26 Oktober 2021

Goethe: Ausschnitte aus seiner Farbenlehre

 

Goethes Farbenlehre (Wikipedia)

"[...] Hermann von Helmholtz, der Goethe nicht nur als Dichter, sondern auch wegen seiner sonstigen naturwissenschaftlichen Arbeiten hoch schätzte, hielt die Hauptthese der Farbenlehre für schlichtweg falsch. Zugleich sah er, was Goethe veranlasste, sich auf diese These zu versteifen: „Weiss, welches dem Auge als der einfachste, reinste aller Farbeneindrücke erscheint, sollte aus dem unreineren Mannigfaltigen zusammengesetzt sein. Hier scheint der Dichter mit schneller Vorahnung gefühlt zu haben, dass durch die Consequenzen dieses Satzes sein ganzes Princip in Frage komme, und deshalb erscheint ihm diese Annahme so undenkbar, so namenlos absurd. Seine Farbenlehre müssen wir als den Versuch betrachten, die unmittelbare Wahrheit des sinnlichen Eindrucks gegen die Angriffe der Wissenschaft zu retten. Daher der Eifer, mit dem er sie auszubilden und zu vertheidigen strebt, die leidenschaftliche Gereiztheit, mit der er die Gegner angreift, die überwiegende Wichtigkeit, welche er ihr vor allen seinen anderen Werken zuschreibt, und die Unmöglichkeit der Ueberzeugung und Versöhnung.“[14]

Heisenberg schrieb 1941,[15] dass die Einteilung der Welt in eine objektive, durch Naturwissenschaft erforschbare, und eine subjektive, unserem ursprünglichen Welterleben zugängliche Wirklichkeit vom Standpunkt der modernen Physik nicht haltbar sei.[16] Newton und Goethe gingen demnach von unterschiedlichen Schichten der Wirklichkeit aus, der Einsatz seiner Messtechnik liefert bei Newton eine intersubjektive Vergleichbarkeit der Versuchsdaten, Goethes Farbstudien seien dagegen lediglich subjektiv real im Gegensatz zur objektiven Realität der Newtonschen Studien.[17] Friedrich Steinle betont, dass trotz unterschiedlicher Versuchsmethodik beide paradigmatisch für ein unterschiedliches experimentelles Arbeiten stehen, beide aber klar innerhalb des Systems der modernen Naturwissenschaft. Ähnlich wie Goethe seien auch Michael Faraday und David Brewster vorgegangen.[18]"

Goethe: Zur Farbenlehre (Text bei Zeno)

Von Personen welche gewisse Farben nicht unterscheiden können 

Jena am 19 Nov. 1798 

Erste Versuche mit Herrn Güldemeister wegen des nicht Unterscheidens der Farben 

Seine Augen sind grau und haben etwas mattes doch ist der Stern zusammengezogen. Er sieht weit, gut, kann kleinen Druck bei Nacht lesen Sein Vater und Oheim ist in demselbigen Falle. 

Abstufung von Hell und Dunkel bemerkt er sehr zart. Weiß sieht er rein und ohne Beimischung. Ein lichtes Grau erklärt er für schön hellblau überhaupt die drei ersten Stufen von grau auf meiner optischen Tafel für blau. Das dunkelste grau so wie schwarz erklärt er für braun und gibt dieser Farbe hauptsächlich die Unterscheidung von der vorigen daß sie gar nichts blaues haben. Das Blaue erkennt er für blau sowohl das dunkle als das helle. Gelb nennt er gelb. Im Orange unterschied er gelb und rot, und bezeichnete auch dabei daß er nicht das mindeste blau sehe. Zinnober erklärt er für entschieden rot. Auf die Frage ob er nichts gelbes darinne sehe, sagte er ja denn allem roten läge gelb zum Grunde. Im blauen hingegen sehe er nichts rotes. Rosenfarb aber freilich nicht schön gefärbtes Papier erklärt er für blau auch etwas rotes fand er darinne, und erklärte es für einen Übergang von Zinnober zum blauen. Karmin, in einer weißen Porzellantasse aufgestrichen nannte er rot. Bei näherer Beobachtung wollte er auch etwas bläuliches daran sehen. Bis hierher klingt alles (verständlich) besonders wenn man es nach den Deduktionen unserer Farbenlehre ansieht. Aber nun erscheint das Hauptphänomen, welches seine ersten Äußerungen die ich bisher nicht aufgezeichnet habe sondern nur nachhole, so paradox macht. Er scheint nämlich kein grün zu sehen sondern an dessen Stelle ein gelbrot. Sehr gelb grün erklärt er für gelb in ziemlich rein gemischtem grün wollte er kaum etwas blauliches erkennen hingegen appuierte er immer auf das rot was er sehe. Seine ersten Äußerungen klingen daher immer höchst sonderbar und sind konfuser als seine Ansicht der Farben. So nannte er orange zuerst grün denn er sagte daß ihm die Bäume also erschienen; von der Rose, behauptete er sie sähe ihm völlig so blau aus als ein blauer Himmel. Doch zweifle ich hieran, weil er doch den Karmin für rot erkannte und nur wenig blau darinne finden konnte. Freilich sähe er das schwach rosenfarbe Papier auch für blau an. [...]

Jena am 14 Febr. 1799 Abermalige Unterhaltung mit Herrn Güldenmeister 

Auf die Frage welche Farbe ihm am angenehmsten wäre? welche er zum Beispiel wählen würde um sein Zimmer zu tapezieren gab er zur Antwort ein helles blau Ich zeigte ihm die Fensterstäbe durch das Prisma. Den schmalen, der sich uns blau purpur gelb zeigt sah er dunkelblau hellblau gelb. Den breitern, der sich uns blau violett unverändert rot gelb zeigt sah er blau stark rot gelb 

NB. Das starke rot sah er an dem Platz wo uns der Stab unverändert erscheint. Es hat dieses einen Bezug auf den prismatischen Versuch wo er das schwarze Kreuz braun sah Reine Schatten an der Stubendecke sah er grau hingegen grau angestrichnes Papier hellblau Er bemerkt den Unterschied zwischen hell und dunkel sehr genau. Bei der Fleischfarbe des Menschen bemerkt er das gelbe sehr stark. Das Rote der Wangen und Lippen wenn es nicht seht lebhaft ist sieht er blau. Die Schminke völlig blau. Was sich dem Schwarzen nähert sieht er braun, deswegen ihm auch dunkelgrün braun vorkommt, indem dieses letzte auch noch einen Schein vom gelben hat. Durch das Prisma wenn er das schwarze braun sah, verlor das graue etwas von seinem blauen. Eine schöne rotbraune Tinktur nannte er vollkommen grün und versicherte daß er bei heitern Tagen die Bäume eben so sähe; bei dunklern näherten sie sich dem braunen. 

Zur Einleitung 

Die Farbenlehre soll aus der engen Beschränktheit in der sie bisher durch mancherlei Umstände gehalten worden, in das freie Feld der Beobachtungen und Betrachtungen versetzt, aus der Zerstreuung zur Einheit gebracht werden. Sie soll, da sie bisher in dem weiten Umfange der Naturlehre isoliert und in sich selbst verschlossen gestanden als Glied der großen Kette von Wirkungen aufgenommen werden. Sie soll sich an die Tätigkeit der Kunst und Technik anschließen. Die Einrichtung des Werks wird hier mit Wenigem dargelegt. Nur das nötigste Allgemeine wird hier vorausgeschickt, sodann folgen sogleich die Erfahrungen selbst. Vorübergehende Erscheinungen, konstante Phänomene, sichere Versuche werden aufgezählt. Man muß hierbei dem Streben unsres Geistes widerstehen, der solche Elementarphänomene sich zu schnell in einer Einheit vorzustellen begehrt und ihrer Mannigfaltigkeit daher Abbruch tut. Es ist notwendig sie durch Kunst und gleichsam mit Gewalt auseinander zu halten. [...]

Geschichte der Farbenlehre 

Die Wissenschaften werden selten nach dem was sie zu ihrer Aufklärung bedürfen sondern meist nur nach dem Bedürfnis der Zeit behandelt, in welcher sie zur Sprache kommen, denn die besten Köpfe erhalten doch gewisse Richtungen von ihrer Zeit. Manchmal auch zeigt sich bei Behandlungen der Wissenschaften das individuelle Bedürfnis eines Menschen. In diesen beiden Rücksichten will ich flüchtig die Geschichte der Farbenlehre durchgehen. 

Theophrast 

Ein Grieche, ganz im Sinne seines Meisters Aristoteles! freie, weite Übersicht über die Phänomene, gute Theoretische Enunziationen, die auf einzelne Abteilungen passen, die aber nicht glücklich zu weit ausgedehnt werden. [...]

Descartes 1637 

Genie, aufmerksam auf die Masse der Phänomene die nach und nach bekannt geworden. Allzustarke hypothetische Neigung! seine Ansicht der Farben atomistisch, mechanisch und grell. 

Kircher 1646 

Jesuit, aus der aristotelischen Schule, Neigung zum sonderbaren er macht auf schöne Phänomene aufmerksam, doch liebt er sie vorzüglich weil sie seltsam sind. Er fördert die Lehre nicht, hat übrigens große Neigung zu Kunststückchen. 

Grimaldi 1665 

Ein Jesuit und Aristoteliker, der sich aber, wie mehrere dieser Schule, schon dahin neigt das Licht für eine Substanz zu erkennen, eine Meinung die er aber nicht öffentlich bekennen darf. Sein Buch hat daher die seltsamste Form von der Welt. In dem ersten sehr starken Teile stellt er Versuche und Räsonnement so, daß daraus hervorgehen möchte das Licht sei eine Substanz; nun schreibt er aber noch einen ganz kurzen zweiten Teil worin er sich selbst wiederlegt und beweist das Licht sei ein Akzidens. Wahrscheinlich ist dieser zweite Teil geschrieben damit der erste die Zensur passieren konnte. Es kam nach seinem Tode heraus. Seine Versuche zeigen viel Sachinteresse. 

Boyle 1663 

Ein trefflicher Kopf geht von chemischen Versuchen aus, ist der erste seit dem Theophrast der Anstalt macht eine Übersicht der Phänomene aufzustellen, eine Augenkrankheit hindert ihn, er ordnet seine Erfahrungen so gut es gehen will zusammen, in der Form als wenn er das unvollständige einem jungen Freunde zu weiterer Bearbeitung übergäbe. Seine hypothetische Tendenz ist sehr leise und mäßig. Wäre man auf diesem Wege fortgegangen so wäre der Sache geholfen gewesen. 

