Lektüretagebuch

 Reinhardswaldschule Lehrgang über Literatur (im November 1991): Was gab's zu entdecken? - Zunächst einmal den Zusammenhang von Ecos "Der Name der Rose" mit den neuesten Restaurationsbemühungen auf dem Frankfurter Römerberg und den fragwürdigen Innenstadtgeschäften und -hotels mit Erkerchen, Dachgauben usw. und neuester deutscher Literatur, vor allem mit Ranzenmayrs "Die letzte Welt", einem Buch, das davon erzählt, wie ein Anhänger Ovids diesen in seinem Exil am Schwarzen Meer aufzuspüren sucht, ihn nicht findet und jetzt erlebt, daß er zwar auch dessen Werk die "Metamorphosen" nicht rekonstruieren kann, daß sich aber die Exilstadt Ovids, Tomi, unter seinem Einfluß (?) in ein Terrarium Ovidscher Gestalten verwandelt hat. - Gemeinsam ist, wie mir interessant war zu erfahren, die schon seit 1960 (!) sich entwickelnde Postmoderne. Aus dem kunsthistorischen Vortrag mit Architekturbeispielen aus aller Welt habe ich auch Neues über die klassische Moderne der Architektur dazugelernt. Außerdem haben mich zusätzlich Aufsätze in den Zusammenhang zwischen Saussures Linguistik und Derridas postmoderner Philosophie (besonders Erkenntnistheorie) eingeweiht. Dann habe ich auch Martin Walsers "Verteidigung der Kindheit" und Thomas Bernhards autobiographischen Text "Das Kind" schätzen lernen. Erstmalig hat mich ein Text des großen Bernhard unmittelbar angesprochen. Nach den Sitzungen habe ich viel gelesen, aber auch im Bett liegend von der Indonesienreise meines Zimmernachbarn einen Bericht in glühenden Farben erhalten, die dringliche Anregung erhalten, Rushdies "Satanic Verses" trotz aller Leseschwierigkeiten mir vorzunehmen, Hinweise, die das Verständnis von Walter Benjamins Ästhetik erleichtern und vieles andere. Und dann habe ich zu Enzensbergers Gedicht "Chinesische Akrobaten" aus seinem Band "Zukunftsmusik" ein engeres Verhältnis gewonnen. (1991)

Von Frau Dietrich, der Mutter einer ehemaligen Schülerin, Kollegin am AKG und kurzfristig am Goethe und Jahrgangskollegin von Bettina (letzteres erst viel später: 1994) kaufte ich antquarisch das Buch "Die Literaturen Schwarzafrikas", ein Thema, über das ich mir sonst kein Buch kaufen würde. Interessant ist allerlei, z.B. auch, daß Mofolo (1875-1948) über den grausamen Chaka (Shaka, Tschaka) geschrieben hat, was aber trotz aller seiner Ablehnung dieses Herrschers von den Europäern nicht publiziert wurde. Habe gleich meine historischen Darstellungen über afrikanische Geschichte herausgesucht und über Chaka (Zulukönig 1783-1828) nachgelesen (auch im Ploetz). Dabei habe ich in dem Buch "Indaba" von dem Bantu Mutwa, das ich von Elisabeth bekommen habe, auch etwas über Chaka gefunden. Dabei kritisiert Mutwa, daß die Weißen ... (11.1.92)


Von Gertrud bekam ich eine Biographie von Lenz, dem Freund Goethes aus der Straßburger Zeit und dem Gegenstand von Büchners Erzählfragment. Sie zeichnet ein Bild der Zeit, das mich auch Goethe viel plastischer und wirklichkeitsnäher sehen läßt. Goethe, der mit dem jungen 18jährigen Herzog zunächst einige Monate allerlei genialischfreundschaftliche Fest- und Urlaubsaktivitäten betrieben hat, läßt sich dann zum Minister machen. Seine Hoffnungen auf - realistisch betriebene - Reformen erfüllen sich freilich nicht. Er bleibt im klein klein stecken und wird nach zehn Jahren mit der italienischen Reise die Fesseln abwerfen. Alle Selbstverleugnung, etwa daß er für Friedrich den Großen persönlich Rekruten aushebt, um zu verhindern, daß die preußischen Werber ins Land kommen, hat ihm letztendlich nicht geholfen. Während er als Soldatenwerber herumzieht, schreibt er die Iphigenie. "... es ist verflucht, der König von Tauris soll reden, als wenn kein Strumpfwürker in Apolda hungerte". Lenz läßt sich nicht auf das Spiel ein, das Goethe später auch aufgeben wird. Als Goethe seine Stelle annimmt, geht er in das Nachbarstädtchen Berka. Da bleibt ihm die Rolle des armen Poeten. Als solcher verbringt er auch Wochen auf dem Landgut Kochberg bei Frau von Stein, während deren Mann und Goethe in Geschäften in Weimar, Ilmenau usw. sind. Goethe gegenüber Lenz von Mitleid, aber auch von etwas Eifersucht bestimmt. Später kommt es dann dazu, daß Lenz Goethe beleidigt und Goethe dessen Vertreibung aus Weimar betreibt. Alle Fürsprache der Freunde, die Lenz am Hof hat (u.a. Herzogin Amalia) hilft ihm nicht gegen den Favoriten des regierenden Herzogs. Worin die Beleidigung bestand, wissen wir nicht. Vermutlich hat sie sich darauf bezogen, daß Goethe sich zum Fürstendiener gemacht hat. Wir wissen nur, daß Wieland Lenz in einem Brief aus Weimar in Schutz nimmt. Goethes Briefe an Lenz hat Goethe zurückgefordert, über Frau von Stein dann auch erhalten und offenbar verbrannt, außer Wieland schweigen alle am Hof über diese Affäre. Lenzens Reformpläne gingen weiter als die Goethes. Er hoffte freilich noch auf den Erfolg von Denkschriften. Büchner wird später - nach der französischen Revolution - sich zusammen mit Weidig direkt an die Bauern wenden. Freilich auch er vergeblich und schon früh in der Erkenntnis, daß es vergeblich sein wird. Die geistige Nachbarschaft von Büchner und Lenz scheint nach dieser Biographie (Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land) doch recht groß. Insgesamt sagt mir das Buch noch mehr als der vor Weihnachten im Fernsehen gezeigte Film über Lenz. Freilich, ohne den Film hätte Gertrud gar nicht etwas über diese noch in DDR-Zeiten geschriebene Lenzbiographie erfahren.

