Dies Märchen von Peter Rühmkorf habe ich nicht gelesen. Es ist mir erzählt worden - Am Telefon. Und ich möchte es weiter erzählen für Sie zum Weitererzählen.
Ein grämlicher Diktator, der wie Platons Philosophenkönige die Dichter nicht mochte, beschloss, sie in seinem Reich verschwinden zu lassen, indem er ihnen Papier - das überholteste aller Medien - gab, auf dem sie die Geschichten niederschreiben sollten, die aus ihnen hervorbrachen. So wäre gesichert, dass sie sich nicht weiter verbreiteten.
Nun begab es sich aber, dass einer von ihnen, der an jenem Morgen wohl besonders verschlossen und wenig erzählfreudig ausgesehen hatte, nur zwei Blatt Papier erhielt. Er fing an zu schreiben, und am Ende des zweiten Blattes war seine Geschichte noch nicht zuende. So ging er auf den Markt, las den Anfang vor und erzählte sie weiter. Wie er im besten Erzählen war, kam die Polizei und löste die Versammlung auf. Da zog er weiter in den nächsten Ort, um sie zuende zu erzählen, und die, die das Ende hören wollten, zogen mit ihm. Wieder kam die Polizei, und wieder musste er weiterziehen. Inzwischen war die Zahl derer, die ihm folgten, so groß geworden und ihr Gesichtsausdruck so interessiert, dass er richtig Spaß bekam am Erzählen, und seine Geschichte, die er doch nur zum Ende hatte bringen wollen, spann sich fort. So zog er von Ort zu Ort, die Zahl der ihm Folgenden nahm zu (manche meinen, es seien sogar schon follower darunter gewesen), bis er schließlich zum Regierungssitz des Diktators kam.
Groß war die Menge, die ihm folgte, noch größer die Menge derer, die durch die Menge seiner Zuhörerschaft neugierig geworden, ihn auch hören wollten.
(Fortsetzung folgt)
Alina Bronsky: Pi mal Daumen (2024) – gelesen
vor 15 Stunden
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