Newton 1704 

Genie. Das Bedürfnis die Fernröhre zu verbessern führt ihn auf die Betrachtung der Farben die bei Gelegenheit der Refraktion vorkommen. Er übereilt sich in seinem vier und zwanzigsten Jahre eine Hypothese fest zu setzen woraus folgt daß die dioptrischen Fernröhre nicht verbessert werden können, er erfindet sein Spiegelteleskop und gibt sich 38 Jahre lang eine unglaubliche Mühe seine Hypothese als theoretisches Gebäude aufzustellen. Diese Lehre gewinnt nach manchem Widerstand in den Schulen das Übergewicht, alle farbige Phänomene werden aus dem Gesichtspunkte der Refraktion betrachtet und die Phänomene der Refraktion nicht nach der Natur sondern nach der Hypothese dargestellt und so dauert es in allen Kompendien fort bis auf den heutigen Tag. Mariotte Trefflicher Beobachter zeigt aufs deutlichste daß Newton die Phänomene falsch darstellt. Er wird nicht gehört, seine Erklärungen schmecken nach dem Cartesianismus und können kein Glück machen. 

Algarotti 1737 

Schöngeist, möchte Fontenellen in galanter Darstellung einer wichtigen Naturmaterie nacheifern, er wirkt mit zur Ausbreitung des Buchstabens der Newtonischen Lehre. Das siebenfache Licht gefällt Dichtern und Rednern als Instanz und Gleichnis. [...]

Dollond 

Euler regt eine frühere Frage wieder auf: ob man nicht die Refraktion farblos machen könne? indem man sie durch Mittel von verschiedner Dichtigkeit bewirken ließe. Dollond leugnets, macht aber Versuche welche den Satz bejahen und bringt so ohne es zu wissen und zu bemerken der Newtonischen Theorie einen tödlichen Stoß bei. Die dioptrischen Fernröhre werden verbessert, Newtons Irrtum anerkannt und doch ist die Gewalt der Gewohnheit so groß, daß niemand der Sache auf den Grund sieht und man die neue Entdeckung so gut als möglich an die alte anzuflicken sucht. Die nähere Auseinandersetzung der Personalitäten die in diesem Zeiträume gewirkt und eine Darstellung des Zeitgeistes wird künftig interessant sein.

[Einschub: Apochromat]

Marat 

1779 Kommt bei Gelegenheit als er die Eigenschaften des Lichtes und des Feuers untersucht auch auf die prismatischen Farbenphänomene, sieht die falsche Darstellung der Newtonianer ein, bleibt aber in so fern bei der Theorie daß er annimmt das weiße Licht sei aus farbigen Lichtern zusammengesetzt, werde aber durch Inflexion an den Rändern dekomponiert und zwar nur in drei farbige Lichter. Bei manchem guten und richtigen Blick ist doch seine Richtung ganz hypothetisch, die Versuche sind mit unnötigen Bedingungen überladen, die Methode auf den hypothetischen Zweck gerichtet und doch verworren. Kein Wunder daß die Arbeit ohne Wirkung blieb. [...]


25 Oktober 2021

Stefan Zweig: Jeremias Gotthelf und Jean Paul

 Angesichts der Neuausgab der Werke von einerseits Gottheld und andererseits Jean Paul reflektiert Zweig:

Und nun, da sie uns, die beiden Vergessenen, wiedergegeben sind, sei die Frage versucht, erstlich warum sie einmal so lange und so tief verloren und vergessen gehen konnten, und zum zweiten, ob sie und wieviel sie nach unserem gegenwärtigen Gefühl noch bedeuten. [...] 

Die erste Frage, warum die beiden so lang und so tief vergessen waren, läßt sich gemeinsam beantworten: sie waren beide zu umständlich, zu breit, zu abschweiferisch für das Jahrhundert geworden. Sie schrieben im Postkutschentempo und spannen die Erzählung wie einen Spinnrocken, und das vertrug die Epoche der Eisenbahnen und mechanischen Webstühle nicht mehr. Sie hatten Zeit in ihrem Abseits, in ihrem kleinen Dörfchen, der Pfarrer Bitzius und der emsige Skribent Jean Paul Richter, sie setzten sich jeden Morgen, wenn die Hähne krähten, vor ihren Tisch und schrieben Bogen um Bogen voll, und die Menschen, die ihnen zuhörten, waren kleine Leute, die Zeit hatten: sentimentale Mädchen bei Jean Paul und Geistliche und Bauern bei Jeremias Gotthelf, die abends beim Kienlicht diese Erzählungen langsam und geduldig lasen, wie den Bauernkalender und die Postille. Dann aber begann die Zeit rascher zu kreisen, die Menschen Bedürfnisse zu haben nach stärkeren Spannungen, drastischeren Geschehnissen. Den Weltmenschen vergnügungssüchtigeren Sinnes waren die engen Milieus, die moralischen Erörterungen des Pfarrers und Dorfträumers nicht mehr genug, und so verstaubten allmählich die einst so zerlesenen Bände in den Schränken der alten Leute, und die junge Generation schlug sie nicht mehr auf. [...]

da die beiden Werke so ziemlich vollzählig vorliegen, kann man die zweite Frage wagen, was von diesen beiden Werken, von diesen beiden sonderbaren und großen Dichtern unsere Welt denn noch wirklich zu werten vermag.

Hier aber gabelt sich (wenigstens bei mir) die Empfindung, und man kann diese beiden Dichter gleichen Schicksals nicht mehr einhellig, sondern eher im Gegensatz behandeln. Ich gestehe offen, und gegen viele laute (und vielleicht nicht immer ehrliche) Bewunderung, daß ich von Jean Paul kaum mehr als je drei oder vier Seiten hintereinander zu lesen vermag, so restlos ich sonst seine ganz einzige Sprachvielfältigkeit, seinen krausen Einfall und seine sinnreiche Behendigkeit bewundere. [...] Das gewaltsam Schrullige, das unablässig Hyperbolische, das Spielerische und Verspielte seiner krausen, beständig irrlichternden und nie klar bildenden Phantasie verdirbt mir die Fähigkeit der Einfügung, ja sogar die Fähigkeit des bloßen zu Ende-Lesens [...] Ein paar einzelne Seiten bedeuten mir jedesmal unerhörten Genuß, führen mich gleichsam in eine neue Welt der Sprache, in eine heitere Sphäre der Betrachtung, wo sich die Welt aus Chaos oder Geschäften in ein behaglich katzenhaftes, schnurrendes Spiel verwandelt, ich genieße mit innigster Freude die naive ebenso wie die wissende Romantik mancher Szenen und den skurrilen Humor der ›Badereise‹ – aber doch, diese kleinen Stimmungen, so sehr sie befeuern, ermüden, wenn man sie zu einer regelrechten Lektüre dehnen will [...] Ich bin immer umgekehrt vor dem Ende, niemals enttäuscht und immer wieder zufrieden, einen kleinen Spaziergang im Ziergarten Jean Pauls zu tun, aber im ganzen finde ich ihn doch nicht als Welt von unserer Welt, mein Gefühl weicht ab von seinen weiblichen Sentimenten, und ich verstehe, daß diese überschwengliche Seele trotz ihrer Fülle niemals mehr die unsere in Schwung versetzen kann. [...]

Ganz anders dagegen, urmächtig und gewaltig, eine unbekannte riesenhafte Kraft, erhebt sich Gotthelf vor uns, ein mächtiges Schweizer Gebirge, das nun, da die Nebel von ihm gesunken sind, die anmutige und bezaubernde Höhe Gottfried Kellers in vielem überragt. Gotthelf hat den Genius des unbestechlichen Blickes. Er sieht klar in Menschen und Dinge hinein, mit mehr durchdringendem als sentimentalischem Auge. Er hat eine ungeheuere Kenntnis des Lebens, sowohl der Natur als des menschlichen Betriebes und seiner geheimsten Innenwelt der Seele. Er hat die Gabe der Plastik, das saftige sinnliche Wort, das nicht Unzucht mit der Literatur getrieben hat, sondern gesund genährt vom schweizerischen Volksklang, strotzend und saftig aufgewachsen ist. Er hat alle Vorzüge eines großen epischen Erzählers und dazu noch die sittliche Reinheit eines entschiedenen Charakters, der mit seinem Werke nicht nur Zeitungsblätter füllen, sondern eine Jugend bessern, eine Zeit aus ihrer moralischen Verworrenheit herausheben wollte. [...]  Nur scheinbar fehlt es seinen Romanen an Weltweite, wenn sie auch von den großen Schweizer Bergen umgrenzt sind, aber in diesen engen Tälern ist ein unendlicher Reichtum, eine unsagbare Vielfältigkeit von Charakteren und Begebenheiten, eine kulturhistorische unvergleichliche Fülle von Details des bäuerlichen und bürgerlichen Lebens, die sie schon rein dokumentarisch für alle Zeiten unentbehrlich macht. Auch er, Gotthelf, läßt sich ebenso wie Jean Paul nicht in einem Zuge durchlesen, auch er müdet stellenweise durch Breite, durch Predigereinschuß und politische Diskussionen, auch von ihm muß ich bekennen, nicht gleich auf einen Hieb alle seine Romane gelesen zu haben, aber den vieren oder fünfen danke ich seltensten Genuß und den Eindruck mächtigster Persönlichkeit. Kaum an irgendeinem deutschen Gestalter (außer Stifter) hat die immer zu sehr nach Norddeutschland orientierte Literaturgeschichte der letzten Jahrzehnte so sehr Unrecht getan, als an dem Pfarrer von Lützelflüh [...]"


Zweigs Charakteristik des Leseerlebnisses von Jean Paul kann ich sehr gut nachvollziehen, auch wenn oder gerade weil ich einige seiner Romane durchgelesen habe. Gotthelf habe ich wohl zu früh zu lesen versucht. Bei ihm kann ich Zweigs Urteil nicht folgen. "auch er müdet", da stimme ich zu - natürlich mit Ausnahme der Schwarzen Spinne, nachdem sie einmal Fahrt aufgenommen hat -, aber den 'unendliche[n] Reichtum, [s]eine unsagbare Vielfältigkeit von Charakteren und Begebenheiten', die wollte ich und will ich selbst jetzt noch nicht wirklich kennen lernen. Ob sich das aufgrund dieser Rezension noch ändert??

