Inhalte und Methoden der Erziehung blieben sich während der ganzen byzantinischen Geschichte ziemlich gleich. Das erste, worin ein etwa sechsjähriger Knabe unterrichtet wurde, war Grammatik, »um seine Sprache zu hellenisieren«. Darunter verstand man, außer Lesen und Schreiben sowie Grammatik und Syntax im heutigen Sinn des Wortes, die Kenntnis der Klassiker samt der dazugehörigen Kommentare, besonders Homers, dessen Werke jeder Schüler auswendig lernen mußte. Im 5. Jahrhundert erzählt Synesios, daß sein kleiner Neffe Homer aufsagen konnte (er lernte 50 Zeilen am Tag) [...]. So konnte jeder gebildete Byzantiner ein Homerzitat als solches erkennen: Anna Komnene schmückte ihre Alexiade mit sechsundsechzig Zitaten und fügte nur selten hinzu »wie Homer sagt« — es war überflüssig. [...]
In den frühen Jahren des Imperiums erteilten wahrscheinlich Mönche den ersten Unterricht im Lesen; ziemlich bald aber besuchte der Schüler eine Schule, in der er seine gesamte »weltliche« Bildung erhielt. Konstantin gründete eine Schule in der Stoa, Constantius verlegte sie ins Kapitol; Julianus Apostata erließ ein Gesetz, demzufolge keine Christen an der Schule unterrichten durften, und auch nach Aufhebung des Verdikts scheinen die wichtigsten Lehrer im fünften Jahrhundert heidnischen Glaubens gewesen zu sein. [...]
Alexios selbst stellte über alles andere Wissen das Studium der Bibel, später erhielten unter den Komnenen die klassischen Fächer einen Vorrang, den sie in so deutlichem Maß noch nie besessen hatten. Dennoch läßt sich nur schwer etwas darüber sagen, welche Schichten der Gesellschaft vom Erziehungswesen noch erfaßt worden sind. Der mittellose Poet Prodromos studierte Grammatik, Rhetorik, Aristoteles und Platon, beklagt aber, daß der rauhe Ton der Märkte die elegante Rede vertrieben habe und die Armen keine Bibliotheken hätten, die sie benutzen könnten. Tatsächlich scheint das Nichtvorhandensein von Bibliotheken ständig zu Schwierigkeiten geführt zu haben, denn seit 476 existierte keine öffentliche Bibliothek mehr. Zwar besaßen Klöster und Kirchen zumeist ihre Bibliothek, doch wenn die Bücher der Christodulos-Kirche in Patmos ein repräsentatives Bild für alle zeigen, standen darin vorwiegend theologische Werke: Von 330 Bänden waren 129 liturgischen und nur 15 weltlichen Inhalts. Ohne Zweifel gab es große Privatsammlungen, zu denen auch Studenten Zutritt erlangen konnten, ferner eine Vielzahl von Kopisten — meistens Laien, aber auch einzelne Mönche —, die Manuskripte abschrieben. Nicht umsonst gehörten schöne Bücher zu den Exportgütern von Byzanz, aber sie waren teuer. [...]
1204 brachte die Plünderung der Hauptstadt die gesamte Organisation des Erziehungswesens zum Einsturz. Der Hellenismus stand in vollster Blüte; Michael Choniates war eben nach Athen gegangen, erfüllt von dem Gedanken an die klassische Vergangenheit dieser Stadt, und der berühmte Kirchenmann Eustathios von Thessalonike hatte vor kurzem erst seine Kommentare zu Pindar vollendet. Jetzt aber waren die Gelehrten in alle Winde zerstreut und finanziell mittellos, ihre Bücher in den lateinischen Flammen vernichtet. Doch die humanistische Gelehrsamkeit überlebte die Verwüstungen und fand bald ein neues Zentrum am exilierten Hof von Nikaia. [...] Trotz dieser wissenschaftsfreundlichen Haltung bei Hof existierte in Nikaia jedoch offensichtlich weder eine richtige Schule noch eine Universität, wohl auch deshalb nicht, weil die Regierung die erforderlichen Mittel nicht aufbringen konnte. [...]
Ob es Bildungsstätten für Frauen gab, wissen wir nicht. Auf jeden Fall aber kennt die byzantinische Geschichte viele gelehrte Frauen, von der Professorin Hypatia oder Athenais, der Gemahlin Theodosios' II., die alle Wissenschaften studiert, Dichtungen verfaßt und Reden gehalten hatte, bis zu Kasia, der geistvollen Hymnendichterin, deren Schlagfertigkeit sie den Thron kostete, oder der großen Historikerin Anna Komnene und den übrigen gebildeten Prinzessinnen der Komnenen und Palaiologen. Ohne Zweifel gab es auch weibliche Doktoren, und die meisten Damen, mit denen die berühmten Briefschreiber korrespondierten, scheinen eine gute Erziehung genossen zu haben. Auf der anderen Seite wissen wir zum Beispiel, daß Psellos' Mutter keinerlei Unterricht genossen hatte und diesen Nachteil bitter beklagte. Nirgends in der byzantinischen Geschichte finden wir Mädchenschulen erwähnt. Aber es dürfte den Tatsachen ungefähr entsprechen, wenn wir sagen, daß die Mädchen der Oberschicht etwa die gleiche Erziehung genossen wie ihre Brüder; allerdings wurden sie zuhause von Privatlehrern unterrichtet, während die Töchter der Mittelklassen gewöhnlich nichts lernten außer Lesen und Schreiben.
(Steven Runciman: Byzanz. Von der Gründung bis zum Fall, S.270-280)
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