Offiziere kamen vom Frühstück, mit klirrenden Sporen, gegürteter Taille, mit der kriegerischen Eleganz, die aus dem Offizier ein Muster der Männlichkeit macht und ihm zugleich eine Ähnlichkeit mit weiblichen Mannequins verleiht. Sie wiegten sich in den Hüften, an denen die Pistolen wie Schmuckstücke in Etuis hingen. Die Soldaten in den Straßen grüßten. Und die Offiziere erwiderten lustig und leger. Wie sie so dahingingen, zwischen grüßender Ehrfurcht, stummer Dienstbereitschaft, verliebter Ergebenheit, erinnerten sie an gefeierte Damen der Gesellschaft, die durch einen Ballsaal schreiten. [...]
Frau Tarka hatte lange gut an heimlichen Abtreibungen verdient.
Frau Tarka verlor allmählich ihre Kundschaft. Die Männer rückten ein, die Frauen wurden Pflegerinnen. Sie lernten allmählich vorsichtig sein und Schwangerschaften vermeiden. Es war Übung. Die geschlechtlichen Dinge konnten kein Geheimnis mehr bleiben. Und die Angst der Mädchen vor den Vätern wurde auch mit der Zeit geringer. [...]
Ein paar grauhaarige Männer, die Grünhut mit einem kurzen Schweigen begrüßten, sprachen von der Politik. [...]
Die Mütter der Toten trugen ihren Schmerz wie Generäle ihren goldenen Kragen, und der Tod der Gefallenen wurde eine Art Auszeichnung der Hinterbliebenen. [...]
Er sah Hilde an. Eine leichte Röte, die das Braun ihrer Wangen dunkler machte, verriet, daß sie sich als der Mittelpunkt eines Kreises von Auserlesenen fühlte, die sie anbeteten und die sie selbst verehrte, und Friedrich fragte sich, ob es einen ursächlichen Zusammenhang gab zwischen der Anbetung, die sie genoß, und der Verehrung, die sie zollte. [...]
Kluge Offiziere hatten sich allmählich daran gewöhnt, Zivilpersonen, denen sie in der ersten Klasse begegneten, für Vorgesetzte zu halten. [...]
Und es regnete, dicht, langsam, eintönig von einem tiefen, dunkelgrauen Himmel aus Blei, der seit der Erschaffung der Welt nicht eine Stunde lang blau gewesen war. Es regnete. In einem leeren und großen Kaffeehaus, an dessen breiten Fensterscheiben patriotische und sprachreinigende Aufschriften klebten wie: »Sag nicht adieu, sondern auf Wiedersehn!« »Sprich nicht mit welscher Zunge!« neben Ansichtskarten mit fettgedruckten Versen von Theodor Körner, nahm Friedrich Platz. Eine Kellnerin brachte ihm einen hellen Kaffee, der an den Rändern rosa schimmerte. [...]
»Haben Sie immer so wenig Passagiere?« fragte er. »Fahrgäste!« verbesserte sie, ohne die Frage zu beantworten. [...]
»Verehrtes gnädiges Fräulein, ich habe nicht die Wahrheit gesprochen, als ich Ihnen erzählte, daß ich in der nächsten Woche einrücken werde. Ich werde nie einrücken. Ich bin unterwegs nach der Schweiz. Ich hatte keine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, wie ich über diesen Krieg denke, ich will es auch gar nicht versuchen. Sie kennen genug aus meinem Leben, um zu wissen, daß ich nicht feige bin. Wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht einrücken werde, um für Ihren Franz Joseph, die französische Kriegsindustrie, den Zaren, Kaiser Wilhelm zu kämpfen, so geschieht es nicht, weil ich für mein Leben fürchte, sondern weil ich es bewahren will für einen besseren Krieg. Seinen Ausbruch werde ich in der Schweiz abwarten. Er wird ein Krieg gegen die Gesellschaft sein, gegen die Vaterländer, gegen die Dichter und Maler, die bei Ihnen verkehren, gegen die trauten Familien, gegen die falsche Autorität der Väter und den falschen Gehorsam der Kinder, gegen den Fortschritt und gegen Ihre Emanzipation, gegen die Bourgeoisie kurz und gut. Es gibt auch noch andere, die mit mir in diesen Krieg ziehen werden. Aber nicht viele, die ein privates Schicksal so gut für ihn vorbereitet hat. Ich hätte gewiß die Familie gehaßt, auch wenn ich sie gekannt hätte. Ich hätte gewiß einer vaterländischen Phrase mißtraut, auch wenn man mich in Heimatliebe erzogen hätte. Aber meine Überzeugung ist eine Leidenschaft geworden, weil ich das bin, was Sie nach Ihrem Vokabular einen ›Heimatlosen‹ nennen. Ich werde für eine Welt in den Krieg gehn, in dem ich zu Hause sein kann. Ich schreibe Ihnen mein Bekenntnis, weil ich ihm gleich noch ein zweites hinzufügen werde. Ich liebe Sie nämlich. Oder, weil ich den Begriffen mißtraue, die uns das bürgerliche Wörterbuch zur Verfügung stellt, und den Worten, die Ihre Gesellschaft so oft mißbraucht hat: Ich glaube, Sie zu lieben. Als ich Sie zum erstenmal im Wagen sah, waren Sie gewissermaßen noch ein Bestandteil des Ziels, das ich noch nicht genau kannte, aber mir trotzdem gesetzt hatte. Sie gehörten zu den Zielen, denen ich zustrebte. Ich wollte die Macht innerhalb der Gesellschaft erobern, der Sie angehören. Früher, als ich damals gedacht hätte, hat sich mir die Ohnmacht dieser Gesellschaft enthüllt. Selbst wenn ich nicht die Überzeugung hätte, daß man eine schlechte Welt vernichten muß, selbst wenn ich nur Egoist wäre sozusagen, könnte ich mich nicht mehr um eine Macht bemühen, die eine Fiktion wäre. Obwohl ich also heute ein anderes Ziel habe als jenes, dessen Teil Sie mir einmal zu sein schienen, habe ich doch nie aufgehört, an Sie zu denken. Ich möchte Sie vergessen und hatte auch Gelegenheit genug dazu. Daß ich es aber nicht kann, scheint mir ein Beweis dafür zu sein, daß ich Sie liebe. Ich müßte also eigentlich trachten, Sie zu gewinnen. Aber dann müßte sich vorher einer von uns zum andern bekehren. Und das ist unmöglich. Ich will daher, wie man sagt, auf Sie verzichten. Ich gestehe, daß ich es Ihnen in der sehr vagen Hoffnung mitteile, Sie könnten mir einmal Gelegenheit geben, nicht den Verzicht überflüssig zu finden, aber wenigstens ihn zu bereuen. Und in dieser so unbestimmten und dennoch so tröstlichen Hoffnung küsse ich Ihre Hände, nach denen ich mich sehne. Leben Sie wohl! Ihr Friedrich«
(J. Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 23-27)
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