(Oscar Wilde: Der Ursprung der historischen Kritik, Werke in einem Band, hrsg. Gerd Haffmanns, S. 473-516)
Plato kritisiert die unmoralischen Handlungen der Götter und will sie an einem Ethos orientiert sehen. Insofern geht er über das Faktensammeln hinaus und will eigenes Urteil. Herodot scheidet aus den Mythen das aus, was menschlichen Erfahrungen widerspricht. Thukydides fügt das Kriterium der psychologischen Wahrscheinlichkeit hinzu. So gibt er der Überlieferung den Vorzug, Helena sei in Ägypten gewesen, denn um einen Krieg zu verhindern, hätten die Trojaner eine geraubte Frau sicher herausgegeben, wenn sie in der Stadt gewesen wäre. [Hier könnte man eine Parallele im gegenwärtigen Ukrainekrieg sehen: Vermeidung eines größeren Unglücks.] So sieht er auch im Fall Trojas im Unterschied zu Herodot nicht eine Strafe der Götter, sondern nimmt an, dass die unzureichende Versorgung der Griechen mit Lebensmitteln den Start der Besetzung herausgezögert habe.
Das Bedeutende an Thukydides wie sein Umgang mit Legenden im Allgemeinen verrät, sind weniger die Resultate als vielmehr die Methode, nach der er vorgeht. Als der erste große, rationalistische Historiker hat er gewissermaßen den Weg für alle seine Nachfolger geebnet, obwohl nicht vergessen werden darf, dass das völlige Fehlen all des mythischen Bauwerks der übernatürlichen Lebensauffassung in seinen Schriften, zweifellos einen Fortschritt des Rationalismus und einen Meilenstein in der Wissenschaftsgeschichte markiert, dessen Bedeutung kaum zu überschätzen ist, wir andererseits aber auch das völlige Fehlen der zahllosen sozialen und wirtschaftlichen Faktoren feststellen müssen, die in der Entwicklung der Welt eine so wichtige Rolle spielen und denen Herodot in seinen unsterblichen Schriften zu Recht einen hervorragenden Platz ein räumte. Die Geschichte des Thukydides ist im Wesentlichen einseitig und unvollständig. Die verwirrenden Einzelheiten über Belagerung und Schlachten, Dinge, mit denen der wahre Historiker sich gar nicht oder nur insofern abgibt, als sie ein Licht auf den Geist der Zeit werfen, würden wir mit Freuden eintauschen gegen einen Hinweis auf das Privatleben in Athen oder den Einfluss und die Stellung der Frau.
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