Stefan Zweig: Das Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens

 "Als erste einer Reihe von ›Quellenschriften zur seelischen Entwicklung‹ [...] das unverstellte Originaltagebuch eines halbwüchsigen Mädchens von seinem elften bis zum vierzehnten Jahre. Das Seltsame in diesem Buche, das Bedeutsame im psychologischen und pädagogischen Sinne ist nun, daß dieses Tagebuch keineswegs das eines Wunderkindes ist, einer zukünftigen Maria Bashkirtseff, sondern im Gegenteil das eines ganz normalen, gar nicht sonderlich begabten, gar nicht sonderlich sensitiven und gar nicht sonderlich erlebnisreichen Kindes aus der sogenannten guten Wiener Gesellschaft. Nur eben eines jener unzähligen, oft belächelten und verspotteten Tagebücher, wie sie fast jedes Mädchen unfehlbar irgendeinmal in den Schuljahren beginnt. Aber schon die Regelmäßigkeit dieser Erscheinung mag Erkenntnis sein für die Bedeutsamkeit dieses Augenblicks, für das fast Gesetzmäßige, daß Kinder und besonders Mädchen gerade in jenen Entwicklungsjahren aus einem zwingenden Gefühl beginnen, sich täglich schriftliche Rechenschaft von sich  [...]

Unbedeutsam im gewöhnlichen Sinne mag darum auch dieses Tagebuch dem Unbedeutenden gelten, denn es ist weder stilistisch schön geschrieben, noch geistig sonderlich hochwertig, eben nur ein Dutzendtagebuch irgendeines Halbkindes. Aber eben das typische Kleinmädchengeschwätz darin, die ahnungslose Aufrichtigkeit (die dem Dichter ja fehlt), daß jemals ein fremder Blick in diese Blätter eindringe, geschweige denn, daß sie jemals in Buchform vervielfältigt werden könnten, macht seine Lektüre so anregend für alle jene, denen das bloße Verstehen von seelischen Dingen selbst schon eine Art geistiger Lust geworden ist. Es ist voll von zufälligem Geschwätz über Konditoreien, Ausflüge, Kameradinnen, Eifersüchteleien, Schuldummheiten, Familienepisoden, aber eben dadurch ist auch den wesentlichen Dingen der richtige Rang im Seelenleben ausgewertet. Denn der Dichter, die sonst einzige Quelle, der eine Kindheit schildert, die eigene oder eine fremde, in Selbstbiographie oder im Roman, verstellt aus dem innersten Gesetz der Kunst bewußt-unbewußt das Gleichgewicht. Er gibt bloß Abbreviaturen, Verkürzungen des kindlichen Seelenlebens, weil er nur das aufzeichnet, was die Erinnerung nach Jahren noch als wesentlich bewahrt hat, nicht aber das Gleichzeitig-Banale, dem das Besondere entwächst. Er zeigt nur die Meilensteine, statt des ganzen Weges, er schafft Auslese, betont nur das Wissende im Kind, die frühe Weisheit, während hier im Tagebuch noch die ganze breite Folie der Torheit und ahnungslosen Dummheit sich in den Aufzeichnungen naturhaft aufstuft. [...]

Das Erlebnis dieser Jahre, das Wesentliche dieses Buches ist selbstverständlich das Nicht-mehr-Kind-sein- Wollen. Der Wille, als voll gewertet zu werden, um alle Geheimnisse zu wissen, die alle Erwachsenen so krampfhaft vor ihm verbergen. Mit Zorn und Erbitterung notiert die Elfjährige immer, wenn Vater, Mutter oder Schwester sie eine »Kleine« oder »Kind« nennen. Mit Ungeduld will sie schon hinauf in die andere Welt, will sie die verschlossenen Türen zerbrechen, hinter denen sie manchmal unverständliche Worte hört und hinter denen für ihr Empfinden das »eigentliche«, das wirkliche Leben liegt. Jedes dieser aufgelauschten Worte hinter den verschlossenen Türen des großen Geheimnisses wird zum Ereignis, zum Geschehnis, denn ahnend spürt das noch ahnungslose Kind, daß diese abgelösten Worte gleichsam Chiffren sind, mit denen man, wenn einmal die Buchstaben ihres Sinnes auseinandergenommen sind, das ganze Zauberbuch im Fluge durchlesen könne. Wie auf der Wiese hinter Schmetterlingen ist darum dies gespannte Kindwesen mit seinen Freundinnen hinter jedem solchen aufgeflatterten Wort her. Irgendjemand hat »Verhältnis« gesagt und gelächelt dabei – was bedeutet das? Von der Kusine erzählen sie, daß sie »bleichsüchtig« sei, von einem Onkel, er sei »nicht normal«. Mit der Spürkraft aufgereizten Empfindens wittert sie einen besonderen Sinn hinter dem Gewöhnlichen. Und alle die unendlich typischen Schleichwege des Kindes auf dieser Jagd tun sich auf in diesem Tagebuch: Das Tuscheln mit den Freundinnen, das Geschwätz mit den Dienstboten, der heimliche Blick in das Konversationslexikon, bis sich allmählich nach vielen vergeblichen Irrungen – die im einzelnen dem Erwachsenen und besonders dem, der seine eigene Jugend vergessen hat, ein mitleidiges Lächeln entlocken mögen – die richtige Spur findet. Hier, wie vielleicht in jedem aufrichtigen Tagebuche eines Halbwüchsigen ist natürlich der Brennpunkt des Interesses die Sexualität.

Die Sexualität, nicht die Erotik. Denn hier kommt die Neugier noch aus dem Intellektuellen, aus dem wachen Gehirn eines noch unentwickelten Körpers, und die Unruhe quillt aus dem Verstand, nicht aus den noch dumpfen Zonen körperlichen Gefühls. Nirgends reagiert hier wirkliche Befriedigung auf Erkenntnis, im Gegenteil: der erste zufällige Einblick wird für das scheue Kind zum seelischen Schock. Mit Ekel, mit Abscheu, Furcht und Angst antwortet ihr noch unreifes Gefühl auf alle Ahnungen des Körperlichen. Statt sie an das feurige Geheimnis näher hinzudrängen, schreckt sie die Mechanik des Liebesaktes vorläufig zurück. [...]

Denn wer vermag zu sagen, ob diese Unruhe, diese brennende Neugier nicht etwas unendliches Kostbares und Schöpferisches in jedem Kinde ist, ob nicht bei einzelnen gerade aus ihr die Möglichkeit entwächst, sich das Mystische des Lebensgefühles über die Kindheit hinaus zu bewahren. Ob vielleicht nicht Menschen, die in ihrer Kindheit die ganze Not dieser Unsicherheit, die Spannung des Geschlechtes so stark empfunden haben, sich auch dann später im Erotischen reiner den heiligen Schauer des kosmischen Gefühls und anderseits die starke Reizsamkeit leidenschaftlicher bewahren. Es ist vielleicht nicht gut, zu verbessern, wo man nicht weiß, was im einzelnen ungestaltete Möglichkeit zum Guten oder zum Bösen ist, und das Schicksal, das wunderbar eigenwillige, das mit Kindern wie mit Menschen nach seinem Sinn spielt, bevormunden zu wollen. Aber es ist immer gut, Menschliches zu verstehen, und zu diesem Verständnis der Kinderseele scheint mir dieses Buch eines der kostbarsten, das je die Wissenschaft Hand in Hand mit dem Zufall dargeboten, und das nicht durch Kunst, sondern einzig dank jener mystischen Schöpfungskraft der Jugend, die immer dichterischer wirkt als die besten Nachdichtungen von Kindheit."


22 Oktober 2021

Wolf Biermann im Interview

Wolf Biermann: „Melancholie ist meine Hoffnung“ von Cornelia Geißler

Herr Biermann, in Ihrem neuen Buch setzen Sie sich nach Themenkreisen geordnet mit Gott und Religion auseinander. Warum? 
Biermann: "Das Buch ist eine Sammlung von alten und neuen Gedichten und Prosatexten, unterteilt in verschiedene Kapitel wie „Melancholie, meine Hoffnung“, „All meine Gläubigkeit“, „Meine Jüdischkajten“ oder ein Text über Johann Sebastian Bachs Kantate: „Ich hatte viel Bekümmernis“. Ich erzähle über meinen Glauben, der noch verrückter ist als der christliche, jüdische oder muslimische, denn ich glaube nicht an einen Gott, sondern an den Menschen. Dafür gibt es wahrhaft noch weniger gute Gründe." 

Biermann: "Als Ungläubiger in einer christlich, jüdischen, muslimischen Gesellschaft führe ich einen lebenslangen Disput mit Gott, an den ich nicht glaube. In Ostberlin besuchte mich in der Chausseestraße eine Gruppe junger Theologen aus dem Westen. Einer schleimte aufgeklärt: „Also Wolf, das mit der Auferstehung, das ist natürlich Blödsinn!“ Dem musste ich heftig widersprechen, denn grade die Auferstehung halte ich für das Bedeutendste an dieser Schwindelstory vom Wanderrabbi Jesus Christus. Wie es in meinem Gedicht heißt: „Es gibt noch Gedichte nach Auschwitz. Und/ Es gibt sogar lustige Lieder. Wir/ Sind eben so. Wir gehn ganz und gar Zugrund./ Und erheben uns wieder.“ Mein Vater ist in meinen Liedern und Gedichten wiederauferstanden und so lebt er etwas länger." 

 Sie treten dort in einer Kirche auf mit „Mensch Gott!“. Werden Sie nun neu einsortiert?

 Das ist nicht nötig. Ich bin immer auch in Kirchen aufgetreten und habe gelegentlich sogar in der DDR für Christen gesungen. Im Prager Frühling 1968 lockte mich der Pastor Karl Kleinschmidt zu einem Konzert für seine Kirche. Ihn und seine Glaubensbrüder und             -schwestern begriff ich als meine Verbündeten. Kurz vor meiner Ausbürgerung sang ich, der total Verbotene, sogar unangemeldet in der Nikolaikirche in Prenzlau. Das war ein gelungener Coup des Jugendpfarrers dort. Unser gemeinsamer Nenner könnte mein Lied „Melancholie“ sein. Ich liebe die Melancholie, mit der ich gegen faule Traurigkeiten ankämpfe. Melancholie ist meine Hoffnung. Auch darüber habe ich im Buch geschrieben.

 Wer ist eigentlich das Bodenpersonal Christi, von dem Sie immer wieder schreiben? 

Das sind die, die davon leben, dass sie Gott den Haushalt führen. Einer von diesem Bodenpersonal, ein Pastor aus Naumburg, hat mir die Idee für den Buchtitel „Mensch Gott!“ geliefert. Er fand, ich hätte in der Ballade „Großes Gebet der alten Kommunistin Oma Meume in Hamburg“ so etwas wie Einsteins Formel gefunden für den Glauben in dieser Zeit: „Mensch, Gott! Wär uns bloß der erspart geblieb’n/ Der Stalin, meint’wegen durch ein Attentat“.  [...] Das Wort „Mensch Gott!“ ist eine ideale Kurzfassung der kompliziertesten Religionsdispute. Es sind Gedichte aus vielen Jahren mit persönlichen Texten dazwischen. Ist es als ein Lesebuch gedacht?  Dazu liefere ich Ihnen für Ihre Leser ein treffendes Wort: „Freiheit ist die einzige Ware auf der Welt, deren Preis sinkt, wenn die Nachfrage steigt.“

 (Interview: Cornelia Geißler)

17 Oktober 2021

W.G. Hoskins: The Making of the English Landscape

 "The Making of the English Landscape is a 1954 book by the English local historian William George Hoskins. The book is also the introductory volume in a series of the same name which deals with the English Landscape county by county." (Wikipedia)

sieh auch: Landschaftswandel (Wikipedia)

Zitate: 

"In may be surprising to some who look upon Midland landscape as the undouted product of the parlamentary enclosure movement to know that even in Northhamptonshire one half of the county/ had been enclosed and transformed to a modern landscape before the private enclosure act; and in the adjacent county of Leicestershire three of every five fields had been created before the parliamentary period. Engliish hedges are of all dates: - Celtic, Saxon and Danish, medieval, Tudor, Stuart, Georgian, even Victorian in places."

(W.G. Hoskins: The Making of the English Landscape, S.153/54)

Maschinenübersetzung:

"The Making of the English Landscape ist ein 1954 erschienenes Buch des englischen Lokalhistorikers William George Hoskins. Das Buch ist auch der Einführungsband in einer gleichnamigen Reihe, die sich mit der englischen Landschaft Grafschaft für Grafschaft befasst." (Wikipedia)

Es mag einige überraschen, die Midland-Landschaft als das unausgesprochene Produkt der parlamentarischen Einschließungsbewegung betrachten, zu wissen, dass sogar in Northhamptonshire eine Hälfte der Grafschaft/ vor dem Gesetz über private Einfriedung umschlossen und in eine moderne Landschaft umgewandelt wurde; und in der angrenzenden Grafschaft Leicestershire waren drei von fünf Feldern vor der Parlamentsperiode angelegt worden. Englische Hecken sind aus allen Zeiten: - Keltisch, Sächsisch und Dänisch, Mittelalter, Tudor, Stuart, Georgisch, manchmal sogar viktorianisch."

Über country houses und parks:

"More important than the houses themselves, so far as the landscape was concerned, were the parks with wich the owners surrounded them. The word park originally meant no more than a track of grund, usally woodland, enclosed for the protection of beasts of the chase." (S.167-69)

deutsch: "Landschaftlich wichtiger als die Häuser selbst waren die Parkanlagen, mit denen die Besitzer sie umgaben. Das Wort Park bedeutete ursprünglich nicht mehr als ein Stück Land, normalerweise Wald, das zum Schutz der Jagdtiere eingezäunt war."

Dazu die Wikipedia:

"Englische Wildparks wurden im Mittelalter von der Aristokratie zur Wildjagd genutzt. Sie hatten Mauern oder dicke Hecken um sich herum, um Wild (z. B. Hirsche) drinnen und Menschen draußen zu halten. In diesen Wildparks war es Bürgern strengstens verboten, Tiere zu jagen.

Diese Wildreservate entwickelten sich ab dem 16. Jahrhundert zu Landschaftsparks, die um Herrenhäuser und Landhäuser herum angelegt wurden. Diese mögen als Jagdreviere gedient haben, aber auch den Reichtum und Status des Besitzers verkünden. Eine Ästhetik der Landschaftsgestaltung begann in diesen herrschaftlichen Parks, in denen die natürliche Landschaft von Landschaftsarchitekten wie Capability Brown und Humphry Repton verbessert wurde. Der französische formale Garten, wie er von André Le Nôtre in Versailles entworfen wurde, ist ein früheres und aufwendigeres Beispiel. Als die Städte überfüllt wurden, wurden die privaten Jagdgründe Orte für die Öffentlichkeit.

Frühe Gelegenheiten für die Schaffung von städtischen Parks in Europa und den Vereinigten Staaten ergaben sich aus der mittelalterlichen Praxis, Weideland innerhalb der sicheren Grenzen von Dörfern und Städten zu sichern."

Die ältesten Parks entstanden schon vor dem Jahr 1000. Overstone Park in Northhampshire wurde 1255 eingehegt, Exton Park wurde es 1185.

"Woodstone Park (now Blenheim) is even more ancient: it was fenced around and seperated from the surrounding forest of Wychwood, as a game preserve for the Anglo-Saxon kings, before the year 1000. Plot says ist was created by King Alfred." (S.169)

"Woodstone Park (jetzt Blenheim) ist noch älter: Er wurde vor dem Jahr 1000 umzäunt und vom umliegenden Wald von Wychwood als Wildreservat für die angelsächsischen Könige getrennt. Eine mündliche Überlieferung besagt, dass er von König Alfred geschaffen wurde.269)"

Roads, Canals and Railways (S.233-269)

Roads (S.233-247)

Die prähistorischen Wege waren keine klar umrissene Pfade oder Straßen, sondern mehr oder minder offene Korridore. In den Kreidegebieten, wo seit vorhistorischer Zeit durchgehend Weideland war, kann man eine Vorstellung darüber gewinnen, wie etwa damals diese Korridore ausgesehen haben. Beispiele dafür sind Jurassic Way

Maschinenübersetzung: "Der Jurassic Way ist ein ausgewiesener und ausgeschilderter Fernwanderweg, der die Oxfordshire-Stadt Banbury mit der Lincolnshire-Stadt Stamford in England verbindet.[1] Es folgt weitgehend einem alten Höhenweg, der Großbritannien durchquert; der größte Teil seiner 142 km langen Strecke verläuft in Northamptonshire auf dem Jura-Kalksteinrücken im Norden dieser Grafschaft.

Der Weg führt in der Nähe der Oxford- und Grand-Union-Kanäle, vorbei am Catesby-Tunnel und -Viadukt der Great Central Railway, dem River Welland, dem 82-Bögen-Viadukt in Harringworth[4] und Rockingham Castle" (en: Wikipedia)

und Ridgeway:

Maschinenübersetzung: "Der Ridgeway ist ein Ridgeway [Höhenweg] oder ein alter Trackway, der als Großbritanniens älteste Straße beschrieben wird.[2] Der eindeutig als alter Trampelpfad identifizierte Abschnitt erstreckt sich von Wiltshire entlang des Kreiderückens der Berkshire Downs bis zur Themse am Goring Gap, einem Teil des Icknield Way, der, nicht immer auf dem Grat, von Salisbury Plain nach East Anglia verlief. 3] Die Route wurde 1972 als National Trail angepasst und erweitert. Der Ridgeway National Trail folgt dem alten Ridgeway von Overton Hill bei Avebury nach Streatley, dann auf Fußwegen und Teilen des alten Icknield Way durch die Chiltern Hills nach Ivinghoe Beacon in Buckinghamshire. Der National Trail ist 140 km lang." (en:Wikipedia)

Im Zuge der Eroberung Britanniens entstanden Römerstraßen, die über weite Strecken schnurgerade waren, z.B. der Fosse Way. Sie wurden zu nicht geringem Teil in angelsächsischer Zeit weiter verwendet, aber meist umbenannt. Es gar auch kürzere lokale Straßen, aber die sind schwerer nachzuweisen.

Die Straßen in sächsischer Zeit sind nicht leicht von anderen zu unterscheiden, weil sie nicht selten auf römische Straßen zurückgriffen. Das Domesday Book lässt aber erkennen, wo Straßen sich au Gebietsgenzen in älterer Zeit entwickelt haben könnten.

Manche Straßen entwickelten sich damals (und vor der Enclosure-Zeit) aus Salzstraßen und Viehtriften (letztere liegen öfters getrennt von den öffentlichen Straßen, um den dortigen Verkehr nicht zu stören.

"Certainly the crossing of the Avon at Stratford is extremely ancient. (S.241)

Die Turnpikes, die durch Zoll finanziert wurden, übernahmen oft alte Straßenverläufe und veränderten nicht viel am Landschaftsbild, nur waren sie besser gewartet und wurden in steilem Gelände öfter neu angelegt, wo die bisherigen Bergpfade nur für Fußgänger und Packpferde gangbar waren. (S.244)

Kanäle

Künstliche Wasserwerge, die groß genug waren, auch für Fahrzeuge genutzt zu werden, gab es schon zu römischer Zeit (Car Dike, Foss Dyke und Itchen Dyke, aber sie hatten eher noch den Cahrakter von Entwässerungsgräben, es gab dort noch keine Schleusen. Der erste Kanal im heutigen Sinn wurde von der Stadt Exeter von 1564-63 gebaut. Erst rund 200 Jahre später (1760) baute James Brindley den ersten modernen Kanal. Er strebte noch an, ein möglichst gleiches Niveau zu halten und passte sich daher dem Gelände an (um Tunnel möglichst zu vermeiden), obwohl er Straßen und Bäche überqueren musste und dafür Aquädukte brauchte. Der Grundsatz, durch eine möglichst gerade Strecke den Weg zu verkürzen, kam dann beim Grand Trunk Canal (1766-77) auf. Er erforderte mehr Erdarbeiten: Schneisen durch Hügel und Tunnel. (S.249) Ein Beispiel der Ellesmere Canal [dt. Llangollen-Kanal] von Thomas Telford, zu dem das Pontcysyllte-Aquädukt gehört, noch heute das längste und höchste von Großbritannien. Die Kanäle sind deit dem Aufkommen meist nur noch vor touristischer Bedeutung, da sie nicht für große Lastkähne, sondern nur für Narrowboats ausgebaut waren. Dabei waren in den 1820er Jahren schon 3000 Meilen Kanäle gebaut worden.

