11 September 2013

Jean Pauls poetische Geschichtsphilosophie

Man kann nicht (wie ein bekannter Philosoph) von Endabsichten in der Physik sofort auf Endabsichten in derGeschichte[867] schließen – so wenig als ich, im einzelnen, aus dem teleologischen (absichtvollen) Bau eines Menschen eine teleologische Lebensgeschichte desselben folgern kann, oder so wenig als ich aus dem weisen Bau der Tiere auf einen fortlaufenden Plan in der Weltgeschichte derselben schließen darf. Die Natur ist eisern, immer dieselbe, und die Weisheit in ihrem Bau bleibt unverdunkelt; das Menschengeschlecht ist frei und nimmt wie das Aufgußtier, die vielgestaltete Vortizelle, in jedem Augenblick bald regelmäßige, bald regellose Figuren an.  [...]
Man sollte aber niemals moralische und physischeRevolutionen und Entwickelungen zu nahe aneinander stellen. Die ganze Natur[870] hat keine andere Bewegungen als vorige, der Zirkel ist ihre Bahn, sie hat keine andere Jahre als platonische – aber der Mensch allein ist veränderlich, und die gerade Linie oder der Zickzack führen ihn. Eine Sonne hat so gut wie der Mond ihre Finsternisse, so gut wie eine Blume ihre Blüte und Abblüte, aber auch ihre Palingenesie und Erneuerung. Allein im Menschengeschlecht liegt die Notwendigkeit einer ewigen Veränderung; jedoch hier gibts nur auf- und niedersteigendeZeichen, keine Kulmination; jene ziehen nicht einander notwendig nach sich, wie in der Physik, und haben keine äußerste Stufe. Kein Volk, kein Zeitalter kommt wieder; in der Physik muß alles wiederkommen. Es ist nur zufällig, nicht notwendig, daß Völker in einem gewissen Stufenalter, auf einer gewissen mürben Sprosse wieder herunterstürzen – man verwechselt nur die letzte Stufe, von welcher Völker fallen, mit der höchsten; die Römer, bei denen keine Sprosse, sondern die ganze Leiter brach, mußten nicht notwendig durch eine Kultur sinken64, die nicht einmal an unsere reicht. Völker haben kein Alter, oder oft geht das Greisenalter vor dem Jünglingalter. Schon bei dem Einzelwesen ist der Krebsgang des Geistes im Alter nur zufällig; noch weniger hat die Tugend darin eine Sommer-Sonnenwende. – Die Menschheit hat also zu einer ewigen Verbesserung Fähigkeit; aber auch Hoffnung? –
Das gestörte Gleichgewicht der eignen Kräfte macht den einzelnen Menschen elend, die Ungleichheit der Bürger, dieUngleichheit der Völker macht die Erde elend; so wie alle Blitze aus der Nachbarschaft der Ebbe und Flut des Äthers entstehen und alle Stürme aus ungleichen Luftverteilungen. Aber zum Glück liegts in der Natur der Berge, die Täler zu füllen.
Nicht die Ungleichheit der Güter am meisten – denn dem[871] Reichen hält die Stimmen- und Fäuste-Mehrheit der Armen die Waage –, sondern die Ungleichheit der Kultur macht und verteilt die politischen Druckwerke und Druckpumpen. Die lex agraria in Feldern der Wissenschaften geht zuletzt auch auf die physischen Felder über. Seitdem der Baum des Erkenntnisses seine Äste aus den philosophischen Schalfenstern und priesterlichen Kirchenfenstern hinausdrängt in den allgemeinen Garten: so werden alle Völker gestärkt. – Die ungleiche Ausbildung kettet Westindien an den Fuß Europas, Heloten an Sparter, und der eiserne Hohlkopf65 mit dem Drücker auf der Neger-Zunge setzt einen Hohlkopf anderer Art voraus.
