"Am Morgen macht' er kein Geheimnis vor den Trägern und vor Lenetten daraus, daß er den Leichnam mit großer Mühe mit seinen zwei Armen eingesargt. Sie wollte ihren sel. Herrn noch einmal sehen; aber Heinrich hatte den Hausschlüssel zum bunten Gehäuse in der Finsternis verworfen. Er half, indem er den Schlüssel herumtrug, darnach eifrig suchen – aber es war ganz vergeblich, und viele Umherstehende mutmaßten bald, Heinrich betrüge bloß und wolle nur den verweinten Augen der Witwe nicht gern noch einmal den zusammengehäuften Stoff des Schmerzes zeigen. Man zog mit dem blinden Passagier im Quasi-Sarg hinaus auf den Kirchhof, der im Tau unter dem frischen blauen Himmel glimmte. In Heinrichs Herz kroch eine eiskalte Empfindung herum, als er den Leichenstein durchlas. Er war vom herrnhutischen plattierten Grabe des Großvaters Siebenkäsens abgehoben und umgestürzt, und auf der glatten Seite glänzte die eingehauene Grabschrift: »Stan. Firmian Siebenkäs ging 1786 den 24. August...« Dieser Name war sonst Heinrichs seiner gewesen, und sein jetziger »Leibgeber« stand unten auf der Kehrseite des Monuments. Heinrich dachte daran, daß er in einigen Tagen mit weggeworfnem Namen als ein kleiner Bach in das Weltmeer falle und darin ohne Ufer fließe und in fremde Wellen zergehe – es kam ihm vor, daß er selber mit seinem alten und neuen Namen herunterkomme in die Grube; – da wurde ihm so gemischt zu Mute, als sei er auf dem eingefrorenen Strom des Lebens angewachsen, und droben steche eine heiße Sonne auf das Eisfeld herab, und er liege so zwischen Glut und Eis. – Noch dazu kam jetzt der Schulrat gelaufen, mit dem Schnupftuch an der Nase und an den Augen, und teilte im stotternden Schmerze die eben im Marktflecken eingelaufene Neuigkeit mit, daß der alte[513] König in Preußen den 17ten dieses verstorben sei. – Die erste Bewegung, die Leibgeber machte, war, daß er auf zur Morgensonne sah, als werfe aus ihr Friedrichs Auge Morgenfeuer über die Erde. – – Es ist leichter, ein großer als ein rechtschaffener König zu sein; es ist leichter, bewundert als gerechtfertigt zu werden; ein König legt den Ohrfinger an den längsten Arm des ungeheuern Hebels und hebt, wie Archimedes, mit Fingermuskeln Schiffe und Länder in die Höhe, aber nur die Maschine ist groß – und der Maschinist, das Schicksal – aber nicht der, der sie gebraucht. Der Laut eines Königs hallet in den unzähligen Tälern um ihm als ein Donner nach, und ein lauer Strahl, den er wirft, springt auf dem mit unzähligen Planspiegeln überdeckten Gerüste als glühender dichter Brennpunkt zurück. Aber Friedrich konnte durch einen Thron höchstens – erniedrigt werden, weil er darauf sitzen mußte, und ohne die so eng umschließende Krone, den Stachelgürtel und Zauberkreis des Kopfes, wäre dieser höchstens – größer geworden; und glücklich, du großer Geist, konntest du noch weniger werden; denn ob du gleich in deinem Innern die Bastille und die Zwinger der niedrigern Leidenschaften abgebrochen, ob du gleich deinem Geiste das gegeben, was Franklin der Erde, nämlich Gewitterableiter, Harmonika und Freiheit; ob du gleich kein Reich schöner fandest und lieber ausdehntest als das der Wahrheit; ob du dir gleich von der Hämlings-Philosophie der gallischen Enzyklopädisten nur die Ewigkeit, nicht die Gottheit verhängen ließest, nur den Glauben an Tugend, nicht deine eigene: so empfing doch deine liebende Brust von der Freundschaft und von der Menschheit nichts als den Widerhall ihrer Seufzer – die Flöte –, und dein Geist, der mit seinen großen Wurzeln, wie der Mahagonibaum, oft den Felsen zertrieb, worauf er wuchs, dein Geist litt am grellen Kampfe deiner Wünsche mit deinen Zweifeln, am Kampfe deiner idealen Welt mit der wirklichen und deiner geglaubten, ein Mißlaut, den kein milder Glaube an eine zweite sanft verschmelzte, und darum gab es auf und an deinem Thron keinen Ort zur Ruhe als den, den du nun hast. – –"
(Jean Paul: Siebenkäs, 4. Bändchen 21. Kapitel)
Wenn der Leser es noch nicht gemerkt haben sollte: Siebenkäs und Leibgeber haben den Tod des Armenadvokaten nur vorgespielt, damit Siebenkäs die Identität seines Freundes Leibgeber annehmen und eine einträgliche Stelle antreten kann, die Leibgeber angetragen wurde, die er aber nicht übernehmen will.
