27 Mai 2015

Moby Dick

Wer wäre denn kein Sklave? Das möchte ich wissen. [...]
Von all dem Lässigen, was wir von den beiden Apfeldieben im Paradies übernommen haben, ist das Zahlen vielleicht das Unbequemste. Dagegen Bezahltwerden – was kann man sich Erhebenderes denken? Erstaunlich ist´s, mit welch liebenswürdiger Geschäftlichkeit wir Geld einkassieren, wenn man bedenkt, wie wir allen Ernstes daran glauben, dass Geld die Wurzel irdischen Übels ist und ein begüterter Mann um keinen Preis in den Himmel kommt. [...]
Gewiss, ich gehe am Guten nicht vorüber. Aber das Grauen zieht mich heftig an, und auch heute noch ließ ich mich gern damit ein, wenn mir´s erlaubt wäre. [...]
Auf einem Segler aus Nantucket wollte ich fahren und auf keinem anderen, denn alles, was mit dieser berühmten Insel zusammen hing, hatte etwas erfrischend Raues an sich, das mir über die Maßen gefiel. [...]
Ein bisschen wunderlich war es schon, das alte Giebelhaus – an einer Seite hing´s windschief über, als hätte es das Reißen. Es stand an einer zugigen Straßenecke, wo der wogentreibende Nordost Euroclydon noch ärger heulte als weiland um des armen Apostels Paulus wellenumtostes Schifflein. Und doch ist selbiger Eurocylon der allerwohligste Zephyr, wenn wir am Kamin sitzen und uns in Gemütsruhe die Füße schön bettwarm rösten lassen. 
„So, du willst den wilden Sturmwind mit Namen Euroclydon recht erkennen“, sagte ein alter Schriftsteller – das einzig erhaltene Exemplar seiner Werke ist in meinem Besitz – „ so merke wohl: zweierlei Ding ist´s, ob du sein Toben durchs Glasfenster ansiehst, also dass der bittere Frost all außen bleibet, oder du betrachtest´s aus deinen zwei ungerahmten Fensterlein, da´s denn innen und außen gleichermaßen frieret, und gibt doch nur einen einzigen Glasermeister dafür: das ist der Unhold Tod“. Du hast recht, dacht ich, als mir die Stelle einfiel – die alte Schwarte hatte Recht: Ja, der Leib ist das Haus, und die Augen sind die Fenster drin. Schade freilich, dass Ritzen und Schlupflöcher nicht dichter verputzt sind; es hätte wohl hie und da ein bisschen Charpie hineingestopft werden können. Doch zum Bessermachen ist´s nun zu spät. Die Welt ist fertig, in die Kuppel ist der Schlussstein eingesetzt, und der Bauschutt ist schon seit einer Million Jahren abgefahren. Du armer Lazarus, da liegst du nun, den Kopf auf dem Kantstein gebettet, klapperst mit den Zähnen und schlotterst so erbärmlich vor Kälte, dass dir die Lumpen vom Leibe fliegen. Du magst dir die Ohren verstopfen, soviel du willst, und dir noch einen Maiskolben in den Mund stecken – den tosenden Euroclydon wird´s doch nicht abhalten. Aha, der Euroclydon! Sagt da unser Reicher in seinem rotseidenen Schlafrock (später in der Hölle ist er noch viel röter angetan) Puhuh, die herrliche Frostnacht! Wie der Orion funkelt, ach, und das Nordlicht! Die sollen mir noch mit ihrem orientalischen Klima kommen – ewig Treibhausluft, ewig Sommer! Wenn ich nur das Recht habe, mir mit meinen Kohlen meinen eigenen Sommer zu machen.    Was aber meint nun Lazarus dazu? Ob er sich an dem wunderbaren Nordlicht die blauen Hände wärmen kann? Lazarus wäre wohl lieber auf Sumatra als hier! Am Ende streckte er sich am liebsten der Länge nach auf dem Äquator aus. Ja, ihr Götter! Um dieser Eiseskälte zu entrinnen – wer weiß – er stiege wohl gar hinunter in die Hölle. 
   Ist es nicht unglaublich, dass Lazarus vor der Tür des reichen Mannes auf dem Kantstein liegen muss? Eher sollte noch ein Eisberg an einer Molukkeninsel festmachen! Und dabei wohnt auch der Reiche in einem Eispalast, einem Schloss aus lauter gefrorenen Seufzern, ganz wie der Herrscher aller Reußen, und zu trinken bekommt er lauwarme Waisentränen, weil er doch in einem Abstinenzlerverband den Vorsitz führt.    Genug der gefühlsvollen Tränen! Wir wollen auf den Walfang, da gibt´s Tran in Hülle und Fülle. Kratzen wir uns lieber das Eis von den erfrorenen Füßen und untersuchen, was es mit diesem Walfische hier auf sich hat. 

