01 Oktober 2016

Wieland: Adis und Dahy

Bei einem Vorklassiker erwartete ich nicht so originelle Märchen, wie ich sie in Dschinnistan von Wieland zu lesen bekomme. Hier ein Beispiel:

In einem asiatischen Land sind zwei Mädchen am Vortag durch den Tod ihrer Mutter Waisen geworden.

"[...] Des folgenden Tages stellte Fatime, als die Verständigere, ihrer Schwester vor, daß sie nun wieder an ihre Arbeit gehen müßten, und hieß sie zwei Körbe mit der Wäsche füllen, welche sie den Tag vor ihrem Unglück gewaschen hatten; hierauf setzten sie die Körbe auf den Kopf und traten den Weg nach Masulipatnam miteinander an. Sie hatten kaum hundert Schritte zurückgelegt, so begegnete ihnen ein kleiner, sehr häßlicher, kahlköpfichter und bucklichter alter Mann, der aber ziemlich reich gekleidet war und sie mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. Er schien nahe an hundert Jahre alt zu sein und stützte sich auf einen Stab, mit dessen Hülfe er gleichwohl, für sein hohes Alter, noch stattlich genug einherstapfte. Der Greis fand die beiden Schwestern nach seinem Geschmacke. «Wo hinaus, ihr schönen Kinder», redete er sie mit einem Ton an, den er so sanft und gefällig, als ihm möglich war, zu machen suchte. «Wir gehen nach Masulipatnam», sagte die Älteste. «Darf ich euch, ohne allzu große Zudringlichkeit, fragen», versetzte er, «was eure Lebensart ist und ob man euch nicht irgend einige Dienste leisten könnte?» «Ach, guter Herr», erwiderte Fatime, «wir sind nur einfältige Bauernmädchen und arme Waisen, wir haben erst gestern durch den unglücklichsten Zufall unsre Mutter verloren.» Und darauf erzählte sie ihm die Geschichte mit allen Umständen, nicht ohne von neuem viele Tränen zu vergießen. «Oh, wie leid tut es mir», sagte der Greis, «daß ich eure Mutter nicht vor ihrem Tode noch gesehen habe! Ich hätte ihr ein Geheimnis gegen alle giftige Wunden geben können, das sie in zwei Tagen wieder gesund gemacht haben sollte. Meine lieben Kinder», fuhr er fort, «euer Kummer geht mir zu Herzen, und ich erbiete mich, Vatersstelle bei euch zu vertreten, wenn ihr so viel Vertrauen zu mir fassen könnt, die Sorge für euer Schicksal meiner Erfahrenheit und meinem guten Willen zu überlassen. Ich gestehe euch», fügte er hinzu, indem er einen Blick auf die junge Kadidsche warf, «daß ich eine starke Zuneigung zu diesem liebenswürdigen Mädchen in mir finde. Ihr erster Anblick hat Empfindungen in mir erregt, die ich noch nie gefühlt habe. Wenn ihr beide mit mir kommen wollt, so will ich euch in eine Lage setzen, die weit über euerm Stand ist; und ihr sollt Ursache finden, den Tag, da ihr mir begegnet seid, auf ewig glücklich zu preisen.»
Hier hielt der kleine bucklichte Greis mit Reden ein und wartete mit sichtbarer Unruhe auf die Antwort, die man ihm geben würde. Er hatte freilich alle Ursache, unruhig zu sein. Sein Alter und seine Figur waren nicht so beschaffen, daß sie diesen jungen Personen Lust machen konnten, seinem Vorschlage Gehör zu geben. (Wieland: Adis und Dahe, Dschinnistan, 6. Kapitel)"
Fatime versucht ihrer Schwester zuzureden, doch die sträubt sich, etwas mit dem Greis zu tun zu haben. Da werden die Schwestern durch einen Zufall getrennt und Kadidsche bleibt allein mit ihm zurück. Er ist bereit, mit ihr nach Fatime zu suchen, doch das bleibt erfolglos. Da er sich ihr gegenüber korrekt erhält, ist Kadidsche schließlich bereit, seine Geschichte anzuhören:
"«Liebe Kadidsche», sprach er eines Tages zu ihr, da sie an einem schönen Abend bei dem heitersten Wetter ihre Augen an der untergehenden Sonne, die zur See ein gar herrliches Schauspiel macht, geweidet und sie sich hierauf in ihr Kämmerchen zurückgezogen hatten, «so abgelebt und baufällig ich dir auch in dieser Gestalt vorkommen muß, so wirst du dich doch nicht wenig wundern, wenn ich dir sage, daß ich unsterblich bin.» – «Unsterblich?» sagte Kadidsche, indem sie ihn sehr aufmerksam betrachtete, mit einem Ton und mit einer Miene, worin Erstaunen und Unglauben zu ziemlich gleichen Teilen miteinander vermischt waren; «wenn Ihr es nicht wäret, der es mir sagte», fuhr sie fort und hielt auf einmal inne... «Nichts ist gewisser», versetzte Dahy und schwieg abermals um zu bemerken, was in der Seele des jungen Mädchens bei einem so unerwarteten Geständnis vorging. «So beklage ich Euch von Herzen», erwiderte sie traurig; «es würde grausam sein, Euch in solchen Umständen zu einem Vorzug Glück zu wünschen, den Ihr selbst unmöglich als ein Gut betrachten könnet.» – «Auch würde er», fuhr Dahy fort, «die unerträglichste Last für mich sein, wenn ich das würklich wäre, was ich scheine; aber du wirst noch mehr erstaunen, schönste Kadidsche, wenn ich dir sage, daß du mich unter einer fremden Gestalt siehest. Meine eigene ist, ohne Ruhm zu melden, geschickter, deinem Geschlechte Liebe als Abscheu einzuflößen, und ist um so gewisser, immer zu gefallen, weil sie den Vorteil einer ewigen Jugend hat. Lilien und Rosen blühen auf meinen Wangen, und – mit einem Worte: alles, was man schön und liebreizend nennt, ist über mein Gesicht und über meine ganze Person ausgegossen.» – «Lieber Himmel», rief das Mädchen (der in diesem Nu der wunderschöne Jüngling aus ihrem Traume wieder vor die Stirne kam), «wie könnt Ihr nur einen Augenblick zaudern, eine so vorteilhafte Gestalt wieder anzunehmen?» – «Leider steht dies nicht in meiner Macht», antwortete Dahy mit einem tiefen Seufzer; «darin besteht eben mein Unglück; aber ich habe es nie so schmerzlich gefühlt, liebe Kadidsche, als seitdem es mich dir in einer so widrigen Verkleidung vor die Augen gebracht hat.» [...] 
Ich habe dir schon genug gesagt, um zu merken, daß ich zu der Klasse von Wesen gehöre, die ihr Genien nennt. Ich habe einen Bruder, der von Natur ebenso schön und ebenso mächtig ist als ich. Wir sind Zwillinge; sein Name ist Adis, der meinige Dahy. Vermöge unseres angebornen Standes sind uns alle Dinge diesseits des Mondes unterworfen; aber dies konnte nicht hindern, daß wir selbst nicht der Willkür eines gewissen Brahminen von Wisapur untertan wären, der sich durch seine Wissenschaft eine unumschränkte Herrschaft über unsere Gattung erworben hat. Zu unserm Unglücke warf er eine besondere Zuneigung auf mich und meinen Bruder; und zum Beweis seines Vertrauens bestellte er uns zu Hütern eines Frauenzimmers, die er heftig liebte, deren Treue aber ihm etwas unsicher schien. Vielleicht hätte er besser getan, ihr ohne Wächter zu trauen oder ihr wenigstens keine von unsrer Figur zuzugeben." (Wieland: Adis und Dahe, Dschinnistan, 7. Kapitel)"
Diese Frau verliebt sich nämlich, ohne dass sie es merken, in Adis und Dahy und wurd so hinfällig, dass sie versichern, sie wollten alles tun, um ihr zu helfen: Fortsetzung


Keine Kommentare: