Requiem für Wolf von Kalckreuth von Rainer Maria Rilke
Geschrieben am 4. und 5. November 1908, in Paris
Sah ich dich wirklich nie? Mir ist das Herz
so schwer von dir wie von zu schwerem Anfang,
den man hinausschiebt. Daß ich dich begänne
zu sagen, Toter der du bist; du gerne,
du leidenschaftlich Toter. War das so
erleichternd wie du meintest, oder war
das Nichtmehrleben doch noch weit vom Totsein?
[...]
Die großen Worte aus den Zeiten, da
Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns.
Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.
15 April 2014
07 April 2014
Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist
Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich herrollt. Der Fluß der Zeit ist ein Fluß, der seine Ufer mitführt. Der Mitreisende bewegt sich zwischen festen Wänden auf festem Boden; aber Boden und Wände werden von den Bewegungen der Reisenden unmerklich auf das lebhafteste mitbewegt. [...]
Man tut heute so, als ob der Nationalismus lediglich eine Erfindung der Armeelieferanten wäre, aber man sollte es auch einmal mit einer erweiterten Erklärung versuchen, und zu einer solchen lieferte Kakanien einen wichtigen Beitrag. Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königlich österreichische. Ihr begreiflicher Wahlspruch angesichts solcher Schwierigkeiten war »Mit vereinten Kräften!« Das hieß viribus unitis. Die Österreicher brauchten aber dazu weit größere Kräfte als die Ungarn. Denn die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. [...]
Seit Bestehen der Erde ist noch kein Wesen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzufügen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie widerfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist. [...]
Im allgemeinen war man damals unter vorgeschrittenen Leuten für aktiven Geist; man hatte die Pflicht der Hirnmenschen erkannt, die Führung der Bauchmenschen an sich zu reißen. Außerdem gab es etwas, was man Expressionismus nannte; man konnte nicht genau angeben, was das sei, aber es war, wie das Wort sagte, eine Hinauspressung; vielleicht von konstruktiven Visionen, jedoch waren diese, mit der künstlerischen Überlieferung verglichen, auch destruktiv, darum kann man sie auch einfach struktiv nennen, es verpflichtet zu nichts, und eine struktive Weltauffassung, das klingt ganz respektabel. [...]
Das mag so zwischen achtzehnhundertsechzig und -siebzig gewesen sein, nachdem die Anfänge des Verfahrens überwunden waren. Die Revolution der Vierzigerjahre lag als wüste Zeit längst zurück, und es gab neue Lebensinhalte, man weiß heute nicht mehr recht, welche; [...]
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 98 und 99
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05 April 2014
Clarissens geheimnisvolle Kräfte und Aufgaben oder: Weshalb tritt Clarissa aus sich hinaus?
Es tat ihr leid, daß sie Walter immer quälte. Sie war erst fünfzehn Jahre alt gewesen, da hatte sie schon bemerkt, daß sie ihn zu quälen vermochte. Sie brauchte bloß entschieden auszurufen, etwas sei in Wahrheit nicht so, wie er behaupte, da zuckte er zusammen, und wenn es noch so richtig war, was er gesagt hatte! Sie wußte, daß er sich vor ihr fürchtete. Er fürchtete, daß sie verrückt werden könnte. Er hatte es sich einmal entschlüpfen lassen, schnell wieder verredet; sie aber wußte seither, daß er daran dachte. Sie fand das sehr schön. [...]
Sie dachte an das Kind, das Walter von ihr wollte. Auch davor fürchtete er sich. Begreiflich, wenn er glaubte, daß sie einmal verrückt werden könnte. Es gab ihr Zärtlichkeit für ihn, auch wenn sie sich heftig weigerte. [...] daß man sich alles zu tun weigern müsse, was nicht mit ganzer Seele geschieht, und damit war sie mitten in der aufgewühlten tiefen Wirklichkeit ihrer Ehe. [...]
