Man
kann nicht (wie ein bekannter Philosoph) von Endabsichten in
der Physik sofort
auf Endabsichten in derGeschichte[867] schließen
– so wenig als ich, im einzelnen, aus dem teleologischen
(absichtvollen) Bau eines Menschen eine teleologische
Lebensgeschichte desselben folgern kann, oder so wenig als ich aus
dem weisen Bau der Tiere auf einen fortlaufenden Plan in der
Weltgeschichte derselben schließen darf. Die Natur ist eisern, immer
dieselbe, und die Weisheit in ihrem Bau bleibt unverdunkelt; das
Menschengeschlecht ist frei und nimmt wie das Aufgußtier, die
vielgestaltete Vortizelle, in jedem Augenblick bald regelmäßige,
bald regellose Figuren an.
[...]
Man
sollte aber niemals moralische und physischeRevolutionen
und Entwickelungen zu nahe aneinander stellen. Die ganze
Natur[870] hat
keine andere Bewegungen als vorige,
der Zirkel ist ihre Bahn, sie hat keine andere Jahre als platonische
– aber der Mensch allein ist veränderlich,
und die gerade Linie oder der Zickzack führen ihn. Eine Sonne hat so
gut wie der Mond ihre Finsternisse, so gut wie eine Blume ihre Blüte
und Abblüte, aber auch ihre Palingenesie und Erneuerung. Allein im
Menschengeschlecht liegt die Notwendigkeit einer ewigen Veränderung;
jedoch hier gibts nur auf- und niedersteigendeZeichen,
keine Kulmination; jene ziehen nicht einander notwendig nach sich,
wie in der Physik, und haben keine äußerste Stufe. Kein Volk, kein
Zeitalter kommt wieder; in der Physik muß alles wiederkommen. Es ist
nur zufällig, nicht notwendig, daß Völker in einem gewissen
Stufenalter, auf einer gewissen mürben Sprosse wieder
herunterstürzen – man verwechselt nur die letzte Stufe,
von welcher Völker fallen, mit der höchsten; die
Römer, bei denen keine Sprosse, sondern die ganze Leiter brach,
mußten nicht notwendig durch eine Kultur sinken64,
die nicht einmal an unsere reicht. Völker haben kein Alter, oder oft
geht das Greisenalter vor dem Jünglingalter. Schon bei dem
Einzelwesen ist der Krebsgang des Geistes im Alter nur zufällig;
noch weniger hat die Tugend darin eine Sommer-Sonnenwende. – Die
Menschheit hat also zu einer ewigen Verbesserung Fähigkeit; aber
auch Hoffnung? –
Das
gestörte Gleichgewicht der eignen Kräfte macht den
einzelnen Menschen elend, die Ungleichheit der
Bürger, dieUngleichheit der Völker macht die Erde
elend; so wie alle Blitze aus der Nachbarschaft der Ebbe und Flut des
Äthers entstehen und alle Stürme aus ungleichen Luftverteilungen.
Aber zum Glück liegts in der Natur der Berge, die Täler zu füllen.
Nicht
die Ungleichheit der Güter am meisten – denn dem[871] Reichen
hält die Stimmen- und Fäuste-Mehrheit der Armen die Waage –,
sondern die Ungleichheit der Kultur macht und verteilt die
politischen Druckwerke und Druckpumpen. Die lex agraria in Feldern
der Wissenschaften geht zuletzt auch auf die physischen Felder über.
Seitdem der Baum des Erkenntnisses seine Äste aus den
philosophischen Schalfenstern und
priesterlichen Kirchenfenstern hinausdrängt
in den allgemeinen Garten: so werden alle Völker gestärkt. – Die
ungleiche Ausbildung kettet Westindien an den Fuß Europas, Heloten
an Sparter, und der eiserne Hohlkopf65 mit
dem Drücker auf der Neger-Zunge setzt einen Hohlkopf anderer Art
voraus.
