Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, 2022
KLAPPENTEXT
Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 28.12.2022
Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 06.10.2022
Man druckte Geld und setzte auf Inflation.
Kapitel 8: Die Selbstoptimierung: Die Perfektionierung der Freizeit und der Körper (S.263 ff.)
"Josef Roth fand, "der Gott, der Sensationen" habe den Lunapark ganz ans Ende des ohnehin unterhaltungseligen Berliner Kurfürstendamms gesetzt, sozusagen als dessen Pointe. [...] Der Lunapark gab sich hochmodern, die Achterbahn zum Beispiel wurde erst 'kubistisch', 1921 dann durch den Maler und Grafiker, Josef Fenneker 'expressionistisch' gestaltet, bevor sie als 'Krummhäuslbahn' hochalpin, daherkam." (S. 266)
"Der Lunapark überlebte die Weimarer Republik nur wenig länger als ein Jahr, der Ulap schloss sogar schon 1925 seine Tore für immer. [...] Den Veranstaltern waren die Ideen ausgegangen, und die Vergnügungsucht kannte kein Erbarmen. Der Zerstreuung suchende Mensch langweilt sich genauso schnell, wie er sich beeindrucken lässt – ein volatiler Faktor, noch quecksilbriger als der Aktienkurs." (S. 269/270).
Über den Stummfilm:
Die Deuligs-Wochenschau wäre für unsere Sehgewohnheiten tatsächlich eine Folter. Nach der Schrifttafel "Hindenburg startet der braunschweigischen Landesregierung einen Besuch ab", die endlos lange eingeblendet war, sah man dem greisen Reichspräsidenten minutenlang beim Fahren mit der Kutsche, Händeschütteln und Reden zu. Worüber blieb offen, es war ja alles stumm. Die Zeitgenossen aber schauten dennoch gebannt zu." (S.271)
"Alle waren gleichermaßen gebannt schon vom bewegten Bild an sich. Dessen Magie reichte aus, sogar dem ausschreitenden Hindenburg etwas abzugewinnen, glitt aber erst der gewaltige Zeppelin ins Bild, schlugen die Herzen hoch. Das Ungetüm war der große Stolz, fast aller Deutschen." (S. 272)
"Der Stummfilmzuschauer sieht anders, und der Stummfilmstar spricht anders; Edvard Muncks berühmtes Gemälde "Der Schrei" sieht aus, als wäre er dem Stummfilm abgeschaut. Zehn Jahre vor den ersten Stummfilmen entstanden, wäre das Bild kaum so berühmt geworden, hätte der Film die expressive Pose nicht untermauert. Der fehlende Ton wird darin sichtbar. [...] Béla Balázs feierte den "Stummfilm als eine Befreiung des Ausdrucks von der Übermacht der Stimme". Der Körper habe bis dahin nur als "Drangabe" des Bedeutungsträgers gegolten; der Stummfilm mache ihn hingegen zum primären Ausdrucksträger der Seele. [...] Chaplin verstehe die Gebärdensprache auf eine Weise zu reden, die jedes gesprochene Wort zum Schädling mache, schrieb Siegfried Kracauer. Und tatsächlich, die Leute hatten sich an die eigentümliche Intensität des still Stummfilm so gewöhnt, dass ihnen die sich 1928 abzeichnen, der Aussicht, bald die ersten Tonfilme sehen zu können, nicht im mindestens verlockend erschienen. In Umfragen der Kinoverleihe, ob sie künftig Filme lieber stumm oder tönend sehen wollten, siegte fast immer der Stummfilm" (S.273) Prompt fielen die ersten Tonfilme durch, bei der Kritik ohnehin, aber auch beim Publikum [...]. Plötzlich musste man leise sein im Kino, man verstand ja sonst nichts. Dieser Disziplinierungszwang missfiel; kam ein Tonfilm gut an, war es nämlich auch nicht recht, weil man nicht wild applaudieren konnte, ohne den Fortgang der Geschichte zu übertönen.
Hinter den Protesten steckten auch materielle Sorgen: die Kinomusiker fürchteten um ihre Jobs, das Sprechtheater witterte Konkurrenz, und ein Teil der großen Stummfilmstars war, für den Tonfilm völlig ungeeignet. Harry Liedtke ('Die Liebe einer Königin') war bis dahin ein effektiver Herzensbrecher, aber er hatte eine unpassend piepsige Stimme, die die Wirkung seines hübschen, glatten Gesichts zunichte machte. Sein Gesangspart in dem Film 'Ich küsse Ihre Hand, Madame' (1929) musste vom Sänger Richard Tauber nachsynchronisiert werden. Auch für den Beau Bruno Kastner, dessen Konterfei in zahllosen Mädchenzimmern hing, war die tönende Zukunft chancenlos. Wegen seines Sprachfehlers, bekam er keine Rollenangebote mehr. Kastner, der in über einhundert Filmen mitgespielt hatte, er hängte sich 1932 mit zweiundvierzig Jahren in einem Hotelzimmer.
Spätestens mit dem gefeierten Josef–von–Sternberg–Film, 'Der blaue Engel' hatte sich 1930 der Tonfilm durchgesetzt, auch wenn Emil Jannings, seinen steifen, konservativen Professor Rath, der sich in eine Tingeltangel-Chansonette verliebt, mit einer Theatralik verkörperte, die noch ganz der Stummfilmästhetik verhaftet war. Aber die bis dahin noch ganz unbekannte Marlene Dietrich, die die Lola gab und mit immerhin fünfundzwanzigtausend Reichsmark nur ein Zehntel der Gage des berühmten Jannings bekam, spielte die Vorzüge des Tonfilms voll aus: Nicht nur in dem bis heute weltberühmten Lied 'Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt' von Friedlich Hollaender, sondern auch in ihrer schauspielerischen Zurückhaltung. Dietrich hatte sofort erkannt, dass der Tonfilm es erlaubt, sich sparsam und damit nur umso intensiver in Szene zu setzen." (S.273-275)
"Aus Amerika importiert worden war das Sechstagerennen, ein / ikonisches Sportevent der Zwanziger. Hier amüsierte man sich in volksfestartiger Gaudi darüber, wie dreizehn Radrennfahrer, sechs Tage und sechs Nächte lang monoton im Oval einer verqualmten Halle hintereinander herfahrend, ihr Bestes gaben. [...] Der seltsame Zwitter aus Sport und Varietee war ein beliebtes Gesellschaftsereignis, eine lärmende, ausgelassene, quälende/ Realmetapher auf die sechs Tagewoche. Der kommunistische Sänger Ernst Busch, besang das Sechstagerennen als kapitalistische Tretmühle, an der jede Sinnfrage scheitere:
Mensch, tritt in die Pedale
Immer rund ums Holzovale
He! He! He! He! He!
Bohlen splittern, Reifen platzen,
Drei Musikkapellen, jazzen,
He! He! He! He! He!
Sechs Tage im Kreis, immer rundherum –
Kein Sterblicher weiß: Warum nur, warum?
Alle packt es, alle treiben mit!
Alle jagt es, alle schreien mit! He!
Sechs Tage im Kreis, immer rundherum –
Und kein Einziger weiß, warum!
Die schärfste Kritik am Sechstagerennen – eine 'Kritik' wird man es kaum nennen können – kam von ganz rechts, von den Nazis. Bei dieser Mischung aus Show und Profisport, den sie ohnehin mit Argwohn betrachten, würden überall Juden die Fäden ziehen. 1933 behauptete die NS-Postille 'Der Angriff' rückblickend: 'Wer einen Blick hinter die Kulissen werfen durfte, weiß, dass es in erster Linie Juden waren, die als Veranstalter auftraten. In der Zeit der größten jüdischen Machtausbreitung standen in Deutschland die Sechstagerennen am höchsten im Kurs.' Die hedonistische Hexenkesselstimmung im Sportpalast war den Nazis unheimlich, ein Musterbeispiel des 'Kulturbolschewismus'." (S.282-284)
Kapitel 10: Die Arbeit geht aus (339 ff.)
"Aufgrund ihrer Vereinzelung blieb der Organisationsgrad der Arbeitslosen gering. Die Erwerbslosengruppen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, von denen es etliche Tausend gab, blieben auf die Fabriken der Großindustrie begrenzt. Der KPD gelang es hier und da, Hungerdemonstrationen und Arbeitslosenprotestmärsche zu organisieren. Der 6. März 1930 wurde zum Beispiel zum internationalen Arbeitslosentag ausgerufen, an dem Demonstrationen in europäischen Metropolen stattfanden – ohne messbaren Erfolg, wie sogar die "Rote Fahne" zugab. Häufiger kam es zu anarchischem Krawall, zu spontanen Unruhen in den Arbeits- und / Wohlfahrtsämtern. Hier lagen die Nerven blank, schnell eskalierte ein Streit, wurde laut und handgreiflich, bis der Funken auf die seit Stunden Schlange stehenden Menschen übergriff. Die wütende Menge drang in die Büros, warf Akten und Möbel aus den Fenstern und jagte die Beamten aus dem Amt. Dann wurde Kleinholz gemacht, bis zwei Hundertschaften Polizisten anrückten und die Knüppel flogen. Um mehr Ordnung und Disziplin in die Konflikte zu bringen, organisierte die KPD sogenannte Selbstschutzstaffeln der Erwerbslosen, die in den Ämtern Wache standen, bei Randale für geordnete Rückzüge sorgten und abends gegen die SA aufmarschierten, wo sie sich mit ihresgleichen, die beim Gegner in den Reihen standen, die Köpfe einschlug. (S.359/60)
"Die Arbeitslosigkeit drängte nicht zu demonstrativen Akten, sozialen Ungehorsams, sondern zu Resignation und Apathie." (S.361)
Kapitel
11: Die Stimmung sinkt, der Geschmack passt sich an – kulturelle
Konflikte in der Depressionszeit (S.371ff.)
"Im August 1932 wurde die Autobahn Köln – Bonn eröffnet. Sie war auch wirtschaftspolitisch zukunftsweisend, denn die Investitionszusagen waren geknüpft an arbeitsintensive Baummethoden./Bagger und Förderbänder waren untersagt, um, wie geschildert, möglichst viele Arbeitskräfte einsetzen zu können und die Arbeitslosigkeit zu verringern – eine antizyklische Investitionsmaßnahme, die die Weitsicht des damals jungen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer verriet. Ein Verdienst der NSDAP war die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Autobahn keineswegs." (S.374/75 )
"Auch in literarischer Hinsicht begannen die Dreißiger vielversprechend: Robert Musils 'Mann ohne Eigenschaften', Hermann Brochs 'Schlafwandler'-Trilogie, Leon Feuchtwangers 'Erfolg' – Gesellschaftsromane, die es auf unterschiedliche Weise mit der ganzen Existenz aufnahmen und die auseinanderstrebenden Protagonisten mit aller Kraft zu einem Gesamtbild zusammenzwangen. Dagegen standen Irmgard Keuns 'Das kunstseidene Mädchen' und Erich Kästners 'Fabian' – zwei Bücher, die einen subjektiven, sehr laxen Ton aus der Krise schlugen, von unbändiger Lebenslust, die eine, von gerüschter Bitterkeit der andere." (S. 376)
"Ein tiefsitzender Pessimismus breitete sich aus, und nicht nur das. Die Deutschen gingen sich zunehmend auf den Geist. Man konnte einander nicht mehr hören. Wie in einem Tanzlokal. Am frühen Morgen plötzlich die Decken Lichter angehen und gnadenlos die trüben Ecken, leeren Flaschen und müden Gesichter ausgeleuchtet werden, brach im Café Deutschland der Morgen der Dreißigerjahre an. Der Sekt schmeckte schal, die Gäste wirkten hohlwangig und mager, die Kapelle packte die Instrumente ein. Ein gepflegter Weltekel [...] (S.379)
"Bis 1930 hatte sich die Kulturlandschaft zwischen den beiden Polen, Fortschrittsoptimismus und Modernisierungskritik recht überschaubar angeordnet. Das liberale Bürgertum blickte gelassen auf die Welt. Probleme gab es zu Hauf, aber sie schienen lösbar, der Fortschritt würde es schon richten. Selbst ein soignierter Herr Heinrich Mann, fühlte sich in der Menge pudelwohl, denn er war noch immer überzeugt von der zivilisatorischen Kraft der Großstadt. 1930 las er vor einem Zufallspublikum im neu eröffneten Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz, 'im Durchgang von Nahrungsmitteln zur Konfektion'. Ausgerechnet hier, in dieser übergroßen Konsumkathedrale, die so aussah, als wäre eine Fantasie aus 'Metropolis' wahr geworden, las, der 'Präsident der Sektion Dichtkunst der Akademie der Künste' vor einem Publikum, das mit vollen Einkaufstaschen vorbeidrängelte. Später bekannte er: 'Dieses mein anonymes Auftreten in einer fließenden Menge, die meinetwegen keine Umstände machte, zählt zu meinen reinsten Erinnerungen an das öffentliche Leben der Weimarer Republik.' (S. 380)
1932 wurde das Yo-Yo zur Mode. (S. 383).
"Um so bedrückender ist es, bei der Lektüre des Grosz-Textes im 'Kunstblatt' zu spüren, wie sehr sich rechts und links, obwohl einander todfeind, in ihrem Hass auf das Establishment angenähert hatten. Als vernuttet, verfressen, rücksichtslos und abstoßend, als üble Kaschemme, hat der George Grosz Deutschland schon immer gekennzeichnet, aber es bestürzt doch zu sehen, wie wenig Rückhalt die Republik von einen wie ihm im Moment ihrer größten Anfeindung zu erwarten hatte." (S. 388)
"Im Anschluss an eine blutig niedergeschlagene Bauerndemonstration in Neumünster weigerten sich die Landwirte monatelang, die Stadt mit Fleisch, Getreide und Milch zu versorgen. im gesamten Norden, vor allem in Dithmarschen, kam es zu Bauernunruhen, Krawallen und Bombenanschlägen. Auch im Osten, wo es kaum kleine und mittlere Höfe gab, sondern wo kasernierte Landarbeiter für den Gutsbesitzer und seinen Verwalter schufteten, eskalierten die Konflikte. Die Bauern waren von Anfang an nicht warm geworden mit der / Republik. Damals, bei ihrer Ausrufung 1918, ging der Krieg für sie weiter. Denn die SPD-geführten Regierungskabinette setzten die Zwangswirtschaft auch nach Kriegsende fort. die Bauern mussten einen beträchtlichen Teil ihrer Ernte an den Staat abgeben – zu Preisen weit unter dem Marktwert. [...]"
Erst 1923 wurde die Getreideproduktion "wieder ganz für den freien Markt freigegeben. In den Augen der Bauern war das nur typisch: die SPD stand bei ihnen ohnehin im Ruf, ausschließlich ihrer städtischen Klientel zu dienen und den Städten möglichst günstige Preise auf Kosten der Bauern sichern zu wollen." (S. 395)
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