In letzter Zeit lese ich einiges in Battenberg: "Das Europäische Zeitalter der Juden". Im Augenblick bin ich bei der Emanzipation und der jüdischen Aufklärung (Haskala), insbesondere Moses Mendelssohn. - Außerdem habe ich gestern endlich Hochhuths "Wessis in Weimar" erhalten. Ich hab's dann auch gleich durchgelesen. Mir scheint's ein lohnendes Stück, auch wenn seine Abneigung gegen Jäger und seine Bereitschaft, strohtrockene amtliche Dokumente als Dialoge auszugeben, vielleicht den stärksten Theatergänger umhaut. Doch scheinen mir allerlei starke Szenen drin zu sein,

Jugendlektüre

Gestern habe ich mich mit Bettina und Martin über ihre Lektüre unterhalten. Dabei habe ich festgestellt, daß sie viel weniger an der Lektüre eines bestimmten Kanons von Schriften interessiert sind, als ich es in ihrem Alter war. Ein Blick in mein Lektüretagebuch, das ich 1954 begonnen und ab 1958 etwas regelmäßiger geführt habe, belehrte mich dann allerdings, daß ich manches doch später gelesen habe, als ich in Erinnerung hatte. Immerhin habe ich die Buddenbrooks mit 15 gelesen, ebenso einige Storm-Novellen. Die Masse der Strom-Novellen freilich erst mit 16 ebenso die Meyer-Novellen. Dann erst das Tagebuch der Anne Frank. Darauf Hesses Demian, der mich sehr beeindruckt hat. Mit 17 dann Mann: Dr. Faustus, der Erwählte; Keller: Der grüne Heinrich. Goethe: Egmont und Iphigenie. Einige Schillerdramen muß ich aber recht früh gelesen haben. (Manches mit verteilten Rollen zusammen mit Elisabeth und Gertrud. - So las ich im Don Carlos die Prinzessin von Eboli (offenkundig vor dem Stimmbruch). Mit der "Braut von Messina" konnte ich damals freilich so gut wie nichts anfangen.) Was die Masse betrifft, hat Bettina jetzt bestimmt schon mehr gelesen als ich mit 15. (10.3.)

So habe ich jetzt einiges von Jane Austen gelesen (Emma, Pride and Prejudice, Persuasion). Aber immer wieder bleibe ich doch beim Fernsehen stecken. Allerdings kommt ja des öfteren auch etwas Gutes wie z.B. ein Gespräch zwischen Alexander Kluge und Rolf Hochhuth über H's Stücke "Wessis in Weimar" und "Sommer 1914", bei dem auch Ausschnitte aus der Aufführung des Berliner Ensembles eingespielt wurden, die Hochhuth so abgelehnt hatte. Doch habe ich mir von einem Mitglied der Bürgerinitiative auch allerlei Bücher über die Auerbacher und Hessische Geschichte, insbesondere über die Grafen von Katzenellenbogen und den ersten Band der Lorscher Urkunden ausgeliehen, welche mich in diesen Miniferien auch beschäftigen sollen. (20.5.)

Gut ist bestimmt Gorbatschows "Gipfelgespräche", in dessen Einleitung ich bereits etwas gelesen habe. Herzlichen Dank für die Geburtstagsbriefe! Ich hätte Lust gehabt, mich dafür mit einem Auszug aus dem ersten Band der "Jahrestage" zu revanchieren, in dem berichtet wird, wie die Tochter der Hauptperson dadurch in emotionale Schwierigkeiten gerät, daß sie einer schwarzen Klassenkameradin hilft; denn das fassen ihre Freundinnen so auf, als täte sie es wirklich aus Freundschaft, wie sie der Schwarzen gegenüber den Anschein erwecken muß, damit diese die Hilfe annehmen kann. Verständnis für die schwierige Situation eines jungen Mädchens, selbst Ausländerin und noch nicht völlig integriert, erreicht Johnson dadurch, daß er den moralischen Druck leicht distanziert schildert, den die Mutter, notgedrungen (?), auf die Tochter ausübt, die deutlch erkennbar besten Willens ist. Später läßt er dann deutlich werden, daß die Tochter sich recht intensiv um die Schwarze kümmert und sehr genau über deren desolate Familiensituation informiert ist, ohne allerdings den von der Mutter nahegelegten Schritt zu gehen, sie zu sich einzuladen.

Ich las diverse pädagogische Bücher, die ich in unserem zeitweisem Heim fand, in einem weiteren Roman von Jane Austen: "Mansfield Park" und zwei Bestseller, die ich in zwei verschiedenen Häusern fand: B. Groult "Salz auf unserer Haut" und N. Gordon "Shaman". Dann holte ich mir den "Roten Ritter" von A. Muschg hervor. Der ist interessant, wo immer Parzival auftritt. Anderes ist mir weithin zu ausgesponnen, die Personen zu hysterisch, als daß es mir recht gefallen könnte.


