Seine ersten Studien machte Albrecht Thaer auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt, aber er verfuhr dabei in so unregelmäßiger Art und Weise, daß er, um ihn selbst zu zitieren, »im sechzehnten Jahre französisch und englisch sprechen konnte, aber kein Wort lateinisch verstand«. Die Lehrer ließen es eben gehen. Endlich entdeckte er sich dem Rektor des Gymnasiums, nahm Privatstunden und holte in einem einzigen Jahre alles Versäumte so völlig nach, daß er, abermals ein Jahr später, imstande war, nach Göttingen zur Universität abzugehen.
Sein ganzes Wesen damals, im Gegensatz zu seinen reiferen Jahren, war genialisch und exzentrisch; er hatte etwas Wunderkindartiges an Gaben wie an Unarten. Mit großem Eifer wandte er sich der Medizin zu und schien namentlich bestimmt, in der Chirurgie Bedeutendes zu leisten. Er verweilte tagelang, das Seziermesser in der Hand, auf dem anatomischen Saal, sah aber[103] bei der ersten Operation, der er beiwohnte, daß er seltsamerweise wohl zum Anatomen am leblosen, aber nie und nimmer zum Chirurgen am lebendigen Organismus bestimmt sein könne, denn er fiel in Ohnmacht; – eine Erscheinung, die sich wiederholte, sooft er den Versuch machte, die angeborene Scheu zu überwinden. [...]
Den eigentlich studentischen Kreisen, namentlich seinen speziellen Fachgenossen wurde er immer fremder und nur Bücher, philosophische Studien und philosophische Freunde schienen ihm eines vertrauteren Umgangs wert. Unter den letzteren nahm Johann Anton Leisewitz, der Dichter des »Julius von Tarent«, den ersten Rang ein. Thaer selbst schreibt darüber: »Unsere Seelen waren in beständigem Einklang, fast hatten wir nur ein Herz.« Ihre Freundschaft wurzelte, neben den Beziehungen des Herzens, in gleichen Interessen und Bestrebungen, und wiewohl Thaer, nach unbedeutenden ersten Versuchen, die noch in seine Schulzeit fielen, die dichterische Produktion nicht als sein eigentliches Feld erkannt hatte, so war er doch, neben philosophischem Scharfblick, mit so viel ästhetischer Fühlung ausgerüstet, daß er dem dichterisch-produktiven Freunde als Kritiker hoch willkommen war. Sie lebten drei Jahre mit- und nebeneinander; auch nachdem beide Göttingen verlassen (1774), bestand ihr Freundschaftsverhältnis fort, und die wenigen Briefe, die, aus einer gewiß sehr lebhaften Korrespondenz zwischen den beiden, noch jetzt existieren, geben Auskunft darüber, welchen Einfluß Leisewitz dem kritischen Freunde auf seine Arbeiten gestattete. Einer dieser aufbewahrten Briefe enthält eine sehr eingehende Kritik des »Julius von Tarent« und ein aufmerksames Verfolgen des berühmten Trauerspiels in seiner gegenwärtigen Gestalt zeigt zur Genüge, wie bereitwillig die wohlmotivierten Bemerkungen Thaers von dem Freunde und Dichter benutzt worden sind. [...]
Bald nach seiner Rückkehr nach Celle lernte er Philippine von Willich, eine Tochter des Vizepräsidenten am Oberappellationsgericht zu Celle, Georg Wilhelm von Willich, kennen und nachdem er das Glück gehabt hatte, sie von einer schweren Krankheit wieder herzustellen, erfolgte 1785 die Verlobung und im folgenden Jahre die Vermählung des jungen Paares. Thaer war damals Stadtphysikus und Hofmedikus, und genoß eines großen ärztlichen Ansehens.