(Herman Melville: Moby Dick)

mehr zu Herman Melville in FAZ vom 2.8.2019

C.F. Meyer: Das Geisterross

Das Geisterross


Durch den dreigeteilten Bogen,
Des Triumphes prangend Tor,
Durch die lauten Menschenwogen
Dort zum Kapitol empor
Lenkt den Tanz der weissen Pferde
Cäsars lässige Gebärde.
Hinter des Triumphes Wagen
Duldend oder grollend gehn
Überwundne. Ketten tragen
Cäsars lebende Trophän.
»Dieser!« höhnt es im Gedränge,
»Dieser Trotzge!« zischt die Menge.
Unberührt vom Hohn der Stunde
Starren, traumgefüllten Blicks
Geht, ein Singen auf dem Munde
Ruhig Vercingetorix
Fremde Weise, fremde Worte
Mit dem Geist an fremdem Orte:
»Cäsar, blendend weisse Rosse
Hat Hispanien dir gebracht!
Ellid, edler Ahnen Sprosse
Dunkel ist er wie die Nacht –
Deine Schimmel, deine viere
Tauscht ich nicht mit meinem Tiere ...
Ellid heisst der wackre Jager,
Stark von Wuchs und fest im Bug,
Welcher mich ins Römerlager
Mit gewaltgen Sprüngen trug ...
Der zum Opfer ich gegeben
Mich für meines Volkes Leben!
Dreimal flog ich um im Kreise,
In der Faust des Schwertes Blitz,
Noch im Lauf, nach Gallier Weise,
Sprang ich ab vor Cäsars Sitz ...
Schwarzer Ellid, zu den Toten
Send ich dich als meinen Boten!
Wie er mir ins Antlitz schnaubte,
Stiess ich, Blick versenkt in Blick,
Hinter seinem mächtgen Haupte
Stracks das Schwert ihm durchs Genick ...
Dass mir eines Rosses Ehre
Mangle nicht im Geisterheere.
Ellid sprengt seit langen Jahren
Mitten in der bleichen Jagd,
Wann daheim die Toten fahren
Durch die Wälder, bis es tagt ...
Sehn sie meinen ledgen Renner,
Wundern sich die stillen Männer ...
Lange Jahre lag gebunden
Ich in feuchter Kerkergruft
– Kettenschwere, dumpfe Stunden –
Endlich wieder Tag und Luft –
Ellid, schwarzer Ellid, spute
Dich! Du witterst, wo ich blute!
Heute endlich! Endlich heute!
Wann der Kahle schwelgt am Mahl,
Würgt er seine Siegesbeute.
Mit dem letzten müden Strahl,
Wann die Sonne niedergleitet,
Wird mir Block und Beil bereitet.
Henker, nimm das Beil zu Händen!
Nicht das Beil? ... So nimm den Strang!
Drossle mich! Nur enden, enden!
Letzte Schmach! Sie währt nicht lang ...
Ellids kurzes Hufgestampfe
Dröhnt in meinem Todeskampfe!
Sterbend pack ich Ellids Haare,
Ein Befreiter spring ich auf,
Fahre, schwarzer Ellid, fahre!
Nach der Heimat nimm den Lauf!
Wogen tosen! Rhodans Stimme!
In den Strom, mein Tier, und schwimme!«
Cäsars Schimmel blähn die Nüstern.
»Ave Triumphator!« schallt.
Des Gebundnen Lippen flüstern:
»In der Heimat bin ich bald!
Ellid mit gestrecktem Jagen
Wird mich nach der Heimat tragen!«