Hysterisch ist Casanova nun gerade nicht. Bei der Flucht aus den Bleikammern im Dogenpalast Venedigs bedurfte er sogar besonderer Kaltblütigkeit. Insgesamt zeigt er sich draufgängerisch und wenig besorgt um anderer Menschen Schicksal. Dennoch scheint er relativ wenige seiner Geliebten unglücklich gemacht zu haben. Aus dem Geist der Zeit heraus wußten offenbar die meisten, daß es sich nicht um eine längere Beziehung handeln würde. So jedenfalls urteilen der Philosoph (Grassi) und der Germanist (Alewyn) in ihren Nachwörtern in der stark um Frauengeschichten gekürzten Ausgabe der "rde", von der ich drei Bände antiquarisch für 5- DM insgesamt bekam. (Sommerferien 1993)

Lektüre in Weihnachtsferien 1993/94: Zunächst war da einiges von Günter Grass, dessen gesammelte Werke ich zu Weihnachten bekommen habe. Ich habe etwas in seinen Aufsätzen und seinen politischen Reden gelesen, auch in den "Butt" und die "Rättin" hineingesehen, vor allem aber habe ich das "Tagebuch einer Schnecke" gelesen, ein Buch in dem er von seiner Wahlkampfreise für Willy Brandt 1969 berichtet, einiges von seinen Kindern erzählt und parallel die Geschichte eines schneckensammelnden jüdischen Studienrates aus Danzig erzählt, der bei einem kaschubischen Schmied untertaucht. Dabei habe ich auch einen Stadtplan von etwa 1940 von Danzig in dieser Ausgabe entdeckt und dort die Straßen gefunden, in denen Eugen Groths Familie laut Tante Annas Lebenserinnerungen gewohnt hat. Bei der Darstellung hat Grass sich an dem Schicksal eines berühmten Literaturkritikers, Marcel Reich-Ranicki, orientiert. Man wünscht es dem Kritiker nicht, daß es ihm wirklich genauso gegangen ist wie dem Lehrer in der Geschichte. Der wird nämlich immer wieder von dem Schmied, der ihn bei sich aufgenommen hat, verprügelt. Offenbar nimmt der Schmied es sich nämlich übel, daß er sich auf so ein gefährliches Unternehmen eingelassen hat, und reagiert sich immer, wenn ihm etwas nicht paßt, an seinem Untergetauchten ab. Ich habe noch nie etwas so offenkundig Biographisches und Persönliches von Grass gelesen. Es hat mir gut gefallen. - Überhaupt ist mir der politische Mensch Grass viel lieber als seine Werke. Freilich beim Deutschlehrer sollte es umgekehrt sein. Und um mich beidem anzunähern, habe ich mir seine Werke gewünscht. Eine wahre Pflichtübung ist eine andere Lektüre: Nietzsches Hauptwerke. Die habe ich mir ebenfalls gewünscht, da sie gerade sehr billig zu haben waren (unter 40 Mark). Und so kann ich denn immer, wenn ich gerade ein bißchen Zeit habe, in seine Aphorismen hineinsehen. Er liegt mir nicht recht, seine Kritik am Christentum schon gar nicht, aber von einem so wichtigen Mann sollte man doch bessere Kenntnisse haben, als das bisherige Hineinschnuppern in drei, vier seiner Werke mir bisher gebracht hat. Auf Dauer wird's jetzt wohl besser werden.

Immermann: Epigonen (20./21.5.94)

Wilhelm Meister nachgebildet, aber mit dem Thema des verfallenden Adels Im romantischen Stil. Voll der rasendsten Unwahrscheinlichkeiten: Positiver Held Hermann läßt Flämmchen in Wald zurück. Kümmert sich, als er in den Ort gekommen ist, erst um alles andere, bevor er wieder an sie denkt. Sucht erst am nächsten Tag (oder noch später?) ihren Pflegevater auf, der sie angeblich verkuppeln will. Erzählt Lügengeschichten, um daraufhin einen Mann verdächtigen zu können, mit dem es darüber zum Duell kommt. Herzogin gibt für das Mädchen "eine Rolle Geldes", ohne sich weiter um ihr Geschick zu kümmern (dies evtl. realistisch). Jede Menge Verwandtschafts­verhältnisse durch uneheliche Kinder, Liebesnächte der Verwechslung. Flämmchen, die Mignon-Figur, und die Zigeunerin. Nachdem Hermann, die Wahrheit zu sagen dem Wilhelmi in einem frei- maurerischähnlichen Bund geschworen hat, geraten nicht nur beide in ein wüstes Trinkgelage (um der Parodie/Satire wohl erforderlich), sondern er fängt gleich seine nächste Unternehmung mit einer haltlosen Lüge an (er sei Lehramtskandidat Schmidt). Flämmchen entführt von einem Domherren, auf das Sorgloseste begünstigt durch den Arzt, der als äußerst rational geschildert wird, etc.. Von alten Papieren, Briefen und Tagebuchnotizen, die von Papageien ausgestreut, hinter alten Schränken verborgen, ungelesen von Nicht-eigentümern verwahrt (Herzogin mit Briefen Hermann betreffend) werden, ganz zu schweigen. Das schreckliche Ritterfest, natürlich als Parodie gemeint, aber doch, seltsam an Wilhelm Meisters Hamlet-Aufführung erinnernd, vom Helden gutwillig weiterorganisiert, ist zwar lustig, aber paßt nicht zum Helden, macht Herzog und Herzogin mehr als zulässig zu Witzfiguren.

