Posts mit dem Label Wilde werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Wilde werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

10 Juli 2025

Oscar Wilde: Der Ursprung der historischen Kritik

(Oscar Wilde: Der Ursprung der historischen Kritik, Werke in einem Band, hrsg. Gerd Haffmanns, S. 473-516) 

Plato kritisiert die unmoralischen Handlungen der Götter und will sie an einem Ethos orientiert sehen. Insofern geht er über das Faktensammeln hinaus und will eigenes Urteil. Herodot scheidet aus den Mythen das aus, was menschlichen Erfahrungen widerspricht. Thukydides fügt das Kriterium der psychologischen Wahrscheinlichkeit hinzu. So gibt er der Überlieferung den Vorzug, Helena sei in Ägypten gewesen, denn um einen Krieg zu verhindern, hätten die Trojaner eine geraubte Frau sicher herausgegeben, wenn sie in der Stadt gewesen wäre. [Hier könnte man eine Parallele im gegenwärtigen Ukrainekrieg sehen: Vermeidung eines größeren Unglücks.] So sieht er auch im Fall Trojas im Unterschied zu Herodot nicht eine Strafe der Götter, sondern nimmt an, dass die unzureichende Versorgung der Griechen mit Lebensmitteln den Start der Besetzung herausgezögert habe. 

Das Bedeutende an Thukydides wie sein Umgang mit Legenden im Allgemeinen verrät, sind weniger die Resultate als vielmehr die Methode, nach der er vorgeht. Als der erste große, rationalistische Historiker hat er gewissermaßen den Weg für alle seine Nachfolger geebnet, obwohl nicht vergessen werden darf, dass das völlige Fehlen all des mythischen Bauwerks der übernatürlichen Lebensauffassung in seinen Schriften, zweifellos einen Fortschritt des Rationalismus und einen Meilenstein in der Wissenschaftsgeschichte markiert, dessen Bedeutung kaum zu überschätzen ist, wir andererseits aber auch das völlige Fehlen der zahllosen sozialen und wirtschaftlichen Faktoren feststellen müssen, die in der Entwicklung der Welt eine so wichtige Rolle spielen und denen Herodot in seinen unsterblichen Schriften zu Recht einen hervorragenden Platz ein räumte. Die Geschichte des Thukydides ist im Wesentlichen einseitig und unvollständig. Die verwirrenden Einzelheiten über Belagerung und Schlachten, Dinge, mit denen der wahre Historiker sich gar nicht oder nur insofern abgibt, als sie ein Licht auf den Geist der Zeit werfen, würden wir mit Freuden eintauschen gegen einen Hinweis auf das Privatleben in Athen oder den Einfluss und die Stellung der Frau.

Es gibt einen Fortschritt in der Methode der historischen Kritik; es gibt einen Fortschritt im Verständnis und in der Begründung von Geschichte; denn wir können bei Thukydides eine natürliche Reaktion gegen das Eindringen didaktischer und theologische Erwägungen in den Bereich des reinen Verstandes feststellen, Wie wir sie sowohl in der Behandlung der Tragödie durch Euripides und späterer Kunstschulen als auch in Platons Begründung der Wissenschaft finden." ( S. 482).

"Die Erforschung der beiden großen Probleme des Ursprungs der Gesellschaft und der Philosophie der Geschichte nimmt in der Entwicklung des griechischen Denkens eine so zentrale Stellung ein, das es für einen genauen Einblick in das Wirken des kritischen Geistes unumgänglich ist, sich in einiger Ausführlichkeit der Entstehung und wissenschaftlichen Entwicklung der beiden Fragen zu widmen, wie sie uns nicht nur in den Werken der ausgewiesenen Historiker begegnen, sondern auch in den philosophischen Abhandlungen Platons und Aristoteles'. Die außerordentliche Bedeutung dieser beiden großen Denker für die Entwicklung der historischen Kritik kann gar nicht genug hervorgehoben werden." (S. 483).

