Wenn ich dir sage, daß du ein Kind deines Volkes und daß du ein Kind des Menschengeschlecht bist, so ist dir dies Wort so geläufig, daß du wohl nicht mehr an die hohe Bedeutung denkst. Und doch ist dies Verhältnis das höchste irdische, in dem du stehst. Zu sehr werden wir von klein auf gewöhnt, nur die einzelnen, mit denen uns Natur und freie Wahl verbindet, in unser Herz zu schließen, und selten denken wir daran, daß unser Volk der Ahnherr ist, von dem die Eltern stammen, der uns Sprache, Recht, Sitte, Erwerb und jede Möglichkeit des Lebens, fast alles, was unser Schicksal bestimmt, unser Herz erhebt, geschaffen oder zugetragen hat. Freilich nicht unser Volk allein; denn auch die Völker der Erde stehen wie Geschwister nebeneinander, und ein Volk hilft Leben und Schicksal der andern bestimmen. Alle zusammen haben gelebt, gelitten und gearbeitet, damit du lebst, dich freust und schaffst.«
Ilse lächelte. »Auch der böse König Kambyses und seine Perser?«
»Auch sie,« versetzte der Professor, »denn das große Netz, in welchem dein Leben einer Masche gleicht, ist aus unendlich vielen Fäden zusammengewebt, und wenn einer gefehlt hätte, wäre das Gewebe unvollständig. Denke zuerst an Kleines. Der Tisch, an welchem du sitzest, die Nadel, welche du in der Hand hältst, die Ringe an Finger und Ohr verdankst du Erfindungen einer Zeit, aus welcher Kunde fehlt; damit dein Kleid gewebt werden konnte, ist der Webstuhl in einem unbekannten Volke erfunden, und ähnliche Palmenmuster, wie du trägst, sind in einer Fabrik der Phönizier erdacht worden.«
»Gut,« sagte Ilse, »das lasse ich mir gefallen, es ist ein hübscher Gedanke, daß die Vorzeit so artig für mein Behagen gesorgt hat.«
»Nicht dafür allein,« fuhr der Gelehrte fort, »auch was du weißt und was du glaubst, und vieles, was dein Herz beschäftigt, ist dir durch dein Volk aus eigener und fremder Habe überliefert. Jedes Wort, das du sprichst, ist durch Hunderte von Generationen fortgepflanzt und umgebildet worden, damit es den Klang und die Bedeutung bekam, welche du jetzt spielend gebrauchst. In diesem Sinne sind unsere Ahnen aus Asien ins Land gezogen, hat Armin mit den Römern für Erhaltung unserer Sprache gekämpft, damit du an Gabriel einen Befehl geben kannst, den ihr beide versteht. Für dich haben die Dichter gelebt, welche dir in der Jugendzeit des Hellenenvolkes den kräftigen Klang des epischen Verses erfanden, den ich so gern von deinen Lippen höre. Und ferner, damit du glauben kannst, wie du glaubst, war vor dreihundert Jahren in deinem Vaterlande der großartigste Kampf der Gedanken nötig, und wieder anderthalbtausend Jahre früher in einem kleinen Volke Asiens ein machtvolleres Ringen der Seele, und wieder fünfzig Generationen früher ehrwürdige Gebote unter den Zelten eines wandernden Wüstenvolkes. Das meiste, was du hast und bist, verdankst du einer Vergangenheit, die anfängt von dem ersten Menschenleben auf Erden. In diesem Sinne hat das ganze Menschengeschlecht gelebt, damit du leben kannst.«
Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift, S.344-45
Monika Maron: Flugasche (1977) – gelesen
vor 2 Stunden
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