Nach dem Bericht des Generalstabes wurde nachmittags ein Uhr in Herrenhausen der Beschluß gefaßt, die Armee bei Göttingen zu sammeln, während die Muthigern eine Zusammenziehung bei Hannover wünschten. Der höchste Kriegsherr entschied für Göttingen, weil er hoffte, von dort Anschluß an hessische und bairische Truppen gewinnen zu können. Die Truppen selbst, welche in Brigaden bei Verden, Harburg, Burgdorf und Liebenau zusammengezogen wurden, befanden sich meistens auf dem Marsche nach dem Norden, als sie die Contreordre bekamen nach Göttingen. In der Residenz liefen die nicht in den Kasernen einquartierten Soldaten nachmittags wie kriegstoll in den Straßen herum, um die kleinen Montirungsstücke aus den Quartieren zu holen, vom Liebchen Abschied zu nehmen, oder von Aeltern, Freunden, Verwandten. Offiziere jagten zu Pferde, in Equipagen und Droschken durch die Straßen, die Zeughäuser spien Kanonen, Munitionswagen aus, die nebst Train- und andern Wagen vor dem Bahnhofe aufgestellt und eingeladen wurden. Es war in alledem wenig Geordnetes, man sah die Hast und Uebereilung an allen Ecken herausgucken, das Unfertige, der Mangel an Uebung, beim Aufladen der Kanonen z. B., fiel selbst dem Laien auf. Auf dem Bahnhofsplatze standen Tausend von Menschen, um den Abzug der ersten Truppen eines Bataillons des Garderegiments anzusehen, Bürger, Frauenzimmer aller Art, Beamte, Mitglieder Erster und Zweiter Kammer. Niemand wußte eigentlich, was da werden sollte. Offiziere eilten nach dem Bahnhofe und wieder zurück; wurde einer derselben von seinem nächsten civilistischen Freunde angerufen, um Aufklärung gebeten, so machte er die Zeichen der höchsten Eile und rief etwa: »Nach Kassel!« oder »Nach Koburg!« Vor dem Abgeordnetenhause nach der Seite der Osterstraße standen schwere Packwagen, auf welche aus der Generalkasse mächtige Geldfässer aufgeladen wurden, die der Armee nach dem Süden folgen sollten. Das war kein Rückzug mehr, das war Flucht, übereilte, kopflose Flucht! [...]
Magistrat und Bürgervorsteher versammelten sich noch um elf Uhr abends zu einer Berathung, und sendeten eine gemeinsame Deputation nach Herrenhausen, den König zu bitten, in seiner Residenz zu bleiben und das preußische Ultimatum anzunehmen, da die Lage des Landes dies fordere. Georg, in Galauniform, erwiderte darauf die bekannten Worte, daß er als König, Welf und Christ auf die preußischen Vorschläge nicht eingehen könne, da sie einen der Mediatisirung gleichen Erfolg haben würden. [...]
Es ist nicht Pflicht dieser Erzählung, die Armee auf ihrem ermüdenden Marsche zu begleiten; wer sich der Hitze, namentlich am 22. und 23. Juni erinnert, des gebotenen langgezogenen Colonnenmarsches auf kalkstaubigen Wegen gedenkt (die Marschordre war abermals geändert, und der Flankenmarsch auf Wanfried, Treffurt, Eschwege fand nicht statt, weil man jeder zugebrachten Nachricht Glauben schenkte), der wird begreiflich finden, daß kaum Wagen zu beschaffen waren, die Zahl der abgelegten Tornister nachzutransportiren und die Maroden aufzunehmen. Man stieß am 22. und 23. auf keinen Feind, erhielt aber eine telegraphische Depesche aus dem Hauptquartier Moltke's, die Waffen zu strecken, da man umzingelt sei.
Lieutenant Ahlefeld war mit Königin-Husaren an diesem Tage in Eisenach gewesen und meldete, daß man dort keine Truppen getroffen; von Gotha her wurde das Gleiche berichtet, und es war im Hauptquartier beschlossen, am folgenden Tage Gotha zu nehmen. Vom 24. bis zum 27. Juni schwebt ein gewisses Dunkel über der Sache; nur so viel steht fest, daß niemand wußte, wer zu entscheiden habe, und bei solcher Leitung der blinde König im Kriegsrath ein entscheidendes Wort mitsprach; von dem, was nothwendig und möglich war, nämlich über Eisenach nach dem Meiningenschen vorzudringen, nichts geschah, sondern die Zeit mit unnützen Verhandlungen in Gotha vertrödelt, die Truppen durch Hin- und Hermärsche ermüdet wurden. Hat man sich durch Preußen oder Gothaer dupiren lassen, so ist das eigene Schuld.
Man hatte Waffenstillstand geschlossen. Als sich die Preußen so stark sahen, einen Angriff der Hannoveraner auf Gotha oder Eisenach mit Aussicht auf Erfolg abwehren zu können, kündigte der General von Fließ den Waffenstillstand und erklärte, in zwei Stunden vorrücken zu wollen. Noch einmal, Mittag, den 26. Juni, ließ Graf Bismarck dem Könige ein Bündniß mit Preußen unter den Bedingungen vom 15. Juni anbieten, durch Oberst von Döring. Der König schwankte sichtbarlich, sein böser Dämon, Graf Schlottheim, stand ihm aber zur Seite und flüsterte von Heinrich dem Löwen. Georg wies das Anerbieten zurück und befahl seinem General, dem Vorrücken Widerstand entgegenzusetzen.
Die Offensive gab man auf. Die Soldaten waren schon drei Nächte nicht zur Ruhe gekommen und gleichzeitig fehlten die Lebensmittel. Hinter der Unstrut und hinter den Ortschaften Thamsbrück, Merxleben, Nägelstedt nahm man eine Defensivstellung, die erste und zweite Brigade hinter Merxleben, die dritte südlich von Thamsbrück bei der Untermühle, die vierte hinter Nägelstedt.
Der König verließ bald nach Mitternacht Langensalza und brachte die Zeit bis zum Morgen nördlich von Merxleben im freien Felde zu; dann, als die Truppen abzukochen begannen, nahm derselbe Quartier in Thamsbrück und versuchte sich durch einige Stunden Schlaf zu stärken.
Aber der Schlaf wollte nicht kommen, er ließ sich nicht befehlen, der Augenblick der Entscheidung nahte und machte das Herz des Königs stärker klopfen.
Sein Selbstvertrauen verhieß ihm Sieg, er wußte, daß er auf die Tapferkeit seiner Truppen bauen konnte, aber er mußte sich sagen, daß nicht hier, nahe der Grenze seines Landes, in thüringischen Landen, sein Schicksal und das seines Landes entschieden würde, sondern in weiter Ferne, vielleicht in den böhmischen Waldschluchten oder an den Ufern der Moldau und Elbe, oder, wie er hoffte, in der schlachtberühmten Ebene von Leipzig. Gestern konnte er noch unter den Bedingungen vom 15. Juni ein Bündniß mit Preußen und die Garantie seiner Länder erkaufen; heute konnte er das nicht mehr, er mußte siegen oder ruhmvoll untergehen.
Schon in Göttingen hatte sein Cabinetsrath ihm nur dürftig aus Zeitungen vorlesen können, in Langensalza fanden sich nur ältere preußische Blätter, die er haßte, man war im Hauptquartier über die Weltlage sehr schlecht unterrichtet. Die Oesterreich sich zuneigenden Offiziere behaupteten, Benedek sei nach Sachsen marschirt und rücke direct nach Berlin vor, wo eine Revolution in nächster Aussicht stehe. Der Stoß, den Prinz Albrecht von Oberschlesien aus beabsichtige, werde parirt werden, während das Gros der k. k. Armee nach der Spree rücke.
Die preußenfreundlichen Offiziere wollten wissen, daß die Preußen nicht allein ganz Sachsen innehätten, sondern über Zwickau hinaus durch die Hochwälder nach Böhmen eindrängen, und Benedek nur eine Defensivstellung einnähme.
Wir alle sind der Zeitungsnachrichten so gewöhnt, daß es jedem von uns wunderbar und beunruhigend vorkommt, wenn wir mehrere Tage ohne Zeitungsblätter uns behelfen müssen; noch mehr fühlte der König diesen Mangel. Im heiligenstädter Nachtquartier hatte er die letzte Nachricht von Hannover und Herrenhausen bekommen, seit Heiligenstadt hatte ihm auch Dr. Lex keine Zeitung mehr vorlesen können. Ob sich der Blinde überall eine Vorstellung von der Gegend machen konnte, die man Thüringerwald nennt, und von dem, was er Süden nannte? Wir bezweifeln das sehr. Man muß Student gewesen sein und jedes Dörfchen vom Inselberge an bis hinter Salzungen kennen, man muß den Rennstieg begangen haben und nach Ruhla hinuntergestiegen sein, um ein Bild vom Thüringerwalde zu haben. Wer mit der Bahn nach Meiningen und Koburg fährt, der hat eben keine Anschauung des Thüringerwaldes. Ob man sich im Generalstabe einen deutlichen Begriff davon machte, was man erreichte, wenn man bei Mechtersen oder Eisenach die Bahn überschritten hatte? Ob einer der Offiziere einmal von Eisenach nach Altenstein oder Liebenstein gegangen oder gefahren war? Fast sollte man daran zweifeln. Hannoverische Husaren hatten am 19. Juni die Division Beyer in Dassel einrücken sehen; die Bahn über Rottenburg, Bebra, Gerstungen konnte in wenig Stunden Truppen nach Eisenach werfen – die Division Goeben verstärkte Beyer. Als man den großen Zug nach Süden von Göttingen aus begann, waren die Preußen schon bei Northeim sichtbar geworden, und General Vogel von Falckenstein konnte denselben Weg nehmen, den Georg gezogen. Die Manteuffel'sche Division konnte auf Umwegen über Braunschweig, Magdeburg, Erfurt Truppen nach Gotha werfen, oder über Göttingen und Mühlhausen nachmarschiren. Dort stand das Corps des Generalmajors Fließ. Man war in der Falle, wenn nicht heute schon, so doch sicher morgen.
Als der König kaum in Thamsbrück Quartier genommen, erschollen von Hennigsleben her, wo am Morgen noch die Cambridge-Dragoner ihren Stand gehabt, südlich von Langensalza, die ersten preußischen Kanonenschüsse, und als die elfte Stunde gekommen war, sah Oberst von Strube sich genöthigt, Langensalza und den Jüdenhügel dem Feinde zu überlassen, und nun begannen von letzterm Punkte aus preußische Batterien gegen die drei auf dem Kirchberge von Merxleben postirten hannoverischen Batterien zu spielen, und eine dichte preußische Schützenkette entwickelte am rechten Ufer der Unstrut ein heftiges Gewehrfeuer auf die in und um Merxleben befindliche Brigade de Vaux, was man in Thamsbrück sehr deutlich vernahm. Georg erhielt von Zeit zu Zeit Nachricht aus dem Hauptquartier in Merxleben, aber viel zu dürftige für seine mit jedem Augenblick zunehmende Ungeduld; einer der Offiziere der Cambridge-Dragoner, von denen eine Schwadron dem Könige als persönliche Schutzwehr beigeordnet worden, war zwischen Thamsbrück und dem Hauptquartier beständig unterwegs. Der König wollte von seinem Generaladjutanten wissen, warum noch nicht zur Offensive übergangen würde; Victor Justus hatte auf dem Kalkberge eine Position eingenommen, welche nicht nur Merxleben übersehen ließ, sondern auch die Stellung der Preußen in und um Langensalza im Badewäldchen und auf dem Jüdenhügel, und berichtete von dort.
Als dem Könige gemeldet war, daß der Brigade Bülow Befehl gegeben sei, über die Unstrut zu marschiren und den Feind anzugreifen, erließ der König an Haus von Finkenstein den Befehl, sich der Brigade Bülow anzuschließen und ihm von Viertelstunde zu Viertelstunde Berichte zu senden. Es wurde jenem indeß nicht so leicht wie der Bülow'schen Infanterie, über die Unstrut zu kommen. Er war mit einem feinen Vollblut beritten und das Unstrutufer sehr abschüssig, beinahe funfzehn Fuß steil abfallend. Als er eine günstige Stelle zum Herunterkommen suchte, traf vom Jüdenhügel her eine Shrapnelkugel sein Pferd, tödtete dasselbe, er selbst fiel in die Unstrut, zerbrach den rechten Arm und wurde von den im Badewäldchen befindlichen Preußen gefangen genommen.