Eisenbahnen (S.254-69)

Die Kanalbauten hatten zwei Klassen von Personen geschaffen, ohne die die Eisenbahnen nicht hätten gebaut werden können: zivile Ingenieure und die Navvies, dieArbeiter, die für sie arbeiteten.

verbesserte Maschinenübersetzung::"Navvy, eine Kurzform von Navigator (UK) oder Navigationsingenieur (USA), wird insbesondere verwendet, um die Handarbeiter zu beschreiben, die an großen Tiefbauprojekten arbeiten [...] Der Begriff wurde Ende des 18. Jahrhunderts in Großbritannien geprägt, als zahlreiche Kanäle gebaut wurden, die manchmal auch als "Navigations" oder "Eternal Navigations" bezeichnet wurden, die für die Ewigkeit bestimmt waren." (S.256)

Denn praktisch von Anfang an veränderten die Eisenbahnen die Landschaften in großem Stil. In all den Jahrhunderten seit der vorrömischen frühen Eisenzeit hatte es keine so großen Erdarbeiten gegeben, wie sie jetzt aufkamen. Sehr eindrucksvoll hat Dickens in Dombey und Sohn diese Arbeiten beschrieben: Die Bahnarbeiten wirkten wie ein Erdbeben, Häuser wurden abgerissen, Straßen unterbrochen, riesige Gräben und Löcher wurden aufgerissen und riesige Erdhaufen aufgeschüttet, Häuser, die deshalb zusammenzustürzen drohten, mit Balken abgestützt. Brücken, die ins Nichts führten, und Türme zu Babel von Schornsteinen, riesige Gerüste und Berge von Backsteinen. Und all diese Unordnung führte Zivilisation und Verbesserung herauf.

Ein Beispiel auf S.265 mit der Erläuterung: Die gesamte Eisenbahnlinie von Paddington nach Liverpool ist gekennzeichnet durch großartige Ingenieurleistung und Architektur, die man aber während der Fahrt nicht sehen kann.

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Überall sind auf der Linie gewaltige Embankments (Erdarbeiten) und Viadukte zu finden.
Doch die Eisenbahnen veränderten nicht nur die Landschaft, sondern die indirekten Effekte sind ebenso mächtig. Das zeigt das Tagebuch eines Pfarrers aus Middlesex, der aus London herauszog, um auf dem Land zu wohnen. Durch die Eisenbahnlinie von Paddington nach Westen wurde in 8 Jahren Unzufriedenheit und Immoralität in der Landbevölkerung gestiftet. Ried- und Moosgedeckte Häuser wurden durch Backsteinhäuser mit roten Dachziegeln ersetzt, Rosenhecken durch Eisenzäune und die Dorfwirtschaft durch die Eisenbahntaverne. Insgesamt wurden die regionalen Baustoffe in der Zeit ab 1850 durch industriell gefertigte Backsteine aller Farben ersetzt, Schiefersteinbrüche, die seit der Zeit Heinrichs III. (1207-72) bestanden hatten, wurden 1887 stillgelegt. Und so war es in nahezu jeder Grafschaft in England. Nur noch die Reichen konnten es sich leisten, Häuser im alten regionalen Stil zu bauen. (S.268/69)

Stadtlandschaften (S.270ff.)
Geplante Städte mit Schachbrettmuster oder Fächern um ein Zentrum gab es schon seit dem 11. Jh., gegen 1300 brach das ab, bis es Ende des 18. Jhs. in größerem Stil aufkam. Ein Beispiel ist Middlesbrough das ab 1830 von einem Ort mit 25 Einwohnern in eine geplante Stadt verwandelt wurde.

Zur Entwicklung von Städten in der Zeit der Industrialisierung, die durch das open-field-system [vgl. in Deutschland Gewann und zelgengebundene Dreifelderwirtschaft] unterschiedlich beeinflusst waren: In den Midlands entwickelten sich drei benachbarte Städte recht unterschiedlich.
In Nottingham konnte sich die Stadt nicht ausbreiten, weil die Bürger auf der Nutzung der Allmende während der bestellfreien Jahreszeit bestanden. - Deshalb entstanden Arbeitersiedlungen mit dreifach verdichteter Einwohnerzahl und riesigen schmalen daher lichtlosen Innenhöfen mit 3-geschossigen Häusern mit sehr beschränkter Toilettenzahl, also arge Slums wie sonst nur in wenigen Großstädten wie etwa Manchester und Liverpool.
In Leicester kam die Enclosure rechtzeitig, so dass es Besitzer großer Landflächen gab, die diese als Siedlungsflächen zur Verfügung stellten. So entstanden höchstens zweistöckige Arbeitersiedlungen mit Einfamilienhäusern und kleinen Gärten.
In Stamford verhinderte der Landbesitzer die Ansiedlung neuer Bürger völlig, so dass keine Industrialisierung stattfand, die Stadt verarmte und die Bevölkerungszahl sogar zurückging, die Stadtentwicklung zurückblieb,  dafür heute aber ein beschauliches Bild einer Stadt vor der Industrialisierung bewahrt hat.

The Market Town (S.289-97)

Häufigster Grund für die Entstehung einer Stadt: Entwicklung aus einem Markt, woraufhin die höchste lokale Autorität, meist ein Adliger mit Herrschaftsrecht, der Siedlung das Marktrecht verleiht. Idealtypischer Fall: Plymouth, wo es eine Old Town Street gibt, die auf die angelsächsische Ausgangssiedlung zurückgeht.(Seite 296)
Seit 1914 hat jede Veränderung die englische Landschaft verhässlicht oder ihren Charakter völlig verändert oder beides. (Seite 298)
Nur die Wasserreservoire, die für die Industriestädte des Nordens und der Midlands geschaffen wurden, kann man ohne Schmerz ansehen.
Die Landhäuser und Parks verfallen. In der Nähe einer Stadt werden sie zu Overspill. Hoskins selbst schreibt seinen Text an einem Ort, wo manche Elemente der Landschaft aus vorrömischer Zeit noch erhalten sind und die historische Entwicklung erstaunlich gut rekonstruierbar ist, weil dieses Gebiet wegen seiner Struktur seit 60 Generationen für Siedlung geeignet war. (S.296-303)
"THE CULTURAL HUMUS OF SIXTY GENERATIONS OR MORE LIES UPON IT."  (S.303)
(Der kulturelle Humus von sechzig oder mehr Generationen liegt darauf.)
Was er in anderem Zusammenhang als Verhässlichung erlebt, macht ihm sein persönliches Umfeld fruchtbar. Ich habe, als ich sehr nah an seinem Schreibort gelebt habe, sein Buch sehr zu schätzen gelernt. Heute lese ich nostalgisch die Bücher von Bill Bryson, einem Amerikaner, der wie Hoskins die englische Landschaft und ihre Bewohner sehr zu schätzen gelernt hat und manche Veränderung als Verhässlichung kritisiert, obwohl er nie Hoskins England von 1954 und früher - und selbst mein deutlich späteres England - nie kennengelernt hat.

16 Oktober 2021

Mary Beard: SPQR - Die tausendjährige Geschichte Roms

Mary Beard SPQR Die tausendjährige Geschichte Roms [Rezensionen bei Perlentaucher] 2016

Schwungvoll geschrieben ist diese Darstellung der römischen Geschichte, die Wert auf charakteristische Einzelheiten legt, wie sie in Anekdoten zum Ausdruck kommen. 

Trotz der als von ihr selbst als übertrieben kritisch bezeichneten Überlieferung durch seine Gegner verweist sie auf seinen zweimaligen Marsch auf Rom, den Brand im Jupitertempel und die Proskriptionslisten, die sich "nicht einfach als Erfindungen eines Propagandakrieges abtun" ließen (S.259) und zitiert den Ausspruch, den er getan haben soll, als man ihm den Kopf eines besonders jungen Opfers überbrachte: "Man muss erst rudern lernen, ehe man das Steuerruder führen will" (ein Aristophaneszitat) und konstatiert: "Sullas Sadismus war berüchtigt." (S.259)

Immerhin kann sie auch auf die Aussage verweisen, die er auf seinen Grabstein meißeln ließ, "daß weder einer seiner Freunde im Gutestun noch einer seiner Feinde im Bösestun ihn übertroffen habe." (S.259)

Das liest sich lebendiger als die trockne Feststellung, dass er als erster zeitlich unbegrenzt gewählter Diktator mit seinen Reformen, die den Senat stärken sollten, de facto der Grundstein für die Vernichtung der Republik gelegt habe. 

Wertvoll ist, dass sie den Blick auf die Bürger der Provinzen lenkt (Kapitel 8, S.319-361, worin sie nicht zuletzt Ciceros über 1000 überlieferte Briefe als Quelle würdigt) und die gesetzgeberische Leistung des Gaius Gracchus in seinem Entschädigungsgesetz würdigt. (S.278)

Besitzende und Besitzlose (S.467 ff.)

"Unter den Kritzeleien an den Wänden in Pompeji finden sich über 50 Zitate aus der Dichtung Vergils. Das bedeutet sicher nicht, dass die Aeneis oder andere seine Werke weiterhin vollständig gelesen wurden. [...]  Und viele dieser Kritzeleien könnten reiche junge Burschen angebracht haben, für die Vergil zur Schullektüre gehörte. Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, nur die Armen hätten an Wände gekritzelt. Die Vermutung, dass alle diese Zitate von Wohlhabenden stammten, wäre jedoch wenig einleuchtend. Manches deutet also darauf hin, dass Vergils Dichtung ein gemeinsames Kulturgut war, das man – und sei es auch nur häppchenweise – zitieren, abwandeln und scherzhaft und spielerisch einsetzen konnte. An der Fassade einer Walkerai in Pompeji zeigte ein Wandgemälde eine Szene aus der Aeneis, in der der Held seinen Vater und seinen Sohn aus dem zerstörten Troja führt, um in Italien ein neues Troja zu gründen. Daneben hatte ein Witzbold mit Bezug auf das tierische Maskottchen der Tuchwalker eine Parodie auf die berühmte erste Zeile des Epos geschrieben: "Fullones ululamque cano, non arma virumque" "Singen will ich von Walkern und ihrer Eule, nicht von Kämpfen und dem Mann") das war zwar kaum hohe Kultur, zeugt aber von einem gemeinsamen Bezugsrahmen für die Welt der Straße und die der klassischen Literatur.
Ein noch erstaunlicheres Beispiel findet sich in einer Kneipendekoration aus dem 2. Jahrhundert aus der Hafenstadt Ostia. Hauptthema des Gemäldes ist das gängige Aufgebot griechischer Philosophen und Gurus, die man traditionell als "die sieben Weisen" bezeichnet. Zu ihnen gehört unter anderem Thales von Milet, der große Denker des 6. Jahrhunderts v. Chr., berühmt für seine Behauptung, Wasser sei der Ursprung des Universums und seine zeitgenössischen Kollegen Solon, der nahezu legendäre Gesetzgeber Athens, und Chilon von Sparta, eine weitere intellektuelle Leuchte. Einige der Gemälde sind nicht erhalten geblieben, ursprünglich dürften alle sieben Weisen abgebildet gewesen sein, wie sie mit Schriftrollen auf eleganten Stühlen saßen. Etwas war jedoch überraschend: Neben jedem dieser Männer stand nicht etwa eine Aussage zu ihrem jeweiligen Fachgebiet Politik, Naturwissenschaften, Recht oder Ethik – sondern zu vertrauten Fäkalthemen (siehe Farbentafel 15).

