23 Oktober 2011

Mörike: Der alte Turmhahn

Zu Cleversulzbach im Unterland
Hundertunddreizehn Jahr ich stand,
Auf dem Kirchenturn ein guter Hahn,
Als ein Zierat und Wetterfahn.
In Sturm und Wind und Regennacht
Hab ich allzeit das Dorf bewacht.
Manch falber Blitz hat mich gestreift,
Der Frost mein' roten Kamm bereift,
Auch manchen lieben Sommertag,
Da man gern Schatten haben mag,
Hat mir die Sonne unverwandt
Auf meinen goldigen Leib gebrannt.
So ward ich schwarz für Alter ganz,
Und weg ist aller Glitz und Glanz.
Da haben sie mich denn zuletzt
Veracht't und schmählich abgesetzt.
Meinthalb! So ist der Welt ihr Lauf,
Jetzt tun sie einen andern 'nauf.
Stolzier, prachtier und dreh dich nur!
Dir macht der Wind noch andre Cour.

Im Unterschied zum den bekannteren Idyllen, allen voran Goethes „Hermann und Dorothea“, aber auch seiner eigenen Idylle vom Bodensee, die in Huldigung an ihre griechische Herkunft in klassischem Versmaß, im Hexameter, daher kommen, um so dem meist bescheideneren Gegenstand durch den Anklang an die homerischen Epen eine besondere Weihe zu geben, kleidet Mörike seinen alten Turmhahn in schlichte etwas unregelmäßig gebaute vierhebige, meist jambische Verse, die durch Reimpaare miteinander verbunden sind.
Wenn es nicht so viele typisch schwäbische Ortsnamen gäbe, so hätte Cleversulzbach vor anderen den Anspruch, sich besonders schwäbisch und unheroisch idyllisch ländlich zu geben, zumal darin, dass der Name nun so gar nicht in das im ganzen doch recht jambische Versmaß passt.
Schon mit diesem Namen begibt sich das Gedicht höheren Anspruchs. Es kann kein Nationalgedicht und auch kein klassisches mehr werden. Es verzichtet auf allen "Glitz und Glanz" und findet sich wie der Turmhahn damit ab, dass andere zur Schau gestellt werden. So ganz ohne Selbstgefühl und Kritik an den neuen Zeitläuften sind Gedicht und Hahn freilich nicht: "Stolzier, prachtier und dreh dich nur! / Dir macht der Wind noch andre Cour."


Ade, o Tal, du Berg und Tal!
Rebhügel, Wälder allzumal!
Herzlieber Turn und Kirchendach,
Kirchhof und Steglein übern Bach!
Du Brunnen, dahin spat und früh
Öchslein springen, Schaf' und Küh,
Hans hinterdrein kommt mit dem Stecken,
Und Bastes Evlein auf dem Schecken!
– Ihr Störch und Schwalben, grobe Spatzen,
Euch soll ich nimmer hören schwatzen!
Lieb deucht mir jedes Drecklein itzt,
Damit ihr ehrlich mich beschmitzt.
Ade, Hochwürden, Ihr Herr Pfarr,
Schulmeister auch, du armer Narr!
Aus ist, was mich gefreut so lang,
Geläut und Orgel, Sang und Klang.


Von meiner Höh so sang ich dort,
Und hätt noch lang gesungen fort,
Da kam so ein krummer Teufelshöcker,
Ich schätz, es war der Schieferdecker,
Packt mich, kriegt nach manch hartem Stoß
Mich richtig von der Stange los.
Mein alt preßhafter Leib schier brach,
Da er mit mir fuhr ab dem Dach
Und bei den Glocken schnurrt hinein;
Die glotzten sehr verwundert drein,
Regt' ihnen doch weiter nicht den Mut,
Dachten eben, wir hangen gut.

Die Idylle, die Verklärung der ländlichen Welt beginnt. Wehmut klingt an. Doch die "Öchslein springen" (gemahnt den Heineliebhaber an "Jenseit erheben sich freundlich in lustiger bunter Gestalt / Lusthäuser, Gärten und Menschen und Ochsen und Wiesen und Wald, wo die Ochsen ganz gewiss ironisch eingesetzt sind) und die Verklärung ironisiert sich selbst "Lieb deucht mir jedes Drecklein itzt, / Damit ihr ehrlich mich beschmitzt." Vogeldreck kommt hier verniedlicht und verschmitzt daher.
Und jetzt die Schilderung des Endes der 113-jährigen Schau vom Turm und die Verbannung zum Gerümpel:
Empörung spricht aus den Versen, der Täter wird als höllisch charakterisiert: "Teufelshöcker". Und doch, der folgende Reim "Schieferdecker" banalisiert wieder, was vielleicht ein wenig Pathos der Vernichtung hätte ausstrahlen können. ("Höcker" ist freilich auch nicht gerade ein besonders satanisches Attribut.)
Wenn dann die Zeugen des Geschehens, die Glocken - man bedenke, welchen Rang ihnen Schiller in seinem Gedichte gab - anfangen zu "glotzen", wundert man sich nicht, dass sich die Szene schon bald mit einem "wir hangen gut" beruhigt.

Was steht dem Turmhahn bevor, eingeschmolzen soll er werden wie Glocken in Kriegszeiten. Doch ein Pfarrer rettet ihn und lässt ihn in seine Stube bringen. Wo kommt er da unter?


Ein alter Ofen aber stand
In der Ecke linker Hand.
Recht als ein Turn tät er sich strecken
Mit seinem Gipfel bis zur Decken,
Mit Säulwerk, Blumwerk, kraus und spitz –
O anmutsvoller Ruhesitz!
Zuöberst auf dem kleinen Kranz
Der Schmied mich auf ein Stänglein pflanzt'.

Betrachtet mir das Werk genau!
Mir deucht's ein ganzer Münsterbau;
Mit Schildereien wohl geziert,
Mit Reimen christlich ausstaffiert.
Davon vernahm ich manches Wort,
Dieweil der Ofen ein guter Hort
Für Kind und Kegel und alte Leut,
Zu plaudern, wann es wind't und schneit.

Der Turmhahn ist's zufrieden. Er sieht sich wieder auf der Spitze einer Kirche stehen, diesmal sogar einer besonders bedeutsamen, eines Münsters.
Weiterlesen kann man das Ganze bei Zeno.org. Man bekommt dabei sogar Gelegenheit, dem Pfarrer bei der Verfertigung der Predigt zuzusehen, und - in der kalten Jahreszeit besonders erfreulich - sich dran zu erfreuen, dass man sicher zu Hause sitzt.
Denn Ratten kommen und fressen den Bischof, Belsazars Hohn wird gerächt. Doch zwischen Sara, Abrahams Frau, die nicht glauben will, dass sie schwanger werden wird, und Gott geht es schon wieder idyllisch zu. Sie wird für ihren leicht verständlichen Unglauben nicht gestraft. 

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