Aber sein ärztliches Wirken genügte ihm nicht. Er hatte in seiner Dissertation die Heilkunst als das Herrlichste, Angenehmste, ja, innerhalb aller menschlichen Bestrebungen Nützlichste gepriesen; je mehr er jedoch fortschritt, desto zweifelhafter erschien ihm der Anspruch auf das Lob, das er gespendet, und desto mehr beschlich ihn die Vorstellung, daß eine andere, segensreichere Kunst da sein müsse, herrlicher, nützlicher, heilender, als die Heilkunst. Nach dieser Kunst begann sein Herz zu suchen. Er fand sie. Aber erst allmählich und von Stufe zu Stufe.
Als die schönste, segensreichste Heilkunst erschien ihm der Ackerbau. [...] Er wandte sich alsbald mit Vorliebe der Blumenzucht zu und bezeigte ein besonderes Geschick und eine glückliche Hand im Variieren von Nelken und Aurikeln. Es sprach sich hierin schon dieselbe Neigung für das »Prinzip der Kreuzung« aus, das er später, innerhalb der Tierwelt, so glänzend durchführte. [...] Aber wie ihm das Blumenbeet zu beschränkt geworden war, so wurde ihm jetzt der Garten, trotz seiner relativen Größe zu klein. Er kaufte deshalb in kurzer Zeit noch so viele Ländereien hinzu, daß alles zusammen eine zwar bescheidene, aber ziemlich anständige Wirtschaft ausmachen konnte. Diese Wirtschaft lag nur eine Viertelstunde vor dem Tore, zog sich am Allerfluß entlang und umfaßte ungefähr 110 Morgen unterm Pfluge und 18 Morgen natürliche Wiesen. [...]
Thaer begann die Anfänge einer rationellen Landwirtschaft in seinem Kopfe allmählich auszuarbeiten und fing mit der Aufstellung gewisser Probleme an. Das erste Problem, dessen Lösung er zustrebte, war folgendes:
die größte Masse zur tierischen Nahrung geeigneter Pflanzen auf einer bestimmten Fläche Landes zu gewinnen.
Das zweite nicht minder wichtige Problem bestand darin: die verschiedenen Fruchtkräfte jedes Bodens für die verschiedenen, dieser Fruchtkräfte bedürftigen Fruchtarten so viel als möglich und in einer der Regeneration des Absorbierten günstigen Wechselfolge zu benutzen. Also die Brache entbehrlich zu machen.
Die Lösung des ersten Problems fand er im Anbau der Futtergewächse, ganz besonders der Kartoffel, die Lösung des zweiten Problems in der seitdem siegreich durchgedrungenen »Lehre von der Fruchtfolge«. [...]
In einzelnen Kreisen, wenn auch nicht gerade in nächster Nähe von Celle, begann die kleine Thaersche Wirtschaft Aufmerksamkeit zu erregen, Besucher kamen, Briefe wurden ausgetauscht, Anregungen gegeben und empfangen. Es ist aber trotz alledem mindestens zweifelhaft, ob Thaer jemals aus seinem engsten Kreise herausgetreten und epochemachend für die Landwirtschaft geworden wäre, wenn sich nicht zu seiner praktischen Tätigkeit eine emsige Beschäftigung mit den Büchern, und als letzte Frucht praktischer Erfahrung und wissenschaftlichen Studiums ein literarisches Auftreten gesellt hätte.
Die deutsche landwirtschaftliche Literatur, die er in all ihren Erscheinungen kannte, hatte ihn im einzelnen angeregt und belehrt, im ganzen aber unbefriedigt gelassen. Dasselbe galt von den englischen landwirtschaftlichen Schriften, soweit er dieselben aus Übersetzungen kennengelernt hatte. Er schloß sich dem Spott derer an, die damals von einer »Anglomanie« zu sprechen begannen, und war – etwa Anfang der achtziger Jahre – der festen Überzeugung, daß auch aus England nichts zu holen sei und daß die deutsche Landwirtschaft sich selber helfen müsse.
Genau um diese Zeit war es, als ein Ungefähr ihm einige landwirtschaftliche Schriften im englischen Original zuführte. Wie war er freudig überrascht, darin die genauesten Beobachtungen, die sorgfältigsten Versuche, die lichtvollsten Verhandlungen und Forschungen zu finden! Das war ja genau, was ihm als Ziel einer rationellen Landwirtschaft vorgeschwebt hatte. Alles, wonach sein Streben ging, – die Engländer hatten es bereits. Seitdem studierte Thaer die englische Landwirtschaft mit solcher Aufmerksamkeit, daß die Engländer selbst ihm zugestanden: er kenne ihr Land, wie wenn er es jahrelang durchreist habe.[110]
Die Frucht dieser ernsten und anhaltenden Studien war sein berühmtes Werk, dessen erster Teil 1798 unter dem Titel erschien: »Einleitung zur Kenntniß der englischen Landwirthschaft und ihrer neueren praktischen und theoretischen Fortschritte, in Rücksicht auf Vervollkommnung deutscher Landwirthschaft für denkende Landwirthe und Cameralisten.«17 Der zweite Band folgte 1800 und 1801, der dritte Band 1804. In derselben Zeit, von 1799–1804 erschienen die »Annalen der Niedersächsischen Landwirthschaft«. Sechs Jahrgänge.
Das Aufsehen, das diese Bücher und Schriften machten, war ein ganz außerordentliches. Man begreift diesen Erfolg nur, wenn man im Auge behält, daß sich ganz Deutschland eben damals nach einem besseren Ackerbausystem sehnte. »Wie ein leitendes Gestirn erschienen diese Werke am Horizont, freudig begrüßt von der landwirtschaftlichen Welt.« Nicht nur in Schriften, sondern auch in den Salons der Residenzen und in den Wein- und Bierstuben der Marktstädte wurde mit Enthusiasmus dafür, mit Wut – denn auch an Gegnern fehlte es nicht – dagegen gestritten, oft von beiden Seiten gleich unverständig. Seine eigenen Erfolge, die von Jahr zu Jahr wuchsen, unterstützten sein Ansehn, so daß ihm ein großer hannöverscher Grundbesitzer schrieb: »Wenn ich diesen Abend einen Brief von Ihnen erhalte, daß ich meine Gebäude anstecken soll, so stehen sie vor Nacht schon in Flammen.« Alles verlangte seinen Rat, erbat seine oberste Leitung, so daß demselben Manne (dazu noch immer »Leibmedikus«), dessen eigenes Gutsareal sich auf kaum 130 Morgen belief, 100000 Morgen des verschiedensten Bodens derart zur Verfügung standen, daß er, in Ansehung der Bewirtschaftung, damit schalten und walten konnte, wie mit seinem Eigentum. Sein Buch aber gewährte ihm vor allem die Befriedigung: »das Nachdenken besserer Köpfe über Landwirtschaft geweckt und zu energischerer Tätigkeit angespornt zu haben.«
Im Jahre 1802 traten auch die Anfänge seiner »Landwirtschaftlichen Akademie« ins Leben. Diese Akademie erwuchs organisch zwanglos; sie machte sich von selbst und ging mehr aus[111] einem glücklichen Ungefähr, als aus einem festen Entschluß hervor, wiewohl Thaer in seinen Schriften bereits auf das Wünschenswerte eines landwirtschaftlichen Lehrinstituts hingewiesen und seine Ideen darüber geäußert hatte. Im genannten Jahre kamen mehrere junge Männer, darunter der später durch sein Buch »Der isolierte Staat« so berühmt gewordene Herr von Thünen nach Celle, um an Ort und Stelle die Methode und die Erfolge der Thaerschen Bestellungsart kennenzulernen. Sie blieben den ganzen Sommer über. Um diese jungen Leute nicht unbeschäftigt zu lassen, entschloß sich Thaer, ihnen Vorlesungen über Landwirtschaft zu halten und einigen Unterricht in der Naturkunde, Chemie und Botanik hinzuzufügen. Der Fleiß und Eifer, womit man ihm entgegenkam, übertrafen seine Erwartung, aus den zwanglosen Vorlesungen wurde ein »Institut«, das im kleinen bereits all die Züge der erst mehrere Jahre später ins Leben tretenden Mögliner Akademie besaß.
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Das Oderland. Das Oderbruch und seine Umgebungen. Möglin. Albrecht Daniel Thaer, S.103 - 111
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen