23 Mai 2015

Bericht von einer Taufe

Wilhelm Raabe hält von dem religiösen Vorgang erheblichen Abstand, ohne sich über ihn lustig machen zu wollen. Vielmehr betont er durchweg das Gemütvolle an dem Geschehen.
"In den fröhlichen Lärm, welcher die Studierstube [...] erfüllte, klang jetzt feierlich die Orgel und der Gesang der Gemeinde aus der nahen Kirche herüber; die Stimmen der Fragenden und Antwortenden sänftigten sich – jeder gab seine Freude, sein Wohlbehagen leiser kund, und nur die Hauptperson der Feierlichkeit hatte das Recht, so viel Lärm als möglich zu machen, und ließ sich dieses Recht auch nicht nehmen. [...] Salve festa dies! stand nicht bloß an der Stubentür mit Kreide geschrieben; es leuchtete noch viel heller und glänzender aus den Augen aller Anwesenden. Was hatten wir uns alles zu sagen; bis endlich die Frauenzimmer mit dem Säugling zu geheimeren Verhandlungen abzogen und uns Männer allein ließen. Der rote Konrad lief wie im Rausch umher, unfähig, drei zusammenhängende Worte zu sprechen; der Forstmeister von Altenbach hatte bereits wieder seine Pfeife und seinen Tabaksbeutel hervorgesucht und sammelte stillvergnügt immer dichtere Wolken um sich her; ich suchte alle meine Jugenderinnerungen zusammen und verließ heimlich durch die Hintertür das Pfarrhaus zu Rulingen. Durch den verschneieten Garten mit den vielen Hasenspuren um alle Büsche und Kohlstrünke gelangte ich zu dem Kirchhofe des Dorfes und über ihn weg zu einem kleinen Seitentürchen der Kirche selbst. [...]
Schön ist's, zu den Armen und Einfältigen zu sprechen! Schön ist's, die Palmen von Bethlehem und Ägypten in den kalten germanischen Winter rauschen und säuseln zu lassen: in dem kalten germanischen Winter, der um die kleine Dorfkirche liegt, zu demselben Volk zu sprechen, welches zuerst die frohe Botschaft und das – Kreuz Christi auf sich nahm – Deo devota, patiens et submissa natio Germanorum! Welch eine Reihe stiller Sonntage meiner Jugendzeit, hingebracht in diesem Walddorf, zog langsam vor meiner Seele vorüber, während der Freund auf der Kanzel den alten und jungen Kindern die Flucht nach Ägypten erzählte. Damals saßen wir selbst beide unter jenen Kindern auf den ersten Bänken und sahen ehrfurchtsvoll hinauf zu dem Greise mit den weißen Locken, dem wir einige Stunden später im kleinen Pfarrhaus auf den Knieen saßen. [...]
Während ich hinausgeschleudert wurde in die Welt, haftete er an der Scholle und träumte sich – man kann es sagen – allgemach hinein in die Gelehrsamkeit seines Vaters. Wenn er ein Examen zu machen hatte, so legte ihm die Mutter jedesmal als glückbringendes Zeichen ein vierblättrig Kleeblatt in jedes Buch, und getrost ging er, um wie Gold aus jeder Probe hervorzukommen. Der alte Rohwold erlebte noch die Freude, das einzige Kind von seiner eigenen Kanzel predigen zu hören. [...]
Unter dem Klange der Orgel war der Taufzug in das Kirchlein getreten, und der junge Weltbürger sang lustig im Chor der Gemeinde von Rulingen mit. Fein geschmückt lag er in den Armen Cäciliens. Der gewaltige Forstmeister schritt in seiner Staatsuniform feierlich hinterher, die Frau Pastorin Rohwold führend. Ihnen folgte Konrad mit seinem glücklichen Weiblein, deren Arm ich in dem nächsten Augenblick in den meinigen genommen hatte. »Wo steckst du denn?« flüsterte der Rotkopf. »Wir haben dich überall gesucht und mancherlei Vermutungen über dem Verschwinden angestellt.« »Bst!« sagte ich, den Finger auf den Mund legend. »Ich habe eine Vorfeier gehalten. Seien Sie gütig, Käthchen, und verzeihen Sie mir!« »O ich bin so glücklich!« sagte die kleine Frau. »Ist er nicht prächtig? O, ich hoffe, er wird gut werden – er wird wie sein Vater werden!« »Aber Ihr hübsches Haar soll er bekommen, Frau Käthchen, und fröhlich wie Sie soll er werden, und Ihre Augen hat er schon!« »Ach schweigen Sie doch, wie können Sie so in der Kirche sprechen!« rief Käthchen glückselig lächelnd. »Da kommt Arnold – ich wollte sagen, der Herr Pastor.« [...] 
»So gehe denn zu Freud und Leid hinein in das Leben, du liebes Kind,« – beschloß der junge Pfarrer von Rulingen seine Taufrede – »und laß dich nicht irren auf deinem Pfad! [...] Gottes schöne Engel – Liebe und Freundschaft – mögen dir zur Seite gehen und dir sammeln helfen, bis der Abend, die Nacht hereindämmert, dein Auge trübe, dein Schritt langsam wird. Und wenn der Abend, die dunkle Nacht hereingebrochen ist, der Vater ruft, dann laß still und willig dein gesammelt bunt Spielzeug zur Erde fallen, von der es genommen, falte die Hände und sprich dein Nachtgebet und träume dich sanft hinüber in den großen Auferstehungsmorgen mit seinen unbekannten Sonnen, seinen unbekannten Lerchen und Nachtigallen, all seiner unbekannten Herrlichkeit und Seligkeit – – Amen!« [...]

O süßes, seliges Heimatsgefühl, was kann dem, welcher dich verloren hat, Ersatz für dich geben? – Der winterliche Abendhimmel leuchtete in die Fenster des Pfarrhauses zu Rulingen und ließ die Eisblumen auf den Scheiben in roter Glut glitzern und glänzen, als die Pferde wieder draußen vor der Tür den knirschenden Schnee schlugen und wiehernd das fröhliche Menschenvolk abermals hinaus, riefen zur Fahrt in den verzauberten Wald, in das Försterhaus zum Himmelreich, wo das feierliche Taufmahl bereitstehen sollte. Alles, was das Pfarrhaus an Leben besaß, rüstete sich. Die Weiber krochen in ihre Mäntel und Tücher und Pelzmuffen, und der Säugling glich bald mehr einem Kleiderbündel, als sonst etwas.  [...]"


(Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode, Kapitel 20)

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