25 Juni 2024

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen

 

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, 2022


KLAPPENTEXT

Deutschland 1918. Ende des Ersten Weltkriegs, Revolution, Sieg der Demokratie. Zugleich beginnt ein Siegeszug befreiter Lebensweisen. Die Inflation hat die überlieferten Werte ins Wanken gebracht. Alles soll von Grund auf anders werden: die "Neue Frau", der "Neue Mann", "Neues Wohnen", "Neues Denken". Als es Mitte der Zwanziger auch wirtschaftlich aufwärtsgeht, wird Deutschland ein anderes Land. Frauen eroberten die Rennpisten und Tennisplätze, gingen abends alleine aus, schnitten sich die Haare kurz und dachten nicht ans Heiraten. Unisex kam in Mode, Androgynes und Experimentelles. Jähner erzählt von der Erfindung der Freizeit, von Boxhallen und Tanzpalästen, und von den Hotspots der Neuen Zeit, vom Büro und Großstadtverkehr, vom Warenhaus als Glücksversprechen oder der Straße als Ort erbitterter Kämpfe. So vieles wirkt heute verblüffend modern. Die Vorliebe für Ironie, das Gradlinige und Direkte. Aber auch die Angst vor der "Entwertung aller Werte", der Herrschaft des Billigen. Ein großer Teil der Deutschen fand sich im Aufbruch nicht wieder. Nach und nach offenbarte sich die tiefe Spaltung der Gesellschaft und die Unfähigkeit, sie auszuhalten. Harald Jähner liefert eine Gesamtschau dieser so pulsierenden, reichen Zeit, wie es sie bislang nicht gab - und zeichnet das Bild eines zerrissenen Landes voll gewaltiger und erschreckender Energien. Es ist uns irritierend ähnlich und - hoffentlich - doch ganz anders.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 28.12.2022

Der hier rezensierende Verleger Klaus Bittermann hat von Harald Jähner viel über die Seele der Weimarer Republik gelernt. [...] Wieder wählte Jähner das Stilmittel des "Wimmelbildes", um mit kleinen Geschichten über die große Historie zu berichten und durchforstete abermals die Archive von Zeitungen, lesen wir. Was er dort fand, hat eine enorme atmosphärische Gegenwärtigkeit, lobt der Rezensent, denn genau die fehle in den herkömmlichen Geschichtsbüchern. Bittermann beeindruckt, was für ein Zeitgemälde Jähner aus Kleinanzeigen entwickelt und damalige Leitartikel blass aussehen lässt. 

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 06.10.2022

Harald Jähner schaut genau auf die aufregenden 1920er Jahre, erkennt Florian Keisinger. Sein besonderer Fokus: Der Durchschnittsmensch als Zeitgenosse. Dass er das spannend erzählt, ist für den Rezensenten ein ganz großes Plus und keine Selbstverständlichkeit bei einem Sachbuch. Er bemängelt zwar, dass nicht die ganze Weimarer Republik so umfassend beleuchtet wird, erkennt aber an, dass Berlin als Fokus sinnvoll ist. Von dieser Warte aus werden unter anderem die Rolle der Frau, das Bauhaus, der Aufstieg der NSDAP und die Weltwirtschaftskrise als Weg in den Niedergang vom Autor gekonnt thematisiert, findet Keisinger und empfiehlt das Buch.

Aus dem Inhalt:
 Übergriffe der Heimkehrsoldaten, mit Maschinengewehr auf Straßenbahn geschossen.
Besetzungen von Verlagsgebäuden und des Wolffschen Telegrafenbüros und des Berliner Tageblatts (S. 44) Die Besetzungen anfang ziemlich planlos (S.45) "weshalb der Begriff Spartacusaufstand auch in die Irre führt"(S.45) Erst dann setzen sich Liebknecht und Luxemburg an die Spitze. – Daneben geht das bürgerliche Leben weiter (Theateraufführungen). Als das Tanzverbot gefallen ist, das während des Krieges galt, kommt es zu einer großen Tanzbegeisterung. Holländer schreibt den Song. "Dein Tänzer ist der Tod" (S.49)

"Nachdem im Zuge eines Generalstreiks aufständische Arbeiter, im Stadtbezirk Lichtenberg ein Polizeirevier und das Postamt besetzt hatten und es zu zahlreichen Plünderungen und Ausschreitungen gekommen war, ließ Gustav Noske als Reichswehrminister in der sozialdemokratischen Regierung für die innere Sicherheit verantwortlich, den Stadtteil gewaltsam räumen. Nach offiziellen Angaben kamen dabei eintausendzweihundert Menschen um, wahrscheinlich waren es noch etliche mehr. Die meisten starben durch standrechtliche Erschießungen, die von den eingesetzten Freikorpssoldaten vorgenommen wurden. Ihre 'Rechtsgrundlage' bildete die Anordnung, Noskes, jeden zu erschießen, der mit der Waffe in der Hand kämpfend angetroffen werde. Der selbsternannte Bluthund der SPD hatte diesen Befehl erlassen, nachdem das Gerücht in Umlauf gesetzt worden war, die Aufständischen hätten fünfzig Polizisten im besetzten Revier ermordet.  Die Freikorpssoldaten hatten den Befehl dahin gehend erweitert, dass sie jeden umbrachten, der auch nur eine Waffe besaß. [...]  Sie erschossen sogar Angehörige der / revolutionären Volksmarinedivision, die friedlich an einem Militärdepot Schlange standen, um ihre Waffen abzugeben und den Entlassungslohn abzuholen." (S.51/52 )
"1913 hatten sich in Deutschland zwei Milliarden Mark im Umlauf befunden, 1919 waren es 45 Milliarden. Währenddessen hatte sich der Staat um das Dreißigfacher verschuldet, von fünf auf 153 Milliarden. Diese inflationäre Praxis war in allen kriegsführenden Ländern üblich, und in keinem hatte man sich darüber Gedanken gemacht, wie man das Geld nach Kriegsende an die Bürger zurückzahlen und dem Haushalt wieder in Ordnung bringen könnte. Denn alle Nationen waren gleichermaßen davon überzeugt, den Krieg zu gewinnen. Für die Kosten / würden am Ende die anderen aufkommen müssen." (S.79/80) 
"Dummerweise dachten die Gegner genauso. Auch sie verfuhren nach der Devise: 'der Verlierer zahlt alles', als sie den Deutschen Versailles die Friedensbedingungen diktierten. [...] In einer ersten Rate zur Wiedergutmachung der Kriegsfolgen, die die Sieger Staaten erlitten hatten, sollte Deutschland zwanzig Milliarden Goldmark zahlen. Mit derart rosigen Einkommensaussichten gingen Britten und Franzosen in die Inventur und stellten ihre inflationäre Kriegswirtschaft auf einen sparsamen Friedenshaushalt um. Sie kürzten alle Sozialausgaben, sparten, wo sie nur konnten, und setzten auf das Geld aus Deutschland. Die Aussicht auf die Reparationszahlungen gab ihnen den Mut, die nötige wirtschaftliche Fastenkur in Angriff zu nehmen. Den Deutschen hingegen war solch ein ökonomischer Realismus durch die hoffnungsloser Lage verstellt. Ihr Schuldenberg war unvorstellbar groß. Der Staat stand schon bei den Bürgern mit 98 Milliarden. In der Kreide, von den Forderungen der Sieger ganz zu schweigen. Mit derart viel Schulden im Rücken, brauchte man mit dem Sparen gar nicht erst anzufangen . Nach dieser Logik setzten die Koalitionsregierungen der ersten Weimarer Jahre die Inflationspolitik aus der Kriegswirtschaft einfach fort." (S.80)
Man druckte Geld und setzte auf Inflation
"Da der Wert der Reichsmark durch ihren ständigen Nachdruck sank, wurden deutsche Produkte im Ausland immer billiger. Der Export stieg, und auch deshalb sank die Arbeitslosenquote. [...] Die großen Verlierer der Entwicklung fanden sich nicht bei den Habenichtsen, sondern im Mittelstand, bei den Sparern. Vor allem die sicherheitsbewussten Teile des Bildungsbürgertums hatten traditionell ihre Überschüsse als Sparguthaben angelegt und erlebte nun Monat für Monat, wie ihr Vermögen an Wert verlor. Zudem waren sie es, die die meisten Kriegsanleihen gezeichnet und den Krieg patriotisch mit finanziert hatten. Die Inflation entwertete die Ansprüche, die sie an den Staat hatten, auf dramatische Weise: Am Ende waren die 98 Milliarden Mark Schulden, die der Staat bei seinen Bürgern hatte, nicht mal so viel wert wie ein Sack Kartoffeln." (S.81) 

Kapitel 8: Die Selbstoptimierung:                                                                                      Die Perfektionierung der Freizeit und der Körper (S.263 ff.)

"Josef Roth fand, "der Gott, der Sensationen" habe den Lunapark ganz ans Ende des ohnehin unterhaltungseligen Berliner Kurfürstendamms gesetzt, sozusagen als dessen Pointe. [...] Der Lunapark gab sich hochmodern, die Achterbahn zum Beispiel wurde erst 'kubistisch', 1921 dann durch den Maler und Grafiker, Josef Fenneker 'expressionistisch' gestaltet, bevor sie als 'Krummhäuslbahn' hochalpin, daherkam." (S. 266)

"Der Lunapark überlebte die Weimarer Republik nur wenig länger als ein Jahr, der Ulap schloss sogar schon 1925 seine Tore für immer. [...] Den Veranstaltern waren die Ideen ausgegangen, und die Vergnügungsucht kannte kein Erbarmen. Der Zerstreuung suchende Mensch langweilt sich genauso schnell, wie er sich beeindrucken lässt – ein volatiler Faktor, noch quecksilbriger als der Aktienkurs." (S. 269/270).

Über den Stummfilm: 

Die Deuligs-Wochenschau wäre für unsere Sehgewohnheiten tatsächlich eine Folter. Nach der Schrifttafel "Hindenburg startet der braunschweigischen Landesregierung einen Besuch ab", die endlos lange eingeblendet war, sah man dem greisen Reichspräsidenten minutenlang beim Fahren mit der Kutsche, Händeschütteln und Reden zu.  Worüber blieb offen, es war ja alles stumm. Die Zeitgenossen aber schauten dennoch gebannt zu." (S.271)

"Alle waren gleichermaßen gebannt schon vom bewegten Bild an sich. Dessen Magie reichte aus, sogar dem ausschreitenden Hindenburg etwas abzugewinnen, glitt aber erst der gewaltige Zeppelin ins Bild, schlugen die Herzen hoch. Das Ungetüm war der große Stolz, fast aller Deutschen." (S. 272)

"Der Stummfilmzuschauer sieht anders, und der Stummfilmstar spricht anders; Edvard Muncks berühmtes Gemälde "Der Schrei" sieht aus, als wäre er dem Stummfilm abgeschaut. Zehn Jahre vor den ersten Stummfilmen entstanden, wäre das Bild kaum so berühmt geworden, hätte der Film die expressive Pose nicht untermauert. Der fehlende Ton wird darin sichtbar.  [...] Béla Balázs feierte den "Stummfilm als eine Befreiung des Ausdrucks von der Übermacht der Stimme". Der Körper habe bis dahin nur als "Drangabe" des Bedeutungsträgers gegolten; der Stummfilm mache ihn hingegen zum primären Ausdrucksträger der Seele. [...] Chaplin verstehe die Gebärdensprache auf eine Weise zu reden, die jedes gesprochene Wort zum Schädling mache, schrieb Siegfried Kracauer. Und tatsächlich, die Leute hatten sich an die eigentümliche Intensität des still Stummfilm so gewöhnt, dass ihnen die sich 1928 abzeichnen, der Aussicht, bald die ersten Tonfilme sehen zu können, nicht im mindestens verlockend erschienen. In Umfragen der Kinoverleihe, ob sie künftig Filme lieber stumm oder tönend sehen wollten, siegte fast immer der Stummfilm" (S.273) Prompt fielen die ersten Tonfilme durch, bei der Kritik ohnehin, aber auch beim Publikum [...]. Plötzlich musste man leise sein im Kino, man verstand ja sonst nichts. Dieser Disziplinierungszwang missfiel; kam ein Tonfilm gut an, war es nämlich auch nicht recht, weil man nicht wild applaudieren konnte,  ohne den Fortgang der Geschichte zu übertönen.

Hinter den Protesten steckten auch materielle Sorgen: die Kinomusiker fürchteten um ihre Jobs, das Sprechtheater witterte Konkurrenz, und ein Teil der großen Stummfilmstars war, für den Tonfilm völlig ungeeignet. Harry Liedtke ('Die Liebe einer Königin') war bis dahin ein effektiver Herzensbrecher, aber er hatte eine unpassend piepsige Stimme, die die Wirkung seines hübschen, glatten Gesichts zunichte machte.  Sein Gesangspart in dem Film 'Ich küsse Ihre Hand, Madame' (1929) musste vom Sänger Richard Tauber nachsynchronisiert werden. Auch für den Beau Bruno Kastner, dessen Konterfei in zahllosen Mädchenzimmern hing, war die tönende Zukunft chancenlos. Wegen seines Sprachfehlers, bekam er keine Rollenangebote mehr.  Kastner, der in über einhundert Filmen mitgespielt hatte, er hängte sich 1932 mit zweiundvierzig Jahren in einem Hotelzimmer.

Spätestens mit dem gefeierten Josef–von–Sternberg–Film, 'Der blaue Engel' hatte sich 1930 der Tonfilm durchgesetzt, auch wenn Emil Jannings, seinen steifen, konservativen Professor Rath, der sich in eine Tingeltangel-Chansonette verliebt, mit einer Theatralik verkörperte,  die noch ganz der Stummfilmästhetik verhaftet war. Aber die bis dahin noch ganz unbekannte Marlene Dietrich, die die Lola gab und mit immerhin fünfundzwanzigtausend Reichsmark nur ein Zehntel der Gage des berühmten Jannings bekam, spielte die Vorzüge des Tonfilms voll aus: Nicht nur in dem bis heute weltberühmten Lied 'Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt' von Friedlich Hollaender, sondern auch in ihrer schauspielerischen Zurückhaltung. Dietrich hatte sofort erkannt, dass der Tonfilm es erlaubt, sich sparsam und damit nur umso intensiver in Szene zu setzen." (S.273-275)

"Aus Amerika importiert worden war das Sechstagerennen, ein / ikonisches Sportevent der Zwanziger. Hier amüsierte man sich in volksfestartiger Gaudi darüber, wie dreizehn Radrennfahrer, sechs Tage und sechs Nächte lang monoton im Oval einer verqualmten Halle hintereinander herfahrend, ihr Bestes gaben. [...] Der seltsame Zwitter aus Sport und Varietee war ein beliebtes Gesellschaftsereignis, eine lärmende, ausgelassene, quälende/ Realmetapher auf die sechs Tagewoche. Der kommunistische Sänger Ernst Busch, besang das Sechstagerennen als kapitalistische Tretmühle, an der jede Sinnfrage scheitere:

Mensch, tritt in die Pedale

Immer rund ums Holzovale

He! He! He! He! He!

Bohlen splittern, Reifen platzen,

Drei Musikkapellen, jazzen,

He! He! He! He! He!

Sechs Tage im Kreis, immer rundherum –

Kein Sterblicher weiß: Warum nur, warum?

Alle packt es, alle treiben mit!

Alle jagt es, alle schreien mit! He!

Sechs Tage im Kreis, immer rundherum –

Und kein Einziger weiß, warum!

Die schärfste Kritik am Sechstagerennen – eine 'Kritik' wird man es kaum nennen können – kam von ganz rechts, von den Nazis. Bei dieser Mischung aus Show und Profisport, den sie ohnehin mit Argwohn betrachten, würden überall Juden die Fäden ziehen. 1933 behauptete die NS-Postille 'Der Angriff' rückblickend: 'Wer einen Blick hinter die Kulissen werfen durfte, weiß, dass es in erster Linie Juden waren, die als Veranstalter auftraten. In der Zeit der größten jüdischen Machtausbreitung standen in Deutschland die Sechstagerennen am höchsten im Kurs.' Die hedonistische Hexenkesselstimmung im Sportpalast war den Nazis unheimlich, ein Musterbeispiel des 'Kulturbolschewismus'." (S.282-284) 



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