Über Thales stand: "Die Hartleibigen mahnte Thales zu drücken"; über Solon "Um gut zu kacken, massierte Solon den Bauch"; und über Chilon "Leise zu furzen lehrte der listige Chilon. Unter den Weisen war eine weitere Reihe von Figuren abgebildet, die zusammen auf einer Gemeinschaftslatrine saßen (eine durch aus übliche Einrichtung in der römischen Welt). Auch sie äußerten sich zum Stuhlgang: "Hüpf' auf und ab, dann geht's schneller" oder: "es kommt". [...] Als mögliche Erklärung für diese Zeichnungen kann man sie als aggressiven volkstümlichen Witz gegen die Elitekultur verstehen. [...] Ein Aspekt war sicher, hehre Gedanken auf die Ebene des Stuhlgangs herunterzuziehen. Die Sache ist jedoch komplexer. Diese Sprüche setzten nicht nur ein lesefähiges Publikum voraus oder zumindest genügend Gäste, die sie anderen vorlesen konnten, sondern auch gewisse Kenntnisse über die sieben Weisen, um den Witz überhaupt zu verstehen. Für jemanden, dem Thales von Milet rein gar nichts sagte, hatte sein Rat zum Stuhlgang wohl kaum etwas Komisches. Um den Seitenhieb auf die Ansprüche geistigen Lebens zu begreifen, musste man zunächst etwas darüber wissen." (S.505-507)

Ich hätte diesen ausführlichen Bericht samt dem Foto der Kritzeleien in Ostia nicht in einer Geschichte des tausendjährigen Roms erwartet und muss gestehen, dass ich da einiges dazugelernt habe. Das heißt nicht, dass ich nicht auch diese Zeichnungen und Sprüche 'reichen jungen Burschen' in Reaktion auf ihre Schullektüre zutrauen würde. Und nicht alles, was an Wände gekritzelt oder gesprüht wird, wird von Gästen oder Passanten verstanden. 

Aber diese Passage macht wohl deutlich, dass Mary Beard in ihrem Werk mehr als vertrautes Schulwissen anbietet und dass sie anregende Hypothesen vermittelt. Man sieht die Römerzeit in einem ungewohnten, aber erhellendem Licht.

"Allein das Werk Plutarchs, des Biografen, Philosophen, Essayisten und Priesters des berühmten Orakels von Delphi, umfasst so viele heutige Buchseiten wie die gesamten erhalten gebliebenen Schriften aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zusammen, von den Tragödien des Aischylos bis zum Geschichtswerk des Thukydides." (S. 536)

Der größte Teil der Reliefs am Triumphbogen Konstatins stammt von Denkmälern, die zu Ehren von Trajan, Hadrian oder Marc Aurel errichtet worden waren. Das Gesicht des jeweiligen Kaisers wurde nur grob dem Konstantins angepasst.



12 Oktober 2021

Im Osten manch Unbekanntes

Katarzyna Slivinska stellt in Narrationen vom Untergang des "deutschen Ostens" in einigen Romanen der 1950er Jahre  die folgenden Romane/Erzählungen vor und ordnet sie kritisch ein. 

Edwin Erich Dwinger: Sibirische Trilogie (1929-32)

                Dwinger       : Wenn die Dämme brechen … Untergang Ostpreußens. (1950)

Hanna Stephan: Engel, Menschen und Dämonen (1951)

Werner_Klose: Jenseits der Schleuse (1953)

 Jens Rehn: Feuer im Schnee (1956)

Da ich alle diese Werke nicht kenne, sie mir aber thematisch durchaus nicht unwichtig erscheinen, halte ich sie hier für ein weiteres Studium fest. Das bedeutet nicht, dass ich sie zur Lektüre empfehle, denn ich kenne sie noch nicht. 

Über die Wikipediaartikel zu den Autoren bzw. den Werken ist der Zugang vermutlich zunächst leichter als über Slivinskas Arbeit. 

10 Oktober 2021

Stefan Zweig: Das Buch als Eingang zur Welt

Nach einigen Anfangsreflexionen stellt uns Zweig eine Situation vor, wie für Menschen die Welt sein muss, die keine Bücher lesen können. 

 Der 26-jährige Stefan Zweig hat einen Analphabeten kennengelernt und denkt jetzt darüber nach, wie es anders dieser Mensch die Welt sehen muss als er, der viele Bücher gelesen hat:

"Er bleibt vor einer Buchhandlung stehen, und diese schönen, gelben, grünen, roten, weißen, rechteckigen Dinge mit ihren goldgepreßten Rücken sind für ihn gemalte Früchte oder verschlossene Parfümflaschen, hinter deren Glas man den Duft nicht spüren kann. Man nennt vor ihm die heiligen Namen Goethe, Dante, Shelley, und sie sagen ihm nichts, bleiben tote Silben, leerer, sinnloser Schall. Er ahnt nichts, der Arme, von den großen Entzückungen, die plötzlich aus einer einzigen Buchzeile brechen können wie der silberne Mond aus dem toten Gewölk, er kennt nicht die tiefen Erschütterungen, mit denen ein geschildertes Schicksal plötzlich in einem selbst zu leben beginnt. Er lebt völlig in sich vermauert, weil er das Buch nicht kennt, ein dumpfes troglodytisches Dasein, und – so fragte ich mich – wie erträgt man dieses Leben, abgespalten von der Beziehung zum Ganzen, ohne zu ersticken, ohne zu verarmen? Wie erträgt man es, nichts anderes zu kennen als das, was bloß das Auge, das Ohr zufällig faßt, wie kann man atmen ohne die Weltluft, die aus den Büchern strömt? Immer intensiver versuchte ich, mir die Situation des Nicht-lesen-Könnenden, des von der geistigen Welt Ausgesperrten vorzustellen, ich bemühte mich, seine Lebensform mir so künstlich aufzubauen, wie etwa ein Gelehrter aus den Resten eines Pfahlbaues sich die Existenz eines Brachyzephalen oder eines Steinzeitmenschen zu rekonstruieren sucht. Doch ich konnte mich nicht zurückschrauben in das Gehirn eines Menschen, in eine Denkweise eines Europäers, der nie ein Buch gelesen, ich konnte es so wenig, wie ein Tauber sich eine Vorstellung von Musik aus Beschreibungen erzaubern kann.

Aber da ich ihn innerlich nicht verstand, den Analphabeten, versuchte ich nun, zur Denkhilfe mir mein eigenes Leben ohne Bücher vorzustellen. Ich versuchte also zuerst einmal, aus meinem Lebenskreis all das für eine Stunde wegzudenken, was ich von schriftlicher Übermittlung, vor allem von Büchern empfangen hatte. Aber schon dies gelang mir nicht. Denn das, was ich als mein Ich empfand, es löste sich gleichsam vollkommen auf, wenn ich versuchte, ihm zu nehmen, was ich an Wissen, an Erfahrung, an Gefühlskraft über mein Eigenerleben hinaus an Weltgefühl und Selbstgefühl von Büchern und Bildung empfangen hatte." 

(https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/rezensio/chap001.html)

Ich schätze Zweig sehr und halte die Sternstunden der Menschheit und die Schachnovelle für so gut, dass ich finde, man sollte sie auch heute noch Jugendlichen nicht vorenthalten. Aber bei diesem Text (1931 veröffentlicht, Zweig war damals knapp 50 Jahre) frage ich aber doch: Darf man sich den 26-jährigen Zweig so geschichtsunkundig denken, dass er nicht weiß, dass viele bedeutende Überlieferungen jahrhundertelang mündlich weitergegeben wurden? Die Schöpfungsberichte der Bibel, das Gilgameschepos, im Grunde fast alle welterklärenden Mythen.

Hat der 50-jährige hochgebildete Autor noch nicht gewusst, dass in der orientalischen Gelehrtentradition lange das mündliche Zeugnis über dem schriftlichen stand?

Nun aber schreibt Zweig weiter:


"Aber da ich ihn innerlich nicht verstand, den Analphabeten, versuchte ich nun, zur Denkhilfe mir mein eigenes Leben ohne Bücher vorzustellen. Ich versuchte also zuerst einmal, aus meinem Lebenskreis all das für eine Stunde wegzudenken, was ich von schriftlicher Übermittlung, vor allem von Büchern empfangen hatte. Aber schon dies gelang mir nicht. Denn das, was ich als mein Ich empfand, es löste sich gleichsam vollkommen auf, wenn ich versuchte, ihm zu nehmen, was ich an Wissen, an Erfahrung, an Gefühlskraft über mein Eigenerleben hinaus an Weltgefühl und Selbstgefühl von Büchern und Bildung empfangen hatte. An welches Ding, an welchen Gegenstand ich zu denken versuchte, überall banden sich Erinnerungen und Erfahrungen, die ich Büchern verdankte, und jedes einzelne Wort löste unzählige Assoziationen aus an ein Gelesenes oder Gelerntes. Wenn ich mich zum Beispiel erinnerte, daß ich jetzt nach Algier und Tunis fuhr, so schossen schon blitzartig, ohne daß ich es wollte, hundert Assoziationen sich kristallisch an das Wort »Algier« an – Karthago, der Baalsdienst, ›Salammbô‹, jene Szenen aus dem Livius, da Punier und Römer, Scipio und Hannibal einander bei Zama begegnen, und gleichzeitig dieselbe Szene in dem dramatischen Fragment von Grillparzer; ein Gemälde von Delacroix fuhr farbig dazwischen und eine Landschaftsschilderung Flauberts. Daß Cervantes bei dem Sturm auf Algier unter Kaiser Karl V. verwundet worden war, und tausend andere Einzelheiten, sie waren mit dem Aussprechen oder dem Bloßdenken der Worte Algier und Tunis magisch lebendig; zwei Jahrtausende Kämpfe und Geschichte im Mittelalter und unzählige andere Bindungen drängten sich aus dem Gedächtnis, all das seit meinen Kindertagen Gelesene und Gelernte bereicherte dieses eine hingeträumte Wort. Und ich verstand, daß die Gabe oder die Gnade, weiträumig zu denken und in vielen Verbindungen, daß diese herrliche und einzig richtige Art, gleichsam von vielen Flächen her die Welt anzuschauen, nur dem zuteil wird, der über seine eigene Erfahrung hinaus die in den Büchern aufbewahrte aus vielen Ländern, Menschen und Zeiten einmal in sich aufgenommen hat, und war erschüttert, wie eng jeder die Welt empfinden muß, der sich dem Buch versagt."