Bei der fürchterlichen Ungleichheit der Völker in Macht, Reichtum, Kultur kann nur ein allgemeines Stürmen aus allen Kompaß-Ecken sich mit einer dauerhaften Windstille beschließen. Ein ewiges Gleichgewicht von Europa setzt ein Gleichgewicht der vier übrigen Weltteile voraus, welches man, kleine Librationen abgerechnet, unserer Kugel versprechen kann. Man wird künftig ebensowenig einen Wilden als eine Insel entdecken. Ein Volk muß das andere aus seinen Tölpeljahren ziehen. Die gleichere Kultur wird die Kommerzientraktate mit gleichern Vorteilen abschließen. Die längsten Regenmonate der Menschheit – in welche die Völkerverpflanzungen allzeit fielen, so wie man Blumen allzeit an trüben Tagen versetzt – haben ausgewittert. Noch steht ein Gespenst aus der Mitternacht da, das weit in die Zeiten des Lichts hereinreicht – der Krieg. Aber den Wappen-Adlern wachsen Krallen und Schnabel so lange, bis sie sich, wie Eberhauer, krümmen und sich selber unbrauchbar machen. Wie man vom Vesuv berechnete, daß er nur zu 43 Entzündungen noch Stoff verschließe: so könnte man auch die künftigen Kriege zählen. Dieses lange Gewitter, das schon seit sechs Jahrtausenden über unserer Kugel steht, stürmt fort, bis Wolken und Erde einander mit einem gleichen Maß von Blitzmaterie vollgeschlagen haben.
Alle Völker werden nur in gemeinschaftlicher Aufbrausung[872]hell; und der Niederschlag ist Blut und Totenknochen. Wäre die Erde um die Hälfte verengert: so wäre auch die Zeit ihrer moralischen – und physischen – Entwickelung um die Hälfte verkürzt.
Mit den Kriegen sind die stärksten Hemmketten der Wissenschaften abgeschnitten. Sonst waren Kriegsmaschinen die Säemaschinen neuer Kenntnisse, indes sie alte Ernten unterdrückten; jetzo ists die Presse, die den Samenstaub weiter und sanfter wirft. Statt eines Alexanders brauchte nun Griechenland nichts nach Asien zu schicken als einen – Setzer; der Eroberer pelzet, der Schriftsteller säet.
Es ist eine Eigenheit der Aufklärung, daß sie, ob sie gleich den Einzelwesen noch die Täuschung und Schwäche des Lasters möglich lässet, doch Völker von Kompagnie-Lastern und von National-Täuschungen – z.B. von Strandrecht, Seeraub – erlöset. Die besten und schlimmsten Taten begehen wir in Gesellschaft; ein Beispiel ist der Krieg. Der Negerhandel muß in unsern Tagen, es müßte denn der Untertanenhandel anfangen, aufhören.66
Die höchsten steilsten Thronen stehen wie die höchsten Berge in den wärmsten Ländern. Die politischen Berge werden wie die physischen täglich kürzer (zumal wenn sie Feuer speien) und müssen endlich mit den Tälern in einer –Ebene liegen.
Aus allem diesem folgt:
Es kommt einmal ein goldnes Zeitalter, das jeder Weise und Tugendhafte schon jetzo genießet, und wo die Menschen es leichter haben, gut zu leben, weil sie es leichter haben, überhaupt zu leben – wo einzelne, aber nicht Völker sündigen – wo die Menschen nicht mehr Freude (denn diesen Honig ziehen sie aus jeder Blume und Blattlaus), sondern mehr Tugend haben – wo das Volk am Denken, und der Denker am Arbeiten67 Anteil nimmt, damit er sich die Heloten erspare – wo man den kriegerischen und juristischen Mord verdammt und nur zuweilen mit dem Pfluge Kanonenkugeln aufackert – – Wenn diese Zeit da ist: so stockt beim Übergewicht des Guten die Maschine nicht mehr durch[873] Reibungen – Wenn sie da ist: so liegt nicht notwendig in der menschlichen Natur, daß sie wieder ausarte und wieder Gewitter aufziehe (denn bisher lag das Edle bloß im fliehenden Kampfe mit dem übermächtigen Schlimmen), so wie es, nach Forster, auch auf der heißen St. Helenen-Insel68 kein Gewitter gibt. –
Wenn diese Festzeit kömmt, dann sind unsre Kindeskinder – nicht mehr. Wir stehen jetzo am Abend und sehen nach unserm dunkeln Tag die Sonne durchglühend untergehen und uns den heitern stillen Sabbattag der Menschheit hinter der letzten Wolke versprechen; aber unsre Nachkommenschaft geht noch durch eine Nacht voll Wind und durch einen Nebel voll Gift, bis endlich über eine glücklichere Erde ein ewiger Morgenwind voll Blütengeister, vor der Sonne ziehend, alle Wolken verdrängend, an Menschen ohne Seufzer weht.
(Jean Paul: Hesperus, 2. Heftlein, 6. Schalttag)


Keine Kommentare: