10 Oktober 2013
Der Königskaufmann und die Interessenfusion Seele - Geschäft Auch: Alle Wege zum Geist,gehen von der Seele aus, aber keiner führt zurück
Die Welt wurde damals von allerlei erschüttert, und wer gegen das Ende des Jahres neunzehnhundertdreizehn gute Nachrichten besaß, hatte das Bild eines kochenden Vulkans, wenn auch die von der friedlichen Arbeit ausgehende Suggestion, dieser könne niemals wieder ausbrechen, allgemein war. [...] Dr. Arnheim war von diesen Vorgängen ziemlich gut unterrichtet. Er erhielt chiffrierte Depeschen und von Zeit zu Zeit den Besuch eines seiner Beamten, der mit persönlichen Informationen aus der Zentrale kam, die Fenster seiner Hotelwohnung waren auch oft in Front erleuchtet, und ein einbildungskräftiger Beobachter hätte glauben können, hier nächtige eine zweite, eine Gegenregierung, eine moderne apokryphe Kampfanlage der wirtschaftlichen Diplomatie.
Übrigens vernachlässigte es Arnheim niemals, einen solchen Eindruck selbst hervorzurufen; denn ohne die Suggestionen der Äußerlichkeit ist der Mensch nur eine süße wässerige Frucht ohne Schale. Schon beim Frühstück, das er aus diesem Grunde nicht allein, sondern in dem allen zugänglichen Raum des Hotels einnahm, gab er mit der Regierungsgeübtheit des erfahrenen Herrschers und der höflich stillen Haltung des Mannes, der sich beobachtet weiß, die Tagesanordnungen seinem Sekretär, der sie stenographisch festhielt; keine von ihnen hätte genügt, um Arnheim Freude zu bereiten, aber indem sie den Platz in seinem Bewußtsein nicht nur untereinander teilten, sondern darin auch noch durch die Reize des Frühstücks eingeschränkt wurden, hoben sie sich in die Höhe. Wahrscheinlich braucht menschliche Begabung – und das war einer seiner Lieblingsgedanken – überhaupt eine gewisse Einengung, um sich entfalten zu können; der wirklich fruchtbare Streifen zwischen übermütiger Gedankenfreiheit und mutloser Gedankenflucht ist, wie jeder Kenner des Lebens weiß, überaus schmal. [...]
Außerdem war er aber auch noch davon überzeugt, daß es sehr darauf ankomme, wer einen Gedanken habe; denn man weiß, daß neue und bedeutende Gedanken selten einen einzigen Finder haben, und andererseits bringt das Gehirn, eines Menschen, der zu denken gewohnt ist, unaufhörlich Gedanken von verschiedenem Wert hervor: den Abschluß, die wirksame, erfolgreiche Form müssen Einfälle darum immer von außen erhalten, nicht nur aus dem Denken, sondern aus den ganzen Lebensumständen der Person. Eine Frage des Sekretärs, ein Blick auf einen Nebentisch, der Gruß eines Eintretenden, irgendetwas von dieser Art erinnerte Arnheim jedesmal im rechten Augenblick an die Notwendigkeit, aus sich eine eindrucksvolle Erscheinung zu machen, und diese Einheit der Erscheinung übertrug sich denn auch sogleich auf sein Denken. Er hatte diese Lebenserfahrung in die zu seinen Bedürfnissen passende Überzeugung gefaßt, daß der denkende Mensch immer zugleich auch ein handelnder sein müsse.
Trotz solcher Überzeugung maß er aber seiner augenblicklichen Tätigkeit keine sehr große Bedeutung bei; wenngleich er damit ein Ziel verfolgte, das unter Umständen überraschend lohnend sein konnte, fürchtete er, daß er seinem Aufenthalt Opfer an Zeit bringe, die nicht zu rechtfertigen seien. Er rief sich wiederholt die alte kühle Weisheit »Divide et impera« ins Gedächtnis: sie gilt von jedem Verkehr mit Menschen und Dingen und fordert eine gewisse Entwertung jeder einzelnen Beziehung durch die Gesamtheit aller, denn das Geheimnis der Stimmung, in der man erfolgreich handeln will, ist das gleiche wie das des Mannes, den viele Frauen lieben, während er keine ausschließlich bevorzugt. Doch nützte das nichts; sein Gedächtnis stellte ihm die Forderungen vor, welche die Welt einem zu großer Tätigkeit geborenen Mann auferlegt, er konnte sich aber, nach vielfach wiederholter Befragung seines Inneren, trotzdem nicht dem Ergebnis verschließen, daß er liebte. Und das war eine sonderbare Sache, denn ein Herz, das gegen fünfzig Jahre alt ist, ist ein zäher Muskel, der sich nicht mehr so einfach ausdehnen mag wie der eines Zwanzigjährigen in der Zeit der Liebesblüte, und es bereitete ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 86: Der Königskaufmann und die Interessenfusion Seele - Geschäft
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