Siebenkäs verbindet damit eine weitere Absicht: Er will der Liebe seiner Frau Lenette zu dem Schulrat Stiefel nicht länger im Wege stehen. So ganz selbstlos ist das freilich nicht, weil er sich inzwischen in Natalie verliebt hat ...
"Ihm war, als durchwandle er als Abgeschiedner von den Sterblichen eine zweite verklärte Welt, wo die Gestalt seiner Natalie mit Augen der Liebe, mit Worten des Herzens frei ohne Erdenfesseln neben ihm gehen und ihm sagen durfte: »Hier hast du dankbar zur Sternennacht aufgeblickt – hier hab' ich dir mein wundes Herz gegeben – hier sprachen wir die irdische Trennung aus – und hier war ich oft allein und dachte mir das kurze Erscheinen.« – »Aber hier«, sagte er zu sich, als er vor dem schönen Schlosse stand, »hat sie zuletzt geweint im schönen Tale, weil sie von ihrer Freundin schied.« [...]
Auf dem ganzen kahlen Wege von Gefrees nach Münchberg gab sich der Advokat aus Dankbarkeit die größte Mühe, das Sonnenlicht der Heiterkeit, in das ihn Heinrich immer zu führen suchte, auf ihn zurückzuwerfen. Es wurd' ihm nicht leicht, besonders wenn er seinem Schreiten im langen Rock nachsah. Am meisten strengt' er sich in Münchberg an, der letzten Poststation vor Hof, wo ihnen die körperlichen Arme, womit sie sich aneinander schlossen, gleichsam abgenommen werden sollten durch ein langes Entfernen.
Indem sie mehr schweigend als bisher auf der Höfer Landstraße und Leibgeber vorausging: so hob dieser, den das Fichtelgebirge zur Rechten wieder erquickte, sein gewöhnliches Reisepfeifen an, frohe und trübe Melodieen des Volkes, die meisten in Molltönen. Er sagte selber, er halte sich nicht für den schlechtesten Stadt- und Straßenpfeifer und er führe, glaub' er, das angeborne Fußbotenposthorn mit Ehren. Aber für Firmian waren, so kurz vor dem Abschiede, diese Klänge, die gleichsam aus Heinrichs langen vorigen Reisen wiederzukommen und aus seinen künftigen einsamen entgegenzutönen schienen, eine Art von Schweizer Kuhreigen, die ihm ins Herz rissen; und er konnte, zum Glücke hinter ihm gehend, sich mit aller Gewalt nicht des Weinens enthalten. – O bringt die Töne weg, wenn das Herz voll ist und doch nicht überfließen soll!
Endlich brachte er so viel Ruhe in der Stimme zusammen, daß er ganz unbefangen fragen konnte: »Pfeifst du gern und oft unterwegs?« Im Fragtone lag aber so etwas, als mach' ihm das Flöten nicht so viele Freude als dem Musiker selber. »Stets«, versetzte Leibgeber, – »ich pfeife das Leben aus, das Welttheater und was so darauf ist und dergleichen – vielerlei aus dem Vergangenen auch pfeif' ich wie ein Karlsbader Türmer die Zukunft an. Mißfällts dir etwa? – Fugier' ich falsch, oder pfeif' ich gegen den reinen Satz?« – »O nur zu schön«, sagte Siebenkäs.
Darauf fing Leibgeber von neuem an, aber zehnmal kräftiger und trug ein so schönes schmelzendes Mundorgelstück vor, daß Siebenkäs ihm vier weite Schritte nachtat und – indem er zu gleicher Zeit mit der Linken das Tuch über seine nassen Augen deckte und die Rechte sanft auf Heinrichs Lippen legte – zu ihm fast stotternd sagte: »Heinrich, schone mich! Ich weiß nicht wie; aber heute ergreift mich jeder Ton gar zu stark.« Der Musiker sah ihn an – Leibgebers ganze innere Welt war im Augapfel dann nickte er stark und schritt schweigend heftig voraus, ohne sich umzuschauen oder angeschauet zu werden. Doch setzten die Hände, vielleicht unwillkürlich, in kleinen Taktregungen einiges von den Melodieen fort."
(Jean Paul: Siebenkäs, 4. Bändchen 22. Kapitel)
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