"Als erste einer Reihe von ›Quellenschriften zur seelischen Entwicklung‹ [...] das unverstellte Originaltagebuch eines halbwüchsigen Mädchens von seinem elften bis zum vierzehnten Jahre. Das Seltsame in diesem Buche, das Bedeutsame im psychologischen und pädagogischen Sinne ist nun, daß dieses Tagebuch keineswegs das eines Wunderkindes ist, einer zukünftigen Maria Bashkirtseff, sondern im Gegenteil das eines ganz normalen, gar nicht sonderlich begabten, gar nicht sonderlich sensitiven und gar nicht sonderlich erlebnisreichen Kindes aus der sogenannten guten Wiener Gesellschaft. Nur eben eines jener unzähligen, oft belächelten und verspotteten Tagebücher, wie sie fast jedes Mädchen unfehlbar irgendeinmal in den Schuljahren beginnt. Aber schon die Regelmäßigkeit dieser Erscheinung mag Erkenntnis sein für die Bedeutsamkeit dieses Augenblicks, für das fast Gesetzmäßige, daß Kinder und besonders Mädchen gerade in jenen Entwicklungsjahren aus einem zwingenden Gefühl beginnen, sich täglich schriftliche Rechenschaft von sich [...]
Unbedeutsam im gewöhnlichen Sinne mag darum auch dieses Tagebuch dem Unbedeutenden gelten, denn es ist weder stilistisch schön geschrieben, noch geistig sonderlich hochwertig, eben nur ein Dutzendtagebuch irgendeines Halbkindes. Aber eben das typische Kleinmädchengeschwätz darin, die ahnungslose Aufrichtigkeit (die dem Dichter ja fehlt), daß jemals ein fremder Blick in diese Blätter eindringe, geschweige denn, daß sie jemals in Buchform vervielfältigt werden könnten, macht seine Lektüre so anregend für alle jene, denen das bloße Verstehen von seelischen Dingen selbst schon eine Art geistiger Lust geworden ist. Es ist voll von zufälligem Geschwätz über Konditoreien, Ausflüge, Kameradinnen, Eifersüchteleien, Schuldummheiten, Familienepisoden, aber eben dadurch ist auch den wesentlichen Dingen der richtige Rang im Seelenleben ausgewertet. Denn der Dichter, die sonst einzige Quelle, der eine Kindheit schildert, die eigene oder eine fremde, in Selbstbiographie oder im Roman, verstellt aus dem innersten Gesetz der Kunst bewußt-unbewußt das Gleichgewicht. Er gibt bloß Abbreviaturen, Verkürzungen des kindlichen Seelenlebens, weil er nur das aufzeichnet, was die Erinnerung nach Jahren noch als wesentlich bewahrt hat, nicht aber das Gleichzeitig-Banale, dem das Besondere entwächst. Er zeigt nur die Meilensteine, statt des ganzen Weges, er schafft Auslese, betont nur das Wissende im Kind, die frühe Weisheit, während hier im Tagebuch noch die ganze breite Folie der Torheit und ahnungslosen Dummheit sich in den Aufzeichnungen naturhaft aufstuft. [...]