(https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/rezensio/chap001.html[Hervorhebungen von Fontanefan]

War es zunächst die sachliche Unterstellung, der junge Schriftsteller hätte noch nichts über schriftliche Überlieferung gewusst, so stört mich jetzt der Wortreichtum, der Gefühle wecken und das Außerordentliche von Situationen evozieren soll, der mir in den Sternstunden so imponiert. 

Es stimmt ja, dass ein einzelnes Wort für den Gebildeten unglaublich viele Assoziationen wecken kann, dass ein geographischer Begriff, der für den Normalbürger nahezu nichtssagend ist ("ein Ort irgendwo in Nordafrika") für den Gebildeten ungemein welthaltiger ist. Aber dass "tausend andere Einzelheiten [...] mit dem Aussprechen [...] der Worte Algier und Tunis magisch lebendig" seien, nehme ich ihm nicht ab: Ich zweifle, dass er auch nur zweihundert Einzelheiten ohne längeres Nachdenken aufzählen könnte. 

Ist es also nur Wortgeklingel? Das nicht, aber der richtige Gedanke, dass mit einem Begriff für manchem allenfalls drei, vier Konnotationen verbunden sind, bei anderen aber eine Fülle von Erinnerungen und Sinnzusammenhängen, wird durch "tausend andere Einzelheiten" überzeichnet und unglaubwürdig.

Freilich, ganz zu Recht hat Zweig die Skepsis gegenüber dem Buch als der Bildungsquelle noch nicht geteilt, die wir jetzt aufgrund von Filmen, Videos, Podcasts und MOOCs mit Millionen von Zuhörern haben können.

02 Oktober 2021

Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft

 Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, die  Autobiographie Carl Zuckmayers.

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Tobias Blumenberg schreibt dazu (S.665): "Neben Stefan Zweigs Welt von Gestern ist Zuckmayers Autobiographie  Als wär’s ein Stück von mir die interessanteste Beschreibung des geistigen Klimas vor und während der Nazizeit, statt von Wien von Berlin aus gesehen." *  

Dem kann ich mich weitgehend anschließen, wobei (von mir aus gesehen) gerade Zweigs Blick auf das ausgehende 19. Jh. interessant ist und ich zu beachten bitte, dass sich Zuckmayer während des Sommerhalbjahrs von Berlin nach Österreich aufs Land zurückziehen konnte (Henndorf am WallerseeHenndorfer Kreis, sieh nächster Absatz) und beide nur den Anfang der NS-Zeit im Lande erlebt haben. (Interessant auch Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen)

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1926–1934 Ein Augenblick, gelebt im Paradiese[1] (1. Kapitel: Zuckmayers Haus „Wiesmühl“ in Henndorf am WallerseeHenndorfer Kreis) - Österreichische Idylle in der Nähe von Salzburg. 

Die Tapete mit Schwarzen, Weißen, New Yorks Silhouette im Gartenzimmer des Carl Mayr, Kunstmaler und Hobbygastwirt, die Zuckmayer dann in den USA wiederfand. Es gab nur 3 oder 4 Exemplare, das Originale und die Kopien alle aus des Künstlers Hand.

"Es war keine Städte der Wunschlosigkeit, doch barg es den Kern des Glücks: denn die einzige dauerhafte Form irdische Glückseligkeit liegt im Bewusstsein der Produktivität. Heute arbeite ich, in anderer Landschaft, wieder an dem gleichen Tisch mit der schweren, langgestreckten Eichenholzplatte, der in meiner Henndorferr Stube stand, liege nachts im gleichen, buntbemalten Bauernbett, in dem mich der Wiesmühlenbach so oft in Schlaf sang." (Seite 9)

1934-1939 Austreibung (S.37-124)
"In jeder menschlichen Existenz ereignet sich, früher oder später, die Katastrophe der Austreibung oder Verstoßung, mit der in der biblischen Geschichte alle irdische Mühsal beginnt. Vielen Menschen tritt sie kaum ins Bewusstsein – oder sie empfinden erst später, dass sie einmal, bei einem äußerlich unbedeutenden Anlass vielleicht [...] diese zwangsläufige Wiederholung, Nachspielung eines Urvorgangs durchgemacht haben – so zwangsläufig für die Gestalt des Menschen wie die Metamorphose für viele Tiere.

In manchen Lebensläufen und Zeitläuften spielt sich die Austreibung in einer krassen, daseinsbetonten Härte ab, unter dem Zeichen der Ächtung, Verfolgung, Heimzerstörung. Wer Glück hat, erlebt das in einem Alter, in dem es noch nicht ihn selber zerstört, sondern vorhandene Widerstands- und Verwandlungskräfte in ihm wachruft. Wer die Freundschaft liebt, erfährt in solchen Zeiten ihre besondere Gnade: sie erweist sich stärker als jeder Hass, und selbst als der große Widersacher, der Tod." (Seite 37)

Werner Krauß: Ein kindliches Gemüt, der wunderbar mit Kindern auf ihrem Niveau spielen konnte. "Er war ein vom Spiel, vom Spielen Besessener, auch im Leben, und das 'Spielen' war bei ihm sowohl der Ausdruck einer unablässig gestaltenden Fantasie als einer echten Naivität, eines im wahren Sinn kindlichen Charakters. Ganz im Gegensatz zu Jannings [...] war Kraus recht eigentlich weltfremd bis zu einem Grad, dass er zeitweilig ganz treu an den 'Führer' glaubte und an die Reinheit seiner Ziele, was Emil niemals tat, ihm [Jannings] imponierte nur der Erfolg, und den hatte der Mann [Hitler] schließlich aufzuweisen (bis er ihn überzog)." (S.43) 
Weiter über Krauß: "Ich muss, um etwas von seiner künstlerischen Dämonie ahnen zu lassen, eines kleinen Vorfalls gedenken, der sich in meinem Haus in Henndorf abgespielt hat." (S.43) Er konnte  hinter einer fürchterlich aussehenden Maske bei den Zuschauern alle Arten von Gefühlen erwecken.
Stefan Zweig: Ungemein hilfsbereit, wollte nie von Dank wissen. Zuckmayer besorgte er einmal einen Kachelofen, der genau passte, und  - noch wertvoller - Rassehunde. - Er hatte schon mit 50 J. eine selbst von Frauen nicht übertroffene Angst vor dem Alter.

1896-1914 Ein Blick auf den Rhein (S.125-184)
Flugpioniere: Goedecker (Großer Sand)  Anton Herman Gerard Fokker (S.173-176)

Horen der Freundschaft (S.259ff.)

Wilhelm Fraenger (S.286ff.)

Warum denn weinen - (S.311ff)
Das Berlin der 20er Jahre
Annemarie Seidel (Mirl), jüngere Schwester von Ina (S.327ff.)

Schwabing
Ringelnatz  (S.339)
Kurt Elvenspoek 1922/23 Intendant des Kieler Stadttheaters, S.354ff
Zusammentreffen mit Brecht; im Freundeskreis abwechselnd Lieder singend, Brecht mit Laute (er "liebte komplizierte, schwer greifbare Akkorde" S.375)
"Nie habe ich eine solch wuchernde, aus allen Wurzeln aufschießende und zugleich kritisch beherrschte Produktivität erlebt." (S. 378)
"Man musste – auch das war mir schon Im Anfang klar – sich vor ihm in acht nehmen, so sehr man von ihm angezogen war: und als einer, der selbst seinen Ausdruck sucht und sich eigener Talentkräfte bewusst es, dieser Anziehungskraft nicht zu erliegen. Brecht war in vieler Hinsicht gefährlich, wie vermutlich jedes Genie. Er wollte keine Bewunderer oder Jünger, aber Mitarbeiter, die sich ihm zu- und damit unterordneten." (Seite 379)

Hitlerputsch (S.383-86)

Mit Brecht Dramaturg an den Reinhardtschen Bühnen
Max Reinhardt, Erich Engel, Heinz Hilpert, Fehling
Heirat S.399/400
Julius Elias
"Der fröhliche Weinberg" (Dezember 1925),  Kleist-Preis - riesiger Premierenerfolg
"[...] am diesem Vormittag hatten bereits, dank nächtlicher Blitzberichte, mehr als hundert Bühnen das Stück telegraphisch erworben." (S.412)
"Im Laufe des nächsten Jahres brachte es das Stück, das heue wohl recht harmlos erscheint, auf 63 Theaterskandale [...] genau registriert, da jeder einzelne die Aufführungsziffern und die Auflagen des Buches erhöhte" (S.413)
Gerhart Hauptmann: "Für mich war und ist er die größte Dichtegestalt des Jahrhunderts, selbst wenn er nichts als die Monologe des 'Michael Kramer' geschrieben hätte. Das hatte ich erst begriffen, als ich aus dem Rauch der Nachkriegschaotik und des expressionistischen Überschwangs heraus zu einer klaren Wertschätzung gekommen war." (S.420)
"Doch ich erinnere mich, wie Peter Suhrkamp, ein Mann von ganz verschiedenen Wesensart, als in einer Literatengesellschaft über Hauptmanns 'fürstliche Hofhaltung' gemäkelt wurde, zurechtweisend sagte: 'Aber er ist doch ein Fürst.' [...] Als wir in der Frühdämmerung zusammen heimgingen, empfand ich ihn nicht mehr als einen sehr alten, mich nicht mehr als einen allzu jungen Mann. Er hatte, durch sein vitales Dasein, eine Mitte geschaffen, in der sich die Generationen berühren konnten." (S.421)
"Katharina Knie" (S.431)
Zuckmayer hält die Festrede für Hauptmanns 70. Geburtstag am 13.11.1932. (S.448)


Abschied und Wiederkehr (S.461ff.)
Emigration, New York, Hollywood; Farm in Vermont

"Die Fahrt ins Exil ist 'the journey of no return'. Wer sie antritt und von der Heimkehr träumt, ist verloren. Er mag wiederkehren – aber der Ort, den er dann findet, ist nicht mehr der gleiche, den er verlassen hat, und er selbst nicht mehr der gleiche, der fortgegangen ist. Er mag wiederkehren, zu Menschen, die er entbehren musste, zu Stätten, die ihr liebte und nicht vergaß, in den Bereich der Sprache, die seine eigene ist. Aber er kehrt niemals heim. [...] 'Es führt kein Weg zurück' – ist der Titel eines Buches von dem selbst-exilierten amerikanischen Dichter Thomas Wolfe. Du kannst nicht ins Land der Kindheit zurück, in dem du noch ganz zu Hause warst – auch nicht in ein Land, aus dem du ausgewandert bist; denn du möchtest es so finden, wie es in dir lebt, und so ist es nicht mehr." (S.461)