29.11.94: Beim Adventsbasar der Gemeinde Auerbach habe ich von Lisa Barendt: "Danziger Jahre" aus dem Verlag Frieling und Partner C. 1992, ISBN 3-89009-368-X (19.80 DM) gekauft. Es ist die Autobiographie einer Arbeiterfrau aus Danzig, die Kindheit, Jugend und erste Ehejahre in Danzig erlebt hat. Aufgrund Kriegsgefangenschaft bis 1920 und ab 1923 beginnender Arbeitslosigkeit des Vaters ist die Familie lange sehr arm. Dann bekommt das Mädchen Kinderlähmung. Da sie aus sozialdemokratischen Kreisen stammt, hat ihre Verwandtschaft, nicht zuletzt ihr Geliebter und Ehemann einiges unter nationalsozialistischer Verfolgung zu leiden. Nach dem Einmarsch der Russen wird sie mehrmals von russischen Soldaten vergewaltigt und flieht dann mit ihren drei Kindern zunächst nach Mecklenburg und von dort nach Hamburg. Ich habe das Buch Tante Trude trotz des sozialistischen Hintergrundes zum Advent geschenkt. Neueste Lektüre: das Romanfragment von Bonhoeffer und allerlei Raabe. Von weiterer Lektüre erzähle ich später. Ich nenne mal nur schon die Namen, damit Du den Bericht anmahnen kannst: de Bruyn; Marie Fürstin zu Erbach-Schönberg; Kurt Kluge und je ein Buch mit Romananfängen und Romanschlüssen.

Ich leiste mir gegenwärtig den Luxus, "Ein weites Feld" von Günter Grass zu lesen, weil mich die aggressiv ablehnenden Kritiken von Reich-Ranicki und anderen sehr verärgert haben. Mir hat mit Ausnahme von "Das Treffen in Telgte" noch nie ein Werk von Grass auf Anhieb gefallen, allenfalls noch "Das Tagebuch einer Schnecke". Das "weite Feld" gefällt mir vergleichsweise ungewöhnlich gut. Allerdings versucht es auch, eine Fontanebiographie mit einer kritischen Darstellung der Art, wie die deutsche Einigung abgelaufen ist, zu verbinden. Die Freude am Stoff tröstet mich da über allerlei Charakteristika Grass'scher Darstellungsweise hinweg. Erstens freue ich mich an jedem Fontanezitat, zweitens erwähnt Grass wiederholt auch die Fontanebiographie von Reuter, die ich sehr schätze, aber leider nicht besitze. (15.9.95)

Natürlich ist meine Fontane-Schwärmerei wesentlich für meine Wertschätzung von "Ein weites Feld". Allerdings hätte es wohl weit länger gedauert, bis ich das Buch kennengelernt hätte, wenn nicht die überzogenen Kritiken gewesen wären. "Grass ist nicht interessiert, die Wahrheit zu erfahren." "perfider Fehler", "ungeheure Infamie" hieß es in Reich-Ranickis "Literarischem Quartett". Und über Grass' Wünsche an literarische Kritik meinte Ranicki:"Das hat Goebbels auch gewollt." Trotzdem, natürlich hat das Buch auch aus meiner Sicht seine Schwächen und Längen. Daß die Figuren darin nicht lebten, kann ich - außer nach dem Uwe-Johnson-Kapitel, auf das Reich-Ranicki selbst verweist - erst seit dem Auftritt der unehelichen Enkelin des Helden eindeutig widerlegt finden. Aber wie diese französische Madeleine mit "Fonty"/Fontane/Theo Wuttke zusammen "Gideon ist besser als Botho" ruft, das wirkt lebendig, auch wenn es eindeutig als hommage an Fontane gedacht ist. Ist dieser Schluß von "Irrungen Wirrungen" doch von der Aussagekraft Schillerscher Dramenschlüsse. Gleichzeitig klingt aber auch das wehmütige "Ich denke dran ... ich danke dir mein Leben" aus dem Feldspaziergang von Botho, Lene und Frau Dörr (am Schluß des 9. Kapitels) an. Doch so munter es gerufen wird, enthält es ja doch eine herbe Kritik am Leben des informellen Mitarbeiters Theo Wuttke. (Da dieser mit Fontane nahezu gleichgesetzt wird, empört die Kritiker natürlich die Rechtfertigung des IM-Daseins, die darin indirekt enthalten ist.) (16.9.95)

Lektüre der letzten Tage: F. Schulz von Thun: "Miteinander reden" Bd 1 u. 2 über Kommunikation U. Beck u. Frau: "Riskante Freiheiten" Sammelband Reclam Literaturkalender 1993: u.a. Strauß "Anschwellender Bocksgesang" (Tragödie) u. Reaktionen darauf. - Bisher hatte ich den Bocksgesang selbst nie gelesen, nur einige Reaktionen in der "ZEIT". Rezension zu Muschg "Der rote Ritter" und Interview mit Kempowski zu "Echolot". (20.10.95)


Ranzenmayrs Die letzte Welt, 1990

Das Buch erzählt davon, wie ein Anhänger Ovids diesen in seinem Exil am Schwarzen Meer aufzuspüren sucht, ihn nicht findet und jetzt erlebt, daß er zwar auch dessen Werk die Metamorphosen nicht rekonstruieren kann, daß sich aber die Exilstadt Ovids, Tomi, unter seinem Einfluß (?) in ein Terrarium Ovidscher Gestalten verwandelt hat. Wegen seiner Freude am Erzählen, an Bildern ohne Aussageabsicht außer „So ist die Welt“ rechnet man es zu den typischen Büchern der Postmoderne im Gefolge von Umberto Ecos Der Name der Rose.

