief sie sich in dieselbe verwickelt habe.
[...] S. 285
Als aber der Zweifel in ihr erwachte; als sie mit aller Anstrengung und dem Aufwande von tausend Scheingründen in sich die Lehren Reinhards und des Pastors zu begründen strebte; da, sagte sie sich jetzt, da habe sie gewusst, dass sie niemals werde glauben können, was sich gegen ihre Vernunft sträube; und dass sie dennoch, trotz dieser inneren Gewissheit, Christin geworden sei, dass sie ihren Vater, Reinhard und sich selbst habe hintergehen wollen, das war ein Verbrechen, um dessentwillen sie sich verächtlich vorkam, eine Sünde, die sie sich nicht vergeben konnte. ›Aber was ist eine Sünde?‹ fragte sie sich dann wieder. ›Wenn ich Reinhard nicht anders glücklich machen konnte als durch eine Unwahrheit; wenn ich selbst ohne sie elend werden musste, kann Gott ein Unrecht strafen, das aus großer Liebe begangen wurde?‹
[...] S. 286
Nicht nur um glücklich zu machen, sondern um es zu werden, war sie Christin geworden; es lag Selbstsucht auch in dieser Handlung, und die Bemerkung, dass es ihr fast zur Gewohnheit geworden, sich nach ihrem Bedürfnis zu täuschen, vermehrte ihre Seelenpein in einem Grade, der ihr jedes ruhige Urteil raubte. Eine Furcht vor der Strafe Gottes bemächtigte sich ihrer Seele, und sie, die nicht an die mystischen Lehren des Christentums zu glauben vermochte, überließ sich fast willenlos dem Aberglauben des Alten Testaments, das Gott einen Rächer nennt, das Böse strafend bis in das fernste Glied. ›Auch Reinhard‹, sagte sie sich, ›ziehe ich mit in mein Verderben; auch ihn wird der Strudel erfassen, wenn ich ihm nicht mehr verbergen kann, dass ich nicht glaube. Was soll er dann beginnen? Er wird mich lieben und mir doch nicht verzeihen können! Auch er wird in den heillosen Kampf zwischen seiner Liebe und seinem Glauben geraten; auch auf sein teures Haupt werde ich das Elend herabbeschwören, das mich nicht ruhen lässt, und das wird die erste Strafe sein, mit der Gott meine Sünden rächt.‹
<Die Seitenzählung entspricht der Kindle-Ausgabe, nicht der der ZENO-Ausgabe.>