Vielleicht war es der Sinn aller der Augenblicke, wo sie aus sich hinaustrat, daß sie Gottesmutter werden sollte.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 97
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04 April 2014
Der Großschriftsteller
Der Großschriftsteller ist der Nachfolger des Geistesfürsten und entspricht in der geistigen Welt dem Ersatz der Fürsten durch die reichen Leute, der sich in der politischen Welt vollzogen hat. So wie der Geistesfürst zur Zeit der Fürsten, gehört der Großschriftsteller zur Zeit des Großkampftages und des Großkaufhauses. Er ist eine besondere Form der Verbindung des Geistes mit großen Dingen. [...]
Er muß viel reisen, von Ministern empfangen werden, Vorträge halten; den Chefs der öffentlichen Meinung den Eindruck machen, daß er eine nicht zu unterschätzende Gewissens macht darstelle; er ist charge d'affaires des Geistes der Nation, wenn es gilt, im Ausland Humanität zu beweisen; empfängt, wenn er zu Hause ist, notable Gäste und hat bei alledem noch an sein Geschäft zu denken, das er mit der Geschmeidigkeit eines Zirkuskünstlers machen muß, dem man die Anstrengung nicht anmerken darf. Denn der Großschriftsteller ist keineswegs einfach das gleiche wie ein Schriftsteller, der viel Geld verdient. Das »gelesenste Buch« des Jahres oder Monats braucht er niemals selbst zu schreiben, es genügt, daß er gegen diese Art der Bewertung nichts einzuwenden hat. Denn er sitzt in allen Preisgerichten, unterzeichnet alle Aufrufe, schreibt alle Vorworte, hält alle Geburtstagsreden, äußert sich zu allen wichtigen Ereignissen und wird überall gerufen, wo es zu zeigen gilt, wie weit man es gebracht hat. Denn der Großschriftsteller vertritt bei allen seinen Tätigkeiten niemals die ganze Nation, sondern gerade nur ihren fortschrittlichen Teil, die große, beinahe schon in der Mehrheit befindliche Auserlesenheit, und das umgibt ihn mit einer bleibenden geistigen Spannung. [...]
Die unerläßlichste Voraussetzung, um ein Großschriftsteller zu werden, bleibt also die, daß man Bücher oder Theaterstücke schreibt, die sich für hoch und niedrig eignen. Man muß wirken, ehe man das Gute wirken kann; dieser Grundsatz ist der Boden eines jeden Großschriftstellerdaseins. Und das ist ein wundersames, gegen die Versuchungen der Einsamkeit gerichtetes Prinzip, geradezu das Goethesche Prinzip des Wirkens, daß man sich nur in der freundlichen Welt regen müsse, so komme dann alles andere von selbst. Denn wenn ein Schriftsteller einmal zu wirken anfängt, so tritt eine bedeutsame Wandlung in seinem Leben ein. Sein Verleger hört auf, zu bemerken, daß ein Kaufmann, der Verleger werde, einem tragischen Idealisten gleiche, weil er doch mit Tuch oder unverdorbenem Papier ganz anders verdienen könnte. Die Kritik entdeckt in ihm einen würdigen Gegenstand für ihr Schaffen, denn Kritiker sind sehr oft keine bösen Menschen, sondern, dank den ungünstigen Zeitumständen, gewesene Lyriker, die ihr Herz an etwas hängen müssen, um sich aussprechen zu können; sie sind Kriegs- oder Liebeslyriker, je nach dem inneren Erträgnis, das sie günstig anbringen müssen, und es ist begreiflich, daß sie dazu lieber das Buch eines Großschriftstellers als das eines gewöhnlichen Schriftstellers wählen. [...]
Die eigentliche Schwierigkeit im Dasein eines Großschriftstellers entsteht erst dadurch, daß man im geistigen Leben zwar kaufmännisch handelt, aber aus alter Überlieferung idealistisch spricht, und diese Verbindung von Handel und Idealismus war es auch, die in Arnheims Lebensbemühungen eine entscheidende Stelle innehatte. [...]