Während man hannoverischerseits schon gegen den Jüdenhügel vordrang, die Preußen aus dem Bade, Badewäldchen, Kallenberg's Mühle vertrieben hatte, drang eine feindliche Colonne bei der Untermühle von Thamsbrück vor und beunruhigte den König, der indeß von dort längst aufgebrochen war und sich zu der Stellung zurückgezogen hatte, welche bis dahin, mehr nordöstlich vom Orte, die Brigade Eggers eingenommen.
Bei dieser Affaire hatte sich Graf Schlottheim, um zu recognosciren, zu weit auf dem Wege vorgewagt, welcher auf den Kirchplatz in Thamsbrück führt. Die Kugel eines Koburgers traf ihn hier in die Brust und endete sein Leben, ein nutzloses, für König und Vaterland verderbliches. Seine Leiche ward erst am folgenden Tage in hohem Korne gefunden, sein Pferd wurde eine Beute des Feindes.
Nachmittags vier Uhr war Generalmajor von Fließ geschlagen und zog sich auf Gotha zurück. Um sechs Uhr zog Georg als Sieger in Langensalza ein und dictirte um sieben Uhr im Hoheitsgefühl und Siegestaumel den folgenden Erlaß an seine Armee:
»Hauptquartier Langensalza, den 28. Juni 1866.
Nachdem am gestrigen Tage (27. Juni) meine ruhmreiche Armee ein neues unverwelkliches Reis in den Lorberkranz geflochten, welcher ihre Fahnen schmückt, hat mir der commandirende General, Generallieutenant von Arentsschildt, und mit ihm die sämmtlichen Brigadiers auf ihre militärische Ehre und ihr Gewissen erklärt, daß meine sämmtlichen Truppen wegen der gehabten Anstrengungen und wegen der verschossenen Munition nicht mehr kampffähig seien, ja daß dieselben wegen der Erschöpfung ihrer Kräfte nicht mehr im Stande seien zu marschiren. Zu gleicher Zeit haben der Generallieutenant von Arentsschildt und sämmtliche Brigadiers mir erklärt, daß es unmöglich sei, Lebensmittel für die Truppen auf länger als einen Tag herbeizuschaffen. Da nun heute der commandirende Generallieutenant von Arentsschildt ferner die Anzeige gemacht hat: er habe sich überzeugt, daß von allen Seiten sehr bedeutende und meiner Armee bei weitem überlegene Truppenmassen heranrückten, so habe ich in landesväterlicher Sorge für meine in der Armee die Waffen tragenden Landeskinder es nicht verantworten zu können geglaubt, das Blut meiner treuen und tapfern Soldaten in einem Kampfe vergießen zu lassen, welcher nach der auf Ehre und Gewissen erklärten Ueberzeugung meiner Generale im gegenwärtigen Augenblicke ein völlig erfolgloser sein müßte. Ich habe deshalb den Generallieutenant von Arentsschildt beauftragt, eine militärische Capitulation abzuschließen, indem eine überwältigende Uebermacht sich gegenüberbefindet. Schwere Tage hat die unerforschte Zulassung Gottes wie über mich, mein Haus und mein Königreich, so auch über meine Armee verhängt; die Gerechtigkeit des Allmächtigen bleibt unsere Hoffnung, und mit Stolz kann jeder meiner Krieger auf die Tage des Unglücks zurückblicken; denn um so heller strahlt in ihnen die Ehre und der Ruhm der hannoverischen Waffen. Ich habe mit meinem theuern Sohn, dem Kronprinzen, bis zum letzten Augenblick das Los meiner Armee getheilt, und werde stets bezeugen und nie vergessen, daß sie des Ruhms der Vergangenheit sich auch in der Gegenwart werth gezeigt hat. Die Zukunft befehle ich voll gläubiger Zuversicht in die Hand des allmächtigen und gerechten Gottes
Georg V., Rex.«
Das war der letzte freudige Augenblick des armen blinden Mannes, den Selbstüberschätzung, Schmeichelei und Heuchelei zum Verderben führten. Am andern Tage mußte seine siegreiche Armee capituliren.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 9. Buch, 10. Kapitel
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