Das Erlebnis dieser Jahre, das Wesentliche dieses Buches ist selbstverständlich das Nicht-mehr-Kind-sein-Wollen. Der Wille, als voll gewertet zu werden, um alle Geheimnisse zu wissen, die alle Erwachsenen so krampfhaft vor ihm verbergen. Mit Zorn und Erbitterung notiert die Elfjährige immer, wenn Vater, Mutter oder Schwester sie eine »Kleine« oder »Kind« nennen. Mit Ungeduld will sie schon hinauf in die andere Welt, will sie die verschlossenen Türen zerbrechen, hinter denen sie manchmal unverständliche Worte hört und hinter denen für ihr Empfinden das »eigentliche«, das wirkliche Leben liegt. Jedes dieser aufgelauschten Worte hinter den verschlossenen Türen des großen Geheimnisses wird zum Ereignis, zum Geschehnis, denn ahnend spürt das noch ahnungslose Kind, daß diese abgelösten Worte gleichsam Chiffren sind, mit denen man, wenn einmal die Buchstaben ihres Sinnes auseinandergenommen sind, das ganze Zauberbuch im Fluge durchlesen könne. Wie auf der Wiese hinter Schmetterlingen ist darum dies gespannte Kindwesen mit seinen Freundinnen hinter jedem solchen aufgeflatterten Wort her. Irgendjemand hat »Verhältnis« gesagt und gelächelt dabei – was bedeutet das? Von der Kusine erzählen sie, daß sie »bleichsüchtig« sei, von einem Onkel, er sei »nicht normal«. Mit der Spürkraft aufgereizten Empfindens wittert sie einen besonderen Sinn hinter dem Gewöhnlichen. Und alle die unendlich typischen Schleichwege des Kindes auf dieser Jagd tun sich auf in diesem Tagebuch: Das Tuscheln mit den Freundinnen, das Geschwätz mit den Dienstboten, der heimliche Blick in das Konversationslexikon, bis sich allmählich nach vielen vergeblichen Irrungen – die im einzelnen dem Erwachsenen und besonders dem, der seine eigene Jugend vergessen hat, ein mitleidiges Lächeln entlocken mögen – die richtige Spur findet. Hier, wie vielleicht in jedem aufrichtigen Tagebuche eines Halbwüchsigen ist natürlich der Brennpunkt des Interesses die Sexualität.
Die Sexualität, nicht die Erotik. Denn hier kommt die Neugier noch aus dem Intellektuellen, aus dem wachen Gehirn eines noch unentwickelten Körpers, und die Unruhe quillt aus dem Verstand, nicht aus den noch dumpfen Zonen körperlichen Gefühls. Nirgends reagiert hier wirkliche Befriedigung auf Erkenntnis, im Gegenteil: der erste zufällige Einblick wird für das scheue Kind zum seelischen Schock. Mit Ekel, mit Abscheu, Furcht und Angst antwortet ihr noch unreifes Gefühl auf alle Ahnungen des Körperlichen. Statt sie an das feurige Geheimnis näher hinzudrängen, schreckt sie die Mechanik des Liebesaktes vorläufig zurück. [...]
Denn wer vermag zu sagen, ob diese Unruhe, diese brennende Neugier nicht etwas unendliches Kostbares und Schöpferisches in jedem Kinde ist, ob nicht bei einzelnen gerade aus ihr die Möglichkeit entwächst, sich das Mystische des Lebensgefühles über die Kindheit hinaus zu bewahren. Ob vielleicht nicht Menschen, die in ihrer Kindheit die ganze Not dieser Unsicherheit, die Spannung des Geschlechtes so stark empfunden haben, sich auch dann später im Erotischen reiner den heiligen Schauer des kosmischen Gefühls und anderseits die starke Reizsamkeit leidenschaftlicher bewahren. Es ist vielleicht nicht gut, zu verbessern, wo man nicht weiß, was im einzelnen ungestaltete Möglichkeit zum Guten oder zum Bösen ist, und das Schicksal, das wunderbar eigenwillige, das mit Kindern wie mit Menschen nach seinem Sinn spielt, bevormunden zu wollen. Aber es ist immer gut, Menschliches zu verstehen, und zu diesem Verständnis der Kinderseele scheint mir dieses Buch eines der kostbarsten, das je die Wissenschaft Hand in Hand mit dem Zufall dargeboten, und das nicht durch Kunst, sondern einzig dank jener mystischen Schöpfungskraft der Jugend, die immer dichterischer wirkt als die besten Nachdichtungen von Kindheit."
Text des Tagebuchs: Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens, 3. Auflage 1922 Die 1. Auflage war 1919 anonym erschienen; bei der 3. Aufl. zeichnete Hermine Hug-Hellmuth als Herausgeberin.
Textausschnitte:
Die Verfasserin hat ihr Tagebuch am 12.7. begonnen und dann am 30.7. ihren 11. Geburtstag gefeiert.