Adolf Muschg: Der Rote Ritter, 1993

Der Anfang war recht mühsam zu lesen. Herzeloyde, Parzivals Mutter, ist schon bei Wolfram eine schwer verständliche Gestalt, Muschgs Versuch, sie in ihrer Verbindung von steifer Strenge und draufgängerischer Annäherung an Gahmuret als eine Hysterikerin, die von dem klosterähnlichen Leben im Bereich des Grals geprägt ist, psychologisch überzeugend zu gestalten, bringt sie einem menschlich nicht näher. Der Gahmuret bleibt ganz Schemen und Geist. Das Personal um sie herum, außer der sehr lebendigen Sigune, wirkt ebenfalls tot, marionettenhaft, allenfalls als Karikatur (so vor allem der Musterritter Gurnemanz, Parzivals späterer Lehrer). Richtiges Leben entwickelt sich erst mit dem Auftritt Parzivals. Dann freilich wird's interessant. Es gibt Liebesszenen von großer Wirkung; Parzivals an sich unverständliches Verhalten wird überzeugend motiviert. Er kommt uns nahe und bleibt uns fremd. Was mir wie eine Schwäche des Buches erscheint, der lebensfremde Anfang, ist freilich in Wolframs Parzival vorgebildet. Auch dort blieben mir die Bücher der Gahmurethandlung besonders fremd. Eine zweite Schwäche ist sicher das, was in einer Rezension Muschgs Geschwätzigkeit genannt wird. Umständlich wie bei Thomas Mann, aber mit weniger Ironie. Es wird etwas viel ausgesprochen. Dennoch, es ist der erste Roman von Muschg, in dem ich viel

Hans Joachim Schädlich: Tallhover 1986, rororo 12.90 DM

Tallhover für die politische Polizei tätig im Kaiserreich, versucht Zeugen zu finden gegen Marx im Prozeß gegen den rheinischen Merkur. Immer noch tätig bei der Stasi in der DDR. Droht einem, der im damaligen Prozeß keine Aussage machen wollte, damit, ihn zu bestrafen, weil er gegen uns war. Hauptteil des Buches aber seine Beobachtungen Uljanows (Lenins) während eines Deutschlandaufenthalts, seine Kritik an Lenins Fahrt durch Deutschland auf Abmachung mit der OHL, weil sie Gelegenheit bekamen, die Revolution auch in Deutschland voranzutreiben. Bericht über Radek, seine Verhaftung und seine Kontakte. Auch Berichte über seine Tätigkeit unter dem NS-Regime. (Dazu habe ich weniger gelesen.) Der Gedanke des ewigen Spions ist nicht schlecht (vgl. Grass). Außerdem gefällt auch die historische (?), jedenfalls Atmosphäre gebende Darstellung zu Uljanow, der Fahrt durch Deutschland und zu Radek. Tallhover selbst bleibt blutleer. Der Vorwurf gegen Grass' Weites Feld trifft hier noch mehr.

Lektüre Ende 1997 bis Januar '98:

Mörike: Das Stuttgarter Hutzelmännlein mit dem Märchen von der schönen Lau auf Christas Hinweis, daß das für sie etwas zu Weih- nachten gehört. (Schwäbisches Hutzelbrot u. ein wenig Weihnachts- vorbereitungen kommen vor, diese bei der schönen Lau.) Das H. m.E. erstmals gelesen. Die Lau kannte ich wohl. Einiges in "Akzente" von ca 54 bis 66 gelesen, vom Adventsmarkt der Gemeinde, dorthin hatte es Herr Wicht gebracht. U.a. Dürrenmatt Hörspiel über Mörderschriftsteller, der seine Morde beschreibt. Etwas in "Modernisierungsfalle" von Schumann u. Martin

Bücher, die man nicht im Alter zwischen siebzehn und 25 oder 30 liest, lassen sich nicht in einem späteren Lebensalter gleichsam "nachholen". Eine frühausgebliebene Leseerfahrung kann man nur zum Teil später nachholen. Sie wird aber nicht die Wirkung haben, die sie hätte haben können, wenn man das Buch mit zwanzig gelesen hätte." (Grass: Die Deutschen und ihre Dichter, S.290 - auf Johnson bezogen)

Loest: Nikolaikirche (Leipzig)

- anonymer Brief zeigt den moralischen Unterschied zwischen Bleibenden u. Protestierenden einerseits und Fliehenden, Ausreisewilligen andererseits, allerdings überspitzt zuungunsten der Ausreisewilligen. - moralisch ist das Verhalten der Angepaßten bei kritisch Angepaßten in unserer Gesellschaft angesiedelt zwischen: Karrieristen in der SED Mitläufern in der SED u. informellen Mitarbeitern Ausreisewilligen, wenn man allein die Opferbereitschaft zum Kriterium nimmt. Das Verhalten der Friedensgebetler ist am ehesten Greenpeace-Aktivisten bei uns zu vergleichen: Erkannt haben, was falsch ist und unter persönlichen Opfern etwas dagegen tun. - Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die DDR ganz andere Mittel eingesetzt hat. Der Karrierist mußte also weit schlimmere Mittel akzeptieren als in unserem Staat. Allerdings läuft auch bei uns einiges schief. Wenn man nicht politisch mit hohem Engagement dagegen arbeitet, ... {Regimekritiker, die bleiben, vgl. Bonhoeffer, Ausreisewillige mit Emigranten - freilich wieder ein unterschiedlich grausames Regime) Haltung zur Politik: Idealismus: Ziele billigend, unbeabsichtigte Folgen übersehend Realismus: Ziele billigend, Folgen in Kauf nehmend moralischer Rigorist: Ziele heiligen keinerlei problematische Folgen (17.4.98)

