Es ist
eine Ironie der Geschichte, daß sich gerade in der russischen
Kirche ein Schmelztiegel der Revolution bildete [...]
Die
administrative und militärische Führungsschicht des Staats
lieferte der Adel, der nicht nur das Befehlen von Kindheit an gelernt
hatte, sondern auch allein im Besitz einer elementaren weltlichen
Bildung war. Die Reformen Peters des Großen hatten ihn zu
westlicher Bildung gezwungen, in Schulen, in denen der technische und
militärische Unterricht die Allgemeinbildung zurückdrängte und in
denen westliche Einrichtungen die Vorbilder waren. [...] Wenn
der Kern ihrer Mentalität, wenn ihre täglichen Gewohnheiten sich
aus einer langen Vergangenheit herleiteten, so speisten sich ihre
»Meinungen«, die Vorstellungen, die sie sich über die Gesellschaft
und die Welt bildeten, weniger aus der russischen Wirklichkeit als
aus ihrer Erziehung. Von der alten Tradition losgelöst, führte sie
diese Erziehung auch auf dem Umweg über eine technische
Grundunterweisung, zu allgemeinen und abstrakten Begriffen, zu einem
utopischen Rationalismus nach dem Geschmack des europäischen 18.
Jahrhunderts. Aus dem Schoß des Adels als der einzigen kultivierten
Klasse außerhalb der Kirche ging jene intelligencija hervor,
die in Opposition zum Regime trat und 1825 den sogenannten
»Dekabristenaufstand« auslöste. Gerade ihre starke Bindung an
den Staat trieb die besten denkenden Köpfe des Adels dazu,
Reformideen aus dem Ausland zu entleihen. Und ihr ganzes Leben, ihre
ganze Erziehung spiegelten ihnen die trügerische Illusion eines
leichten Erfolgs vor. Die russischen Adligen waren nicht, wie die des
Westens, mit dem Boden verbunden, sie hatten vom Zaren weit
auseinanderliegende und austauschbare Güter bekommen, auf denen sie
nur selten lebten, weil der Dienst sie völlig in Anspruch nahm, der
sie als hohe Beamte oder Militärs durchs ganze Reich führte. Ihre
Kinder wurden von den Frauen und inmitten einer leibeigenen
Dienerschaft erzogen, die sie früh daran gewöhnten, den Herren
zu spielen und ihre Autorität auf die Spitze zu treiben. Die
Söhne kamen sehr bald von der Familie weg; sie erhielten eine
militärisch orientierte Bildung, oft weit entfernt vom Landgut
ihrer Kindheit; damit verloren sie die Beziehung zu den Realitäten
des Landlebens und entwickelten nur den Sinn und Geschmack fürs
Befehlen. Wenn dann die Reihe an sie kam, ihren Grundbesitz zu
übernehmen, dann war es ihr Bestreben, ihren Bauern militärischen
Gehorsam beizubringen; im Staatsdienst, der ihr Leben weit mehr
ausfüllte als die Bewirtschaftung ihrer Güter, beseelte sie das
Gefühl, einer heiligen Pflicht ihrem Land gegenüber zu gehorchen.
Ohne eine rechte Beziehung zu Grund und Boden, von Jugend an auf
den Dienst im Staat ausgerichtet, von klein auf gewohnt, untertänige
Bauern im Griff zu haben, übernahmen sie fast alle die
Konzeption des aufgeklärten Despotismus, die auch das Regime
vertrat. So kam es, daß ihre politischen Anschauungen, wenn sie
einmal nonkonformistisch waren, im Abstrakten und Utopischen blieben
und sich mit einer sehr ausgeprägten Sorge um ihre materiellen
Interessen vereinigen ließen, ja mit großer Härte in
der Verteidigung ihrer Rechte; der liberale Adlige stand
keineswegs zurück, wenn es galt, das Letzte aus den
Leibeigenen herauszuholen.
Roger Portal: Die Slawen, Kindlers Kulturgeschichte Europas, S.277-78
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