Dorothy Thompson (S.465ff.) "Da sie mit Eleanor Roosevelt, der Gattin des Präsidenten, befreundet war,[4] konnte sie deutschen Emigranten wie Fritz KortnerThomas Mann und Carl Zuckmayer bei der Einbürgerung helfen, und einige brachte sie zeitweise in ihrer Wohnung unter und unterstützte sie aus ihrem privaten Vermögen. Carl Zuckmayers Autobiografie Als wär's ein Stück von mir setzt ihrer nie fehlenden Hilfe ein ausführliches Denkmal." (Wikipedia)

"1939 konnte man in Amerika noch deutsche Kurzwellensendungen hören, in denen die Goebbels-Propaganda versuchte, die amerikanische Öffentlichkeit zu beeinflussen und die Deutschamerikaner gegen ihre Regierung aufzuhetzen. Dorothy Thompson wurde darin mit besonderer Heftigkeit angegriffen und als eine "Feindin Deutschlands" bezeichnet. Carl Zuckmayer, der frisch in die USA emigriert mit Familie in einem von ihr gemieteten Haus lebte, erlebte ihre Betroffenheit:

"Du weißt es doch, dass ich Deutschland liebe! Dass ich nie gegen die Deutschen, nur gegen die Nazis war!" Ich wusste es. Und ich hatte in ihr, durch die ganze Kriegszeit hindurch, eine Verbündete im Verständnis für das andere Deutschland und seine Not.[8]

Goebbels vermerkt unter dem Datum vom 5. April 1942 in seinen Tagebüchern: „Dorothy Thompson hält eine absolut verrückte Rede gegen Hitler. Es ist beschämend und aufreizend, dass so dumme Frauenzimmer, deren Hirn nur aus Stroh bestehen kann, das Recht haben, gegen eine geschichtliche Größe wie den Führer überhaupt das Wort zu ergreifen.[9]

Während des Zweiten Weltkrieges erschienen ihre Beiträge fast täglich in etwa 150 Zeitungen. Doch sparte sie auch nicht mit Kritik an den Sympathisanten Stalins im Weißen Haus. So attackierte sie den früheren US-Botschafter in Moskau Joseph E. Davies für sein Stalin verherrlichendes Buch „Mission to Moscow“ sowie dessen Verfilmung.[10] 

[...] verheiratet von 1928 bis 1942 mit dem Schriftsteller Sinclair Lewis."(Wikipedia)


Hollywood: Einen siebenjährigen Vertrag, nach dem er unabhängig von seinen Arbeitsergebnissen bezahlt wird, hält er nicht durch und freut sich über seine Entlassung: "[...]
und ich bekam jenen berüchtigten siebenjährigen Vertrag, der in meinem Fall mit der beträchtlichen Summe von 750 Dollar die Woche begann, dafür den Vertragsnehmer bedingungslos seiner Firma verpflichtete, diese doch jedoch jederzeit zur Kündigung und Entlassung innerhalb einer Wochenfrist berechtigte. Man hatte in diesen Verträgen eine Klausel zu unterschreiben die lautete: 'Ich erkläre und bestätige, dass der Begriff des sogenannten geistigen Eigentums innerhalb dieser Vertragsbindung nicht existiert.' Das heißt:. Was immer man im Auftrag des Studios schrieb, gehörte, wie eine abgelieferte Ware, dem Produzenten, er konnte damit machen was er wollte, es benutzen, wegwerfen, umschreiben lassen, abändern, ohne irgendwelches Einspruchs- oder Mitspracherecht von Seiten des eigentlich Produzierenden. Ich saß im 'Schreiberhaus', so nannte ich 'The Writer's Building', einem weiträumigen Gebäude, in dem es viele große, wohleingerichtete Büros für die Filmschreiber gab. Auch mir wurde ein solches Büro zugeteilt mit einem Überfluss an Schreibzubehör jeder Art und einer Sekretärin im Vorzimmer, mit der ich nichts anfangen konnte, als sie freundlich zu begrüßen und sie dann ihrer Coca-Cola-Flasche zu überlassen, da ich noch nicht imstande gewesen wäre, auf Englisch auch nur einen Brief zu diktieren [...] Von Zeit zu Zeit ging ich in meinem Büro das Telefon, und die Stimme der Chefsekretärin des Studiochefs fragte: 'How is your work going on?' 'Wie steht es mit ihrer Arbeit?' 'Very well', sagte ich – 'Thank you', sagte sie. Sonst kümmerte man sich wenig um mich, [...]" (S.484/485)

Über den Erwerb der Farm in Vermont:

"Im Frühjahr 1941 hatten wir uns endgültig entschlossen, die New Yorker Wohnung aufzugeben und das Wagnis des Farmerlebens zu beginnen." (Seite 502)

Von Landwirtschaft verstand ich nichts, aber ich war gewiss, dass ich das leichter erlernen könne als  irgendeine technische Arbeit in der Stadt – es war die einzige praktische Tätigkeit, zu der ich ein gewisses Talent und vor allem Neigung verspürte. Ich war gesund und kräftig, [...] (Seite 503)
"Eine amerikanische Freundin [...] bot uns aus eigener Initiative  eine Anleihe an, ohne dass ich sie darum gebeten hätte – nur weil ihr unser Vorhaben gefiel. Der Verleger Alfred Harcourt [...] übernahmen meinen unerfüllten Vertrag von der 'Viking Press' und zahlte mir noch einen anständigen Vorschuss dazu, obwohl er nicht annahm, dass ich mich zu einem amerikanischen Erfolgsautor entwickeln werde, sondern gleichfalls nur, weil ihm unser Vorhaben gefiel. [...] So hatten wir gerade genug, knapp genug, um anzufangen, den geeigneten Platz zu suchen, den ersten Winter, in dem die Farm noch nichts eintragen konnte, zu überdauern, den ersten Grundstock von Farmtieren und die nötigsten Gerätschaften – diese größtenteils auf Abzahlung bei einem Versandhaus – anzuschaffen. [...]" (Seite 504)

Der Nachbar: "Als ich am nächsten Morgen um vier mit der Aussaat beginnen wollte, kam er – obwohl bei ihm selbst gerade gesät wurde – auf einem seiner schweren Gäule durch den Wald getrabt, um mir zu sagen, was er am Vortag vergessen hatte: dass ich die Saatkörner erst in einer bestimmten, fürs Wachstum unschädlichen Teerlösung wälzen müsse, die sie klebrig machen, sonst würden sie alle von den Waldvögeln aus dem Boden gepickt, und ich werde keine Helmchen besehen. Einen Eimer davon hatte er gleich mitgebracht. Und womit man die Setzkartoffeln einreiben müsse, um sie vor dem Kartoffelkäfer zu schützen. Dann trabte er, ohne auch nur eine Tasse Kaffee anzunehmen, wieder davon. (S. 526)
In der Uni-stadt Hanover lernt er Eugen Rosenstock-Huessey kennen. (S.532)

Über die Zeit in Vermont sieh auch: Alice Herdan-Zuckmayer: Die Farm in den grünen BergenPetra Rainers Rezension des Buches von Alice Herdan-Zuckmayer:
"Die Gattin Carl Zuckmayers berichtet über die von Dorothy Thompson umsichtig vorbereitete Ankunft in New York, verschiedene Wohnstätten in Amerika und schließlich die Zeit auf der Backwoodsfarm in den Bergen von Vermont. Das Farmerleben half den Zuckmayers über die existentiellen Schwierigkeiten des Exils hinweg und hinderte Carl Zuckmayer nicht, drei Jahre lang abends nach der Arbeit an seinem Drama "Des Teufels General" zu schreiben."
Wenn nicht meine Tochter Winnetou zu den Weihnachtsferien 1942 gekommen wäre und einen Schulfreund mitgebracht hätte, wenn nicht diese beiden jungen Menschen drei Wochen lang, bis Mitte Januar 1943, für mich die Abendarbeit im Stall, das Holztragen und Ofenheizen übernommen hätten, wäre das Drama des 'Teufels General' nie begonnen worden. So schrieb ich in den Abendstunden, zwischen sechs und neun, wie in einer Trance den ersten Akt, an dem ich nie mehr ein Wort geändert habe, und den Entwurf des letzten.
Meine Frau wusste nicht, was ich da droben in meinem kleinen Schlafzimmer wie ein Besessener heruntertippte. Ich wusste selbst nicht, wenn ich morgens die Ziegen melkte, was ich abends schreiben würde. Ich musste schreiben. Das war eine wiedergeschenkte Gnade.
In einer eiskalten Nacht, Ende Januar 1943, las ich meiner Frau den ersten Akt und den Entwurf des gesamten Stückes vor. Sie war bis an die Nase in Wolldecken eingehüllt, denn der Nordwestwind blies. Wir tranken dabei alles Bier und den Rest von Whisky, der noch im Hause war. „Das ist mein erstes Stück“, sagte ich, „das ich für die Schublade schreibe.“ […] Für den ersten Akt und den Entwurf des letzten hatte ich knappe drei Wochen gebraucht. Für den Mittelakt und zur Vollendung des Ganzen brauchte ich mehr als zwei Jahre. Wochenlang kam ich durch die tägliche Arbeit nicht zum Schreiben. Aber ich lebte mit dem Stück, ich lebte mit Deutschland. Und als der Krieg zu Ende ging, war auch das Stück vollendet.“ (S.535/36)

Eugene Meyer und Agnes Meyer verhalfen Zuckmayer zu einer Arbeit, die es ihm erlaubte, 
schon früh nach Deutschland zurückzukehren. (S.542)


Wikipedia: "Marcel Reich-Ranicki bewertete Zuckmayers Position in der Literaturgeschichte auf folgende Weise:

„Für die Kritik galt er oft als zu volkstümlich und für das Volk bisweilen als zu kritisch. Die Linken hielten ihn für konservativ und die Konservativen für allzu links. So saß er oft zwischen allen Stühlen. Das jedoch ist für einen Schriftsteller kein schlechter Platz.“[16]"

*Tobias Blumenberg: Der Lesebegleiter. Eine Entdeckungsreise durch die Welt der Bücher erfasst nur Belletristik und zwar rund 1500 Werke (nicht chronologisch nach Druckdatum geordnet).