Nach einigen Anfangsreflexionen stellt uns Zweig eine Situation vor, wie für Menschen die Welt sein muss, die keine Bücher lesen können.
Der 26-jährige Stefan Zweig hat einen Analphabeten kennengelernt und denkt jetzt darüber nach, wie es anders dieser Mensch die Welt sehen muss als er, der viele Bücher gelesen hat:
"Er bleibt vor einer Buchhandlung stehen, und diese schönen, gelben, grünen, roten, weißen, rechteckigen Dinge mit ihren goldgepreßten Rücken sind für ihn gemalte Früchte oder verschlossene Parfümflaschen, hinter deren Glas man den Duft nicht spüren kann. Man nennt vor ihm die heiligen Namen Goethe, Dante, Shelley, und sie sagen ihm nichts, bleiben tote Silben, leerer, sinnloser Schall. Er ahnt nichts, der Arme, von den großen Entzückungen, die plötzlich aus einer einzigen Buchzeile brechen können wie der silberne Mond aus dem toten Gewölk, er kennt nicht die tiefen Erschütterungen, mit denen ein geschildertes Schicksal plötzlich in einem selbst zu leben beginnt. Er lebt völlig in sich vermauert, weil er das Buch nicht kennt, ein dumpfes troglodytisches Dasein, und – so fragte ich mich – wie erträgt man dieses Leben, abgespalten von der Beziehung zum Ganzen, ohne zu ersticken, ohne zu verarmen? Wie erträgt man es, nichts anderes zu kennen als das, was bloß das Auge, das Ohr zufällig faßt, wie kann man atmen ohne die Weltluft, die aus den Büchern strömt? Immer intensiver versuchte ich, mir die Situation des Nicht-lesen-Könnenden, des von der geistigen Welt Ausgesperrten vorzustellen, ich bemühte mich, seine Lebensform mir so künstlich aufzubauen, wie etwa ein Gelehrter aus den Resten eines Pfahlbaues sich die Existenz eines Brachyzephalen oder eines Steinzeitmenschen zu rekonstruieren sucht. Doch ich konnte mich nicht zurückschrauben in das Gehirn eines Menschen, in eine Denkweise eines Europäers, der nie ein Buch gelesen, ich konnte es so wenig, wie ein Tauber sich eine Vorstellung von Musik aus Beschreibungen erzaubern kann.
Aber da ich ihn innerlich nicht verstand, den Analphabeten, versuchte ich nun, zur Denkhilfe mir mein eigenes Leben ohne Bücher vorzustellen. Ich versuchte also zuerst einmal, aus meinem Lebenskreis all das für eine Stunde wegzudenken, was ich von schriftlicher Übermittlung, vor allem von Büchern empfangen hatte. Aber schon dies gelang mir nicht. Denn das, was ich als mein Ich empfand, es löste sich gleichsam vollkommen auf, wenn ich versuchte, ihm zu nehmen, was ich an Wissen, an Erfahrung, an Gefühlskraft über mein Eigenerleben hinaus an Weltgefühl und Selbstgefühl von Büchern und Bildung empfangen hatte."
(https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/rezensio/chap001.html)
Ich schätze Zweig sehr und halte die Sternstunden der Menschheit und die Schachnovelle für so gut, dass ich finde, man sollte sie auch heute noch Jugendlichen nicht vorenthalten. Aber bei diesem Text (1931 veröffentlicht, Zweig war damals knapp 50 Jahre) frage ich aber doch: Darf man sich den 26-jährigen Zweig so geschichtsunkundig denken, dass er nicht weiß, dass viele bedeutende Überlieferungen jahrhundertelang mündlich weitergegeben wurden? Die Schöpfungsberichte der Bibel, das Gilgameschepos, im Grunde fast alle welterklärenden Mythen.
Hat der 50-jährige hochgebildete Autor noch nicht gewusst, dass in der orientalischen Gelehrtentradition lange das mündliche Zeugnis über dem schriftlichen stand?