23 Mai 2015

Bericht von einer Taufe

Wilhelm Raabe hält von dem religiösen Vorgang erheblichen Abstand, ohne sich über ihn lustig machen zu wollen. Vielmehr betont er durchweg das Gemütvolle an dem Geschehen.
"In den fröhlichen Lärm, welcher die Studierstube [...] erfüllte, klang jetzt feierlich die Orgel und der Gesang der Gemeinde aus der nahen Kirche herüber; die Stimmen der Fragenden und Antwortenden sänftigten sich – jeder gab seine Freude, sein Wohlbehagen leiser kund, und nur die Hauptperson der Feierlichkeit hatte das Recht, so viel Lärm als möglich zu machen, und ließ sich dieses Recht auch nicht nehmen. [...] Salve festa dies! stand nicht bloß an der Stubentür mit Kreide geschrieben; es leuchtete noch viel heller und glänzender aus den Augen aller Anwesenden. Was hatten wir uns alles zu sagen; bis endlich die Frauenzimmer mit dem Säugling zu geheimeren Verhandlungen abzogen und uns Männer allein ließen. Der rote Konrad lief wie im Rausch umher, unfähig, drei zusammenhängende Worte zu sprechen; der Forstmeister von Altenbach hatte bereits wieder seine Pfeife und seinen Tabaksbeutel hervorgesucht und sammelte stillvergnügt immer dichtere Wolken um sich her; ich suchte alle meine Jugenderinnerungen zusammen und verließ heimlich durch die Hintertür das Pfarrhaus zu Rulingen. Durch den verschneieten Garten mit den vielen Hasenspuren um alle Büsche und Kohlstrünke gelangte ich zu dem Kirchhofe des Dorfes und über ihn weg zu einem kleinen Seitentürchen der Kirche selbst. [...]
Schön ist's, zu den Armen und Einfältigen zu sprechen! Schön ist's, die Palmen von Bethlehem und Ägypten in den kalten germanischen Winter rauschen und säuseln zu lassen: in dem kalten germanischen Winter, der um die kleine Dorfkirche liegt, zu demselben Volk zu sprechen, welches zuerst die frohe Botschaft und das – Kreuz Christi auf sich nahm – Deo devota, patiens et submissa natio Germanorum! Welch eine Reihe stiller Sonntage meiner Jugendzeit, hingebracht in diesem Walddorf, zog langsam vor meiner Seele vorüber, während der Freund auf der Kanzel den alten und jungen Kindern die Flucht nach Ägypten erzählte. Damals saßen wir selbst beide unter jenen Kindern auf den ersten Bänken und sahen ehrfurchtsvoll hinauf zu dem Greise mit den weißen Locken, dem wir einige Stunden später im kleinen Pfarrhaus auf den Knieen saßen. [...]
Während ich hinausgeschleudert wurde in die Welt, haftete er an der Scholle und träumte sich – man kann es sagen – allgemach hinein in die Gelehrsamkeit seines Vaters. Wenn er ein Examen zu machen hatte, so legte ihm die Mutter jedesmal als glückbringendes Zeichen ein vierblättrig Kleeblatt in jedes Buch, und getrost ging er, um wie Gold aus jeder Probe hervorzukommen. Der alte Rohwold erlebte noch die Freude, das einzige Kind von seiner eigenen Kanzel predigen zu hören. [...]
Unter dem Klange der Orgel war der Taufzug in das Kirchlein getreten, und der junge Weltbürger sang lustig im Chor der Gemeinde von Rulingen mit. Fein geschmückt lag er in den Armen Cäciliens. Der gewaltige Forstmeister schritt in seiner Staatsuniform feierlich hinterher, die Frau Pastorin Rohwold führend. Ihnen folgte Konrad mit seinem glücklichen Weiblein, deren Arm ich in dem nächsten Augenblick in den meinigen genommen hatte. »Wo steckst du denn?« flüsterte der Rotkopf. »Wir haben dich überall gesucht und mancherlei Vermutungen über dem Verschwinden angestellt.« »Bst!« sagte ich, den Finger auf den Mund legend. »Ich habe eine Vorfeier gehalten. Seien Sie gütig, Käthchen, und verzeihen Sie mir!« »O ich bin so glücklich!« sagte die kleine Frau. »Ist er nicht prächtig? O, ich hoffe, er wird gut werden – er wird wie sein Vater werden!« »Aber Ihr hübsches Haar soll er bekommen, Frau Käthchen, und fröhlich wie Sie soll er werden, und Ihre Augen hat er schon!« »Ach schweigen Sie doch, wie können Sie so in der Kirche sprechen!« rief Käthchen glückselig lächelnd. »Da kommt Arnold – ich wollte sagen, der Herr Pastor.« [...] 
»So gehe denn zu Freud und Leid hinein in das Leben, du liebes Kind,« – beschloß der junge Pfarrer von Rulingen seine Taufrede – »und laß dich nicht irren auf deinem Pfad! [...] Gottes schöne Engel – Liebe und Freundschaft – mögen dir zur Seite gehen und dir sammeln helfen, bis der Abend, die Nacht hereindämmert, dein Auge trübe, dein Schritt langsam wird. Und wenn der Abend, die dunkle Nacht hereingebrochen ist, der Vater ruft, dann laß still und willig dein gesammelt bunt Spielzeug zur Erde fallen, von der es genommen, falte die Hände und sprich dein Nachtgebet und träume dich sanft hinüber in den großen Auferstehungsmorgen mit seinen unbekannten Sonnen, seinen unbekannten Lerchen und Nachtigallen, all seiner unbekannten Herrlichkeit und Seligkeit – – Amen!« [...]

O süßes, seliges Heimatsgefühl, was kann dem, welcher dich verloren hat, Ersatz für dich geben? – Der winterliche Abendhimmel leuchtete in die Fenster des Pfarrhauses zu Rulingen und ließ die Eisblumen auf den Scheiben in roter Glut glitzern und glänzen, als die Pferde wieder draußen vor der Tür den knirschenden Schnee schlugen und wiehernd das fröhliche Menschenvolk abermals hinaus, riefen zur Fahrt in den verzauberten Wald, in das Försterhaus zum Himmelreich, wo das feierliche Taufmahl bereitstehen sollte. Alles, was das Pfarrhaus an Leben besaß, rüstete sich. Die Weiber krochen in ihre Mäntel und Tücher und Pelzmuffen, und der Säugling glich bald mehr einem Kleiderbündel, als sonst etwas.  [...]"


(Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode, Kapitel 20)

16 Mai 2015

O Gott, wenn nur auch Luft zum Atmen da wäre

Ich konnte diese dunkeln Scheiben putzen lassen, ich konnte mit dem Krückstock des Oheims dem Raben Jakob den Schädel einschlagen; ich konnte – ja, was konnte ich nicht alles, wenn ich nur gewagt hätte, irgend etwas auf andere Weise, als mit der größten Scheu und Vorsicht zu berühren! Da war das Gemach, in welchem mein Vater das Licht der Welt erblickte, da war der dunkle Alkoven, in welchem ich als kleiner, boshafter Schlingel oft genug eingesperrt gesessen und geheult hatte; da waren die leeren Ställe, die weiten, öden Scheuern, in welchen wir unsere tollen Spiele getrieben hatten – – wer kann gegen solche Erinnerungen etwas unternehmen ohne die tiefste Pietät?! [...]
Allen gewährte ich den erhebenden Anblick einer tadellosen Krawatte, und so weiter. Gelangen doch, teuerster Freund, bei solchen Gelegenheiten die fünf praedicabilia der scholastischen Logik vollständig wieder zu ihrem Recht, wie folgt: genus – der schwarze Frack, species – die weiße Halsbinde, differentia – die weiße Weste, proprium – die weißen Handschuh, accidens – das Geschöpf Gottes, welches in den vorigen steckt, und dessen Beschaffenheit ziemlich gleichgültig ist, wenn nur die vier ersten Punkte gehörig im Stande sind. [...]
Was steckt alles in diesem Hause! Einem Antiquitätensammler würde das Herz dreimal schneller klopfen aus Entzücken darüber. Da sind ausgestopfte Tiere in Glaskästen auf den riesigen mit Schnitzwerk ausgelegten Rokokoschränken, in deren schwer zu öffnenden Schiebladen und geheimen Fächern es wimmelt von vergessenen Seltsamkeiten aller Art. Habe ich doch ein Kästchen mit einer in Baumwolle gewickelten Münze gefunden, welche jeden Numismatiker aus freudigem Schreck in eine Ohnmacht hätte fallen machen können. Ein echter Pescennius Niger! Em Pescennius Niger mit dem Bild des Imperators auf der Vorderseite und der Inschrift: ΑΝΔΡΙΝΟΠ. ΚΑΙΣΑΡΑΙΩΝ ΜΗΤΡΟ auf der Rückseite! Da sind Ölgemälde, Pastellbilder – Landschaften, Blumenstücke, Porträts überall; in den Gängen und Gemächern bis hinauf in die höchsten Dachkammern. Da ist vor allem das Bibliothek- und Studierzimmer mit seinen gelehrten Schätzen und den vielen Manuskripten in der Handschrift des Oheims Albrecht. O Gott, wenn nur auch Luft zum Atmen da wäre. Spinngewebe, Dunst und Moder, Staub- und Fliegenschmutz überall! In den Fensterbänken Hunderte von toten Fliegen; Wurmstaub unter jedem Stuhl, jedem Tisch; Schimmelbildungen auf jedem der Feuchtigkeit ausgesetzten Fleck! Bei meinem Leben, es überläuft mich oft ein Gefühl, als nehme die Verwesung auch von mir bereits Besitz; unwillkürlich fahre ich dann über das Gesicht, um mich zu überzeugen, daß ich nicht grün ausschlage, unwillkürlich reiße ich das nächste Fenster auf, um frische Luft zu schnappen. Was beginne ich, um die Gespenster, welche in allen Winkeln zu lauern scheinen, zu verjagen?
(Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode, Kapitel 9)
Solche Klage und solche Beschaulichkeit in der Beschreibung!

14 Mai 2015

Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode

Der Mond glitt rund und voll, aber verschleiert, wie eine schöne Frau auf der Umkehr – durch den geheimnisvollen Duft der Novembernacht und verbarg sich nur selten und, wie es schien, sehr ungern, hinter irgendeiner der schwarzen Wolken, die fernern Regen drohend, hier und da am Himmelsgewölbe herumlungerten. Seit zwölf Uhr mittags befand ich mich auf der Reise nach Finkenrode. [...] 
Ich hatte mich in die Kissen meiner Wagenecke zurückgelehnt und blickte halb, geschlossenen Auges in die Nacht hinaus. Meine Mitreisenden taten und sagten nichts, mich in meinen Gedankenspielen zu stören. Die Jungfrau mir gegenüber hatte den grünen Schleier über ihr schönes Gesicht fallen lassen und das Haupt gesenkt, wie eine schlafende Blume – um ein fadenscheiniges Gleichnis wieder hervorzusuchen; der alte dicke Herr, welcher sich auf den Weg gemacht hatte, um einen Taugenichts von Sohn in einer fernen Provinzialstadt seine väterliche Autorität fühlen zu lassen, schlief wirklich, stieß drohende Töne aus und machte bedenkliche Handbewegungen, welche dem schuldenmachenden Sprößling wahrlich nichts Gutes bedeuteten. Das Kind neben mir, welches sein Köpfchen an die Brust der Mutter gelehnt hatte und von dieser sorgsam gehalten wurde, damit es nicht von der Bank gleite, schlief ebenfalls. Die Laterne an der Decks des Wagens warf ihr rötlich trübes Licht über den kleinen Raum, – die Maschine stöhnte, der Zug klapperte und ächzte, rasselte und klirrte – die Nachtlandschaft blieb, wie viele Meilen auch vorbeiflogen, stets dieselbe. [...]

 "Max Bösenberg. Mit der Schnelligkeit, der krampfhaften Hast der Verzweiflung klemmte ich den Fuß zwischen die enge Spalte der Tür, warf meinen Reisesack dazwischen, um das schleunige Zuschlagen zu verhindern, welches mir meine aufgeregte Phantasie gräßlich vormalte – – – ah, ah, ah, nach einer Stunde lag ich zähneklappernd, mit leerem Magen, in einem ungeheizten Zimmer, einem feuchtkalten Bette des Gasthofs zum »goldenen Hahnen«, welchen ich hierdurch allen in dieser Gegend Reisenden, allen nach Sauingen Verschlagenen bestens empfohlen haben will. Meine Gefühle waren ungefähr die eines in einer Eisscholle eingefrorenen Frosches. [...]
Nachdem ich eine Zigarre angezündet und den Schaffner mit einer dito versehen hatte, fing ich allmählich an, mich wieder etwas als Mensch zu fühlen; [...]
»Wenn wir diese Höhe hinauf sind, können wir die beiden spitzen Türme von Finkenrode und den Fluß sehen; jetzt verdeckt der Wald noch die Aussicht.« Ich hatte fast keine Ruhe mehr auf dem Sitze. Alle die so bekannt klingenden Namen, welche der Mann erwähnte, jagten mir das Blut rascher und rascher durch die Adern. Ich drehte mir fast den Hals ab; auf allen Seiten tauchte meine vergessene Jugendwelt um mich her empor. [...]
Krack! krack! seitwärts neigte sich der schwarzgelbe Kutschkasten; der tote Rehbock schoß von dem Verdeck zuerst hinab auf die bodenlose Landstraße. Mönkemeyer, der Schaffner, ließ mich pflichtgemäß auf sich fallen, der Postillon fluchte; die Pferde schlugen scheu aus, da lag der königliche Postwagen auf der königlichen Landstraße. Ein seltener Genuß in dieser Zeit der Kurierzüge mit einem Postwagen umgeworfen zu werden l... [...]
Wo aber Werimar und Mangingelt, die Führer des ersten Sachsenschiffes, ihre Schwerter zuerst in den Boden gestoßen hatten, da steht heute das Rathaus der Stadt Finkenrode, und heute noch sitzen ein Bremer und ein Manegold im Rat der Stadt; der erste ein wackerer Schneider, der andere aber ein sechs Fuß hoher Schmied, der seinen Hammer heute noch vielleicht ebenso gewaltig schwingt, wie sein Vorfahr vor tausend Jahren das Saß, das sassische Schwert. [...]
Es ist Sonnabend, deshalb klingt die Glocke in dem wundervollen Turm dort über dem Wald, und horch, horch – da, die Glocken der Heimat, die Glocken von Finkenrode! ... Hals über Kopf rannte ich den Schillingsberg hinunter, mit der einen Hand den Regenschirm, mit der andern den Hut haltend. Was kümmerte mich der stärker werdende Regen, unter mir hatte ich ja die beiden Turmspitzen der Martinskirche meiner Vaterstadt, die freundlich aus dem Nebel und Dunst heraufschauten und winkten! Platsch, platsch, platsch! über Stock und Stein, glitschend, rutschend, springend und stolpernd, daß mir das Wasser und anderes mehr um die Ohren flog, immer hinab ins Tal, jetzt über den Hurlebach, an der klappernden Paddenmühle vorbei, durch die Wiesen, die Gärten entlang, bis an das Burgtor der alten Stadt Finkenrode! Ah!.. [...]
Alle diese alten vorgeschobenen Giebel, diese Winkel und Ecken, diese hohen Treppenstufen, diese überdachten Haustüren, diese dunkeln Torwege hatten etwas so Bekanntes, freundlich Wirkendes, Heimliches für mich, daß es wahrhaftig kein Verdienst war, gerührt zu werden, und die Wasserströme nicht zu achten, welche die Dachrinnen auf mich heruntergossen.
(Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode, Kapitel 2 und 3)

Die Kinder von Finkenrode (Wikipediaartikel)