Der ehrgeizige Geldmann ist heute in einer schwierigen Lage. Wenn er den älteren Mächten des Seins ebenbürtig sein will, so muß er seine Tätigkeit an große Ideen knüpfen; große Gedanken, die widerspruchslos geglaubt würden, gibt es aber heute nicht mehr, denn diese skeptische Gegenwart glaubt weder an Gott noch an die Humanität, weder an Kronen noch an Sittlichkeit – oder sie glaubt an alles zusammen, was auf das gleiche hinauskommt. [...]
Groß ist nun, was für groß gilt; allein das heißt, daß letzten Endes auch das groß ist, was durch tüchtige Reklame dafür ausgeschrien wird, und es ist nicht jedermann gegeben, diesen innersten Kern der Zeit ohne Beschwernis zu schlucken, [...]
Ein gebildeter Mann kann da zum Beispiel an das Verhältnis von Forschung und Kirche im Mittelalter denken. Es mußte sich dazumal der Philosoph mit der Kirche vertragen, wenn er Erfolg haben und das Denken seiner Zeitgenossen beeinflussen wollte, und billiges Freidenkertum könnte darum meinen, daß diese Fesseln seinen Aufstieg zur Größe behindert hätten; aber das Gegenteil war der Fall, Nach der Kundigen Meinung ist bloß eine unvergleichliche gotische Schönheit des Denkens daraus entstanden, und wenn man solche Rücksicht ohne Schaden des Geistes auf die Kirche hatte nehmen können, weshalb sollte man sie nicht auch auf die Reklame nehmen dürfen? Kann, wer wirken will, nicht auch unter dieser Bedingung wirken? Arnheim war überzeugt, daß es ein Zeichen von Größe ist, an seiner eigenen Zeit nicht zuviel Kritik zu üben! Der beste Reiter mit dem besten Pferd kommt, wenn er mit ihm hadert, schlechter über ein Hindernis als ein Reiter, der sich den Bewegungen seines Kleppers anpaßt. Ein anderes Beispiel: Goethe! – Er war ein Genie, wie die Erde leicht kein zweites hervorbringen mag, aber er war auch der geadelte Sohn einer deutschen Kaufmannsfamilie und, so wie ihn Arnheim empfand, der allererste Großschriftsteller, den diese Nation hervorgebracht hat. [...]
Napoleon. Heine schildert ihn in den Reisebildern in einer so sehr mit Arnheims Begriffen übereinstimmenden Weise, daß man es am besten in seinen eigenen Worten wiedergibt, die dieser auswendig wußte. »Ein solcher Geist« sagte Heine, also von Napoleon sprechend, aber er hätte es ebensogut auf Goethe anwenden können, dessen diplomatische Natur er stets mit dem Scharfsinn des Liebhabers verteidigte, der sich heimlich mit dem Gegenstand seiner Bewunderung nicht einverstanden weiß, »ein solcher Geist ist es, worauf Kant hindeutet, wenn er sagt, daß wir uns einen Verstand denken können, der nicht wie der unsrige, sondern intuitiv ist. Was wir durch langsames analytisches Nachdenken und lange Schlußfolgen erkennen, das hatte jener Geist im selben Moment angeschaut und tief begriffen. Daher sein Talent, die Zeit, die Gegenwart zu verstehen, ihren Geist zu cajoliren, ihn nie zu beleidigen und immer zu benutzen. – Da aber dieser Geist der Zeit nicht bloß revolutionär ist, sondern durch den Zusammenfluß beider Ansichten, der revolutionären und contrerevolutionären, gebildet worden, so handelte Napoleon nie ganz revolutionär und nie ganz contrerevolutionär, sondern immer im Sinne beider Ansichten, beider Principien, beider Bestrebungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden, und demnach handelte er beständig naturgemäß, einfach, groß, nie krampfhaft barsch, immer ruhig milde. Daher intriguierte er nie im Einzelnen, und seine Schläge geschahen immer durch seine Kunst, die Massen zu begreifen und zu lenken. – Zur verwickelten, langsamen Intrigue neigen sich kleine analytische Geister, hingegen synthetische, intuitive Geister wissen auf wunderbar geniale Weise die Mittel, die ihnen die Gegenwart bietet, so zu verbinden, daß sie dieselben zu ihrem Zweck schnell benutzen können.« Heine dürfte das vielleicht ein wenig anders gemeint haben, als sein Bewunderer Arnheim es auffaßte, aber dieser fühlte sich geradezu durch seine Worte mitbeschrieben.
02 April 2014
Leben auf dem Lande
Wenn ich in einen solchen abgeschlossenen Kreis von fremden Menschen hineintrete, ist es mir immer, als sähe ich von einem Berge in ein unbekanntes, weites, nächtliches Land. Da gehen stille breite Ströme, und tausend verborgene Wunder liegen seltsam zerstreut, und die fröhliche Seele dichtet bunte, lichte, glückliche Tage in die verworrene Dämmerung hinein. Ich habe oft gewünscht, daß ich die meisten Menschen niemals zum zweiten Male wiedersehen und näher kennen lernen dürfte, oder daß ich immer aufgeschrieben hätte, wie mir jeder zum ersten Male vorkam. [...]
Auf Friedrich hatte das stille Leben den wohltätigsten Einfluß. Seine Seele befand sich in einer kräftigen Ruhe, in welcher allein sie imstande ist, gleich dem unbewegten Spiegel eines Sees, den Himmel in sich aufzunehmen. Das Rauschen des Waldes, der Vogelsang rings um ihn her, diese seit seiner Kindheit entbehrte grüne Abgeschiedenheit, alles rief in seiner Brust jenes ewige Gefühl wieder hervor, das uns wie in den Mittelpunkt alles Lebens vesenkt, wo alle die Farbenstrahlen, gleich Radien, ausgehen und sich an der wechselnden Oberfläche zu dem schmerzlich-schönen Spiele der Erscheinung gestalten. Alles Durchlebte und Vergangene geht noch einmal ernster und würdiger an uns vorüber, eine überschwengliche Zukunft legt sich, wie ein Morgenrot, blühend über die Bilder und so entsteht aus Ahnung und Erinnerung eine neue Welt in uns und wir erkennen wohl alle die Gegenden und Gestalten wieder, aber sie sind größer, schöner und gewaltiger und wandeln in einem anderen, wunderbaren Lichte. Und so dichtete Friedrich unzählige Lieder und wunderbare Geschichten aus tiefster Herzenslust, und es waren fast die glücklichsten Stunden seines Lebens. [...]
Leontin, den ihre Schönheit vom ersten Augenblick an heftig ergriffen hatte, beschäftigte sich viel mit ihr, sang ihr seine phantastischen Lieder vor, oder zeichnete ihr Landschaften voll abenteuerlicher Karikaturen und Bäumen und Felsen, die immer aussahen, wie Träume. Aber er fand, daß sie gewöhnlich nicht wußte, was sie mit alle dem anfangen sollte, daß sie gerade bei Dingen, die ihn besonders erfaßten, fast kalt blieb. Er begriff nicht, daß das heiligste Wesen des weiblichen Gemütes in der Sitte und dem Anstande bestehe, daß ihm in der Kunst, wie im Leben, alles Zügellose ewig fremd bliebe. Er wurde daher gewöhnlich ungeduldig und brach dann in seiner seltsamen Art in Witze und Wortspiele aus. Da aber das Fräulein wieder viel zu unbelesen war, um diese Sprünge seines Geistes zu verfolgen und zu verstehen, so führte er, statt zu belehren, einen immerwährenden Krieg in die Luft mit einem Mädchen, dessen Seele war wie das Himmelblau, in dem jeder fremde Schall verfliegt, das aber in ungestörter Ruhe aus sich selber den reichen Frühling ausbrütet. [...](Kap.7)
Die Gegend lag in der abendroten Dämmerung wie ein verworrenes Zaubermeer von Bäumen, Strömen, Gärten und Bergen, auf dem Nachtigallenlieder, gleich Sirenen, schifften. [...] (Kap 9)
Der Ritter von der traurigen Gestalt
Ein hagerer Mensch nämlich in einem langen, weißen Mantel saß auf einem hochbeinigten Schimmel, der den Kopf fast auf die Erde hängen ließ. Von dieser seiner Rosinante teilte die abenteuerliche Gestalt im Tone einer Predigt Befehle an die Bauern aus, worauf jedesmal ein lautes Gelächter erfolgte.[...]
Der Ritter von der traurigen Gestalt dagegen schaute von seinem Schimmel während des Empfanges und der ersten Unterhaltung so unheimlich und komisch darein, daß Leontin gar nicht von ihm wegsehen konnte. Jeder Bauer, den seine Arbeit an ihm vorüberführte, gesegnete die Gestalt mit einem tüchtigen Witze, wobei sich jener immer heftig verteidigte.[...]
Die sonderbare Gestalt setzte sich nun voraus in Galopp. Er schlug dabei mit beiden Füßen unaufhörlich in die Rippen des Kleppers und sein weißer Mantel rauschte in seiner ganzen Länge in den Lüften hinter ihm drein. Die Bauern riefen ihm sämtlich ein freudiges Hurra nach. Herr v. A., der die Verwunderung der beiden Gäste bemerkte, sagte lachend: das ist ein armer Edlemann, der vom Stegreif lebt, ein irrender Ritter, der von Schloß zu Schloß zieht, und uns besonders oft heimsucht, ein Hofnarr für alle, die ihn ertragen können, halb närrisch und halb gescheut. [...]
Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, Kapitel 7
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01 April 2014
Ovids Metamorphosen: Pyramus und Thisbe
»Thi'sbe und Py'ramus einst, der Jünglinge schönster der eine,
Hoch die andre berühmt vor allen den Mädchen im Osten,
Wohnten als Nachbarn dort, wo die prächtige Stadt nach der Sage
Hatte Semiramis rings mit Backsteinmauern umgeben.«
Umgang brachte zuweg' und vertrautes Gewöhnen die Nähe;
Liebe erwuchs mit der Zeit, und sie wären vereint von den Fackeln,
Ohne der Väter Verbot. Was die nicht konnten verbieten:
Beider Gemüt war gleich entzündet von heißem Verlangen.
Jeglicher Zeuge ist fern. Sie reden mit Winken und Zeichen,
Und je enger beschränkt, je mächtiger wallet die Flamme.
Von kaum merklichem Riß, den schon beim Bau sie bekommen,
War durchspalten die Wand, die gemein jedwedem der Häuser.
Dieses Gebrechen, erkannt noch nie seit Reihen von Jahren,
Ward – was merkt nicht Liebe? – zuerst euch Liebenden sichtbar,
Dann als Weg für die Stimme gewählt, und in leisem Geflüster
Pflegten verstohlen hindurch zu gehn liebkosende Worte.
Oft, wenn sie standen davor, hier Thisbe, Pyramus drüben,
Und jedwedes den Hauch auffing von des anderen Munde,
Sprachen sie: »Neidische Wand, was bist du der Liebenden Hemmnis?
Wieviel hätt' es bedurft, daß ganz du uns ließest vereint sein
Oder, wenn dieses zuviel, uns Raum doch gäbest zum Küssen!
Doch nicht weigern wir Dank. Dir sind wir mit Freuden erkenntlich,
Daß zu befreundetem Ohr Durchgang du gewährest den Worten.«
Wenn von einander getrennt sie solches vergeblich geredet,
Sagten sie gegen die Nacht Lebwohl und gaben ein jedes
Küsse der scheidenden Wand, die nicht hinüber gelangten.[109]
Früh nun hatte verscheucht die nächtlichen Leuchten Aurora,
Und das betauete Gras mit Strahlen die Sonne getrocknet,
Als der gewöhnliche Ort sie vereint. Mit leisem Geflüster
Klagen sie lang und beschließen sodann die Hüter zu täuschen
Mitten in schweigender Nacht und sacht aus der Thüre zu schleichen,
Wenn sie entkommen dem Haus, die Gebäude der Stadt zu verlassen,
Dann, daß draußen sie nicht fehlgingen im weiten Gefilde,
Beide zu kommen zum Grabe des Ninus und sich zu verbergen
Unter dem schattigen Baum. Dort ragte beladen mit weißen
Früchten ein Maulbeerbaum ganz nahe bei kühlendem Borne.
So ist bestimmt, und das Licht, das langsam schien zu entweichen,
Sinkt in die Wogen hinab, und die Nacht steigt auf aus den Wogen.
Sacht dreht Thisbe die Thür in der Angel und schlüpft in dem Dunkel
Leise hinaus, von keinem bemerkt, und verhüllet das Antlitz
Langt bei dem Hügel sie an und setzt an dem Baume sich nieder.
Liebe machte sie stark und beherzt. Da nahet ein Löwe
Frisch von dem Morde der Rinder befleckt den schäumenden Rachen,
Daß er sich lösche den Durst im nahen Gewässer der Quelle.
Diesen gewahrte von fern im Mondschein Babylons Tochter
Thisbe und floh mit ängstlichem Fuß zur finsteren Höhle;
Aber sie ließ auf der Flucht das Gewand entfallen dem Rücken.
Als mit reichlichem Tranke der grimmige Leu sich gesättigt,
Sieht er, während zum Wald er zurückkehrt, ohne die Jungfrau
Liegen das dünne Gewand und zerfetzt es mit blutigem Maule.
Später entschritten dem Haus nimmt wahr in dem lockeren Sand
Sichere Spuren des Tiers und erblaßt im ganzen Gesichte
Pyramus. Wie er das Kleid auch findet vom Blute gerötet,
Spricht er: »Dieselbige Nacht wird Tod zwei Liebenden bringen;
Ach, und die würdigste war doch sie vieljährigen Lebens!
Ich nur trage die Schuld; ich habe dich, Ärmste, gemordet,
Der ich kommen dich hieß bei Nacht an grausige Stätte,[110]
Und als der Spätere kam. Reißt unseren Körper in Stücke,
Und mit dem grimmen Gebiß zehrt auf die verruchten Geweide,
All ihr Löwen zumal, die ihr haust hier unter dem Felsen!
Aber den Tod zu wünschen ist feig.« Und die Hülle der Thisbe
Hebt er vom Boden und nimmt sie mit in den Schatten des Baumes.
Wie dem bekannten Gewand er Thränen gegeben und Küsse,
Spricht er: »Empfange denn nun auch unseres Blutes Beströmung«;
Und er versenkt in die Weichen den Stahl, mit dem er gegürtet;
Rasch dann zieht er ihn sterbend heraus aus der blutenden Wunde.
Hochauf spritzte das Blut, wie er rücklings lag auf dem Boden,
Ähnlicher Art, wie wenn die beschädigte bleierne Röhre
Aufplatzt und mit Gewalt weithin feinstrahliges Wasser
Schleudert aus zischendem Loch und die Luft wegdrängt mit dem Schusse.
Von dem bespritzenden Blut gehn über die Früchte des Baumes
Plötzlich in schwarze Gestalt, und die Wurzel vom Blute befeuchtet
Tränkt sie mit punischem Saft und färbt die hangenden Beeren.
Sieh, da kehrt noch bang, um nicht den Geliebten zu täuschen,
Thisbe zurück und sucht mit Augen und Herzen den Jüngling.[111]
Ihm, wie großer Gefahr sie entging, zu erzählen verlangend.
Während den Ort sie erkennt und am Baum die gesehene Bildung,
Macht sie die Farbe der Frucht doch irr: ob dieser es wäre,
Stutzte sie. Zweifelnd im Sinn sah zuckende Glieder sie plötzlich
Schlagen den blutigen Grund, und sie wich mit dem Schritt, und im Antlitz
Wurde sie bleicher als Bux und schauderte ähnlich dem Meere,
Welches erbebt, wenn leicht hinstreift an dem Spiegel ein Lufthauch.
Aber, sobald sie erkannt nach kurzem Verzug den Geliebten,
Schlägt sie mit hallendem Streiche die schuldlos leidenden Arme,
Rauft sich das Haar und umschlingt den teueren Leib, und die Wunde
Füllt mit Thränen sie an und mischt mit dem Blute der Zähren
Heißen Erguß und bedeckt mit Küssen das eisige Antlitz.
»Pyramus – jammert sie laut – was raubte dich mir für ein Schicksal?
Pyramus, rede zu mir! Sieh, deine geliebteste Thisbe
Nennet dich. Höre mich doch und erhebe das liegende Antlitz!«
Als sie Thisbe gesagt, schlug wieder die brechenden Augen
Pyramus auf und schloß, wie er Thisbe geschaut, sie für immer.
Jetzo gewahrt sie ihr eignes Gewand und die elfene Scheide
Ohne das Schwert. »Dein Arm, Unglücklicher – ruft sie – und Liebe
Haben den Tod dir gebracht. Auch mir ist der Arm zu dem Einen
Stark: auch mir wird Kraft zu Wunden verleihen die Liebe.
Ja, dir folg' ich im Tod; dann heiß' ich deines Verderbens
Grund und Begleiterin auch, und den allein mir entreißen
Konnte der bittere Tod, soll Tod auch nicht mir entreißen.
Um dies einzige nur seid noch von uns beiden gebeten,
O von mir und von ihm ihr viel unglücklichen Väter:
Uns, die entschlossene Lieb' in der Stunde des Todes vereinte,
Uns mißgönnet es nicht, beisammen zu ruhen im Grabe.
Doch du Baum, der du jetzo die klagliche Leiche des einen
Deckst mit deinem Gezweig, bald deckst von zweien die Leichen:[112]
Wahre die Zeichen der That und behalte für immer der Trauer
Ziemende dunkele Frucht als Mal zwiefältigen Mordes.«
Sprach's, und unter die Brust sich stemmend die Spitze des Schwertes,
Stürzte sie sich in den Stahl, der noch von dem Morde gewärmt war.
Aber es rührt' ihr Wunsch die Götter und rührte die Eltern.
»Denn, wenn ganz sie gereift, ist schwarz an den Beeren die Farbe,
Und was die Flammen verschont, das ruht in gemeinsamer Urne.«
Weitere bekannte Passagen laut Wikipedia:
Die Weltentstehung, die Weltzeitalter, Deukalion und Pyrrha (Sintflut), Pyramus und Thisbe, die lykischen Bauern, Daedalus und Ikarus und Perdix, Philemon und Baucis, Battus, Narziss und Echo, Orpheus und Eurydike, Apoll und Daphne, Phaeton, Niobe, Iphis und Ianthe, König Midas mit dem Musikwettstreit zwischen Pan und Apollo, Pygmalion, Jupiters Affären mit schönen Frauen (vor allem Europa, Io, Kallisto, Leda und Leto/Latona), die Dioskuren (Castor und Pollux), Perseus undAndromeda, Iason und Medea, Pythagoras, Caesar und Augustus.
sieh auch:
Schöpfung und Weltzeitalter (lateinisch und deutsch)
(„Metamorphosen (Ovid)“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 8. Januar 2014, 07:42 UTC. URL:http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Metamorphosen_(Ovid)&oldid=126237339 (Abgerufen: 1. April 2014, 10:03 UTC)
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