Margaret Weis, Tracy Hickman: Die vergessenen Reiche Cop. 1990 Bantam Books, dt. Bastei Lübbe

Elfenstern - Feuersee – Drachenmagier – Drachenelfen - Irrwege - Das siebte Tor –

Sartanna (Alfred), Patryns (Haplo, Fürst Xar) Elfen, Menschen, Zwerge Irrwege:

Ihr glaubt, ich halte mit etwas hinter dem Berg und will nicht helfen. Das stimmt nicht! Ich will helfen!“ (S.514)

Vasu, der Obmann der Patryn der Stadt im Labyrinth, selbst ein Artan zu Alfred: „Seid der Held in Eurem eigenen Leben. Überlaßt es nicht einem anderen, diese Rolle zu spielen.“ (S.518) „Zwei Seelen wohnen in Eurer Brust.“ (S.518) (5.5.98)

Was meinst Du wohl über welcher Lektüre ich Tränen der Rührung angesichts des Kitsches, aber eben doch mit bestem Willen und pädagogisch aufbereitetem Kitsch, vergossen habe? - Über "Das erste Schuljahr" und "Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr" von Agnes Sapper. Es ist eine eindrucksvoll fremde Welt, mit gestrengem Vater, mit höherer Töchterschule und Bediensteten. Gegenüber der "Familie Pfäffling“ ist es eine großbürgerliche Welt. Es spielt in der Hauptstadt, der Vater arbeitet im Ministerium, es gibt einen Empfang bei der Königin, und es gelten strenge Regeln, so z.B. die, daß man Romane nur lesen darf, wenn die Eltern sie einem ausgesucht haben. Und eine junge Frau, die wegen Zerwürfnis mit ihrer Familie von zu Hause fortgegangen ist und als Lehrerin arbeitet, findet ihren Seelenfrieden erst wieder, als sie reuevoll wieder nach Hause zurückkehrt, und Gretchen Reinwald und ihre Eltern dürfen sich schmeicheln, die heftig Widerstrebende wieder auf den rechten Weg gebracht zu haben. Trotzdem, die höchst pädagogisch eingerichtete Welt, in der selbst die Todesfälle während der Tauffeier ihren sinnstiftenden Bezug haben und Diener und Dienerinnen stolz sind, wenn sie an "ihr Fräulein" denken, hat etwas Anheimelnderes für mich als Karl May.

Die Lektüre verdanke ich übrigens Monika, die die Bücher sich in der Leihbücherei ausgesucht hat. - Ihre Reaktion: nicht Befremden über die altertümlichen Wertvorstellungen, sondern: "Ich verstehe nicht, wie sie gern aus dem Dorf in die Stadt gehen kann und ihre Eltern auch. Nur die Lene (Hausmädchen und Köchin) will bleiben. - Ich wollte nicht aus England fort."


Besonders überzeugt hat mich immer das Beispiel des im Jahr 0 ausgeliehenen Pfennigs. Hier heißt es, bei einem Zinssatz von 3,67 Prozent würden wir einen Zinsgewinn haben, der einer Erdkugel aus Gold entsprechen würde. (Dafür ist ein Preis von 22 400.-DM je Kilo Gold angesetzt.)

Verwiesen wird auf einige Kleinschriften von Helmut Creutz, Monheimsallee 99, 5100 Aachen, z.B. "Der dritte Weg - die natürliche Wirtschaftsordnung" (4,50 DM) und ""Die fatale Rolle des Zinses im gegenwärtigen Wirtschaftssystem" (2,50 DM).

Vor allem wird der Zins als der gefährliche Anpeitscher des Wachstumsgedankens gesehen.

(1998)

Die Fahrt zu Euch hat mit eingebracht, daß ich von Szczypiorski "Die schöne Frau

Seidenmann", von Leo Brawand "Die Spiegel-Story" und von Martin Treu "Katharina

von Bora" lesen konnte, von Auszügen aus Euren Büchern einmal abgesehen.

Zuvor hatte ich die Lansburgh-Autobiographie "Feuer kann man nicht verbrennen" in

einer Nacht durchgelesen. Stolz war ich um 22.00 Uhr müde ins Bett gegangen und

hatte mir gesagt: "Jetzt kannst du sogar ein neues Buch lesen, ohne Gefahr, daß es zu

lange dauert, weil du ja Ferien hast. Daß ich dann aber erst nach zwei einschlafen

würde, das hatte ich eigentlich nicht vorgesehen.

Lansburgh ist als Verfasser von "Dear Doosie", einem deutsch-englischen Buch, das in

Huldigungsbriefen an die fiktive LeserIn englischen Sprachunterricht gibt, hervorge-

treten. Die Biographie weist ihn als Berliner Juden aus, der über Schweiz, Spanien,

Italien und Schweiz nach Schweden kommt, dort seine Liebe zur englischen Sprache

entdeckt, aber über vierzig Jahre in Schweden leben muß, bis er in das Land der Kultur

seiner Muttersprache, nach Deutschland, zurückkehren kann.

Die Frau Seidenmann enthält eine recht umfassende Studie über Polen und Juden der

verschiedensten Gesellschaftsschichten und über einen deutschen SS-Mann in der Zeit

der Okkupation Polens und der Judenverfolgungen.