Wilhelm Meisters theatralische Sendung

14. Kapitel 
In der gärenden Zeit dieser natürlichen Kunstbemühungen, wollte das Schicksal daß die Liebe ihn mit noch festern Banden ans Theater knüpfte. Bisher waren seine kleine Geschichtgen wie Präludien zu einem großen Musik Stücke gewesen, wo man in manchfaltigen Harmonien aus einem Tone in den andern übergeht, ohne eine bestimmte Melodie vorzutragen, und ohne einen andern Zweck zu haben als das Ohr zu mehr Empfänglichkeit für das Folgende vorzubereiten, und den Zuhörer unvermerkt an die Pforte zu führen wo sich ihm die ganze Herrlichkeit auf einmal offenbaren soll. Den meisten Menschen geht's so in der Liebe, und wen das Schicksal lieb hat den leitet's so zu Glück und Unglück. [...]
Denn auf dem Theater, und in der großen Welt gewöhnt man sich, die Augen bedeutungsvoll auf Gegenstände zu richten, von denen man oft gar keine Notiz nimmt, und einer Frau besonders, die aus der Erfahrung hat, daß ihre Augen manichfaltig wirken, aufreizen, lebendig machen, wird's mechanisch mit den Leuten Katzenmäusges zu spielen ohne sie zu bemerken. [...]
Es geschieht gar selten, daß zwei junge, gleich unschuldige Seelen Hand in Hand den Weg der Liebe mit einander ausgehn, harmlos vor sich hinwallen, und in schlingenden Pfaden verloren, sich wider Vermuten an Orte geführt sehen, die sie sich weit entfernt glaubten. Denn wie die Natur fast durchaus Unerfahrenheit der Erfahrenheit untergeordnet hat, so ist's auch hier, ein Teil wird immer die Rolle des Freundes spielen, der, in einer Gegend schon bekannt, den Ankömmling in ihre Schönheiten einweihen will. Schweigend lenkt er ihn unmerklich hie oder dort hin, läßt ihm bei diesem und jenem Anblick sein Entzücken, ohne zu verraten was für Großes ihm bevorsteht, läßt ihn mühsam auf und absteigen, wo es nicht nötig wäre, um eine angenehme Aussicht von der Seite zu zeigen, wo sie eben die meiste Wirkung tut, und der andere, er merke die List oder nicht, dankt seinem Führer für die liebevolle Mühe. So bescheiden Wilhelm war, und ganz im Glauben an Marianens Tugend, stiegen seine Liebkosungen an ihr unmerklich mit jedem Tage, und sie, ohne ihn aus dem Besitze des zu setzen was er sich anmaßte, hielt ihn nur auf jeder Stufe eine Zeitlang auf, wo ihn seine Liebe und Ehrfurcht ohne das ein wenig ausruhen hießen. Ihre Verlegenheit, ihr ohnmächtiger Widerstand, den sie seinen Küssen entgegen setzte, ihr tiefes Nachdenken in das sie oft verfiel, setzte ihn in solche entzückte Leidenschaft, daß er mit allen Fasern seines Lebens an ihr hing. Marianen lernte das Glück der Liebe, das ihr fremd war, in seinen Armen erst kennen, und die Herzlichkeit mit der er sie an seinen Busen drückte, die Dankbarkeit der es oft an ihrer Hand gnügte, durchdrang sie, und täglich lebte sie freier auf. [...]Er war so überzeugt, daß dieser Verlust der einzige, der erste und letzte sei, den er in seinem Leben machen könne, daß er jeden Trost verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich vorstellen wollte. Jede freudige sonst teilnehmende Ader haßt' er an sich, und nährte dagegen jene stillstehende, schleichende, in sich gekehrte Empfindung, die heimlich den Kern des Lebens aushöhlt. Leise fieberhafte Bewegungen, Nachhälle seiner Krankheit, schlichen in seinem innersten Bau, und wurden durch eine falsche Diät Leibes und der Seele unterhalten. Er floh die Menschen enthielt sich in seiner Stube, und konnte es nie warm genug darin haben. Der Caffée den er bisher noch gar nicht gekannt, schlich sich als Arznei bei ihm ein, denn wurde dieser Lieblingstrank erst einmal des Tages, darauf zweimal genommen, und bald unentbehrlich. Dieser leidige und allgemein verbreitete Gift des Körpers und des Beutels wirkte bei ihm auf das gefährlichste. Seine Vorstellung wurde mit schwarzen leicht beweglichen Bildern erfüllt, mit welchen seine Imagination ein rastloses Drama, das die Hölle des Dante zum würdigen Schauplatz erwählet hätte, aufzuführen sich gewöhnte. Die vorübergehende falsche Stimmung, die dieser verräterische Saft dem Geiste gibt, ist zu reizend, als daß man sie einmal empfunden entbehren mögte. Die Abspannung und Nüchternheit die darauf folget, zu öde, als daß man nicht den vorigen Zustand durch neuen Genuß wieder herauf holen sollte. [...]

03 Mai 2015

Jean Paul

Die Reihe seiner schriftstellerischen Erfolge begann 1793 mit dem Roman Die unsichtbare Loge. Jean Paul hatte dem Schriftsteller Karl Philipp Moritz das Manuskript geschickt, und Moritz zeigte sich begeistert: „Ach nein, das ist noch über Goethe, das ist was ganz Neues!“, soll er gesagt haben, und durch seine Vermittlung fand das Buch rasch einen Verlag in Berlin. In Die unsichtbare Loge verwendete Jean Paul, der seine Arbeiten zuvor unter dem Pseudonym J. P. F. Hasus geschrieben hatte, aus Bewunderung für Jean-Jacques Rousseau erstmals den Namen Jean Paul. Doch Die unsichtbare Loge blieb ein Fragment, denn Jean Paul widmete sich mit dem Hesperus oder 45 Hundposttage einem neuen Roman, der 1795 erschien. Das Buch, das zum größten literarischen Erfolg seit Goethes Die Leiden des jungen Werthers wurde, machte Jean Paul schlagartig berühmt. Johann Gottfried von HerderChristoph Martin Wieland und Johann Wilhelm Ludwig Gleim äußerten sich enthusiastisch über den Hesperus – Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller fanden an dem Roman allerdings keinen Gefallen. (Seite „Jean Paul“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 26. April 2015, 10:45 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Jean_Paul&oldid=141501017 (Abgerufen: 1. Mai 2015, 13:29 UTC))

Willy Winkler: Eine Art Idylle, ZEIT, 5. 4. 1996, S.61/2
 "Seinem Freund Friedrich von Oertel schreibt er, "daß ich hier die ersten 10 Jahre ganz allein und verachtet lebte, daß kein Mädgen mich ansah, daß ich überall Hass fand, daß ich in Hof samt meiner Mutter nichts zu essen, immer zu fürchten hatte ..." Das sind so die Blütenkelche seiner Jugend.

