Helmut Gollwitzer: und führen, wohin du nicht willst*, München, Chr. Kaiser Verlag 1951
*Johannes 21,18
Deutsche Biographie
Buchvorstellung (von 2018) Morgenandacht unter Bezug auf das Buch
"Im Krieg als Infanterist im Westen, dann als Sanitäter an der Ostfront eingesetzt, geriet Gollwitzer im Mai 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er Ende 1949 zurückkehrte. Seine Verlobte hatte sich während der letzten Kampfhandlungen um Berlin im April 1945 in Zeesen bei Königs Wusterhausen das Leben genommen. Mit seinem immer wieder neu aufgelegten und vielfach übersetzten Gefangenschaftsbericht „… und führen, wohin du nicht willst“ (1951), in dem er die Frage der eigenen Mitverantwortung und Schuld als Wehrmachtssoldat, aber auch die russische Lebenswirklichkeit unter den Bedingungen des Sowjetsystems kritisch reflektierte, erregte er auch international Aufsehen." (Deutsche Biographie)
Zitate und Zusammenfassungen:
Gollwitzer erkennt, als sie (die Soldaten der Wehrmacht in ihrem Sanitätswagen) erkennen, dass ihnen der Fluchtweg über die Moldau abgeschnitten ist, dass sie jetzt die Strafe für ihr Verhalten als Wehrmacht zu erwarten haben.
"Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine waren in diesen Tagen von unglaublicher Gewalt. Am 9. Mai, als sich jeder geordnete Zusammenhang auflöste und der Rückzug zur Flucht auf die Moldau zu wurde, begann es mit Ruf und Antwort: "Der Herr rief Samuel. Er aber antwortete: "Siehe, hier bin ich!" (1. Sam. 3,4.) Um diese Antwort würde es sich also bei den künftigen Erlebnissen handeln. Das "Dein bin ich. Was verfügst Du zu tun mit mir?" in jenem Gebet der Theresa von Avila , das mich durch den Krieg begleitet hatte, wollte nun erst recht in ganzer Bereitstellung gesprochen sein.
– Am 10. Mai wurde das noch genauer erklärt: "Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun" (Hes. 36,27). 'Solche Leute' kommen – Gott mochte wissen, wie wenig wires waren und wieviel dazu noch fehlte; nun aber war die Verheißung gegeben aus der sich der Sinn für alles und jegliches Kommende entnehmen ließ: Alles, was kommen wird, muss mir (es zerbrach jede Deutung des Gesamtschicksals an der Undurchsichtigkeit der göttlichen Regierung der Geschichte; aber für mich hörte ich das nun in aller Deutlichkeit, einsam musste ich es erst für mich hören und konnte es dann jedem einzelnen mit Gewissheit weitersagen) dazu dienen, einer von 'solchen Leuten' zu werden; aus der Absicht Gottes, mich unter 'solchen Leuten' zu haben, wächst alles heraus, was er nun hier zufügen und zulassen wird. Bis jetzt war es schlecht mit dem Wandel in seinen Geboten bestellt gewesen; nun wollte Gott mir dazu helfen; es kam also für mich darauf an, mir durch alles, was geschah, dazu helfen zu lassen." (S.31)
Zunächst wurden die deutschen Gefangenen im sowjetischen Lager gut behandelt und erhielten genügend Essen.
Filzen (S.48-58)
Über die Unterschiede zwischen Mitteleuropäern und Osteuropäern:
"Der wichtigste Unterschied lag aber wohl nicht in den hochgezüchteten Bedürfnissen des Mitteleuropäers gegenüber dem Osteuropäer, sondern mehr noch in dem Wunsch nach eigener Lebensgestaltung, der auch im einfachsten Menschen bei uns sehr stark ist (durch die Hitlerjahre keineswegs vermindert), und der im Osten, ob durch Anlage oder durch die lange Reglementierung und Nivellierung des Lebens, so viel weniger Kraft besitzt.
Das musste sich in Zeiten, in denen der Krieg das Leben eines Volkes beherrscht, besonders auswirken. Das Hitlerregime hat dreieinhalb Jahre lang nicht gewagt, dem deutschen Volk die eigentlichen Einschränkungen des totalen Krieges zuzumuten. Stalin tat es in der rücksichtslosesten Weise vom ersten Tage an, ja, der Krieg war hier nur eine neue Form der Zumutung, unter der das russische Volk schon seit zwei Jahrzehnten stand; es stand seit der Revolution unterbrochen in einem totalen Krieg, in dem es ständig höherer Zwecke wegen, der Revolution wegen, der Sozialisierung wegen, der Industrialisierung wegen sein Wohlergehen opfern musste." (S. 116)
"Da aber Gefangene nirgends auf der Welt es besser haben als die Bevölkerung selbst, war es nicht verwunderlich, dass ihnen nun die gleichen Entbehrungen zugemutet wurden wie dieser. An dieser Zumutung sind die Massen der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion gestorben.