Leo Brawand war Leiter des Wirtschaftsressorts des Spiegels seit 1946 und zur Zeit

der Spiegel-Affäre Chefredakteur. Die Schilderung des Spiegels bis 1962 und der

Hauptverantwortlichen bis zu dieser Zeit ist sehr interessant und klingt überzeugend.

Das Buch über Katharina von Bora enthält viel über Katharinas und Luthers konkrete

Lebensumstände, soweit erschließbar, sehr wenig zur Person Katharinas, außer zu

ihrem Interesse am Erwerb von landwirtschaftlicher Nutzfläche durch Luther und

ihrem Unterhalt eines kleinen Studentenwohnheimes inklusive ihrer Pflege der Frau des

Kurfürsten; wenig über ihre persönliche und theologische Einstellung, einfach weil es

dazu nicht viel Quellen gibt. (2001)


2008

Tausendundeine Nacht

Orientalische Erzählungen im weitesten Sinne sind es. Indischen Ursprungs ist der Kern, dann wurde er persisch überformt, die älteste überlieferte Handschrift aus dem 15. Jahrhundert (jetzt neu übersetzt) ist arabisch. Der erste Herausgeber, der französische Orientalist Antoine Galland, steuerte die getrennt überlieferten Erzählungen von Sindbad und Ali Baba und manches nur mündlich überlieferte Erzählgut, das er 1709 in Paris bei einem syrischen Erzähler kennenlernte, bei. Ein großer Teil der Erzählungen, die handschriftlich erst nach Gallands Ausgabe auftauchten, ist ägyptischen Ursprungs.
Was sich den Europäern des 18. und 19. Jahrhunderts darbot und ihnen so anziehend fremdländisch orientalisch vorkam, war in der Tat ein auch bis heute kaum zu scheidendes Gemisch, das zudem bei der Übersetzung auch dem jeweiligen Zeitgeschmack angepasst wiedergegeben wurde.
Dass solche Erzählungen - wie auch Grimms Märchen - ursprünglich keine Kindergeschichten, sondern volkstümliche Erwachsenenliteratur waren, wird freilich erst in einer unverkürzten Fassung deutlich. Dabei wird auch das Eigentümliche des jeweiligen Ursprungslandes und damit der große Abstand zur europäischen Tradition in Ansätzen so deutlich, dass man merkt, dass es erheblicher Bildungsanstrengungen bedürfte, dem als Europäer des 21. Jahrhunderts auch nur halbwegs gerecht zu werden.


Tausendundeine Nacht - mittelalterlicher Ritterroman

Wenn man nur die gängigen Geschichten kennt, ist man über den "Realismus" der Geschichte von 'Adschib und Gharib überrascht. Ein Feldherr, der sich vor Angst die Hosen beschmutzt, gegnerische Könige, die gegeißelt werden, bis das Winseln aufhört, oder in zwei Hälften neben einem Tor aufgehängt werden. Tausende von Geistern, die in Geisterschlachten ganz normal mit Schwertern aufeinander einhauen und sich töten. Ein Kämpfer, der auch nachdem er sich zum Islam bekehrt hat, nicht von seiner Gewohnheit ablässt, sich Gegner, die er besiegt hat, rösten zu lassen, um sie dann zu verspeisen.
Da reicht die Beschreibung des Prunks von Palästen Thronen und Zelten nicht aus, um sich ganz bei der Wunderlampe und Harun Er-Raschid zu fühlen.
Bemerkenswert, dass immer wieder die rechtgläubigen Muslime des Irak die feueranbetenden Heiden Persiens schlagen, ihnen "den Koran darlegen" und die, die ihn nicht annehmen, dann erschlagen.


Pauline Brater

Pauline wird in eine lebensfrohe Familie von Naturwissenschaftlern hineingeboren und geht daher lebenslang selbstverständlich mit Naturwissenschaften um. Sie heiratet einen Juristen, der aus einer sehr korrekten und pflichtbewussten Familie stammt, ist, wie er vor der Hochzeit zu Recht sah, "schmiegsam" und passt sich trotz eifrigen Widerspruchs in den ersten Ehejahren an das entbehrungsreiche Leben eines demokratischen Juristen in Bayern vor 1848 an.
Ihre Berichte von ihrer Jugend müssen aber sehr lebhaft gewesen sein, denn ihre Tochter Agnes schreibt nach der Biographie ihrer Mutter "
Die Familie Pfäffling". Sie schreibt es unter dem Namen Agnes Sapper, aber es lebt aus dem Geist der Familie ihrer Mutter, der Familie Pfaff.


Hineingesehen

In den letzten Tagen hatte ich die Gelegenheit, in größerem Umfang in Bücher meines Bruders hineinzusehen, und habe dabei manche neue Leseerfahrung gemacht.
Da ist
Barbara Tuchmans Die Torheit der Regierenden, eine eindrückliche Warnung davor, zu glauben, aufgrund von Geheimdienstinformationen, bessere Kenntnis des nationalen Interesses und höherer politischer Zwänge seien Regierende besser imstande als der "kleine Mann", zu beurteilen, wie den Interessen des Landes am besten gedient wird. Das ist zwar nicht ungewöhnlich, doch kann sie eine Fülle von Gegenbeispielen anführen und belegen.
Adolf Horst schreibt über
Tausend Jahre Jugendzeit, eine Jugend im Nationalsozialismus mit Kriegserfahrungen. Sehr unmittelbar anrührend, lebensecht.
Elsa Sophia von Kamphoevener hat An Nachtfeuern der Karawan-Serail 1957 Märchen und Geschichten alttürkischer Nomaden veröffentlicht, die sie als Mann verkleidet in Begleitung ihres Vaters von türkischen Märchenerzählern hörte. Diese Welt kennt Diebstahl als Meisterschaft und lässt eine Kultur mit völlig von unseren Denkgewohnheiten abweichenden Normen liebenswert erscheinen.
Carlo Schmids Erinnerungen lassen ohne Rechthaberei die wichtige Rolle dieses Grandseigneurs der SPD an den Anfängen der BRD deutlich werden.


Abendkranich

Hisako Matsubara, die Tochter eines Shintō-Priesters, schildert in Abendkranich, die Kindheit der Tochter eines Shintō-Priesters in den Jahren ab 1945, die durch Festhalten an Traditionen und Aufgeschlossenheit für das Neue gekennzeichnet ist wie die japanische Kultur seit über tausend Jahren. Ein Leserin des Buches berichtet, sie sei in Kyoto gewesen und "ich traf auf ihren Bruder, der mittlerweile den Shinto-Schrein leitete."


In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert

Paul Kennedy betrachtet in diesem Werk von 1996 die Zukunftsperspektiven der Großmächte in der internationalen Politik. Japan sieht er als von großem wirtschaftlichen und Bildungspotential geprägt, zweifelt aber an der politischen Flexibilität. Bei den USA sieht er die Gefahr der imperialen Überdehnung.


Frühe Stätten der Christenheit

Reich wird das Athos-Kloster, weil die Mönche sich völlig von der Welt absondern. Denn deshalb gelten sie als so heilig, dass die byzantinischen Kaiser bei allen großen Entscheidungen sich ihren Rat durch reiche Geschenke zu erkaufen suchen.
Peter Bamm weiß über seine Reisen zu den frühen Stätten der Christenheit sehr lebendig zu berichten. Aus seiner Sicht ist klar, dass Konstantinopel, Rom und Athen hinter der wichtigsten, weil heiligsten Stadt zurückstehen müssen: Jerusalem.


Unsichtbare Flagge Humanität

Unter dem Künstlernamen Peter Bamm veröffentlichte der Arzt Curt Emmrich seine Kriegserinnerungen an den zweiten Weltkrieg.
Man durfte kein Mitleid haben, weil sonst die tägliche Arbeit über alle Kräfte gegangen wäre, meint er. Und doch entscheidet er sich als Chirurg nicht dafür, dem 19jährigen
beide Hände abzunehmen, obwohl es medizinisch sicherer erscheint. Mitgefühl lässt sich auch in erzwungener Routine nicht ganz ausschalten.


Humanistisch gebildet

Zweiter Weltkrieg im Kessel. Ein Kriegsgerichtsrat und ein Feldchirurg gönnen dem jungen Mann, dass er ausgeflogen wird und so der Alternative Heldentod oder Kriegsgefangenschaft entkommt. Deshalb sagt der Kriegsgerichtsrat zu ihm:

Ō xein' ángelléin Lakedáimonióis hoti tēde
kéimetha tóis keinōn rhēmasí peithoménoi.

Als der junge Mann nicht versteht, fügt er hinzu:

Díc hospés Spartae nos té hic vidísse iacéntes,
dúm sanctís patriae légibus óbsequimúr.


Der junge Mann versteht immer noch nicht. Sie erklären ihm nichts.
Als er gegangen ist, meint der Kriegsgerichtsrat: "Lohnt es sich bei den Kenntnissen, dass er überlebt?"
Denn nach seiner Ansicht hätte er doch unbedingt die Anspielung auf das Opfer der Spartaner bei der Schlacht bei den Thermopylen verstehen müssen. Schillers Übersetzung hinzuzufügen, wäre ihnen barbarisch erschienen.

Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest
uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.


Zu offensichtlich schien ihnen, dass er in der Heimat der Bote ihres Untergangs sein sollte.
Es waren noch humanistisch gebildete Menschen, die sich zu Hitlers Angriffswerkzeug machen ließen.


Gescheiterter Bekehrungsversuch

Sie fesselten ihm die Hände auf den Rücken, legten seine Füße in Ketten und setzten sich auf seine Brust. Er fragte seine Tochter, warum sie sich so verhalte. Sie antwortete ihm: "Wenn ich wirklich deine Tochter bin, so werde Muslim; denn ich bin eine Muslimin geworden. ..." ... "Aber er weigerte sich und ward verstockt." Da durchschnitt ihm Aladin die Kehle. (Aus den Geschichten von tausendundeine Nacht)


Templer und Johanniter

Ludovica Hesekiel, Tochter eines guten Bekannten Fontanes schrieb diesen Roman 1887.
Held ist der Sohn eines Rittergeschlechts, das in Köln ansässig geworden ist, und der sich
bei der Schlacht von Worringen seine ersten militärischen Verdienste erwirbt. Auf der Seite Kölns kämpfend erreicht er doch, dass der Hauptgegner, der Erzbischof Siegfried von Westerburg, nicht getötet, sondern nur gefangen genommen wird.
Später wird er Tempelritter. Seine Unruhe treibt ihn in ungezählte Fehden, in denen er immer wieder der gerechten Seite zum Siege zu helfen versucht. So fällt er schließlich in einer Fehde des Kölner Erzbischofs als dessen Feldhauptmann.
Als Frauenroman erscheint er mir erkennbar an der ausgesprochenen Liebe für die Beschreibung von Textilien. Ambitioniert erscheint er mir, weil er die verschiednen Stände der Stadt Köln und ihre Situation im 13. und 14. Jahrhundert recht genau in den Blick nimmt.

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