Karl Philipp Moritz errettete ihn daraus, entdeckte das verwandte, seelengelähmte, von der Wiege an unterdrückte Genie und schickte Geld, das Jean Paul alsogleich seiner Mutter in den Schoß legte. [...]
In Bayreuth setzte er sich zur Ruhe, begann systematisch zu trinken, fing am frühen Vormittag an mit Wein, streckte den Nachmittag mit Bier und hielt sich mit Arrak bei Kräften. Das Equilibrium aus Schreiben und Trinken und Schreiben war leicht zu stören: Wenn ein Besucher etwas Unrechtes sagte, ihn tadelte für die Freiheit, die er seinen Kindern verstattete, oder an seinen Büchern etwas auszusetzen fand, brachte das den Dichter aus dem Konzept, und er konnte sich in ein paar wenigen Minuten um den Verstand trinken.Vielleicht war er auch nur traurig, weil er endlich alles hatte, eine liebevolle Ehefrau, Kinder, die ihn achteten, Ruhm, der sich bis nach Rußland und England verbreitete, und genug Erfolg, um der erste ziemlich freie Schriftsteller Deutschlands zu sein.
Vielleicht war er auch nur traurig, weil dieser Ruhm ihn so jäh angefallen hatte, als ihn die weiblichen Fans alle heiraten oder wenigstens eine Locke vom Dichterhaupt haben wollten. Zuletzt mußte er seinen armen Hund scheren, um die Nachfrage zu befriedigen."(S.61)

"Doch vom Gipfel des Erfolges ging es allmählich bergab: Jean Pauls nächste Romane Titan (1800–1803) und Flegeljahre (1804/1805) erzeugten nicht mehr den früheren Enthusiasmus bei den Lesern, obwohl sie heute als seine wichtigsten Werke gelten. 1804 siedelte er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern nach Bayreuth um, nachdem er von 1801 bis 1803 in Meiningen und anschließend in Coburg gewohnt hatte. In Bayreuth führte er fortan ein zurückgezogenes Leben, unterbrochen nur von einigen Reisen, zum Beispiel nach Bamberg, wo er E. T. A. Hoffmann besuchte, und nach Heidelberg, wo ihm 1817 nach einem ausgiebigen Punschgelage auf Vorschlag Hegels der Ehrendoktortitel verliehen wurde. Seine politischen Stellungnahmen (etwa in Cottas Morgenblatt) fanden besonders bei patriotisch gesinnten Studenten lebhaften Widerhall. Jean Paul wurde zu einer Leitfigur der deutschen Burschenschaften. Bei Besuchen in Heidelberg (1817) und Stuttgart (1819) wurde er gar zum „Lieblingsdichter der Deutschen“ erhoben.Jean Pauls literarische Werke aus diesen Jahren, wie Levana oder Erziehlehre (1807) oder Dr. Katzenbergers Badereise (1809), erhielten bei weitem nicht mehr die Beachtung, die der Hesperus erlangt hatte. 1813 begann Jean Paul mit seinem letzten großen Roman, Der Komet, doch der Tod seines Sohnes Max 1821 war ein Schicksalsschlag, den der Autor nicht verwinden konnte: Der Komet wurde aufgegeben und blieb Fragment. Die letzten Lebensjahre waren von Krankheiten gezeichnet: [...]" („Jean Paul“. In: Wikipedia, sieh oben)

Würdigungen Jean Pauls zu seinem 250. Geburtstag (21.3.2013):
"An ästhetischer Heterogenität war diese Poesie nicht zu überbieten." (Welt)

"Im Wicht also wohnt ein Titan der Literatur, der sich selbst den Namen gibt und sich in seine Bücher dermaßen hemmungslos hineinschreibt, dass alle modernen Versuche, dergleichen zu unternehmen (sei es bei Philip Roth, sei es bei Felicitas Hoppe, deren Namen Jean Paul geliebt hätte), an Kühnheit verlieren, sobald man Jean Paul liest." (FR)

"Aber Jean Paul ist auch ein ungeheuer sinnlicher, gelegentlich kitschverdächtiger (da scheint schon mal ein Mond als „lächelnder Christuskopf“ auf ein liebendes Paar herab), vor allem wahnsinnig komischer Autor. Früh experimentierte er mit Montagetechnik und Selbstreferenzialität. Heute könnte man ihn am ehesten mit Thomas Pynchon vergleichen: ein Postmoderner in der Goethezeit." (taz)

"So ist Jean Paul. Verspielt und buchverrückt, ein Dauerexperiment, wie viele gekoppelte Substantive man in einem einzigen deutschen Satz unterbringen kann, eine vorweggenommene Sonderausschüttung des Grimmschen Wörterbuchs. Eine verzettelte Enzyklopädie auch, in der kein Stichwort mehr an seinem Ort ist, voll von einem „wirren Plunder von naturkundlichen Bemerkungen, den die Tüftelei in friedlichem Zusammenwirken mit der Ausschweifung zum Spielzeug der Laune zusammentrug“, wie Max Kommerell im glühendsten aller Jean-Paul-Bücher formuliert." (FAZ)

Klaus Wölfel: "Dabei kommt es im Grunde auf nichts anderes an, als sich lesend dem Willen, auch der Willkür, des Autors zu überlassen, und bereit zu sein, ihm auch dort zu folgen, wo sein Schreiben Wege einzuschlagen scheint, die Mühe bereiten." (Stern)

Helmut Pfotenhauer: "Es gibt kaum einen ähnlich bilderseligen, metaphernsüchtigen Autor wie Jean Paul. Das macht ihn ja oft auch schwer zu lesen. Diese Häufung von wunderbaren Bildern, die sprachlichen Möglichkeiten, die alles bis dahin Veröffentlichte überschreiten, machen ihn zu einem der größten Sprachschöpfer der deutschen Sprache. Lineare Geschichten sind ihm eigentlich unwichtig. Das empfindet er eher als lästig. Er möchte keine Spannung aufbauen, sondern es sind einzelne Blöcke, die er aufeinander schichtet – ein nicht-lineares Schreiben, würde man heute sagen. Das ist einer der Gründe, warum Jean Paul noch immer aktuell ist. Das sind im Grunde postmoderne Schreibweisen. (ZEIT) 

"Mit Litfaßsäulen in 25 Städten in fünf Bundesländern und der Tschechischen Republik macht der Verein «Jean Paul 2013» die Wohnorte und Reiserouten des Dichters sichtbar. Gleim (1719-1803) war Autor und Sammler sowie Mäzen für junge Dichter." (Gleimhaus)

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Jean Paul: Hesperus

Als ich mich an die Lektüre von Jean Pauls "Hesperus" wagte, war ich gewarnt. Ich kannte nicht nur die großartig-erschreckende Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei und das skurril-idyllische Schulmeisterlein Wutz, sondern auch seinen heroischen Titan, den Stefan George seinem "Jünger" Claus Schenk Graf von Stauffenberg als Pflichtlektüre aufgab. (Ein weniger heroischer Leser des Jahres 2008 dagegen sagte über das Buch: "Ich muss zugeben, dass ich wütend geworden bin während der Lektüre, eine dumpfe Aggression ist in mir hochgestiegen, so dass mehr als 20 Seiten nicht rumgekommen sind, bevor ich geplatzt wäre und das Buch in Stücke gerissen hätte.")

Mich interessierte, wie es dem sprachmächtigen, aber im Übermaß Einfall auf Einfall, Anmerkung auf Anmerkung in seine Erzählungen einfließen lassenden Jean Paul gelungen war, seinen literarischen Durchbruch zu erzielen.
Ich muss gestehen, ich habe es nicht herausgefunden. Es muss eine Leserschaft gewesen sein, die die vielfältigen Sprachbilder genießen konnte und darüber den Erzählkontext nicht verlor, obwohl Jean Paul viel dafür tut, den Leser zu verwirren und ihm Sand in die Augen zu streuen.
Es muss sie gegeben haben, die Leserinnen, die sich ich die engelsgleiche Klotilde einfühlen konnten, vom tränenreichen Helden Viktor hingerissen und so begeistert über den Roman, dass sie sich in Scharen eine Locke von seinem Haupt erbeten haben (damals weniger abwegig als heute), auch wenn es nicht so viele gewesen sein werden, dass er deswegen seinen Hund scheren musste, um nicht selbst zum Kahlkopf zu werden.

Wer kein Experiment machen will, dem empfehle ich den hochsoliden Wikipediaartikel von Hedwig Storch zum Hesperus, die mit sicherer Hand, die von Jean Paul geschürzten Knoten entwirrt. Nicht als Ausgang für die Lektüre, sondern wenn er merkt, dass eine "dumpfe Aggression" in ihm hoch zu steigen droht, weil er von Jean Pauls Verwirrspiel nicht mehr angezogen, sondern überfordert wird. 

Dann wird er immer wieder auf Formulierungen stoßen, für die man Jean Paul zu Recht bewundern kann, wie:
weil zwar Mädchen oft wilde Männer lieben, aber die (durch die Ehe aufgeklärten) Frauen allemal sanfte.
die Säulenordnung des Schöpfers, die Schweizerberge,
Kutscher halten den Herrn nur für die Nebensonne und Nebenpartie des Pferds

Man kann es sich aber auch leichter machen und sich hier auf relativ wenigen Zeilen über die Vielfältigkeit von Jean Pauls Hesperus informieren.