Man hatte uns ja wahrlich nicht zur Erholung nach Russland transportiert. Man wollte Arbeit von uns, nichts als Arbeit. Und dieser Wunsch musste sich nun allerdings mit dem humanen Vorsatz, uns als Menschen existieren zu lassen, stoßen, und wo er sich stieß, war es kein Wunder dass er sich gegen die Humanität durchsetzte." (S.117)
"Sie hatten ja alle selbst nichts, was Wunder, wenn sie sich an unserer Verpflegung gütlich taten. Wir haben im Waldlager in sechzehn Monaten acht russische Magazinverwalter gehabt, das heißt, dass jeder von ihnen durchschnittlich zwei Monate Zeit hatte, bis seine Unterschleife (meist natürlich gerade der Edelprodukte wie Fett und Fleisch) so zum Himmels stanken, dass er ausgewechselt werden musste. Dem verantwortlichen Verpflegungsoffizier ist schließlich der Prozess gemacht worden, bei dem auch Leute von uns gegen ihn aussagen konnten, aber davon wurde keiner unserer Toten mehr lebendig. " (S.118)
2. Teil: Krasnogorsker Tagebuch
Gollwitzer kommt in ein Lager, das sehr gepflegt ist und wo er plötzlich nicht mehr zu arbeiten braucht.
"In dieses Gentlemen-Lager holt sich die MWD von überall her das zusammen, was sie besonders interessiert – aus günstigen oder ungünstigen Gründen. Bei den vielen Generalen, Stabsoffizieren und Diplomaten dürften es mehr ungünstige sein, bei den technischen Spezialisten, den Wissenschaftlern, den Pfarrern und anderen mehr günstige. Sind es ungünstige, dann ist dieses Lager vielfach nur das 'Vorzimmer zur Lubjanka'; sind es günstige, dann ist es die nächste Etappe zur Heimfahrt, wie ich es immer noch von mir hoffe. So wohnt hier Verheißung und Gefahr auf engem Raum miteinander; wer dieses Lagertor durchschreitet, tut es mit tiefer Sorge im Herzen – oder hoffnungsgeschwellt, wie ich heute." (S. 125)
Eintrag 27.11.1947: G. wird aufgefordert, an einem Buch über die sowjetischen Kriegsgefangenenlager mitzuarbeiten und sagt voreilig zu. (S.162f.) "Gewiss werde ich die ganze Wahrheit zu Hause sagen und auch den Sowjets Gerechtigkeit widerfahren lassen, aber es ist schon sicher, dass in diesem Buch vieles fehlen wird, was nicht fehlen darf: Eugen K., der erfror, weil sie bei der Arbeit kein Feuer anzünden durften, und Alfred S., dem ein Wächter in den Bauch schoss und das Gesicht zerstach, werden nicht drinstehen und die Leichen, die sie in Archangelsk im Winter erstarrt unter die Pritschen schoben und erst im Frühjahr begruben, um solange ihre Verpflegung mit aufessen zu können, auch nicht. Was ich sage, werde ich allein sagen müssen, aber nicht mit diesen gefügigen Genossen zusammen, die tun, was man von Ihnen verlangt.
Am nächsten Tage ziehe ich meine Zusage zurück, es sei mir klar geworden, dass es sich doch um ein politisches Propagandaunternehmen handle, bei dem ich nichts zu suchen hätte.". (S.163)
7.1.1948: "Man will uns in den 'letzten Monaten' noch die besten Eindrücke von der Sowjetunion mitgeben. So soll das ganze Lager gruppenweise an Exkursionen durch Moskau teilnehmen. Heute fand die zweite statt (es war auch die letzte!) - und ich war dabei!" (S.167)
"Es fehlt hier alles, was eine westliche Großstadt aufregend macht: die Schaufenster (nur einige gute sind da, mit Damenmodellen, Pelzen, protzenhaft-geschmacklosen Möbeln), die Luxusläden, die Kärntnerstraße, die Leuchtreklame, kurz, die ganze sichtbar gewordene kapitalistische Bedarfsreizung. Und es fehlt das ganze Nachtleben, die Bars, die Cafés die Kabaretts, die Hotels. Wo mögen sich die Einwohner nur am Abend vergnügen? Ein paar sehr teure Tanzcafés soll es geben. Die Gaststätte hatte ja im Osten nie die große Bedeutung für die Geselligkeit wie im Westen, und seit der Revolution hat sich das gesellige Leben ganz auf die Clubs der Betriebe zurückgezogen. So erscheint Moskau dem Reisenden als eine etwas monotone, unfarbige Stadt der Arbeit und des Ernstes." (S.169)
Zur Tretjakowka: "In den ersten neuen Sälen ist das Wunder von Russland – die Ikonen, vorzüglich restauriert und sehr sorgfältig aufgehängt, darunter jene berühmten von Rubljew und manche, die Ihnen gleichkommen. Zwei Stunden blieb ich bei Ihnen – sie gehören zu den schönsten Stunden meines Lebens." (S.170)
"Wie
belanglos die Ideen und ihr Unterschied sind gegenüber dem
einheitlichen Menschentyp
, den die neuen Systeme fordern und erzeugen, zeigt neben dem
gefügigen Josef und dem alten Kommunisten Willi der Neomarxist T.
Er war Junker einer nationalsozialistischen Ordensburg, SS-Offizier
und wilder Nazi. Nun ist er ein angesehene Antifaschist und wird bald
eine hohe Funktion in der Ostzone übernehmen. An ihm hat sich nichts
geändert als die Terminologie, und auch die nur beschränkt. Anstelle der Pfaffen, Juden und Plutokraten sind es nun die Pfaffen, Rechtssozialen und Plutokraten, denen seine Brandreden gelten. Unverändert ist die Brutalität, das terroristische Auftreten, die Verachtung des Menschen und das Bedürfnis nach der Macht. Sie alle drei dienen weder eine Idee noch den arbeitenden Menschen, sie dienen nur nicht selber nur sich selbst.(S. 178)
Vor einigen Wochen forderte mich der 'Kulturleiter' des Aktivs auf, einen öffentlichen Vortrag über 'Probleme der geistigen Erneuerung Deutschlands' zu halten. Dass er mich, der ich den Eintritt ins Aktiv abgelehnt hatte, überhaupt dazu einlud, hängt mit der von oben befohlenen neuen Linie der politischen Arbeit zusammen. Man sieht, dass man mit der marxistischen Dauertrompete nur an verschlossene Ohren stößt, man besinnt sich darauf, dass man ja ursprünglich die nichtnationalsozialistischen Menschen gewinnen wollte, und will deshalb auch Nichtmarxisten zu Wort kommen lassen. Ich nahm an, ging aber nach einiger Zeit, nachdem ich mir zurecht gelegt hatte, was hier zu sagen sei, zum Aktiv und empfahl ihnen, ihre Einladung zurückzuziehen. Da ich mir nicht untreu werden könne, würden sie auch einiges Ungewohnte und Unliebe zu hören bekommen und dadurch mit ihren eigenen Leuten in Schwierigkeiten geraten. Man beriet, man diskutierte – aber siehe, man machte sich stark und beharrte bei der Einladung.
Gestern Abend steht die Sache. Tout le monde war da, Zwei Stunden sprach ich, die Aufmerksamkeit ließ nichts zu wünschen übrig, und morgen Nachmittag soll im geschlossenen Kreise darüber eine Aussprache stattfinden. Ich begann mit einer Schilderung der geistigen Lage beim Zusammenbruch des Dritten Reichs, fasste, da uns die westdeutschen Verhältnisse so gut wie unbekannt waren, die Lage der Sowlietzone ins Auge, nannte Christen und Marxisten die beiden einzigen Gruppen, die als Gestaltungsfaktoren des geistigen Lebens übrig geblieben sein, nannte ihre Zusammenarbeit die Entscheidungsfrage eines sinnvollen Neuaufbaus und skizzierte ihre Bedingungen: die Zusammenarbeit müsse ehrlich und vertrauensvoll sein und hänge also, bei der Unmöglichkeit einer Synthese und bei der Unmöglichkeit, den anderen Teil aus der Welt zu schaffen, von der strikten Erfüllung zweier Forderungen ab: dass man sich gegenseitig dulde (also Verzicht auf Totalität, auf Terrorisierung der Minderheit) und sich gegenseitig ernst nehme (also sich gegenseitig kenne und bereit sei, voneinander zu lernen und sich gegenseitig zur besseren Erkenntnis des Notwendigen zu dienen)." (S. 179/180)
Über das Spitzelwesen in der stalinistischen Sowjetunion 12.4.1948
Wenn man bedenkt, wie viel Gollwitzer schon auf den ersten 150 Seiten über Lagerleben geschrieben hat, beeindruckt es, wie viel zusätzliche Überlegungen er dann über die weiteren Stationen einbringen kann. Noch mehr beeindruckt mich aber, wie viele grundsätzliche Gedanken er sich über das Leben im Sowjetsystem und in totalitären Regimen allgemein gemacht hat.
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