Das Bildungsprogramm des Freiherrn von Risach für Heinrich
Ihr
solltet zu eurem Wesen eine breitere Grundlage legen. Wenn die Kräfte
des allgemeinen Lebens zugleich in allen oder vielen Richtungen tätig
sind, so wird der
Mensch,
eben weil alle Kräfte wirksam sind, weit eher befriedigt und
erfüllt, als wenn eine Kraft nach einer einzigen Richtung hinzielt.
Das Wesen wird dann im Ganzen leichter gerundet und gefestet. Das
Streben in einer Richtung legt dem Geiste eine Binde an, verhindert
ihn, das Nebenliegende zu sehen und führt ihn in das Abenteuerliche.
Später, wenn der Grund gelegt ist, muß der Mann sich wieder dem
Einzigen zuwenden, wenn er irgendwie etwas Bedeutendes leisten soll.
Er wird dann nicht mehr in das Einseitige verfallen. In der Jugend
muß man sich allseitig üben, um als Mann gerade dann für das
Einzelne tauglich zu sein. Ich sage nicht, daß man sich in das
Tiefste des Lebens in allen Richtungen versenken müsse, wie zum
Beispiele in allen Wissenschaften, wie ihr ja selber einmal
angefangen habt, das wäre überwältigend oder tötend, ohne dabei
möglich zu sein; sondern daß man das Leben, wie es uns überall
umgibt, aufsuche, daß man seine Erscheinungen auf sich wirken lasse,
damit sie Spuren einprägen, unmerklich und unbewußt, ohne daß man
diese Erscheinungen der Wissenschaft unterwerfe. Darin, meine ich,
besteht das natürliche Wissen des Geistes, zum Unterschiede von der
absichtlichen Pflege desselben. Er wird nach und nach gerecht für
die Vorkommnisse des Lebens. Ihr habt, scheint es mir, zu jung einen
einzelnen Zug erfaßt, unterbrecht ihn ein wenig, ihr werdet ihn dann
freier und großartiger wieder aufnehmen. Schaut auch die
unbedeutenden, ja nichtigen Erscheinungen des Lebens an.
[...]
(Stifter: Der Nachsommer)
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