1. Jahr: "10. März: Heute hat sich die Franke herausreden wollen; aber die Hella und ich haben ihr gleich gesagt, wir reden nicht mehr mit ihr. Und sie soll nur dran denken, was für Sachen sie uns gesagt hat. Und da hat sie alles abgeleugnet und gesagt, wir haben ohnehin schon alles gewußt. Wir sollen uns nur nicht so verstellen. Das ist eine Gemeinheit. Wir haben eigentlich gar nichts gewußt und sie hat uns alles gesagt. Und schon oft hat die Hella zu mir gesagt, sie wollte, daß wir garnichts wüßten. weil sie immer Angst hat, sich zu verraten. Und dann weil sie oft an so etwas denkt, wenn sie lernen soll. Das ist bei mir gerade ebenso. Und manchmal träumen einem auch solche Sachen, wenn man gerade Nachmittag davon geredet hat. Aber es ist doch besser, wenn man alles weiß.
22. März: Ich komme so selten zum Schreiben, erstens haben wir sehr viel zu lernen und zweitens freut es mich nicht mehr, seit der Papa das gesagt hat. Wie ich das letztemal geschrieben habe, das war an einem Samstag nachmittags, da kommt der Papa herein und sagt: Kommt Kinder, wir fahren nach Schönbrunn. Das ist Euch gesünder als Tagebuchkritzeln, das Ihr dann höchstens irgendwo liegen laßt. Also hat die Maraa es doch dem Papa gesagt in den Ferien. Das hätte ich nie geglaubt von der Mama, denn ich hatte sie gebeten, sie soll mir schwören, daß sie's niemanden sagt. Und sie hat gesagt: Bei so etwas schwört man nicht; aber ich sage es auch so niemanden. Und jetzt muß sie es doch gesagt haben, obwohl sie es mir versprochen hatte, nichts zu sagen. Da ist ja die Falschheit von der Franke nichts dagegen, denn die kennen wir doch erst seit heuer, aber daß die Mama das tut, das hätte ich nie geglaubt. Ich habe es der Hella erzählt, wie wir aufs Tivoli jausnen gingen und sie sagte, sie würde auch ihrer Mama nicht ganz trauen, eher noch dem Papa. Aber der hätte ihr, wenn ihr das passiert wäre, das Tagebuch um die Ohren gebaut. Ich habe mir nichts anmerken lassen, aber am Abend habe ich der Mama nur ein ganz kleines Busserl gegeben. Und sie hat gesagt: Was hast du denn, mein Kleines, ist dir etwas passiert? Und da habe ich mich nicht halten können und habe gräßlich geweint und gesagt: Du hast mich schmählich verraten. Und die Mama hat gesagt: ,,Ich?" Ja, du; du hast dem Papa das vom Tagebuch gesagt, obwohl du mir versprochen hast, nichts zu sagen. Zuerst erinnerte sich die Mama nicht einmal daran; aber dann erinnerte sie sich gleich und sagte: ,,Aber, Kindchen, der Papa darf doch alles wissen. Du hast doch nur nicht wollen, daß die Dora etwas erfährt". Das ist wohl wahr, das wäre schon gar schön gewesen; aber der Papa hätte es auch nicht wissen brauchen. Und die Mama war furchtbar lieb und nett und ich ging erst um 10 Uhr ins Bett. Aber sagen werde ich ihr doch auf keinen Fall mehr etwas und das ganze Tagebuch freut mich nicht mehr. Die Hella sagt: Das ist eine Dummheit; deswegen soll ich nur weiterschreiben; aber ein andermal soll ich nichts verlieren, und dann soll ich nicht gleich immer alles der Mama und dem Papa klatschen. Sie sagt ihrer Mama gar nichts mehr, seit damals im Sommer, wo ihr ihre Mama eine Ohrfeige gegeben hat, weil ihr das fremde Mädchen alles gesagt hat. Es ist wahr, die Hella hat recht, ich bin sehr kindisch, daß ich mit allem gleich zur Mama renne und ihr alles erzähle." [...]
4. Oktober [...] Der Papa ist wütend und die Mama hat ganz verweinte Augen. Zu Mittag redet · kein Mensch ein Wort. Wenn ich nur wüßte, was er getan hat. Der Papa hat gestern furchtbar geschrieen mit ihm und da haben wir, die Dora und ich gehört, wie er gesagt hat: So ein Lausbub hat es notwendig (Jetzt haben wir etwas nicht verstanden) und dann hat er gesagt, du schau in deine Schulbücheln und nicht auf die Mädeln und die verheirateten Frauen, du Lausbub du. Und die Dora sagt: Ah jetzt versteh ich und ich sag: Ich bitt dich, sag mir was denn, es ist doch mein Bruder so gut wie deiner. Aber sie sagt: ,,Das verstehst du nicht, das paßt nicht für so junge Ohren." Das ist eine Gemeinheit, für ihre Ohren aber paßt es und sie ist doch nur um nicht einmal ganz drei Jahre älter als ich. Aber weil sie das blaue Kleid halblang bekommen hat, bildet sie sich so viel ein und glaubt, ~ie ist eine Dame. So schauen sie aus, die Damen und dann nascht sie Kompott, daß sie den Mund ganz voll hat und gar nicht reden kann. Wenn ich so etwas merke, rede ich immer auf sie, daß sie antworten muß. Das ärgert sie furchtbar.
9. Oktober: Jetzt weiß ich alles!!! Also daher kommen die kleinen Kinder. Und das hat am Ende der Robert damals gemeint. Nein, das tue ich nie, ich heirate einfach nicht. Denn dann muß man es tun; es tut furchtbar weh und doch muß man. Wie gut, daß ich es schon weiß. Aber ich möcht nur wissen wie, die Hella sagt, das weiß sie auch nicht genau. Aber vielleicht sagt es ihr ihre Kousine, die weiß nämlich wirklich alles. Und neun Monate dauert es, bis man das Kind kriegt und dabei sterben sehr viele Frauen. 0, das ist gräßlich. Die Hella weiß es schon lang, aber sie hat sich nicht getraut, mir was zu sagen. Ihr hats heuer am Lande ein Mädel gesagt. Und sie hat es der Lizzi, ihrer Schwester sagen wollen, eigentlich sie hat sie nur fragen wollen, ob das alles wahr ist und die Lizzi rennt zu ihrer Mama und sagt ihr, was die Hella gesagt hat. Und ihre Mama sagt: ,,Das ist schrecklich mit die Kinder, so eine verdorbene Generation, daß du dich nicht unterstehst, einem anderen Kinde das zu sagen, vielleicht zu der Grete Lainer" und gibt ihr ein paar Ohrfeigen. Als ob sie was dafür könnte! [...] Jetzt habe ich geglaubt, ich weiß schon. alles und jetzt hat mir die Hella erst wirklich alles gesagt. Das ist gräßlich mit der P . . . . . . Ich kanns gar nicht weiter schreiben. Sie sagt, natürlich hats die lnspee schon, schon damals, wie ich geschrieben habe, die lnspee braucht nicht baden gehn, wenn sie nicht will; da hat sie es bekommen. Und wie das nur sein muß, da muß man doch immer Angst haben. Ströme von Blut sagt die Hella. Aber da wird ja alles ganz bl ..... . Und darum hat die lnspee immer das Licht abgedreht am Land, wenn sie noch gar nicht ausgezogen war, damit ich nichts sehe. Pfui Teufel, ich hätte auf keinen Fall hingeschaut. Mit 14 Jahre bekommt man es und es dauert bis 20 Jahre. Die Hella sagt, die Franke Berta in unserer Klasse weiß alles. Sie hat ihr in der Rechenstunde auf den Faulenzer geschrieben: weißt du was P . . . . . . bedeutet? Und die Hella hat darunter geschrieben, natürlich schon längst. Und dann hat die Franke um 12 Uhr auf sie gewartet, wie die Katholischen Religionsstunde gehabt haben und sie sind damals mit einander nachhause gegangen. Ich erinnere mich noch ganz gut, ich habe mich sehr geärgert, weil das keine Freundschaft ist. Am Dienstag gehen wir mit der Franke, die Hella hat ihr schon geschrieben unter der Stunde, daß ich a 11 es weiß und sie braucht sich nicht schenieren. Die lnspee ahnt etwas, sie schaut immer herüber und lacht höhnisch, sie glaubt wahrscheinlich, nur sie kann es wissen. [...]
2. Jahr:
3. Jahr: 20. August: Also heute Nacht ist die Ada richtig a u f g e s t an d e n, davon hätten wir wahrscheinlich gar nichts gemerkt, aber sie hat den Monolog der Jungfrau von Orleans deklamiert und da sagt die Dora, die ihn sofort erkannte : ,,R i t a, ich bitte dich, jetzt ist die Ada richtig m o n d s ü c h t i g geworden." Wir rührten uns gar nicht und sie ging ins Speisezimmer, aber dort war zugesperrt und der Schlüssel abgezogen, weil es direkt auf den Gang geht und dann stieß sie an den Streckfauteuil der Mama und da wachte sie auf. Es war gräßlich. Und dann irrte sie sich und ging in unser Zimmer anstatt ins Kabinett, aber sie war schon wach und bat uns vielmals um Entschuldigung und sagte, sie hätte das Kl. . . . gesucht. Dann ging sie in ihr Kabinett. Die Dora sagte, wir dürfen nichts dergleichen tun, denn offenbar geniert sich die Ada sehr. Aber keine Idee, nach dem Frühstück sagte sie : Heute nacht habe ich Euch gräßlich erschreckt ; seid nicht böse, ich muß manchmal aufstehn in der Nacht, es leidet mich nicht im Bett. Die Mutter sagt immer, ich deklamiere dabei, ist das wahr? Habe ich etwas geredet? ,,Ja, sag ich, du hast den Monolog der J. v. 0. deklamiert." ,,Wirklich," sagt sie, ,,ja das kommt daher, weil sie mich nicht zum Theater gehen lassen; ich werde jedenfalls irrsinnig werden; Ihr wißt dann wenigstens den wahren Grund." Dieses Nachtwandeln ist ja sehr interessant, aber mir gruselt's doch ein bißchen vor der Ada und das ist auch wahr, was die-Dora immer gesagt hat: Man weiß nie, wo die Ada eigentlich hinschaut. Wenn sie wirklich einmal irrsinnig würde, das wäre entsetzlich. Übrigens fällt mir gerade ein, daß ihre Mama doch schon einmal in einer Irrenanstalt war. Wenn sie nur nicht am Ende bei uns irrsinnig wird.
21. August: Die Mama hat es auch gehört gestern Nacht. Sie ist froh, daß sie es uns schon vorher gesagt hat und die Dora sagt, wenn sie es nicht vorher gewußt hätte, hätte sie wahrscheinlich einen Herzkrampf bekommen. Und der Papa sagte: ,,Die Ada ist durch und durch histerisch, das hat sie von ihrer Mutter." Die Lizzi fährt heuer im Herbst nach England und bleibt ein ganzes Jahr dort zur Ausbildung. So gern ich die Ada habe und so leid sie mir tut, ist sie mir doch jetzt unheimlich und ich bin eigentlich froh, daß sie am Dienstag schon wieder fortfährt. Heute sagte sie mir etwas Schreckliches : Der Alexander, das ist nämlich der Schauspieler, ist g es c h 1 e c h ts krank, weil er früher Offizier war; sie sagt, alle Offiziere sind geschlechtskrank, das ist selbstverständlich. Erst wollte ich mich nicht verraten, daß ich nicht sehr genau weiß, was einem da eigentlich fehlt, aber dann fragte ich doch und da sagte die Ada, eben das fehle einem, dieser Körperteil wird entweder immer kleiner und kleiner und ganz zerfressen, oder umgekehrt immer größer, weil er schrecklich angeschwollen ist; die letztere Art ist noch die bessere, weil dann eine Operation nützt; ein pensionierter Oberst, der in H. ein Haus hat, ließ sich daran in Wien operieren; aber er ist trotzdem nicht gesund geworden. Es gibt nur eine Rettung, nämlich daß ein junges Mädchen sich einem geschlechtskranken Mann' hingibt !(so sagte auch manchmal die Mad.), dann bekommt sie die Krankheit und er wird gesund.* Und daran hat die Ada erkannt, daß sie den A . . . nicht wirklich liebt, sondern nur, weil er sie ausbilden würde; denn das täte sie nie und sie wüßte auch nicht, wie sie ihm das sagen sollte, selbst wenn sie wollte. Gewöhnlich verlangt es übrigens der betreffende Herr. Und wie ich sage: ,,Denk' dir .nur, was tätest du dann, wenn du davon ein Kind bekämest, da sagt sie: "Keine Idee, wenn einer geschlechtskrank ist, ist es ausgeschlossen, dass man ein Kind bekommt. Und dann musst du wissen, dass erst ein Kind an die volle Weihe zur Künstlerin gibt. "Also etwas ähnliches hat uns, der Hella und mir, auch die Franke gesagt, deren Kusine beim Theater ist; aber wir haben gedacht, die ist nur im Theater an der Wien, und das ist da ist es schon möglich, aber in der Burg und in der Oper und selbst im deutschen Volkstheater wird es wahrscheinlich gar nicht sein dürfen. Ich erzählte, dass der Ada und die sagte: "Gott, ich bin nur eine Provinzlerin, aber das ich weiß ich schon längst, dass jede Schauspielerin ein Kind hat." [...]"
*Hier wird das Motiv von der Frau, die sich für den geliebten Mann aufopfert, aufgegriffen; allerdings anders als in dem mittelalterlichen Epos Der arme Heinrich hilft das Opfer der Frau dem Mann gar nicht, sondern gefährdet zusätzlich andere Männer.
3. Jahr (13-14 J.)
"12. Juni: Gott, das ist gräßlich; jetzt wollte ich nie mehr an solche Dinge denken und jetzt kommt eine solche Affäre! jetzt sitz ich unschuldig drin in der Patsche. Heute gleich nach 9 kommt eine aus der II. in die Mathematikstunde und sagt: ,,Die Frau Direktorin läßt bitten, die Lainer, die Bruckner und die Franke sollen sofort in die Kanzlei kommen. Alle Mädchen schauen uns an, aber wir wissen nicht, warum. Wie wir in die Kanzlei kommen, ist die Tür von der Frau Dir. zu und das Fräulein N. sagt, wir sollen warten. Dann kommt die Frau Dir. hinaus und ruft mich hinein. Drin sitzt eine Dame, die schaut mich mit dem Lorgnon an. ,,Gehst du öfters mit der Zerkwitz?" fragt die Frau Direktorin. Ja, sag ich, und es ahnt mir gleich nichts Gutes. ,,Diese Dame ist die Mama der Zerkwitz, sie beschwert sich darüber, daß du mit ihrer Tochter sehr unpassende Sachen redest; ist dies so?" ,,Wir, die Hella und ich, haben ihr nie etwas sagen wollen; aber sie hat uns sehr gebeten und dann glaubten wir auch, sie wisse es ohnehin schon und stellt sich nur so." ,,Was soll sie wissen und was habt ihr gesprochen?" fährt die Mama von der Anneliese los. ,,Bitte", sagt die Direktorin, ,,ich werde die Mädchen verhören; also die Bruckner war auch dabei?" ,,Nur ganz selten", sage ich. ,,Ja, die Hauptschuldige ist die Lainer, deren Mama erst vor kurzem gestorben ist." Da habe ich die Tränen verbissen und gesagt: ,,Wenn die Anneliese nicht immer wieder angefangen hätte, hätten wir kein Wort von diesen Sachen geredet." Und dann habe ich überhaupt keine Antwort mehr gegeben. Jetzt mußte die Hella hereinkommen. Sie hat mir dann gesagt, wie sie mich angeschaut hat, hat sie gleich gewußt, wieviel es geschlagen hat. ,,Was habt ihr mit der Zerkwitz geredet?" Zuerst wollte die Hella nichts sagen, aber dann sagte sie ganz kurz: ,,Vom Kinderkriegen und von dem Verheiratetsein!" ,,Gott im Himmel, solche Küken und sprechen von solchen Dingen", sagte die Mama von der Anneliese. ,,Solche verdorbene Geschöpfe." ,,Wir haben nicht geglaubt, daß die Anneliese wirklich nichts weiß, sonst hätten wir nichts mit ihr geredet", sagte auch Hella; sie war großartig. ,,Was den Alfred betrifft, so sind wir ganz unbeteiligt und wir haben ihr oft abgeraten, sich von der Schule abholen zu lassen; aber sie hörte nicht auf unsern guten Rat." ,,Ich (132) spreche jetzt von euren Gesprächen, durch die ihr das arme unschuldige Kind verdorben habt", sagte die Frau v. Zerkwitz. ,,Sie muß unbedingt schon etwas gewußt haben, sonst wäre sie nicht mit dem Alfred gegangen und auch nicht mit uns", sagte die Hella. ,,Ach, du himmlischer Vater, das ist ja die weit Ärgere; eine solche Verdorbenheit!" Dann mußten wir hinausgehen. Draußen hat die Hella furchtbar geweint und ich auch, weil wir uns fürchten wegen zuhause. Wir konnten gar nicht in die Mathematikstunde gehen, weil wir ganz verweint waren. In der Pause ging die Hella an der Anneliese vorbei und sagte ganz laut: „Verräterin" und spuckte vor ihr aus. Deswegen mußte sie aus der Reihe treten. Ich trat auch aus der Reihe und wie die Frau Professor Kreindl sagte: ,,Du Lainer nicht, gehe nur weiter", sagte ich: ,,Bitte, ich habe auch ausgespuckt" und stellte mich neben die Hella. (144pdf 161/62 st131/32 Orig.)
"Knapp vor 12 wurde ich nochmals mit der Hella zur Frau Direktorin gerufen. ,,Mädchen", sagte sie, ,, was habt ihr für abscheuliche Sachen? Was müßt ihr denn das, was eure Phantasie vorzeitig vergiftet, andern auch noch sagen? Und du Lainer, schämst du dich nicht, vor wenigen Wochen wurde deine Mama begraben, und jetzt hört man solche Dinge von dir?" ,,Bitte", sagt die Hella; ,,dies war alles schon im Frühling und noch im Winter; denn da sind wir noch aufs Eis gegangen. Da war die Mama der Rita noch ziemlich gesund. Und die Zerkwitz hat uns schrecklich sekkiert, ihr alles zu sagen. Ich habe die Rita oft gewarnt und gesagt: ,,Trau ihr nicht", aber sie war ganz vernarrt in die Zerkwitz. Bitte Frau Direktorin, sagen Sie nichts davon dem Papa der Rita; denn er würde sich sehr kränken." Die Hella war einfach großartig, ich werde ihr das nie vergessen. Sie will mich das nicht schreiben lassen; wir schreiben nämlich zusammen. Die Hella meint, wir müssen alles wörtlich niederschreiben, man kann nie wissen, wozu man es braucht. Die Hella ist eine Freundin, wie es keine zweite gibt, und dabei so mutig und gescheit. ,,Du bist geradeso gescheit", sagt sie zu mir, ,,aber nur bist du gleich so eingeschüchtert und dann bist noch von deiner Mama ihrem Tod sehr nervös. Wenn nur dein Papa nichts erfährt." Die dumme Gans hat auch die alte Sauce von den zwei Studenten am Eis aufgewärmt, die längst vorüber ist. ,,Nur niemanden sich anvertrauen", sagt die Hella und da hat sie / wirklich recht. Ich hätte das der Anneliese niemals zugetraut. Was mit der Franke war, wissen wir noch nicht. Wie sie heraufkam, legte sie die Finger an die Lippen, das sollte natürlich heißen: ,,Nichts verraten!'' (145pdf 162/63st 133/34 Orig.)
Als die Herausgeberin des Tagebuchs 1924 von ihrem Neffen ermordet worden war, wurde die Authentizität dieses Tagebuchs angezweifelt. Daraufhin "wurde es auf Initiative von Sigmund Freud aus dem Buchhandel zurückgezogen.[9]" "Das Tagebuch wurde 1987 vom Suhrkamp-Verlag erneut aufgelegt. In dem Vorwort von Alice Miller hält diese das Tagebuch für authentisch." (Wikipedia)
Unter Wissenschaftlern mag der Streit weitergehen, auch wenn Freund das Buch vermutlich nur deshalb zurückgezogen hat, weil nach der Ermordung der wichtigsten Zeugin für die Authentizität des Tagebuchs sein gesamtes Konzept in den Streit hätte hineingezogen werden können. Nach über 100 Jahren enthält der Text darüber, was die Rolle der Frau und die Unwissenheit von Mädchen betrifft, so viel Zeittypisches, dass die genaue Art der Entstehung des Textes unwichtig ist im Vergleich dazu, wie deutlich er widerspiegelt, was damals als authentisch gelten konnte. (Vergleiche die Rezension von Stefan Zweig)
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