Nun aber schreibt Zweig weiter:
"Aber da ich ihn innerlich nicht verstand, den Analphabeten, versuchte ich nun, zur Denkhilfe mir mein eigenes Leben ohne Bücher vorzustellen. Ich versuchte also zuerst einmal, aus meinem Lebenskreis all das für eine Stunde wegzudenken, was ich von schriftlicher Übermittlung, vor allem von Büchern empfangen hatte. Aber schon dies gelang mir nicht. Denn das, was ich als mein Ich empfand, es löste sich gleichsam vollkommen auf, wenn ich versuchte, ihm zu nehmen, was ich an Wissen, an Erfahrung, an Gefühlskraft über mein Eigenerleben hinaus an Weltgefühl und Selbstgefühl von Büchern und Bildung empfangen hatte. An welches Ding, an welchen Gegenstand ich zu denken versuchte, überall banden sich Erinnerungen und Erfahrungen, die ich Büchern verdankte, und jedes einzelne Wort löste unzählige Assoziationen aus an ein Gelesenes oder Gelerntes. Wenn ich mich zum Beispiel erinnerte, daß ich jetzt nach Algier und Tunis fuhr, so schossen schon blitzartig, ohne daß ich es wollte, hundert Assoziationen sich kristallisch an das Wort »Algier« an – Karthago, der Baalsdienst, ›Salammbô‹, jene Szenen aus dem Livius, da Punier und Römer, Scipio und Hannibal einander bei Zama begegnen, und gleichzeitig dieselbe Szene in dem dramatischen Fragment von Grillparzer; ein Gemälde von Delacroix fuhr farbig dazwischen und eine Landschaftsschilderung Flauberts. Daß Cervantes bei dem Sturm auf Algier unter Kaiser Karl V. verwundet worden war, und tausend andere Einzelheiten, sie waren mit dem Aussprechen oder dem Bloßdenken der Worte Algier und Tunis magisch lebendig; zwei Jahrtausende Kämpfe und Geschichte im Mittelalter und unzählige andere Bindungen drängten sich aus dem Gedächtnis, all das seit meinen Kindertagen Gelesene und Gelernte bereicherte dieses eine hingeträumte Wort. Und ich verstand, daß die Gabe oder die Gnade, weiträumig zu denken und in vielen Verbindungen, daß diese herrliche und einzig richtige Art, gleichsam von vielen Flächen her die Welt anzuschauen, nur dem zuteil wird, der über seine eigene Erfahrung hinaus die in den Büchern aufbewahrte aus vielen Ländern, Menschen und Zeiten einmal in sich aufgenommen hat, und war erschüttert, wie eng jeder die Welt empfinden muß, der sich dem Buch versagt."
(https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/rezensio/chap001.html) [Hervorhebungen von Fontanefan]
War es zunächst die sachliche Unterstellung, der junge Schriftsteller hätte noch nichts über schriftliche Überlieferung gewusst, so stört mich jetzt der Wortreichtum, der Gefühle wecken und das Außerordentliche von Situationen evozieren soll, der mir in den Sternstunden so imponiert.
Es stimmt ja, dass ein einzelnes Wort für den Gebildeten unglaublich viele Assoziationen wecken kann, dass ein geographischer Begriff, der für den Normalbürger nahezu nichtssagend ist ("ein Ort irgendwo in Nordafrika") für den Gebildeten ungemein welthaltiger ist. Aber dass "tausend andere Einzelheiten [...] mit dem Aussprechen [...] der Worte Algier und Tunis magisch lebendig" seien, nehme ich ihm nicht ab: Ich zweifle, dass er auch nur zweihundert Einzelheiten ohne längeres Nachdenken aufzählen könnte.
Ist es also nur Wortgeklingel? Das nicht, aber der richtige Gedanke, dass mit einem Begriff für manchem allenfalls drei, vier Konnotationen verbunden sind, bei anderen aber eine Fülle von Erinnerungen und Sinnzusammenhängen, wird durch "tausend andere Einzelheiten" überzeichnet und unglaubwürdig.
Freilich, ganz zu Recht hat Zweig die Skepsis gegenüber dem Buch als der Bildungsquelle noch nicht geteilt, die wir jetzt aufgrund von Filmen, Videos, Podcasts und MOOCs mit Millionen von Zuhörern haben können.
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