01 Februar 2012

Aus einer kleinen Stadt

Diesem ersten Besuch des Feindes folgten andere, deutsche Bundestruppen des Kaisers, Franzosen und Italiener; die Deutschen aber roher und zügelloser als die Fremden. Dennoch hielten sie im ganzen in der Stadt so leidliche Manneszucht, daß die Bürger sich verwunderten und erzählten, es sei strenger Befehl des Kaisers, die Städte zu schonen. Jämmerlich aber waren die Botschaften, welche von den Dörfern kamen. Dort hausten die Feinde ganz unmenschlich, alle Gewalttaten und Greuel, welche dem zuchtlosen Sieger möglich sind, wurden begangen. Und wenn der Doktor über Land fuhr, oft angehalten und in eigener Gefahr, hörte er Klagen, die ihm das Herz zerrissen, und sah, was ihn entsetzte, geleerte Höfe, verdorbenen Hausrat, gemißhandelte Frauen und Männer, die an Schlägen und Wunden elend darniederlagen. (Die Verlobung, S.1209)
So schreibt Gustav Freytag am Anfang von  Aus einer kleinen Stadt, einem Teilroman seines Romanzyklus "Die Ahnen" (veröffentlicht 1880).  Er schidert damit die Situation in Schlesien nach der von Preußen verlorenen Schlacht von Jena und Auerstedt. Weiter heißt es da:
Aus der Hauptstadt aber kamen immer neue Erzählungen von dem Übermute der Sieger, den Erpressungen der Befehlshaber; der eine hatte alles Silbergeschirr aus dem Laden eines Goldschmieds für sich requiriert, der andere brauchte täglich ein Faß Wein, sich darin zu baden; die königlichen Offizianten wurden mit kaltem Hohn wie Bediente behandelt, vornehme Gutsbesitzer standen demütig harrend im Vorzimmer der Fremden und erbaten als Gunst, ihnen Feste veranstalten zu dürfen. Von dem König aber und von dem Heere, die weit entfernt im äußersten Norden lagerten, drang selten eine Kunde in das Land.
Viele gaben die Hoffnung auf, daß das alte Wesen jemals wiederkehren werde, und nicht wenige freuten sich darüber. Mancher, den die schlechte Zeit wundgedrückt hatte, dachte, daß es nützlicher sei, den Sieger zum Freunde und Herrn zu haben, als den schweren Druck länger zu ertragen.
Denn das meiste, was der Bürger bis dahin mit scheuer Ehrfurcht betrachtet, hatte sich verächtlich gezeigt. Streng waren die Kleinen bevormundet worden, jetzt waren die höchsten Behörden, die ersten Offiziere in ihrer hohlen Eitelkeit und in der Erbärmlichkeit ihres Charakters erwiesen. Darüber klagte das warmherzige Volk mit Bitterkeit und die Schlechten mit hämischer Freude.
 "Bilde, Künstler, rede nicht!", könnte man ihm entgegenhalten, wenn man damit Fritz Reuters früherer Darstellung der Franzosentid (1859) vergleicht, auch wenn man ihm zugute halten muss, dass er auch einzelne Situationen szenisch vor Augen führt, wie hier:

»Es war eine schwere Zeit«, antwortete der Geistliche, welcher kränklich und gebeugt vor ihm saß, »und ich besorge, die Prüfungen sind noch nicht zu Ende. Es ist uns im vorigen Herbst und Winter übel zugesetzt worden. Zuerst kamen kleine Kommandos, sie nahmen uns das Vieh aus den Ställen, kaum daß den Frauen gelang, die letzte Milchkuh zu verstecken; bis endlich an einem Sonnabend, [1215] da ich gerade memorierte, das Unglück hereinbrach.« Er hielt inne und sah den Doktor unruhig an. »Wir sind Ihnen bereits Dank schuldig, und Ihr Besuch erscheint mir wie eine Fügung des Schicksals; ich weiß, daß meine Henriette großes Vertrauen zu Ihnen hat, und es könnte sein, daß wir bald einmal Ihre Hilfe für Sie erbitten müssen.« »Ist sie krank?« fuhr der Doktor auf.
»Ich fürchte, obgleich sie im Hause umhergeht wie sonst.« Er hielt wieder inne. »Dem Arzte soll man mit Vertrauen entgegenkommen«, fuhr er, sich selbst ermutigend, fort, »und ich will Ihnen alles erzählen, wovon wir sonst ungern reden.« An jenem Sonnabend war der Hof im Augenblick durch wilde Gestalten, durch Pferde und schreiende Soldaten gefüllt; sie drangen in die Stube mit wütenden Gesichtern und rohen Flüchen; der ganze Haufe war betrunken, leider waren es Deutsche. Sie hielten mir Pistolen an die Schläfen, drehten das Tuch um meinen Hals, um mich zu ersticken, und forderten das Geld und Silberzeug.
Während meine Frau zitternd in der Kammer herbeisuchte, was sie begehrten, hielt mich die Tochter fest umschlungen, um meinen Leib vor den Schlägen der Bösewichter zu schützen. Aber zwei, die Offiziersepauletten trugen, rissen sie von meinem Herzen und wollten sie mit rohen Liebkosungen zur Stube hinausziehen. Da hörte ich in halber Ohnmacht, wie unsere alte Magd, die an der Tür auf den Knien lag, jemanden anschrie: »Herr, rettet unser junges Fräulein!« In dem Augenblick sprang ein junger Offizier über die Schwelle, ein schöner Mann, wie vom Himmel kam er. Er sah sich in der Stube um und schlug den Bösewichtern, welche mich quälten, die Pistolen zur Seite, und wie mein Kind, welches gebrochen auf den Knien lag, von den zwei Wüterichen fortgeschleift wurde, fuhr er auf diese zu und gebot ihnen mit flammendem Blick: ›Lassen Sie das Mädchen los.‹ Als die beiden sich unter Flüchen weigerten, packte er den Frechsten bei der Brust, warf ihn zurück und rief: ›Wagt es, ihr Hunde, die Braut eines französischen Offiziers anzurühren.‹ ›Braut?‹ schrien die andern, ›Lügner! Schlagt den französischen Windbeutel nieder.‹ Der Franzose zog seinen Säbel heraus und sagte jetzt ganz ruhig: ›Ich ersuche alle Anwesenden, Zeugen meiner Verlobung zu sein.‹ Er beugte sich zu meiner Tochter herab, welche im Schoß der Mutter auf dem Boden lag, zog ihr den Ring vom Finger, der ein Geschenk ihrer Pate war, und steckte ihr einen andern an, den er an der Hand trug. ›Herr Pfarrer, so verlobe ich mich mit Ihrer Tochter‹, sagte er, und gleich darauf fuhr er die beiden Bösewichter an: ›Hinaus.‹ (S.1214-1215)

Man merkt daran, was man an Reuters lebendiger Darstellung hat.
Diese "Verlobungsszene" hat freilich bei Freytag noch eine wichtige Funktion für die Komposition des Gesamtromans.

"Als sie zwischen den Getreidefeldern heimkehrte, lief die Wachtel im Korn neben ihr dahin und ließ ihren Ruf erschallen. Lange hatte die Jungfrau der Hoffnung entsagt und in herber Trauer tröstende Stimmen, die leise an ihr Ohr klangen, weggescheucht; heut hörte sie auf die Sängerin, welche sich immer verbirgt und aus dem Versteck Günstiges kündet." (Freytag: Aus einer kleinen Stadt. Die Begegnung, S.1260)
Hier hat Henriette Hoffnung, Hoffnung auf die Auflösung der merkwürdigen "Verlobung". Wenn es kein Kitsch sein sollte, so wäre doch der Kitsch nicht weit entfernt.

Freytag hat selbst die größte Schwierigkeit bei seinem Familienroman über die Jahrhunderte hinweg in der neuesten Zeit gesehen. Er schrieb dazu in seinen Lebenserinnerungen:
Das Bedenkliche der Arbeit lag nicht vorzugsweise in dem Zurückgehen auf frühe Vergangenheit, wie wohl der freundliche Leser annimmt, sondern in dem Fortführen bis zur Gegenwart.
Für die alten Zeiten ist durch die Vergangenheit selbst der Stoff episch zugerichtet. Es ist leicht, das Schicksal eines Helden in Weltbegebenheiten einzuflechten und ihn zum Teilnehmer an großen Ereignissen zu machen. Je näher die Erzählungen der Gegenwart kommen, desto mehr engt das Privatleben den Horizont und die Tätigkeit der handelnden Personen ein. Die geschichtliche Kenntnis der Leser verstattet den frei erfundenen Gestalten nur eine untergeordnete Teilnahme an Ereignissen, welche eine historische Würde und Größe haben, und eine Erzählung, die in großen epischen Linien angelegt war, kommt, bis zur Gegenwart fortgeführt, in Gefahr, als kleine Novelle zu verlaufen. (Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, S.674

Ein Vorbild für Freytags Schilderung der "kleinen Stadt" war seine Vaterstadt Kreuzburg. Über seine persönlichen Erlebnisse in Kreuzburg berichtet er in seinen Lebenserinnerungen.

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