18 Mai 2018

Jean-Paul Sartre: Die Wörter

"Ich wollte gefallen, und ich wollte Kulturbäder nehmen; jeder Tag begann mit neuer Heiligung. Sie wurde manchmal ziemlich nachlässig vorgenommen: es genügte, dass ich mich auf den Boden legte und die Seiten umblätterte; die Werke meiner kleinen Freunde dienten mir häufig als Gebetsmühlen. Gleichzeitig aber kam es vor, dass ich wirkliche Angst und Freude empfand. Dann vergaß ich meine Rolle und wurde plötzlich von dem riesigen Walfisch, der kein anderer war als die Welt, davongetragen. Bitte schließen Sie daraus, was sie wollen! Auf alle Fälle bearbeitete mein Blick die Wörter: man musste sie versuchen, ihren Sinn bestimmen; mit der Zeit wurde ich durch diese Kulturkomödie kultiviert.

Trotzdem las ich auch richtig: außerhalb des Sanktuariums, in unserem Zimmer oder unter dem Tisch im Esszimmer; von diesem richtigen Lesen redete ich zu niemand, und niemand, außer meiner Mutter, redete darüber mit mir. Anne-Marie hatte meine gespielten Leidenschaften ernst genommen. Sie wurde unruhig und sprach darüber mit ihrer Mutter. Meine Großmutter war eine zuverlässige Verbündete und sagte: "Charles ist unvernünftig. Er drängt den Kleinen, ich habe es gesehen. Wenn es so weitergeht, wird das Kind ganz austrocknen." Die beiden Frauen brachten auch die Überanstrengung und die Gefahr einer Gehirnhautentzündung ins Spiel. Es wäre gefährlich und müßig gewesen, meinen Großvater unmittelbar anzugreifen: sie versuchten es auf Umwegen. Bei einem unserer Spaziergänge blieb Anne-Marie wie zufällig vor dem Zeitungskiosk stehen, der sich auch heute noch an der Ecke des boulevard Saint-Michelle und der rue Soufflot befindet: ich sah wunderbare Bilder, war fasziniert von ihren schreienden Farben, wollte sie haben, bekam sie; der Streich war geglückt: nun verlangte ich jede Woche nach 'Cri-Cri' oder den 'Drei Pfadfindern' von Jean de la Hire oder nach der 'Weltreise im Aeroplan' von Arnould Galopin, von denen jeden Donnerstag Fortsetzungsheftchen zu erscheinen pflegten." (
Sartre: Die WörterS. 42-43)

Vermutlich habe ich den rororo Taschenbuchband, nach dem ich zitiere, in den Jahren 1965/1966 das erste und letzte Mal gelesen.
Ich erinnerte mich nur daran, dass Sarte beschrieb, dass er als kleines Kind - ganz von Büchern umgeben - in einer umfangreichen Bibliothek gelesen habe. Die merkwürdigen Umstände des gemeinsamen "Kinderzimmers" mit seiner verwitweten Mutter, die zerstrittene Ehe der Großeltern, die gegenüber seiner Mutter aber unangreifbare Autoritäten verkörperten, Sartrs Verwandtschaft mit Albert Schweitzer erinnerte ich nicht.
In den Band hatte ich einen Zeitungsartikel der FAZ vom 8.1.1977 mit dem Anfang von Sartres psychoanalytisch Flaubert deutenden Biografie  (L'idiot de la famille) eingelegt.
Vermutlich hat Sartre besonders angesprochen, dass Flaubert angeblich erst sehr spät lesen gelernt hat, während er schon sehr früh Corneille und Flaubert gelesen hat, wenn auch ohne jedes literarische Verständnis, so doch mit großer Faszination von dem Bücherkult.
Sartre zitiert einen Brief des neunjährigen Flaubert an seinen Freund, Ernest Chevalier, in dem er schreibt, er werde ihm "von meinen Komödien schicken" und ihm anbietet, eine Autorengemeinschaft zu gründen.  - Die ganz unterschiedlichen Motivationen, die Kinder im Grundschulalter dazu motivieren, im Sinne des Schriftstellerns zu "schreiben".

Bemerkenswert die Parallelität der Faszination durch Wörter bei Sartre und Ulla Hahn, ohne dass diese (meiner Beobachtung nach) die geringste Anspielung auf Sartre macht, trotz ihrer Liebe zu literarischen Bezügen.   (vgl. Hahn: Das verborgene Wort und Rätsel)

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