Bei
der fürchterlichen Ungleichheit der Völker in Macht, Reichtum,
Kultur kann nur ein allgemeines Stürmen aus allen Kompaß-Ecken sich
mit einer dauerhaften Windstille beschließen. Ein ewiges
Gleichgewicht von Europa setzt ein Gleichgewicht der vier übrigen
Weltteile voraus, welches man, kleine Librationen abgerechnet,
unserer Kugel versprechen kann. Man wird künftig ebensowenig einen
Wilden als eine Insel entdecken. Ein Volk muß das andere aus seinen
Tölpeljahren ziehen. Die gleichere Kultur wird die
Kommerzientraktate mit gleichern Vorteilen abschließen. Die längsten
Regenmonate der Menschheit – in welche die Völkerverpflanzungen
allzeit fielen, so wie man Blumen allzeit an trüben Tagen versetzt –
haben ausgewittert. Noch steht ein Gespenst aus der Mitternacht da,
das weit in die Zeiten des Lichts hereinreicht – der Krieg. Aber
den Wappen-Adlern wachsen Krallen und Schnabel so lange, bis sie
sich, wie Eberhauer, krümmen und sich selber unbrauchbar machen. Wie
man vom Vesuv berechnete, daß er nur zu 43 Entzündungen noch Stoff
verschließe: so könnte man auch die künftigen Kriege zählen.
Dieses lange Gewitter, das schon seit sechs Jahrtausenden über
unserer Kugel steht, stürmt fort, bis Wolken und Erde einander mit
einem gleichen Maß von Blitzmaterie vollgeschlagen
haben.
Mit
den Kriegen sind die stärksten Hemmketten der Wissenschaften
abgeschnitten. Sonst waren Kriegsmaschinen die Säemaschinen neuer
Kenntnisse, indes sie alte Ernten unterdrückten; jetzo ists die
Presse, die den Samenstaub weiter und sanfter wirft. Statt eines
Alexanders brauchte nun Griechenland nichts nach Asien zu schicken
als einen – Setzer; der Eroberer pelzet, der Schriftsteller säet.
Es
ist eine Eigenheit der Aufklärung, daß sie, ob sie gleich den
Einzelwesen noch die Täuschung und Schwäche des Lasters möglich
lässet, doch Völker von Kompagnie-Lastern und von
National-Täuschungen – z.B. von Strandrecht, Seeraub – erlöset.
Die besten und schlimmsten Taten begehen wir in Gesellschaft; ein
Beispiel ist der Krieg. Der Negerhandel muß in unsern Tagen, es
müßte denn der Untertanenhandel anfangen, aufhören.66
Die
höchsten steilsten Thronen stehen wie die höchsten Berge in den
wärmsten Ländern. Die politischen Berge werden wie die physischen
täglich kürzer (zumal wenn sie Feuer speien) und müssen endlich
mit den Tälern in einer –Ebene liegen.
Aus
allem diesem folgt:
Es
kommt einmal ein goldnes Zeitalter, das jeder Weise und Tugendhafte
schon jetzo genießet, und wo die Menschen es leichter haben, gut zu
leben, weil sie es leichter haben, überhaupt zu leben – wo
einzelne, aber nicht Völker sündigen – wo die Menschen nicht mehr
Freude (denn diesen Honig ziehen sie aus jeder Blume und Blattlaus),
sondern mehr Tugend haben – wo das Volk am Denken, und der Denker
am Arbeiten67 Anteil
nimmt, damit er sich die Heloten erspare – wo man den kriegerischen
und juristischen Mord verdammt und nur zuweilen mit dem Pfluge
Kanonenkugeln aufackert – – Wenn diese Zeit da ist: so stockt
beim Übergewicht des Guten die Maschine nicht mehr
durch[873] Reibungen
– Wenn sie da ist: so liegt nicht notwendig in der menschlichen
Natur, daß sie wieder ausarte und wieder Gewitter aufziehe (denn
bisher lag das Edle bloß im fliehenden Kampfe mit dem übermächtigen
Schlimmen), so wie es, nach Forster, auch auf der heißen St.
Helenen-Insel68 kein
Gewitter gibt. –
Wenn
diese Festzeit kömmt, dann sind unsre Kindeskinder – nicht mehr.
Wir stehen jetzo am Abend und sehen nach unserm dunkeln Tag die Sonne
durchglühend untergehen und uns den heitern stillen Sabbattag der
Menschheit hinter der letzten Wolke versprechen; aber unsre
Nachkommenschaft geht noch durch eine Nacht voll Wind und durch einen
Nebel voll Gift, bis endlich über eine glücklichere Erde ein ewiger
Morgenwind voll Blütengeister, vor der Sonne ziehend, alle Wolken
verdrängend, an Menschen ohne Seufzer weht.
(Jean Paul: Hesperus, 2. Heftlein, 6. Schalttag)
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