"Die Beschäftigung mit dem Geist der historischen Kritik hat sich nicht als fruchtlose Erforschung von Wegen und Formen des Denkens erwiesen, die heute sämtlich überholt und ohne Bedeutung sind. Der einzige Geist, der uns gänzlich entrückt ist, ist der des Mittelalters; der griechische Geist ist seinem Wesen nach modern." (S. 516)

28 Juni 2025

Oscar Wilde: Das Gespenst von Canterville

  "[...] Als das Gespenst ein kleines geheimes Zimmer im linken Schloßflügel erreicht hatte, lehnte es sich erschöpft gegen einen Mondstrahl, um erst wieder zu Atem zu kommen, und versuchte sich seine Lage klarzumachen. Niemals war es in seiner glänzenden und ununterbrochenen Laufbahn von dreihundert Jahren so gröblich beleidigt worden. Es dachte an die Herzogin-Mutter, die bei seinem Anblick Krämpfe bekommen hatte, als sie in ihren Spitzen und Diamanten vor dem Spiegel stand; an die vier Hausmädchen, die hysterisch wurden, als es sie bloß durch die Vorhänge eines der unbewohnten Schlafzimmer hindurch anlächelte; an den Pfarrer der Gemeinde, dessen Licht es eines Nachts ausgeblasen, als derselbe einmal spät aus der Bibliothek kam, und der seitdem beständig bei Sir William Gull, geplagt von Nervenstörungen, in Behandlung war; an die alte Madame du Tremouillac, die, als sie eines Morgens früh aufwachte und in ihrem Lehnstuhl am Kamine ein Skelett sitzen sah, das ihr Tagebuch las, darauf sechs Wochen fest im Bett lag an der Gehirnentzündung und nach ihrer Genesung eine treue Anhängerin der Kirche wurde und jede Verbindung mit dem bekannten Freigeist Monsieur de Voltaire abbrach.

Es erinnerte sich der entsetzlichen Nacht, als der böse Lord Canterville in seinem Ankleidezimmer halb erstickt gefunden wurde mit dem Karo-Buben im Halse, und gerade noch, ehe er starb, beichtete, daß er Charles James Fox vermittels dieser Karte bei Crockfords um 50+000 Pfund Sterling betrogen hatte und daß ihm nun das Gespenst die Karte in den Hals gesteckt habe.

Alle seine großen Taten kamen ihm ins Gedächtnis zurück, von dem Kammerdiener an, der sich in der Kirche erschoß, weil er eine grüne Hand hatte an die Scheiben klopfen sehen, bis zu der schönen Lady Stutfield, die immer ein schwarzes Samtband um den Hals tragen mußte, damit die Spur von fünf in ihre weiße Haut eingebrannten Fingern verdeckt wurde, und die sich schließlich in dem Karpfenteich am Ende der Königspromenade ertränkte. Mit dem begeisterten Egoismus des echten Künstlers versetzte es sich im Geiste wieder in seine hervorragendsten Rollen und lächelte bitter, als es an sein letztes Auftreten als ›Roter Ruben oder das erwürgte Kind‹ dachte, oder sein Debüt als ›Riese Gibeon, der Blutsauger von Bexley Moor‹, und das Furore, das es eines schönen Juliabends gemacht hatte, als es ganz einfach auf dem Tennisplatz mit seinen eigenen Knochen Kegel spielte. Und nach alledem kommen solche elenden modernen Amerikaner, bieten ihm Rising-Sun-Öl an und werfen ihm Kissen an den Kopf! Es war nicht auszuhalten. So war noch niemals in der Weltgeschichte ein Gespenst behandelt worden. Es schwur demgemäß Rache und blieb bis Tagesanbruch in tiefe Gedanken versunken. [...]"

Oscar WildeDas Gespenst von Canterville


Oscar Wilde ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie man die moralischen Kriterien eine Gesellschaft als völlig haltlos durchschauen und kritisieren kann und sich ins Unglück bringen kann, indem man eben diese Kriterien für sich handlungsleitend macht. 

Weil er durch den Vorwurf, er sei homosexuell, seine Ehre angegriffen fühlte, forderte er heraus, dass der gerichtsfähige Beweis für seine Homosexualität erbracht wurde. Das führte nach den Rechtsgrundsätzen der damaligen Gesellschaft zu der zweijährigen Zuchthausstrafe zu den - nach heutigen Kriterien menschrechtsunwürdigen - Bedingungen der damaligen Zeit, die sein Leben als anerkannter Schriftsteller und seine Gesundheit zerstörten.