25 Dezember 2012

Göttinger Revolution II


"Man saß beim Thee, der in der Wohnstube der Haushälterin parterre eingenommen wurde, als plötzlich Trommelwirbel und Hörnersignal erschallten. Man rief: »Zu den Waffen! Burschen heraus, Lichter heraus!« Bald hörte man auch das Geläut der Sturmglocken. Nun war Bruno nicht mehr im Hause zu halten, er stürmte dem Neuen Markte zu, der Sammelplatz seiner Garden war hier vor dem Gymnasium. Auch an diesem Sammelplatze wie auf dem Markte vor dem Rathhause war ungeheuere Verwirrung. Die Erleuchtung aus den Fenstern der Häuser reichte nicht aus, das Dunkel auf den Plätzen zu erhellen, die einzelnen konnten, da die Plätze noch nicht fest bestimmt waren, ihre Compagnien nicht finden, die Studenten suchten ihre Divisionen, ihre Offiziere. Niemand wußte aber, was eigentlich los war, es ging nur das unbestimmte Gerücht, die Stadt werde vom Weenderthore her durch Soldaten bedroht. Die Burschenschaft, welche vor dem Geismarthore auf ihrer Kneipe, dem »Kaiser« gewesen war, kam zuerst, wohlgeordnet, auf den Markt gezogen, voran der kleine »Bonus«, als dessen Untercommandant der lange G. figurirte, damals noch in dichtem schwarzen Lockenhaar, heute ein vielberedtes Mitglied des Reichstags, Zollparlaments und Abgeordnetenhauses im grünen Käppchen. Die Division sang: »Du Schwert an meiner Linken.« Auch die Westfalen unter dem Commando des Herrn von Loë waren in Ordnung, sie sangen aber das uns von 1816 noch bekannte Windmüllerlied. Bald zogen die Divisionen der Studenten und die Bürgercompagnien (man hatte die alte Eintheilung der Stadt in acht Compagnien beibehalten) eine nach der andern zum Weenderthore. Der ganze Lärm erwies sich aber als ein blinder. Etwa hundert beurlaubte Jäger, die schon früher einberufen waren, hatten sich vor dem geschlossenen Weenderthore zusammengefunden, Einlaß begehrt und mit Gewalt gedroht. Als aber einem Offizier Einlaß gewährt war und dieser mit dem Stadtcommandanten von Poten Rücksprache genommen hatte, kehrten die Soldaten um und nahmen im Dorfe Weende Quartier.
Eine zusammengeblasene und getrommelte Menge will aber nicht umsonst aus ihrer Ruhe, aus ihren Bierstuben oder aus dem Familienkreise hervorgelockt sein. Jede Compagnie wollte sich wenigstens selbst überzeugen, daß »nichts los« sei, und während die Burschenschafter und die Westfalen schon wieder auf dem Markte angekommen waren und dort das Gaudeamus igitur angestimmt wurde, marschirten noch immer andere Compagnien nach dem Orte des Ereignisses. Der Gemeinderath, der sich auf dem Rathhause constituirt hatte, sendete Wachen an die Kirchthürme, damit nicht abermals ohne Noth und ohne Befehl Sturm geläutet würde. Es war ein empfindlich kalter Abend, und die wieder vor dem Rathhause versammelte Menge würde sich bald aufgelöst und verlaufen haben, wenn nicht ein obscurer Student das Bedürfniß gefühlt hätte, sich reden zu hören. Er schwang sich auf den Rand des großen Brunnens und wußte sich durch seine laute, klangvolle Stimme Ruhe zu verschaffen. Dann begann er: »Mitbürger, Freunde, Kampfgenossen! Die feige Soldateska hat nicht gewagt, die Vertreter der Sache der Freiheit anzugreifen! Vergeblich sind wir zu dem Kampfplatze geeilt. Da wir aber einmal hier versammelt sind, so lasset uns dem neuesten Märtyrer unserer Sache ein Vivat bringen. Ich meine unsern lieben Lehrer, den Dr. Gottfried Schulz, dessen Heft über den verruchten Deutschen Bund man eingefordert hat, den man gleich den andern Vertheidigern der Freiheit und des Rechts, die sich an unsere Spitze gestellt, unter polizeiliche Censur stellen wollte. »Hoch die Doctoren Rauschenplat, Schuster und Ahrens! Hoch Gottfried Schulz!« Der Redner verschwand vom Brunnenrande wieder unter die Menge, die laut aufschrie: »Nieder mit der Censur! Nieder mit der Polizei, auf nach Schulz!« Dann setzten die dem südlichen Ende des Marktes Näherstehenden sich die Weenderstraße hinauf nach der Kurzen Straße in Bewegung. Bruno Baumann, der inmitten des stärksten Gedränges stand, das durch sämmtliche Lehrjungen der Stadt, durch Frauenzimmer, Kinder, Straßenbuben noch vergrößert wurde, suchte sich vergeblich durch die Menge Bahn zu brechen, um den Onkel von dem, was er zu erwarten habe, im voraus zu benachrichtigen. So wurde unserm Freunde Gottfried die theuere Ehre eines langnachhallenden Vivats zutheil. Dieses Vivat lenkte die Aufmerksamkeit auf den bescheidenen, nur im Kreise weniger Studenten bekannten jungen Gelehrten, und da man nach französischem Muster einen Gemeinderath gebildet hatte, welcher an der Stelle des Magistrats und der Polizei die Stadt regierte, und am andern Tage durch Cooptation angesehener und reicher Bürger wie Zuziehung der Studiosen Stölting, Hübotter, Hentze verstärkt wurde, so kamen einige Schüler Gottfried's auf den unglücklichen Gedanken, bei dem Chef der akademischen Nationalgarde Dr. Rauschenplat darauf anzutragen, daß man auch unsern Freund in den Gemeinderath wählen möge. [...]
Dr. Rauschenplat leitete die Straßendemonstrationen, seine Führung der akademischen Garde ließ ihm nicht Zeit zu Arbeiten auf dem Rathhause. So wurde der Vorschlag ohne weiteres genehmigt und eine Deputation des Gemeinderaths begab sich in Gottfried's Wohnung, ihm anzuzeigen, daß er zum Mitgliede des Gemeinderaths gewählt sei und seine Functionen sofort anzutreten habe. Man wich nicht vom Flecke, bis er, noch im Schlafrocke, sich angekleidet hatte und mit zum Rathhause ging. Hier wurden ihm die Functionen eines zweiten Schriftführers überwiesen, denn Dr. Ahrens lag auf zwei breiten ledernen Magistratssesseln und schlief. Der Vorsitzende, Procurator Eggeling, gab dem neuen Schriftführer auf, sofort ein Schreiben an sämmtliche Magistrate des Königreichs zu verfassen, mit der Aufforderung, dem Beispiele Göttingens zu folgen und durch eine Immediateingabe an den König auf Verleihung einer freisinnigen Verfassung, Entlassung des Ministeriums Münster, Abhülfe allgemeiner Klagen und das Weitere anzutragen.. [...]
Gottfried erklärte, daß er die Anklage gar nicht kenne. Das schade nichts, hieß es vom Grünen Tische her, er möge nur den großgedruckten Anfang und das großgedruckte Ende lesen, da sei alles zusammengefaßt. [...]
Gottfried glaubte an die Wahrheit der allgemeinen Anklage, die Ausführung und Begründung derselben zu lesen hatte er nicht Zeit. Wie hätte er auch zweifeln sollen, da man ihm von allen Seiten versicherte, der Verfasser, Dr. König in Osterode, sei ein Ehrenmann, [...]
Als Gottfried sein Begleitschreiben, das nicht das tragische Pathos der Anklage theilte, concipirt hatte, ging er in das Berathungszimmer, um dasselbe signiren zu lassen. Er traf dort nur Dr. Rauschenplat, die übrigen Gemeinderathsmitglieder waren zum Frühstück in die Krone gegangen. Rauschenplat sagte: »Wozu diese bureaukratische Weitläufigkeit? Setzen Sie Ihren Namen darunter, College, als Secretär des Gemeinderaths, in dessen Auftrage. Das genügt. »Und hier« fuhr er fort, »quäle ich mich seit einer Stunde ab, eine Resolution des Gemeinderaths, die vor Ihrer Ankunft gefaßt wurde, zu redigiren, um einige Kraft hineinzubringen. Das will mir aber durchaus nicht gelingen. Das dumme Rescript des Ministeriums vom gestrigen Tage, das heute Morgen angekommen ist, hat die Hasenherzen der Philister im Gemeinderathe mit Angst und Schrecken erfüllt. Käme es auf die Herren Pfuscher und Eberwein, Tolle und Wedemeier an, so lieferten sie uns lieber heute wie morgen als Unruhestifter aus. Aber noch habe ich meine akademische Garde und die soll den Dickköpfen Respect einflößen. [...]
Gottfried weigerte sich indessen, einen Beschluß, den er nicht mit gefaßt, über den gar kein Protokoll vorlag als die vielfach modificirte und corrigirte Fassung selbst, von neuem zu redigiren. Während des ganzen ersten Tages seiner Amtsthätigkeit gelang es unserm jungen Freunde nur einmal in der Dämmerung auf eine halbe Stunde nach Hause zu eilen, um der Haushälterin zu sagen, daß sie ihm zum Abend noch etwas Essen und eine Flasche Wein auf das Rathhaus senden solle, wo ihn sein Dienst fessele. [...]
Gottfried hatte am Dienstag, als der erste Schriftführer wieder die Dienste versah, einige Stunden zu Hause zubringen und auch dort schlafen können. Die Frau Koch verlangte, er solle krank werden und sich gar nicht wieder auf dem Rathhause sehen lassen, die Dinge da paßten nicht für ihn. Die gute Frau hatte nur zu sehr recht. Mittwoch wurde er schon früh in den Gemeinderath beschieden, in welchem die eigentlichen Bürger, die zu Hause erst ihren Kaffee trinken und frühstücken mußten, fehlten. Die Privatdocenten, Studenten, die Procuratoren und die Juristen hatten das Uebergewicht. Unser Freund war beauftragt, um der Proclamation aus dem Hauptquartier Nörten ein Paroli zu biegen, eine Ansprache an die Soldaten zu entwerfen, in welcher diese aufgefordert wurden, ihre Aeltern, Geschwister, Freunde und Mitbürger nicht als Feinde zu betrachten, sondern den als den strafbarsten Feind anzusehen, der sie zu der geringsten feindlichen Handlung gegen Mitbürger, in deren Reihe sie ja bald zurücktreten würden, auffordere. Gottfried hielt die Ansprache kurz, einfach, ohne alle Phrase, und freute sich selbst, als er das Werk fertig hatte, über die Energie seiner Sprache. Der Entwurf wurde vorgelesen, fand Beifall und wanderte sofort in die Druckerei. Daß er sich dadurch eines freilich noch unvollendeten Versuchs des Verbrechens, die Armee zum Ungehorsam und zur Meuterei aufzufordern, schuldig gemacht, daran dachte der Privatdocent, der sich wenig um das Strafrecht bekümmert hatte, nicht im entferntesten. Schon nach wenig Stunden war diese Aufforderung an die Soldaten, auf einen halben Bogen mit großen Lettern gedruckt, ohne Unterschrift, in Tausenden von Exemplaren in der Stadt verbreitet und wurde am andern Tage, als gegen dreißig Deputationen aus Städten, Flecken und Dorfschaften der Umgegend erschienen, um dem Gemeinderathe ihre Sympathien auszusprechen und ihm ihre Hülfe anzubieten, diesen zur Weiterverbreitung mitgegeben. Schon wurde aber die Universitätsstadt immer mehr vom Militär umzingelt, in den nur zwei Stunden entfernten Städten waren schon vier- bis fünftausend Mann versammelt. [...]"
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 3. Kapitel

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