23 April 2015

Hesperus: Der vierte Pfingsttag: Der Brief des "Engels Giulia"

»Klotilde!
 Ich hülle meine errötenden Wangen in den Leichenschleier. Mein Geheimnis ruht in meinem Herzen verborgen und wird mit ihm unter den Leichenstein gelegt. Aber nach einem Jahre wird es aus dem zerfallenen Herzen dringen – o dann bleib' es ewig in deinem, Klotilde! – und ewig in deinem, Julius! – Julius, war nicht oft eine schweigende Gestalt um dich, die sich deinen Engel nannte? Legte sie nicht einmal, als die Totenglocke ein blühendes Mädchen einläutete, eine weiße Hyazinthe in deine Hand und sagte: ›Engel pflücken solche weiße Blumen‹? Nahm nicht einmal eine stumme Gestalt deine Hand und trocknete sich damit ihre Tränen ab und konnt' es nicht sagen, warum sie weine? Sagte nicht einmal eine leise Stimme: ›Lebe wohl, ich werde dir nicht mehr erscheinen, ich gehe in den Himmel zurück‹? Diese Gestalt war ich, o Julius; denn ich habe dich geliebt und bis in den Tod. Siehe! hier steh' ich am Ufer der zweiten Welt, aber ich schaue nicht hinüber[1080] in ihre unendlichen Gefilde, sondern ich kehre mein Angesicht noch sinkend nach dir zurück, nach dir, und mein Auge bricht an deinem Bilde. – Jetzo hab' ich dir alles gesagt. – Nun komm, stillender Tod, drücke langsam die weiße Hyazinthe nieder und teile bald das Herz auseinander, damit Julius darin die verschlossene Liebe sehe. – Ach wirst denn du eine Tote in deine Seele nehmen? Wirst du weinen, wenn du dieses lesen hörest? Ach wenn mein zugedeckter, eingesunkner Staub dich nicht mehr berühren kann, wird mein entfernter Geist von deinem geliebt werden? – Aber ich beschwöre dich, o Unvergeßlicher, geh an dem Tage, wo dir dieses Tränenblatt vorgelesen wird, da gehe, wenn die Sonne untergeht, hinauf zu meinem Grabe und bringe dem bleichen Angesicht darunter, das der alte Hügel schon entzweidrückt, und dem zerronnenen Herzen, das für nichts mehr schlagen kann, da bringe der Armen, die dich so sehr geliebt und die deinetwegen sich unter die Erde gehüllet, dein Totenopfer – bring ihr auf deiner Flöte die Töne meines geliebten Liedes: ›Das Grab ist tief und stille.‹ – Sing es leise nach, Klotilde, und besuch mich auch. – Ach arme Giulia, richte deine Seele auf und erliege jetzt nicht, da du deinen Julius dir an deinem Grabe denkest! – Wenn du da das Totenopfer bringst, so wird zwar mein Geist schon höher stehen; ich werde ein Jahr jenseits der Erde gelebet haben, ich werde die Erde schon vergessen haben – aber doch, aber o Gott, wenn du die Töne über meinem Grabe ins Elysium dringen ließest, dann würd' ich niedersinken und heiße Tränen vergießen und die Arme ausbreiten und rufen: ja! hier in der Ewigkeit lieb' ich ihn noch – es geh' ihm wohl auf der Erde, sein weiches Herz ruhe weich und lange auf dem Leben drunten. – Nein, nicht lange! Komm herauf, Sterblicher, zu den Unsterblichen, damit dein Auge genese und die Freundin erblicke, die für dich gestorben ist!
Giulia.«

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